Ein Schritt ins Leere - Agatha Christie - E-Book

Ein Schritt ins Leere E-Book

Agatha Christie

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  • Herausgeber: Atlantik
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2021
Beschreibung

 "Extrem unterhaltsam und unglaublich spannend."  Times Literary Supplement   Eigentlich sucht Bobby Jones am Fuß der Klippe nur seinen verschlagenen Golfball. Statt diesem findet er einen dort abgestürzten Mann. Der stirbt mit den rätselhaften letzten Worten: "Warum nicht Evans?" Die Frage lässt Bobby keine Ruhe und gemeinsam mit seiner lebenslustigen Freundin Frances macht er sich auf die Suche nach ihrer Bedeutung. Spätestens als Bobby mit einem zweifelhaften Angebot außer Landes gelockt werden soll ist klar: Es war kein Unfall und wer immer dahintersteckt, wird sich nicht so leicht zu erkennen geben.  

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Seitenzahl: 317

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Agatha Christie

Ein Schritt ins Leere

Kriminalroman

Aus dem Englischen von Michael Mundhenk

Atlantik

Für Christopher Mallock, in Erinnerung an Hinds

1Der Unfall

Bobby Jones legte den Ball auf das Tee, lockerte kurz seine Handgelenke, schwang den Schläger langsam zurück, um dann mit blitzartiger Geschwindigkeit durch den Ball zu schlagen.

Flog der Ball jetzt schnurgerade über das Fairway, im hohen Bogen über den Bunker und landete nur einen einfachen Mashie-Schlag vom vierzehnten Loch entfernt?

Nein, das tat er nicht. Übel getoppt, sauste er über den Boden und bohrte sich tief in den Bunker hinein!

Doch keine erwartungsvolle Zuschauermenge stöhnte fassungslos auf. Der einzige Zeuge dieses Schlages zeigte sich nicht im Geringsten überrascht. Was leicht zu erklären war, denn nicht der amerikanische Meistergolfer hatte ihn gespielt, sondern lediglich der vierte Sohn des Gemeindepfarrers von Marchbolt, einem kleinen Küstenort in Wales.

Bobby stieß einen ausgesprochen gotteslästerlichen Ruf aus.

Er war ein freundlich aussehender junger Mann von ungefähr achtundzwanzig Jahren. Selbst sein bester Freund hätte nicht behaupten können, dass er attraktiv war, doch sein Gesicht war ausnehmend sympathisch, und seine braunen Dackelaugen strahlten eine ehrliche Herzlichkeit aus.

»Ich werde von Tag zu Tag schlechter«, murrte er niedergeschlagen.

»Sie hauen zu sehr drauf«, gab sein Golfpartner zurück.

Dr. Thomas war ein Mann mittleren Alters mit grauen Haaren und einem fröhlichen rosigen Gesicht, der nie einen vollen Schwung ausführte. Er spielte kurze, gerade Schläge die Fairwaymitte hinunter, womit er bessere, aber weniger konstante Spieler meist auf die Plätze verwies.

Jetzt attackierte Bobby seinen Ball aggressiv mit einem Niblick. Beim dritten Mal hatte er Erfolg. Der Ball lag kurz vor dem Grün, das Dr. Thomas mit zwei achtbaren Eisenschlägen erreicht hatte.

»Ihr Loch«, sagte Bobby.

Sie gingen zum nächsten Abschlag.

Der Arzt spielte zuerst – ein schöner, gerader, allerdings nicht sehr weiter Schlag.

Bobby seufzte, legte den Ball aufs Tee, dann noch einmal, lockerte längere Zeit seine Handgelenke, schwang steif nach hinten, schloss die Augen, hob den Kopf, kippte die rechte Schulter nach unten, tat also alles, was er nicht hätte tun sollen – und schlug einen Wahnsinnsball die Mitte des Fairways hinunter.

Mit einem Gefühl der Befriedigung holte er tief Atem. Auf seinem beredten Gesicht machte die allgemein bekannte Tristesse des Golfers dem gleichermaßen wohlbekannten Hochgefühl eines Golfers Platz.

»Jetzt weiß ich, wo es langgeht«, sagte Bobby, was allerdings keineswegs der Wahrheit entsprach.

Ein perfekter Eisenschlag, ein kleiner Chip mit einem Mashie, und Bobby hatte den Ball tot an die Fahne gelegt. Ihm gelang ein Birdie, und Dr. Thomas lag eins auf.

Voller Zuversicht trat Bobby an den sechzehnten Abschlag. Wieder tat er alles, was er nicht hätte tun sollen, doch diesmal geschah kein Wunder. Heraus kam ein bestechender, grandioser, fast übermenschlicher Slice! Der Ball drehte rechtwinklig ab.

»Wenn der gerade geflogen wäre!«, meinte Dr. Thomas.

»Ja, wenn«, wiederholte Bobby verbittert. »Hoppla, ich glaube, ich habe einen Schrei gehört! Hoffentlich wurde niemand von dem Ball getroffen.«

Er spähte nach rechts. Die Lichtverhältnisse waren schwierig. Die Sonne stand im Begriff unterzugehen. Sah man direkt in sie hinein, war kaum noch etwas zu erkennen. Außerdem stieg ein leichter Nebel vom Meer auf. Der Rand des Kliffs lag wenige Hundert Meter entfernt.

»Dahinten führt der Wanderpfad entlang«, sagte Bobby. »Aber so weit kann der Ball unmöglich geflogen sein. Trotzdem habe ich, glaube ich, einen Schrei gehört. Sie auch?«

Der Arzt hatte jedoch nichts vernommen.

Bobby machte sich auf die Suche nach seinem Ball. Ihn aufzuspüren war alles andere als einfach, doch schließlich wurde er fündig. Da er unter einem Stechginsterstrauch feststeckte, war er praktisch unspielbar. Bobby hieb ein paarmal auf ihn ein, dann hob er ihn auf und rief seinem Partner zu, er werde das Loch aufgeben.

Dr. Thomas gesellte sich zu ihm, denn der siebzehnte Abschlag lag am Rand des Kliffs. Für Bobby war er ein Albtraum. Hier musste der Ball über eine Kluft geschlagen werden. Die Entfernung war letztlich gar nicht so groß, doch der Abgrund übte eine unwiderstehliche Anziehungskraft aus.

Die beiden hatten den Wanderpfad überquert, der sich bis dahin direkt am Kliff entlanggeschlängelt hatte und nun landeinwärts zu ihrer Linken verlief. Der Arzt nahm ein Eisen, und der Ball landete knapp auf der anderen Seite.

