Ein Sommer auf Hiddensee & EinSommer auf der Sanddorninsel - Horst-Dieter Radke - E-Book

Ein Sommer auf Hiddensee & EinSommer auf der Sanddorninsel E-Book

Horst-Dieter Radke

0,0

Beschreibung

Die Hoffnung auf ein neues Glück …  EIN SOMMER AUF HIDDENSEE: Der erfolgreiche Fotograf Kristian Peterson sucht auf Hiddensee Ruhe und will die Last seiner Vergangenheit hinter sich lassen. Als er die Polizistin Nora Friedrichsen trifft, merkt er schnell: Auch sie trägt ein schweres Geheimnis mit sich. Können Sie gemeinsam die Schatten der Vergangenheit loslassen und einen Neuanfang wagen? EIN SOMMER AUF DER SANDDORNINSEL: Marie steht vor dem Aus ihrer Schuh-Boutique und einem gebrochenen Herzen. Um dem Schmerz zu entkommen, reist sie auf die Insel Rügen. Dort begegnet sie nicht nur einer alten Dame mit geheimnisvollen Geschichten, sondern auch dem charmanten Vogelbiologen Wolf, der ihr Herz mit jedem Lächeln ein kleines bisschen mehr öffnet  …  Zwei Romane voller Sommerzauber und Romantik – für alle Fans von Anne Barns und Patricia Koelle.  

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 559

Veröffentlichungsjahr: 2025

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Über dieses Buch:

 

EIN SOMMER AUF HIDDENSEE: Der erfolgreiche Fotograf Kristian Peterson sucht auf Hiddensee Ruhe und will die Last seiner Vergangenheit hinter sich lassen. Als er die Polizistin Nora Friedrichsen trifft, merkt er schnell: Auch sie trägt ein schweres Geheimnis mit sich. Können Sie gemeinsam die Schatten der Vergangenheit loslassen und einen Neuanfang wagen?

 

EIN SOMMER AUF DER SANDDORNINSEL: Marie steht vor dem Aus ihrer Schuh-Boutique und einem gebrochenen Herzen. Um dem Schmerz zu entkommen, reist sie auf die Insel Rügen. Dort begegnet sie nicht nur einer alten Dame mit geheimnisvollen Geschichten, sondern auch dem charmanten Vogelbiologen Wolf, der ihr Herz mit jedem Lächeln ein kleines bisschen mehr öffnet …

Sammelband-Originalausgabe September 2025

Copyright © der Sammelband-Originalausgabe 2025 dotbooks GmbH, München

Eine Übersicht über die Copyrights der einzelnen Romane, die im Sammelband enthalten sind, finden Sie am Ende dieses eBooks.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: dotbooks GmbH, München

eBook-Herstellung: dotbooks GmbH unter Verwendung von IGP (ma)

 

ISBN 978-3-69076-785-9

 

***

 

dotbooks ist ein Verlagslabel der dotbooks GmbH, einem Unternehmen der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13,4 Millionen Euro unterstützt: www.egmont.com/support-children-and-young-people . Danke, dass Sie mit dem Kauf dieses eBooks dazu beitragen!

 

***

 

Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit gemäß § 31 des Urheberrechtsgesetzes ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected] . Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

 

***

 

Sind Sie auf der Suche nach attraktiven Preisschnäppchen, spannenden Neuerscheinungen und Gewinnspielen, bei denen Sie sich auf kostenlose eBooks freuen können? Dann melden Sie sich jetzt für unseren Newsletter an: www.dotbooks.de/newsletter (Unkomplizierte Kündigung-per-Klick jederzeit möglich.)

 

***

 

Besuchen Sie uns im Internet:

www.dotbooks.de

www.facebook.com/dotbooks

www.instagram.com/dotbooks

blog.dotbooks.de/

Monika Detering & Horst-Dieter Radke

Ein Sommer auf Hiddensee & Ein Sommer auf der Sanddorninsel

Zwei Romane in einem eBook

 

Ein Sommer auf Hiddensee

 

Auf Hiddensee will der gefeierte Fotograf Kristian Peterson zur Ruhe kommen: den Flug der Kraniche beobachten, den Sand unter den Füßen spüren, die schmerzhaften Erinnerungen in der Weite des Meeres verlieren. Doch als er die Polizistin Nora Friedrichsen kennenlernt, geraten seine Gefühle erneut in Aufruhr: Angeblich will sie sich nur eine Auszeit nehmen, einen Sommer lang die Seele baumeln lassen – doch Kristian spürt, dass etwas aus Noras Vergangenheit ihr bis nach Hiddensee gefolgt ist. Schon bald müssen beide erkennen: Ein Neuanfang ist nur möglich, wenn sie einander die Licht- und Schattenseiten ihres Lebens anvertrauen – und sich gemeinsam fallen lassen …

Kapitel 1

 

Sie rannte die kaugummiverklebten Stufen hinunter. Eine Windböe hob ihren leichten Rock. An solchen Orten wie diesen zog es immer. Auch im Sommer. Sie rannte aus Wut, und der pralle Rucksack schlug gegen ihren Rücken. Nichts schien zu klappen. Seitdem Heiko, Ex-Chef und Ex-Liebhaber, ihr wegen einer Kleinigkeit gekündigt hatte, gab es nur noch diesen Zweitagesjob. Sie hatte sich auf ein Inserat hin vorgestellt – aber ohne Erfolg.

Sie rannte, bis sie auf dem Bahnsteig des S-Bahnhofs Berlin-Marienfelde stand. Sonja Malunke hörte die Lautsprecherdurchsage. »Die S2 nach Berlin Gesundbrunnen mit Umsteigemöglichkeit nach Stralsund hat Verspätung.« Ewig lange würde die Fahrt mit der Umsteigerei bis Schaprode dauern.

Sie sah über die Gleise. Hinter ihnen wuchsen dicht belaubte Bäumchen, und ein schmuddeliges gelb geklinkertes fensterloses Gebäude ragte hervor.

In diesem Augenblick begann die Luft wieder zu riechen – wie vor zwanzig Jahren. Sie sah ihren Vater, wollte schreien, nein, bitte nicht, tu es nicht, Papa! Aber was konnte eine Dreizehnjährige schon tun? Depressionen hatten ihn gequält. Was hatten ihre Mutter und sie sich gefreut, als er sagte, dass es ihm gut ginge, die neuen Medikamente helfen würden. Eine Woche später warf er sich von diesem Bahnsteig aus vor den Zug.

»Papa«, flüsterte Sonja. »Warum?« Sie setzte sich, musste es tun, ihr war übel. Die Erinnerungen an den geliebten Vater schmerzten derartig, dass sie sich krümmte.

Du warst kein Kämpfer. Sonst hättest du den neuen Schub ausgehalten, wie du alle vorherigen ausgehalten hast. Heute ahne ich, dass es das Leben war, was schwierig für dich wurde. Papa! Aber ich, ich bin eine Kämpferin. Keiner macht mich klein. Weder der Discounter-Heiko noch dieser alberne Fatzke von eben. ›Sie haben ja keinerlei Vorbildung, Frau Malunke. Als Sekretärin mit Schulabbruch und Schmalspurausbildung als Verkäuferin? Nun übernehmen Sie sich mal nicht‹, hatte er noch gesagt und die nächste Bewerberin hereingerufen.

Sonja hatte die Absage geahnt und deshalb schon morgens ein paar Sachen gepackt. Natürlich würde in ein paar Tagen der verbeulte Briefkasten nur Rechnungen und Mahnungen bereithalten. Bestimmt keine aufbauenden Briefe, Zusagen … Arbeitsamt und Hartz IV kommen für mich nicht in Frage. Ich werde als Freie arbeiten. Basta!

Diese Reise war ihre letzte Chance. Sonst brauche ich gar nicht mehr zurückkommen. Ihr Zug fuhr ein. Wenn nichts gelingt, mache ich es wie Papa, dachte sie beim Einsteigen. Während sie mit trotzig zusammengepressten Lippen einen Sitzplatz suchte, kamen die Tränen. Sonja Malunke suchte nach einem Taschentuch, fasste in die Taschen ihrer Jeansjacke und zog stattdessen ein Stück Papier hervor. Mattgelb, eine Visitenkarte. Kristian Peterson – Industriefotografie. Dünenheide 28, Ortsteil Vitte 18565 Insel Hiddensee, stand in dunkelgrauen Buchstaben drauf, mit einer Telefonnummer.

Kapitel 2

 

Wie gerädert stand er auf. Er hatte die Nacht kaum geschlafen, fühlte sich verkatert, obwohl er gestern Abend nichts getrunken hatte. Aber dieses Zusammenschnüren in der Brust, das ihm an manchen Tagen das Luftholen erschwerte, machte ihn unruhig und schuf eine latente Angst.