Bobby holte tief Atem und schlug ab. Der Ball sauste durch die Luft und verschwand in der Tiefe.

»Jedes verflixte Mal«, sagte er bitter. »Jedes Mal verzapfe ich den gleichen Bockmist.«

Er trat an den Rand der Kluft und spähte hinab. Weit unten glitzerte die See, doch nicht jeder Ball versank in ihren Tiefen. Oben fiel der Fels senkrecht ab, ging dann jedoch in eine Böschung über.

Langsam schritt Bobby am Steilhang entlang. Er kannte eine Stelle, an der man relativ leicht nach unten kam. Die Caddys flitzten dort des Öfteren hinunter und tauchten schnaufend, aber triumphierend mit dem verschwundenen Ball wieder auf.

Plötzlich erstarrte er und rief seinem Golfpartner zu:

»Doktor, kommen Sie doch mal her. Was, meinen Sie, ist das?«

Gut zwölf Meter unter ihnen lag ein dunkles Bündel, das aussah wie ein Haufen alter Kleider.

Der Arzt atmete einmal kräftig durch.

»Mein Gott«, sagte er. »Da ist jemand abgestürzt. Wir müssen zu ihm hinunter.«

Seite an Seite kraxelten die beiden den Felsen hinab, wobei der sportlichere Bobby dem Arzt half. Schließlich erreichten sie das ominöse dunkle Bündel. Es war ein circa vierzig Jahre alter Mann, der zwar bewusstlos war, aber noch atmete.

Der Arzt kniete sich hin und untersuchte ihn, tastete seine Gliedmaßen ab, fühlte ihm den Puls, zog die Augenlider hoch. Dann blickte er zu Bobby auf, dem ganz blümerant zumute war, und schüttelte langsam den Kopf.

»Da kann man nichts mehr machen«, sagte er. »Armer Kerl, sein letztes Stündlein hat geschlagen. Hat sich das Rückgrat gebrochen. Tja. Wahrscheinlich war er mit diesem Pfad nicht vertraut und fiel, als der Nebel kam, über die Felskante. Ich habe dem Gemeinderat schon mehr als einmal gesagt, dass hier ein Geländer hingehört.«

Er erhob sich.

»Ich gehe Hilfe holen«, sagte er. »Werde veranlassen, dass man den Leichnam nach oben schafft. Aber es wird dunkel sein, ehe wir wieder zurück sind. Bleiben Sie hier?«

Bobby nickte.

»Und man kann wirklich gar nichts mehr für ihn tun?«, fragte er.

Der Arzt schüttelte den Kopf.

»Überhaupt nichts. Es wird nicht lange dauern – der Puls sinkt rapide. Er hat höchstens noch zwanzig Minuten. Vielleicht kommt er zum Schluss noch einmal kurz zu Bewusstsein, aber höchstwahrscheinlich nicht. Trotzdem …«

»Selbstverständlich«, sagte Bobby schnell. »Ich bleibe hier. Machen Sie sich auf den Weg. Und falls er zu sich kommt, gibt es keine Arznei oder so …« Er zögerte.

Wieder schüttelte der Arzt den Kopf.

»Er wird keine Schmerzen haben«, sagte er. »Überhaupt keine Schmerzen.«

Er wandte sich ab und kletterte schnell wieder das Kliff hinauf. Bobby sah ihm nach, bis er oben mit einem Winken verschwand.

Bobby machte ein, zwei Schritte entlang der schmalen Felsbank, setzte sich auf einen Vorsprung und zündete sich eine Zigarette an. Die Sache hatte ihn mitgenommen. Bisher war er noch nie mit einer Krankheit, geschweige denn mit dem Tod in Berührung gekommen.

Was für ein selten dämliches Pech man doch haben konnte! Ein paar Nebelschwaden an einem wunderschönen Abend, ein falscher Schritt – und schon war es vorbei mit dem Leben. Gesund wirkte der gut aussehende Mann auch, war wahrscheinlich in seinem ganzen Leben nicht einen einzigen Tag krank gewesen. Die Blässe des nahenden Todes konnte nicht die tiefe Bräune seiner Haut verbergen. Ein Mensch, der sein Leben in der freien Natur verbracht hatte, vielleicht sogar im Ausland. Bobby musterte ihn genauer – sein kastanienbraunes gekräuseltes Haar, das an den Schläfen einen Anflug von Grau zeigte, die große Nase, der kräftige Kiefer, die weißen Zähne hinter den leicht geöffneten Lippen. Dann die breiten Schultern und die schmalen, sehnigen Hände. Die Beine waren in einem absonderlichen Winkel verdreht. Bobby erschauderte und lenkte seinen Blick noch einmal auf das Gesicht. Ausgesprochen sympathisch, humorvoll, entschlossen, aufgeweckt. Die Augen, dachte er, waren vermutlich blau …

Genau an diesem Punkt seiner Überlegungen öffneten sich diese Augen plötzlich.

Sie waren tatsächlich blau – ein klares, tiefes Blau – und sahen Bobby direkt an. Der Blick hatte nichts Unstetes oder Verschleiertes, wirkte vollkommen wach. Die Augen waren aufmerksam, schienen jedoch gleichzeitig eine Frage zu stellen.

Schnell stand Bobby auf und trat näher an den Mann heran. Noch ehe er ihn erreichte, sprach der andere. Seine Stimme war nicht schwach, sondern klar und voll.

»Warum nicht Evans?«, sagte er.

Dann überlief ihn ein seltsamer kleiner Schauer, die Lider fielen zu, die Kinnlade sank herab …

Der Mann war tot.

2In puncto Väter

Bobby kniete sich neben ihn, doch es bestand kein Zweifel: Der Mann war tot. Ein letzter klarer Moment, jene plötzliche Frage und dann – das Ende.

Einigermaßen verlegen fuhr Bobby dem Toten mit der Hand in die Hosentasche, zog ein seidenes Schnupftuch heraus und legte es ihm pietätvoll über das Gesicht. Mehr konnte er nicht tun.

Dann merkte er, dass er noch etwas anderes aus der Tasche des Toten gezogen hatte, und zwar ein Foto. Während er es wieder zurücksteckte, warf er einen kurzen Blick darauf.

Es war das Bild eines seltsam ergreifenden Frauengesichts. Eine betörende Frau mit großen, weit auseinanderstehenden Augen. Sie war fast noch ein Mädchen, auf alle Fälle unter dreißig, doch es war eher die Anziehungskraft ihrer Schönheit als die Schönheit selbst, die die Phantasie des jungen Mannes beflügelte. Es war ein Gesicht, dachte er, das man nicht so leicht vergessen würde.

Behutsam und respektvoll schob er das Bild in die Hosentasche zurück, aus der es gekommen war, und setzte sich wieder hin, um auf die Rückkehr des Arztes zu warten.

Die Zeit verstrich äußerst langsam, zumindest kam es dem ausharrenden Bobby so vor. Außerdem war ihm gerade etwas eingefallen. Er hatte seinem Vater versprochen, bei der Abendandacht um sechs Uhr Orgel zu spielen, und es war bereits zehn vor sechs. Natürlich würde sein Vater Verständnis für die besonderen Umstände haben, aber Bobby wünschte sich trotzdem, er hätte daran gedacht, dem Arzt eine Nachricht an ihn mitzugeben. Reverend Thomas Jones hatte ein hochgradig nervöses Naturell. Er war ein Pedant par excellence, doch wenn er seiner Pedanterie frönte, kollabierte sein Verdauungssystem, und er litt qualvolle Schmerzen. Dessen ungeachtet mochte Bobby seinen Vater ausgesprochen gern, obwohl er ihn für einen erbärmlichen alten Esel hielt. Reverend Thomas dagegen hielt seinen vierten Sohn für einen erbärmlichen jungen Esel und bemühte sich, eine Spur weniger Toleranz als Bobby an den Tag legend, Verbesserungen in dem jungen Mann herbeizuführen.

Der arme alte Herr, dachte Bobby. Der wird jetzt auf und ab rennen und nicht wissen, ob er mit der Andacht beginnen soll oder nicht. Er wird sich so lange aufregen, bis er Bauchschmerzen hat, und dann bekommt er sein Abendessen nicht herunter. Aber sein Verstand reicht nicht aus, um zu begreifen, dass ich ihn nur im Stich lassen würde, wenn es sich absolut nicht vermeiden ließe – und außerdem, ist das nicht völlig unerheblich? So würde er es allerdings nie sehen. Leute über fünfzig haben einfach kein Fünkchen Verstand mehr – sie grämen sich wegen der läppischsten Nebensächlichkeiten zu Tode. Wahrscheinlich sind sie alle falsch erzogen worden, und jetzt können sie einfach nicht mehr aus ihrer Haut heraus. Der arme alte Dad, er hat weniger Verstand als ein Huhn!

Er saß da und dachte an seinen Vater mit einer Mischung aus Zuneigung und Verbitterung. Sein Leben zu Hause kam ihm vor wie ein einziges endloses Opfer, das er den merkwürdigen Vorstellungen seines Vaters brachte. Mr Jones wiederum empfand sein Leben als ein einziges endloses Opfer, er fühlte sich von der jüngeren Generation missverstanden und kaum geschätzt. So können die Ansichten über ein und dasselbe Thema auseinandergehen.

Dieser Arzt war aber auch schon ganz schön alt! Hätte er nicht längst zurück sein müssen?

Bobby erhob sich und stampfte missmutig mit den Füßen auf. In diesem Augenblick hörte er ein Geräusch über sich und hob den Blick, dankbar dafür, dass Rettung in Sicht war und seine Dienste nicht mehr benötigt wurden.

Doch es war nicht Dr. Thomas. Es war ein ihm unbekannter Mann in Knickerbockern.

»Na so was«, sagte der Neuankömmling. »Ist etwas passiert? Hat es einen Unfall gegeben? Kann ich irgendwie behilflich sein?«

Er war ein großer Mann mit einer angenehmen Tenorstimme. Da die Abenddämmerung inzwischen rasch hereinbrach, konnte Bobby ihn nicht sehr deutlich sehen.

Er erklärte, was geschehen war, während der Fremde immer wieder bestürzte Kommentare abgab.

»Und ich kann wirklich nichts tun?«, fragte er schließlich. »Hilfe holen oder so?«

Bobby erwiderte, dass Hilfe auf dem Weg sei, und fragte, ob man sie von dort oben vielleicht schon sehen könne.

»Im Augenblick nicht.«

»Wissen Sie«, fuhr Bobby fort, »ich bin nämlich um sechs verabredet.«

»Aber Sie würden jetzt nur ungern weggehen …«

»Ja, genau. Ich meine, der arme Kerl ist zwar tot und so, und man kann natürlich nichts mehr tun, aber trotzdem …«

Er hielt inne, da er, wie gewöhnlich, Schwierigkeiten hatte, verwirrende Gefühle in Worte zu kleiden.

Der andere schien ihn jedoch zu verstehen.

»Ich weiß«, sagte er. »Hören Sie, ich komme jetzt runter, das heißt, wenn ich den Weg finde, und bleibe, bis diese Herren eintreffen.«

»Würden Sie das wirklich tun?«, fragte Bobby dankbar. »Verstehen Sie, es geht um meinen Vater. Eigentlich kein übler Bursche, aber er regt sich leicht auf. Können Sie den Weg sehen? Ein bisschen weiter nach links, jetzt nach rechts, ja, so! Es ist gar nicht besonders schwer.«

Er rief dem anderen ermunternde Richtungsanweisungen zu, bis die beiden Männer sich auf der schmalen Felsbank gegenüberstanden. Der Fremde war circa fünfunddreißig Jahre alt und hatte ein irgendwie unbestimmtes Gesicht, das nach einem Monokel und einem Zahnbürstenschnurrbart zu verlangen schien.

»Ich bin fremd hier«, erklärte er. »Übrigens, mein Name ist Bassington-ffrench. Bin angereist, um mir ein Haus anzusehen. Ich muss schon sagen, eine üble Angelegenheit! Ist er vom Pfad abgekommen?«

Bobby nickte.

»Es gab leichten Nebel«, erklärte er. »Ist ein gefährliches Stückchen Weg. Also, machen Sie’s gut. Und vielen Dank. Ich muss mich beeilen. Fürchterlich nett von Ihnen.«

»Keine Ursache. Das würde doch jeder machen. Man kann den armen Kerl doch nicht einfach alleine hier liegen lassen. Na ja, ich meine, es wäre irgendwie nicht anständig.«

Bobby kraxelte den steilen Pfad hinauf. Oben angekommen, winkte er dem anderen zu und rannte dann im Laufschritt querfeldein. Um Zeit zu sparen, sprang er über die Friedhofsmauer, anstatt um den Totenacker herum bis zum Straßeneingang zu gehen – was der Pfarrer durchs Sakristeifenster beobachtete und zutiefst missbilligte.