Ich weiß schon, was du sagen willst, Onno. Stell mit deinem Geld was Vernünftiges an und höre nicht auf die Anlageberater. Spekulanten sind sie allesamt und Schweine!

Damit hatte er schon gerechnet, dass sich Onno Gerdes wieder in seinem Kopf meldete. In der Realität hatten sich die beiden seit über zehn Jahren nicht mehr gesehen. Die kurze Affäre mit seiner Frau hatte er ihm damals nicht verziehen, obwohl sie beide längst geschieden waren. Aber Kristian meinte, unter Freunden müsse das nicht sein. »Dat muss neet wesen, man dat ist so«, hatte Onno gebrüllt – er verfiel immer in Platt, wenn er emotional angekratzt war –, bevor er die Tür zuknallte und verschwand. Wenig später verließ er dann auch Rügen. Kristian wusste nicht, wo Onno jetzt lebte. Er hatte ihn bis jetzt auch nicht in seiner ostfriesischen Heimat ausfindig machen können. Aber dass der sich immer mal wieder in seine Gedanken einnistete, und er, Krischan, dann einen schweren Stand hatte, dat muss ok neet wesen.

Ich habe nicht vergessen, was du mir oft genug eingetrichtert hast, dass es im Finanzwesen wie bei einer Religionsgemeinschaft sei. Ein paar Gurus sind da, die alles bestimmen, und die Masse der Gläubigen muss tun, was ihre Vorbeter sagen. Und jedes Übel, jeder Verlust sei Strafe für die Sünden, die diese Dummchen begangen hatten. Habe ich nicht vergessen. Inzwischen leuchtet mir das mantraartige Dauergebet sogar ein. Aber was hätte ich denn tun sollen? Irgendwie muss man sein Geld doch für das Alter aufheben, und unter dem Kopfkissen oder im Strumpf, das ist doch nur was für alte Frauen.

Kristian ließ Wasser in ein Glas laufen und warf ein Aspirin hinein.

Ach, hör doch auf. Konnte ich ahnen, dass mit diesen Lehmann Brothers so viel Kohle verbrannt wurde? Vor allem so viel Geld von Kleinanlegern? Vielleicht sind sogar die Anlageberater drauf reingefallen, die sitzen ja auch ganz am unteren Ende der Hierarchie.

Er kippte das bröselige weiße Gemisch mit einem Schwung hinunter und schüttelte sich.

Nein, ich war nicht zu gierig, das weißt du. Ich wollte doch nur …

»Hau ab Onno«, rief Kristian, »du hast mir noch gefehlt. Wenn du wenigstens wirklich hier wärst. Aber so – aus dem Hinterhalt …«

Er lauschte angestrengt, aber nichts war zu hören, auch die inneren Stimmen waren verstummt. Plötzlich sah er sich wie in einem Film, dreizehn, vierzehn Jahre alt, wie er mit einer einfachen Boxkamera und Schwarzweiß-Film unterwegs gewesen war. Damals hatte er alles fotografiert. Vom Baum gefallene Blätter, Abflussgitter, Bauruinen, Straßenlaternen. Nur keine Menschen.

Das habe ich mich damals nicht getraut. Warum eigentlich? Oder war es schon unbewusst Berufung? Heute kann ich solch ein absichtsloses Fotografieren nicht mehr.

Mit einem Mal war ihm, als hätte jemand den Strom abgestellt. Mehrere Minuten lang stand er einfach da, dann packte er eine Fototasche, klemmte zwei Stative unter den Arm, lief aus dem Haus, ohne einen Schlüssel mitzunehmen, im abgetragenen Trainingsanzug, unrasiert und ohne sich die Zähne geputzt zu haben.

Am Strand zog er seine Sachen aus und ließ sie auf dem Kies liegen, achtlos, ebenso das meiste seiner Ausrüstung. Er bohrte die Zehen in den körnigen Sand, blickte auf die See und entschied sich, nahm nur das Einbeinstativ und die Kamera mit, als er nackt in das Wasser ging. Erst als die Wellen seine Oberschenkel erreichten, blieb er stehen, zog das Einbeinstativ aus, positionierte es fest im Untergrund, befestigte die Kamera und fotografierte. Fotografierte die Wellen, den Horizont, der bei ruhiger See nur ein Nichts war mit wenig Wolken darüber, er versuchte, vorbeifliegende Möwen und Seeschwalben einzufangen und einen Kormoran. Lichtete die am Horizont fahrenden Frachtschiffe als kleine Silhouette ab und zoomte dann die Details heran. Er hatte einfach Freude am Festhalten von Augenblicken. Egal was. Wie der Junge von früher.