Es war fünf Minuten nach sechs, doch die Glocke läutete noch immer.

Erklärungen und Vorhaltungen wurden bis nach der Andacht zurückgestellt. Völlig außer Atem sank Bobby auf seine Bank und zog die Register der uralten Orgel. Eine Reihe von Assoziationen führte seine Finger zu Chopins Trauermarsch.

Später nahm der Pfarrer seinen Sohn dann ins Gebet, eher aus Kummer als aus Zorn, wie er ausdrücklich betonte.

»Wenn du etwas nicht ordentlich tun kannst, mein lieber Bobby«, sagte er, »ist es besser, es gar nicht zu tun. Ich weiß, dass ihr, du und deine ganzen jungen Freunde, kein Zeitgefühl habt, aber den Einen sollten wir nicht warten lassen. Du hast aus freien Stücken angeboten, Orgel zu spielen. Ich habe dich nicht dazu gezwungen. Stattdessen hast du es, sprunghaft und schwach, wie du bist, vorgezogen, eine Partie zu spielen …«

Bobby hielt es für angezeigt, seinen Vater zu unterbrechen, ehe er zu sehr in Fahrt geriet.

»Tut mir leid, Dad«, sagte er fröhlich, wie es, egal bei welchem Thema, seine Art war. »Diesmal ist es nicht meine Schuld. Ich habe einen Leichnam bewacht.«

»Du hast was?«

»Einen armen Tropf bewacht, der das Kliff hinuntergestürzt ist. Du weißt schon, da an der Kluft, beim siebzehnten Tee. Es sind plötzlich ein paar Nebelschwaden aufgetaucht, und er muss einfach geradeaus gegangen und runtergesegelt sein.«

»Gütiger Himmel«, rief der Pfarrer. »Was für eine Tragödie! War der Mann sofort tot?«

»Nein, er war bewusstlos. Er starb, kurz nachdem Dr. Thomas losgegangen war. Aber ich hatte natürlich schon das Gefühl, ich sollte mich dort hinhocken – konnte schließlich nicht einfach ’ne Fliege machen und ihn allein zurücklassen. Als dann noch ein anderer Bursche vorbeikam, habe ich die Rolle des Cheftrauernden an ihn weitergegeben, die Beine in die Hand genommen und mich, so schnell ich konnte, hierher verfügt.«

Der Pfarrer seufzte.

»Ach, mein lieber Bobby«, sagte er. »Kann denn nichts deine schreckliche Herzlosigkeit erschüttern? Ich vermag dir gar nicht zu sagen, wie sehr mich das betrübt. Da wurdest du mit dem Tod konfrontiert, einem jähen Tod. Und machst deine Scherze darüber. Es berührt dich nicht. Für deine Generation ist alles, aber auch alles, egal wie ernst es ist, egal wie heilig, nur ein Witz.«

Bobby scharrte mit den Füßen.

Wenn sein Vater nicht verstehen konnte, dass man natürlich über etwas einen Witz machte, gerade weil es einen mitgenommen hatte – nun, dann verstand er es eben nicht! Es ließ sich nicht erklären. Wer von Tod und Tragödien umgeben war, musste Haltung bewahren.

Aber gut, was konnte man schon erwarten? Kein Mensch über fünfzig verstand überhaupt irgendetwas. Diese Leute hatten die merkwürdigsten Vorstellungen.

Wahrscheinlich kommt es vom Krieg, dachte Bobby nachsichtig. Er ist ihnen an die Nieren gegangen, und sie haben sich nie mehr davon erholt.

Er schämte sich für seinen Vater und bedauerte ihn.

»Tut mir leid, Dad«, sagte er, weil er glasklar erkannte, dass eine Erklärung unmöglich war.

Der Pfarrer bedauerte wiederum seinen Sohn, wirkte bedröppelt und schämte sich ebenfalls für ihn. Dem Jungen fehlte jeder Sinn für den Ernst des Lebens. Selbst seine Entschuldigung klang fröhlich und reuelos.

Sie gingen in Richtung Pfarrhaus, wobei beide enorme Anstrengungen unternahmen, Ausreden für den anderen zu finden.

Der Pfarrer dachte: Ich möchte wissen, wann Bobby endlich eine Beschäftigung für sich findet.

Bobby dachte: Möchte wissen, wie lange ich es hier oben noch aushalte.

Und doch mochten sie einander sehr gern.

3Eine Zugfahrt

Die direkte Fortsetzung seines Abenteuers bekam Bobby nicht mit. Am nächsten Morgen fuhr er nach London, um sich mit einem Freund zu treffen, der mit dem Gedanken spielte, eine Autowerkstatt zu eröffnen, und sich von einer Zusammenarbeit mit Bobby einiges versprach.

Nachdem alles zu beider Zufriedenheit geregelt war, nahm Bobby zwei Tage darauf den Zug um 11.30 Uhr nach Hause. Allerdings erwischte er ihn nur ganz knapp. Er traf an der Paddington Station ein, als die Bahnhofsuhr 11.28 anzeigte, hastete durch die Unterführung, tauchte am Gleis drei wieder auf, wo der Zug sich bereits in Bewegung gesetzt hatte, und sprang auf den erstbesten Wagen, ohne sich um die aufgebrachten Fahrkartenkontrolleure und Gepäckträger in seinem Rücken zu scheren.

Er riss die Tür auf, fiel hinein, landete auf allen vieren und richtete sich wieder auf. Ein behänder Gepäckträger schlug die Tür hinter ihm zu, und Bobby fand sich in einem Abteil mit einem einzigen Fahrgast wieder, den er neugierig anstarrte.

Es war ein Wagen erster Klasse, und in einer Ecke saß in Fahrtrichtung eine dunkelhaarige junge Frau, die eine Zigarette rauchte. Sie trug einen roten Rock, eine kurze grüne Jacke und eine leuchtend blaue Baskenmütze und war, trotz einer gewissen Ähnlichkeit mit dem Äffchen eines Leierkastenmannes – große, traurige dunkle Augen und eine gerunzelte Stirn – ausgesprochen attraktiv.

Mitten in seiner Entschuldigung hielt er inne.

»Mensch, das bist ja du, Frankie!«, sagte er. »Ich hab dich ja schon eine Ewigkeit nicht mehr gesehen.«

»Na, ich dich aber auch nicht. Setz dich und erzähle.«

Bobby grinste.

»Meine Fahrkarte hat die falsche Farbe.«

»Das macht doch nichts«, meinte Frankie zuvorkommend. »Ich übernehme den Rest.«

»Allein bei dem Gedanken schwillt mir vor lauter Empörung der Kamm«, erwiderte Bobby. »Wie könnte ich denn eine Dame für mich bezahlen lassen?«

»Das scheint das Einzige zu sein, wofür wir heutzutage gut sind«, gab Frankie zurück.

»Ich bezahle den Rest selbst«, sagte Bobby heroisch, als ein stämmiger Mann in Blau an der Tür zum Gang auftauchte.

»Lass mich das machen«, sagte Frankie.

Sie lächelte den Schaffner freundlich an, der daraufhin an seine Mütze tippte und ein Loch in ihr weißes Kärtchen knipste.

»Mr Jones ist gerade auf ein Schwätzchen vorbeigekommen«, sagte sie. »Das macht doch nichts, oder?«

»Geht in Ordnung, Eure Ladyschaft. Ich nehme an, der Herr bleibt nicht allzu lange.« Er hüstelte taktvoll. »Ich komme erst hinter Bristol wieder«, fügte er bedeutsam hinzu.

»Was ein Lächeln nicht alles bewirken kann«, sagte Bobby, als der Kontrolleur verschwunden war.

Lady Frances Derwent schüttelte nachdenklich den Kopf.

»Ich bin mir nicht so sicher, dass es das Lächeln war«, sagte sie. »Viel eher, glaube ich, ist es Vaters Gewohnheit, auf seinen Reisen jedem Schaffner fünf Shilling Trinkgeld zuzustecken.«

»Ich dachte, du hättest Wales endgültig den Rücken gekehrt, Frankie.«

Frankie seufzte.

»Du weißt doch, wie es ist, mein Lieber. Du weißt doch, wie muffig Eltern sein können. Das und der Zustand der Badezimmer und nichts zu tun und niemand, mit dem man sich treffen kann – und die Leute fahren heutzutage einfach nicht aufs Land und bleiben ein paar Tage dort! Alle meinen, sie wollten Geld sparen und könnten nicht so weit reisen. Na ja, ich meine, was soll eine junge Dame da tun?«

Bobby erkannte das Problem und schüttelte traurig den Kopf.

»Aber«, fuhr Frankie fort, »nach der Sause gestern Nacht dachte ich mir, schlimmer könnte es selbst zu Hause nicht kommen.«

»Was ist denn passiert?«

»Nichts. Genau wie auf jeder anderen Sause auch, nur noch weniger. Um halb neun sollte es im Savoy losgehen. Einige sind um Viertel nach neun vorgefahren, und natürlich sind wir mit anderen Leuten ins Gespräch gekommen, aber gegen zehn waren wir dann endlich unter uns. Wir aßen zu Abend, und ein bisschen später zogen wir weiter ins Marionette – es ging das Gerücht, dass es dort eine Razzia geben würde, aber nichts dergleichen geschah. Es war einfach sterbenslangweilig, und nach ein paar Drinks ging es dann in den Bullring, aber da war es noch öder, wir also weiter zu einer Kaffeebude und dann zu einem Fish- ’n’ -Chips-Laden, und dann dachten wir, wir könnten zu Angelas Onkel zum Frühstück fahren und sehen, ob ihn der Schlag treffen würde, aber die Sache – langweilte ihn lediglich, und dann verpuffte unser Elan irgendwie, und wir haben uns zerstreut und sind nach Hause gegangen. Ehrlich, Bobby, das reicht einfach nicht.«

»Nein, wahrscheinlich nicht«, sagte Bobby, einen Anflug von Neid unterdrückend.

Nicht in seinen kühnsten Träumen hätte er sich jemals vorstellen können, ein Klubmitglied des Marionette oder des Bullring zu sein.

Seine Beziehung zu Frankie war recht ungewöhnlich.

Als Kinder hatten seine Brüder und er mit den Kindern oben im Schloss gespielt. Jetzt, wo sie alle erwachsen waren, sahen sie sich nur noch selten. Wenn sie sich begegneten, duzten sie sich allerdings weiterhin. In den seltenen Fällen, in denen Frankie zu Hause war, gingen Bobby und seine Brüder zum Tennisspielen aufs Schloss. Frankie und ihre beiden Brüder wurden jedoch nie ins Pfarrhaus eingeladen. Man schien stillschweigend davon auszugehen, dass es ihnen kein Vergnügen bereiten würde. Andererseits wurden immer Extratennisspieler gebraucht. Doch möglicherweise herrschte zwischen ihnen trotz des Duzens eine gewisse Gezwungenheit. Die Derwents waren, eventuell, eine Spur freundlicher, als sie es hätten sein müssen, um zu demonstrieren, dass zwischen ihnen »keine Unterschiede« herrschten. Die Jones dagegen waren ein wenig förmlich, ganz als wären sie fest entschlossen, nicht mehr Freundschaft einzufordern, als ihnen angeboten wurde. Inzwischen hatten die beiden Familien bis auf gewisse Kindheitserinnerungen nichts mehr gemeinsam. Und doch mochte Bobby Frankie sehr gern und freute sich immer, wenn das Schicksal sie, so selten es auch geschah, zusammenführte.

»Ich habe das alles derartig satt«, sagte Frankie mit matter Stimme. »Du nicht?«

Bobby dachte nach.

»Nein, ich glaube nicht.«

»Wie schön, mein Lieber.«

»Ich meine, ich würde jetzt nicht sagen, dass ich euphorisch wäre«, sagte Bobby, bestrebt, einen bedrückten Eindruck zu machen. »Euphorische Leute kann ich überhaupt nicht ausstehen.«

Schon das bloße Wort ließ Frankie erschaudern.

»Ich weiß«, murmelte sie. »Schreckliche Menschen.«

Sie sahen sich verständnisvoll an.

»Übrigens«, sagte Frankie plötzlich, »was hat es eigentlich mit diesem Mann auf sich, der am Kliff abgestürzt ist?«

»Dr. Thomas und ich haben ihn gefunden. Wie hast du denn davon erfahren, Frankie?«

»Aus der Zeitung. Hier.«

Sie deutete auf eine kleine Notiz mit der Überschrift »Tödlicher Unfall im Seenebel«:

 

Das Opfer der tragischen Ereignisse von Marchbolt wurde am späten gestrigen Abend mit Hilfe einer Fotografie, die er bei sich trug, identifiziert. Wie sich herausstellte, zeigt das Foto Mrs Leo Cayman. Mrs Cayman wurde verständigt und begab sich umgehend nach Marchbolt, wo sie den Verstorbenen als ihren Bruder, Alex Pritchard, identifizierte. Mr Pritchard war erst kürzlich, nach einem zehnjährigen Aufenthalt außerhalb Englands, aus Siam zurückgekehrt. Er hatte sich zu einer Wanderung aufgemacht. Die Untersuchung durch den Coroner findet morgen in Marchbolt statt.