Irgendwann spürte er unangenehm die Vormittagssonne auf dem Rücken. Das würdeeinen heftigen Sonnenbrand geben. Er schob das Stativ zusammen, drehte sich um und ging zum Strand zurück. Neben seinen Sachen standen zwei Frauen und gingen nicht weg, als er näherkam.

Sonst kommt kaum jemand an diese Stelle. Der Radweg führt dichter an der anderen Seite vorbei. Warum ausgerechnet heute? Aber egal, sollen sie gucken. Hauptsache, sie lassen mir meine Fotoapparate.

Auf einem Bein hüpfend, zog er sich hastig an, schulterte die Fototasche und ging. Nach wenigen Schritten drehte Kristian sich um. Hatten sie ihn gerufen? Neuerdings hörte er nicht mehr so gut, besonders, wenn er mit den Gedanken woanders war. Eine der Frauen lief hinter ihm her und wiederholte etwas, was er nicht verstand.

»Bitte?«

»Ob Sie ein Foto von uns machen könnten? Wir hätten so gerne eine Erinnerung an diesen Urlaub.«

Kristian schaute die Frauen genauer an. Ende vierzig, schätzte er, angezogen wie Hippies aus den sechziger Jahren. Lange flatternde Röcke, bunte Blusen, eine mit hochgesteckten Haaren, die andere mit grauen Strähnen im dunkelbraunen mittellangen, vom Wind zerzausten Haar. Freundinnen? Schwestern?

»Gerne«, sagte er, während er dachte: Auch das noch. Aber er legte seine Sachen ab und ließ sich ihren Fotoapparat geben, besah ihn kurz – Meterware, Standardknipse – aber immerhin manueller Modus. Blende, Zeit einstellbar. Na dann. Er widerstand der Versuchung, einfach zu knipsen, und machte eine Serie, die den Frauen später sicher erstaunte Ausrufe – Das sind wir? – abringen würden. Fotografierte sie ganz, gezoomt nur die Gesichter, beide im Profil, die eine etwas zurückgesetzt, dirigierte sie hin und her, um die steife Körperhaltung der beiden aufzulösen, und hörte erst auf, als die Speicherkarte voll war.

»Tut mir leid, mehr geht nicht«, meinte er und gab ihnen den Apparat zurück. Sie sahen ihn verwundert an, schienen willenlos, fast, als würde er sie weiterdirigieren. Wenn ich jetzt sage, zieht euch aus, wir wollen noch ein paar Aktfotos machen, dann tun sie auch das. Früher hatte er welche gemacht. Damit hatte er längst aufgehört, weil er bei manchen Modellen so erregt wurde, dass er nicht mehr unbefangen über Einstellungen und Bildausschnitte nachdenken konnte. Immer war er ein wenig Voyeur dabei, und das störte ihn. Ob das heute was für mich wäre?, fragte er sich, ließ den Gedanken aber gleich wieder fallen.

Er griff nach seinen Sachen, winkte und ging. Hörte »Danke« hinter sich und dann noch einmal »Danke, Herr …« von der anderen.

Hunger hatte er, schließlich war er ohne Frühstück aus dem Haus gerannt und hatte wenig Lust, sich jetzt etwas zu essen zu machen. Alles abladen, Fahrrad schnappen, erst nach Hause, dann zum Café Kanne radeln. Das brauchte er jetzt.

Schnell rasierte er sich, zog eine saubere Jeans und ein dunkelbraunes Polo-Shirt an und radelte seltsam gut gelaunt nach Vitte, pfiff irgendwas von Mozart. Hatte er früher oft gemacht, er konnte gut pfeifen, aber so viel Luft hatte er seit einiger Zeit nicht mehr. Als ihm bewusstwurde, dass er pfiff, hörte er auf und sah sich um, ob ihn jemand gehört hatte. Das war aber nicht der Fall. Und seine unmotiviert gute Laune hielt sich. In Vitte schwang er sich forsch jugendlich vom Rad, stellte es vor dem Café ab, überging ebenso jugendlich einen fiesen Schmerz in der Lendengegend und setzte sich draußen hin.