 

Bobbys Gedanken kehrten zurück zu dem seltsam ergreifenden Gesicht auf dem Foto.

»Ich glaube, ich werde bei der Untersuchung aussagen müssen«, meinte er.

»Wie aufregend. Ich komme und höre dir zu.«

»Ich denke nicht, dass es besonders aufregend wird. Wir haben ihn lediglich gefunden, verstehst du.«

»War er schon tot?«

»Nein, da noch nicht. Er starb etwa eine Viertelstunde später. Zu dem Zeitpunkt war ich allein mit ihm.«

Er hielt inne.

»Ziemlich gruselig«, sagte Frankie mit dem prompten Verständnis, das Bobbys Vater abgegangen war.

»Er hat natürlich nichts mehr gespürt …«

»Nein?«

»Aber trotzdem, na ja, er sah fürchterlich lebendig aus, verstehst du, so jemand halt – ziemlich scheußliche Art abzutreten, bei einem bisschen Nebel einfach einen Schritt ins Leere zu machen.«

»Ich weiß, was du meinst, Bobby«, sagte Frankie, und wieder klang es mitfühlend und verständnisvoll. »Hast du seine Schwester gesehen?«

»Nein. Ich war zwei Tage in London. Habe mich mit einem Freund getroffen – wir wollen zusammen eine Autowerkstatt betreiben. Du kennst ihn übrigens. Badger Beadon.«

»Wirklich?«

»Natürlich. Du wirst dich doch wohl noch an den guten alten Badger erinnern. Er schielt.«

Frankie legte die Stirn in Falten.

»Er hat eine fürchterlich alberne Lache – hähähä, so ungefähr«, half Bobby ihr auf die Sprünge.

Frankies Stirn lag noch immer in Falten.

»Als wir klein waren, fiel er einmal vom Pony«, fuhr Bobby fort. »Steckte kopfüber im Schlamm, sodass wir ihn an den Beinen rausziehen mussten.«

»Oh«, sagte Frankie, plötzlich von Erinnerungen überflutet. »Jetzt weiß ich wieder. Er hat gestottert.«

»Tut er immer noch«, sagte Bobby, zufrieden, dass er ihrem Gedächtnis hatte nachhelfen können.

»Hat er nicht mal einen Hühnerhof gehabt, der pleiteging?«

»Stimmt.«

»Und dann hat er bei einem Börsenmakler gearbeitet und wurde nach einem Monat rausgeschmissen?«

»So ist es.«

»Und dann hat man ihn nach Australien verfrachtet, und er kam zurück?«

»Ja.«

»Bobby, du steckst doch hoffentlich kein Geld in dieses Geschäftsvorhaben?«

»Ich habe doch gar kein Geld, das ich irgendwo hineinstecken könnte.«

»Das ist auch gut so«, sagte Frankie.

»Natürlich«, fuhr Bobby fort, »hat Badger versucht, jemanden zu finden, der ein bisschen was investieren kann. Aber das ist schwerer, als man denkt.«

»Wenn man sich so umsieht, sollte man meinen, die Leute hätten überhaupt keinen Verstand, aber das stimmt ja gar nicht.«

Es dauerte ein Weilchen, bis Bobby kapierte, was Frankie ihm damit sagen wollte.

»Hör mal, Frankie«, sagte er. »Badger ist einer der Besten, einer der Allerbesten.«

»Das sind sie immer«, versetzte Frankie.

»Wer ist das immer?«

»Die, die nach Australien gehen und wieder zurückkommen. Woher hat er denn das Geld für dieses Geschäft?«

»Eine Tante oder so ist gestorben und hat ihm eine Werkstatt mit Platz für sechs Fahrzeuge samt drei Zimmern darüber vermacht, und seine Familie hat hundert Pfund für Gebrauchtwagen springen lassen. Du würdest dich wundern, wie preisgünstig man Gebrauchtwagen kaufen kann.«

»Ich habe mir einmal einen gekauft«, sagte Frankie. »Ein leidiges Thema. Reden wir nicht darüber. Warum hast du eigentlich bei der Navy aufgehört? Die haben dich doch nicht entlassen, oder? Doch nicht in deinem Alter.«

Bobby errötete.

»Die Augen«, sagte er schroff.

»Jetzt fällt’s mir wieder ein, du hattest ja immer Probleme mit den Augen.«

»Genau. Bei der Prüfung bin ich gerade noch so durchgerutscht. Dann kam der Auslandsdienst – das grelle Licht, verstehst du, da war der Ofen aus. Deshalb musste ich, na ja, aussteigen.«

»Bitter«, sagte Frankie und sah zum Fenster hinaus.

Es entstand eine beredte Pause.

»Trotzdem ist es jammerschade«, brach es aus Bobby heraus. »Eigentlich sind meine Augen nicht schlecht – zumindest werden sie sich nicht verschlechtern, heißt es. Ich hätte problemlos weitermachen können.«

»Sie sehen in Ordnung aus«, sagte Frankie und blickte direkt in ihre ehrliche braune Tiefe.

»Und deshalb«, sagte Bobby, »werde ich mich mit Badger zusammentun.«

Frankie nickte.

Der Speisewagenschaffner öffnete die Tür und verkündete: »Erstes Mittagessen.«

»Sollen wir?«, fragte Frankie.

Sie begaben sich zum Speisewagen.

Als die Zeit näher rückte, da der Fahrkartenkontrolleur wieder auftauchen würde, trat Bobby einen kurzen strategischen Rückzug an.

»Wir wollen schließlich nicht, dass er sein Gewissen zu sehr strapaziert«, sagte er.

Frankie erwiderte, sie erwarte nicht, dass Kontrolleure überhaupt ein Gewissen hätten.

Kurz nach fünf Uhr erreichten sie dann Sileham, den Bahnhof für Marchbolt.

»Unser Wagen holt mich ab«, sagte Frankie. »Ich nehme dich mit.«

»Danke. Dann brauche ich dieses schauderhafte Ding nicht drei Kilometer weit zu schleppen.«

Er versetzte seinem Handkoffer einen verächtlichen Stoß.

»Vier Kilometer, nicht drei«, meinte Frankie.

»Drei, wenn man den Pfad über den Golfplatz nimmt.«

»Den, wo …«

»Ja, wo dieser Mann abgestürzt ist.«

»Ich nehme doch mal an, er wurde nicht hinuntergestoßen?«, fragte Frankie, während sie ihrem Dienstmädchen den Kosmetikkoffer reichte.

»Hinuntergestoßen? Gott bewahre, nein. Wieso?«

»Nun, dann wäre das Ganze entschieden aufregender, oder?«, sagte Frankie beiläufig.

4Die Untersuchung durch den Coroner

Die Untersuchung durch den Coroner im Todesfall Alex Pritchard fand am darauffolgenden Tag statt. Dr. Thomas machte eine Aussage über den Fund der Leiche.

»Da war er noch nicht verschieden?«, fragte der Coroner.

»Nein, der Mann atmete noch. Es bestand jedoch keinerlei Hoffnung auf Genesung. Der …«

Hier verfiel der Arzt in eine hochkomplexe Fachsprache. Der Coroner kam der Jury zu Hilfe:

»Im alltäglichen Sprachgebrauch hieße das, der Mann hatte sich das Rückgrat gebrochen, nicht wahr?«

»Wenn Sie es so ausdrücken wollen«, erwiderte Dr. Thomas niedergeschlagen. Er schilderte, wie er Hilfe holen gegangen war und den Sterbenden in Bobbys Obhut zurückgelassen hatte.

»Und was war Ihrer Ansicht nach die Ursache dieses Unglücks, Dr. Thomas?«

»Ich würde sagen, aller Wahrscheinlichkeit nach – sprich in Ermangelung irgendwelcher Hinweise auf seinen Geisteszustand – trat der Verstorbene versehentlich über den Rand des Kliffs. Von der See stieg zu dem Zeitpunkt ein Nebel auf, und der Pfad biegt an dieser Stelle scharf landeinwärts ab. Vielleicht hat der Verstorbene die Gefahr aufgrund des Nebels nicht erkannt und ist geradeaus weitergegangen – dann hätten zwei Schritte gereicht, und er wäre abgestürzt.«

»Es gab keine Anzeichen von Gewalt? Zum Beispiel vonseiten einer dritten Person?«

»Ich kann nur sagen, dass sämtliche vorhandenen Verletzungen durch den Sturz auf die fünfzehn bis achtzehn Meter unter ihm liegende Felsbank erklärt werden können.«

»Bliebe noch die Frage nach einem Selbstmord.«

»Das wäre natürlich durchaus eine Möglichkeit. Ob der Verstorbene irrtümlich über den Rand trat oder sich hinuntergestürzt hat, vermag ich nicht zu sagen.«

Als Nächster wurde Robert Jones in den Zeugenstand gerufen.

Bobby schilderte, wie er mit dem Arzt Golf gespielt und einen Slice in Richtung See geschlagen hatte. Da zu dem Zeitpunkt Nebel aufgestiegen sei, habe man kaum etwas sehen können. Er habe geglaubt, einen Schrei zu hören, und sich kurz gefragt, ob sein Ball möglicherweise jemanden auf dem Wanderpfad getroffen hatte. Allerdings sei er dann zu dem Schluss gekommen, dass er unmöglich so weit geflogen sein konnte.

»Haben Sie den Ball gefunden?«

»Ja, etwa hundert Meter vor dem Pfad.«

Dann beschrieb er ihre Abschläge vom nächsten Tee, als er seinen Ball in den Abgrund getrieben hatte.

Hier unterbrach ihn der Coroner, da er mit seinen Aussagen lediglich die Angaben des Arztes wiederholen würde. Er befragte ihn jedoch eingehend nach dem Schrei, den er gehört oder zu hören geglaubt hatte.

»Es war nur ein Schrei.«

»Ein Hilferuf?«

»O nein. Nur eine Art Ausruf, verstehen Sie. Eigentlich war ich mir nicht einmal sicher, ob ich überhaupt etwas gehört hatte.«

»Ein erschrockener Ausruf?«

»Das schon eher«, sagte Bobby dankbar. »Die Art von Laut, die man ausstoßen würde, wenn man wie aus heiterem Himmel von einem Ball getroffen wird.«

»Oder wenn man einen Schritt ins Leere tut, obwohl man glaubt, einen Pfad entlangzugehen?«

»Ja.«

Nachdem er dargelegt hatte, dass der Mann ungefähr fünf Minuten nach dem Aufbruch des Arztes gestorben war, endete die Tortur für Bobby.

Inzwischen war der Coroner nur noch bestrebt, mit diesem absolut eindeutigen Fall voranzukommen.

Mrs Leo Cayman wurde aufgerufen.

Bobby stieß einen tiefen Seufzer der Enttäuschung aus. Wo war das Gesicht von dem Foto, das er dem Toten aus der Tasche gezogen hatte? Fotografen, dachte Bobby empört, sind die allerschlimmsten Lügner. Das Bild musste eindeutig schon vor etlichen Jahren aufgenommen worden sein, doch selbst dann war es schwer vorstellbar, wie aus der bezaubernden Schönheit mit den großen Augen diese dreist wirkende Frau mit gezupften Augenbrauen und deutlich gefärbten Haaren hatte werden können. Die Zeit, dachte Bobby plötzlich, hatte wirklich etwas Erschreckendes. Wie würde beispielsweise Frankie in zwanzig Jahren aussehen? Ihn überlief ein leichter Schauer.

Inzwischen machte Amelia Cayman, Nummer 17, St Leonard’s Gardens, Paddington, ihre Aussage.

Der Verstorbene sei Alexander Pritchard, ihr einziger Bruder. Das letzte Mal habe sie ihn am Tag vor dem Unfall gesehen, als er die Absicht bekundete, eine Wanderung durch Wales zu unternehmen. Ihr Bruder sei kürzlich aus dem Fernen Osten zurückgekehrt.

»Schien er sich in einer glücklichen, normalen Gemütsverfassung zu befinden?«

»Aber ja doch. Alex war immer gut gelaunt.«

»Ihn belastete also, soweit Sie es beurteilen können, nichts?«

»Nein, da bin ich mir ganz sicher. Er freute sich auf seine Wanderung.«

»Und er hatte in letzter Zeit auch keine finanziellen Sorgen oder irgendwelche Probleme anderer Art?«

»Also, das kann ich jetzt wirklich nicht sagen«, erwiderte Mrs Cayman. »Sehen Sie, er war ja gerade erst zurückgekommen, und davor hatte ich ihn zehn Jahre lang nicht gesehen, und geschrieben hat er noch nie gerne. Aber er ist mit mir in London ins Theater gegangen und hat mich zum Lunch eingeladen und mir ein, zwei kleine Geschenke gemacht, weshalb ich nicht annehme, dass er knapp bei Kasse gewesen ist, und er war so guter Stimmung, dass ich nicht glaube, dass da irgendetwas anderes war.«

»Was war Ihr Bruder von Beruf, Mrs Cayman?«

Die Dame wirkte etwas betreten.

»Also, ich kann nicht behaupten, dass ich es wirklich wüsste. Schürfen, so nannte er es immer. Er war nur sehr selten in England.«

»Ihnen ist kein Grund bekannt, weshalb er sich hätte das Leben nehmen sollen?«

»Nein, und ich kann auch wirklich nicht glauben, dass er das getan hat. Es muss ein Unfall gewesen sein.«

»Wie erklären Sie es sich, dass Ihr Bruder kein Gepäck bei sich hatte, nicht einmal einen Rucksack?«

»Er trug nicht gerne einen Rucksack. Er wollte alle zwei Tage ein Paket geschickt bekommen. Am Tag vor seinem Aufbruch hat er noch selbst eins mit seinem Nachtzeug und einem Paar Socken aufgegeben, aber leider nach Derbyshire statt nach Denbighshire, sodass es erst heute angekommen ist.«

»Aha. Das erklärt diesen etwas seltsam anmutenden Punkt.«

Weiterhin führte Mrs Cayman aus, dass das Fotoatelier, von dem das Bild in der Hosentasche ihres Bruders stammte, sich mit ihr in Verbindung gesetzt habe. Daraufhin sei sie mit ihrem Mann nach Marchbolt gekommen und habe den Toten sofort als ihren Bruder identifiziert.

Jetzt schluchzte sie hörbar auf und begann leise zu weinen.

Der Coroner fand ein paar tröstende Worte und entließ sie.

Dann wandte er sich an die Geschworenen. Ihre Aufgabe sei es festzustellen, wie dieser Mann zu Tode gekommen war. Zum Glück stelle sich die Sache als recht einfach dar. Es gebe keinerlei Hinweis darauf, dass Mr Pritchard besorgt oder bedrückt oder in einem Gemütszustand gewesen sei, der einen Selbstmord wahrscheinlich gemacht hätte. Im Gegenteil, er sei bei guter Stimmung und Gesundheit gewesen und habe sich auf seinen Urlaub gefreut. Leider sei der Pfad entlang des Kliffs, sobald von der See Nebel aufsteigt, gefährlich, weshalb sie ihm vielleicht beipflichten würden, dass es an der Zeit sei, etwas dagegen zu unternehmen.

Das Urteil der Jury ließ nicht lange auf sich warten:

»Wir haben befunden, dass der Verstorbene durch Unfall zu Tode kam, und möchten eine zusätzliche Empfehlung aussprechen, nämlich dass der Gemeinderat unserer Ansicht nach unverzüglich Schritte dahingehend unternehmen sollte, dass auf der der See zugewandten Seite des Pfades, wo dieser an der Kluft entlangführt, ein Zaun oder Geländer angebracht wird.«

Der Coroner nickte zustimmend.

Die Untersuchung war beendet.

5Mr und Mrs Cayman

Als Bobby etwa eine halbe Stunde später wieder im Pfarrhaus eintraf, stellte er fest, dass ihn der Tod von Alex Pritchard noch etwas länger beschäftigen sollte. Ihm wurde ausgerichtet, dass Mr und Mrs Cayman vorbeigekommen seien und bei seinem Vater im Arbeitszimmer säßen. Als er dazustieß, sah er, wie sich sein Vater, augenscheinlich ohne große Freude, tapfer bemühte, ein angemessenes Gespräch zustande zu bringen.

»Ah!«, sagte der Pfarrer jetzt einigermaßen erleichtert. »Da ist Bobby ja.«

Mr Cayman erhob sich und ging mit ausgestreckter Hand auf den jungen Mann zu. Er war groß und rotgesichtig und legte eine aufgesetzte Herzlichkeit an den Tag, die von seinem kalten, leicht verschlagenen Blick Lügen gestraft wurde. Was Mrs Cayman anging, so hatte sie, obwohl sie auf eine dreiste, derbe Art als attraktiv gelten konnte, wenig mit dem früheren Foto von ihr gemeinsam, und von jenem wehmütigen Ausdruck war überhaupt nichts mehr übrig. Vermutlich hätte sie sich auf dem Bild selbst nicht mehr erkannt, überlegte Bobby, und jemand anders daher wohl umso weniger.

»Ich habe meine Frau begleitet«, sagte Mr Cayman und packte Bobbys Hand mit einem festen, schmerzhaften Griff. »Musste ihr beistehen, verstehen Sie – Amelia ist natürlich ziemlich mitgenommen.«

Mrs Cayman schniefte.

»Wir sind bei Ihnen vorbeigekommen«, fuhr Mr Cayman fort, »weil der Bruder meiner armen Frau ja sozusagen in Ihren Armen verstorben ist, verstehen Sie. Natürlich möchte sie wissen, was Sie ihr von seinen letzten Augenblicken erzählen können.«

»Sicher«, sagte Bobby unruhig. »Selbstverständlich.«

Er grinste nervös und vernahm sofort den Seufzer seines Vaters, einen Seufzer christlicher Ergebung.

»Der arme Alex«, sagte Mrs Cayman und tupfte sich die Augen. »Der arme, arme Alex.«

»Ich weiß«, erwiderte Bobby. »Absolut furchtbar.«

Er wand sich unbehaglich.

»Verstehen Sie«, sagte Mrs Cayman und blickte ihn hoffnungsvoll an, »wenn er ein paar letzte Worte oder eine Nachricht hinterlassen hat, dann würde ich das natürlich sehr gern wissen.«

»Gewiss doch. Allerdings hat er nichts mehr gesagt.«

»Überhaupt nichts?«

Mrs Cayman machte ein enttäuschtes, ungläubiges Gesicht.

»Also, nein, wirklich überhaupt nichts«, sagte Bobby bedauernd.

»Es war auch das Beste so«, erklärte Mr Cayman feierlich. »Einfach zu entschlafen, ohne Schmerzen, das solltest du als Gnade ansehen, Amelia.«

»Wahrscheinlich«, erwiderte Mrs Cayman. »Er hat also keine Schmerzen verspürt?«