Kapitel 3

 

Die Kraniche kamen zu Tausenden. Sie schwebten in riesigen Formationen an diesem Herbstmorgen, der die Düfte des Sommers gespeichert hatte, über die Insel. Ulf Jörgsen, Bürgermeister von Hiddensee, liebte diese Jahreszeit, ihre Frische und Kühle, wie es meist bei Septembergeborenen ist.

Der Frühnebel verzog sich schnell, der Himmel wurde blau, der Wind wehte gerade so, dass man ihn sanft spürte. Er beobachtete den Flug der Vögel. Ein fantastischer Anblick, wie in jedem Jahr.

Hier war er glücklich. Jeden Tag aufs Neue, und Stress machte ihm nichts aus. Die Insel hatte eine überschaubare Zahl an Einwohnern, die wie anderswo alle Facetten menschlicher Ausdrucksformen barg, aber alles in allem positiver ausfiel als zum Beispiel drüben in Stralsund. Sein Bruder lebte dort und informierte ihn immer ausführlich. Die Leute hier hatten wie überall an der Küste und auf den küstennahen Inseln einen Dickschädel, aber dahinter verbarg sich meist eine große Herzlichkeit. Diese Schädel hielten etwas aus, wenn sie mal zusammenprallten, und wenn der Schmerz verklungen war, kam man prächtig mit ihnen zurecht.

Besser, als hier zu leben und auch noch Bürgermeister zu sein, hätte er es nicht treffen können. Auf Hiddensee war es ein Ehrenamt. Anmeldungen, Abmeldungen, Geburten, Sterbefälle wurden in der Verwaltung auf Westrügen in Samtens erledigt. Und Luis Bock, der Verwaltungsleiter, machte das gut. Weil er die Bürgersprechstunden im Vitter Rathaus und im Feuerwehrgebäude in Neuendorf abhielt, kannte er alle Hiddenseer, die Alteingesessenen wie die Neuen. Die, die hierbleiben wollten, beäugte er gründlich. Schließlich musste er wissen, welche Personen sich auf seiner Insel niederließen.

Gestern Abend noch hatte er mit diesem Fotografen gesprochen, Kristian Peterson. Auch einer, der immer häufiger kam, immer länger blieb. Das war einfach, wenn man ein schönes Haus gebaut hatte, genügend Geld verdiente, um Pausen einzulegen, da kam so jemand wie er mal schnell aus Berlin.

Krischan, wie Ulf und andere ihn nannten, hatte sich bereit erklärt, eine kostenlose Fotoserie von ihm, seiner Frau und dem Haus zu machen. Und seit gestern Abend fand Ulf ihn nicht mehr so arrogant wie sonst.

Ulf Jörgsen und seine Frau Anke wohnten in einem umgebauten Fischerhaus in dem kleinen Dorf Kloster. Seitdem ihre beiden Töchter ihr eigenes Leben führten, waren sie wieder allein. Die Ruhe nach der turbulenten Zeit, in der sie groß wurden, gefiel ihm, und doch vermisste er die Kinder.

Dieser Herbstmorgen schmeckte nach Sehnsucht. Der Kranichzug machte sie schmerzhaft intensiv, und mit bittersüßer Sehnsucht beobachtete er die Frau, die in einem engen schwarzen Laufanzug an seinem Haus vorbeijoggte und in den Weg nach Vitte einbog. Diese Friedrichsen aus Tübingen. Für ihr Alter noch eine ganz gute Figur und auch der Hintern ist nicht so breit gesessen wie der von Luis’ Sekretärin. Er schaute ihr lange hinterher.

»Ulf, was stehst du am Fenster, setz dich zu mir, das Frühstück ist fertig!«

»Gleich Anke, gleich, ich schau so gern den Wolken nach … «

»Den Wolken? Snak keen Dünnschiet! Du? Seit wann? Ich habe wohl gemerkt, dass du der Friedrichsen hinterher siehst.«

»Wem sehe ich hinterher?«

»Se Mors hett ook bloß twee Hälften. Spiel nicht den Dummbart. Meinst wohl, du kannst mir was vormachen. Immer, wenn die vorm Haus rumhüpft, gaffst du ihr auf den Hintern.«

»Ich gaffe nicht auf fremde Hintern.«

»Läuft sie wieder nach Vitte?«

»Woher weißt du das?«

»Na, sie zeigt dir ja die Rückseite. Ich kenn dich doch. Da weiß ich, wo du hinsiehst und am liebsten anfassen willst.«

Er hatte so eine Vorahnung. Natürlich sagte er nichts darüber, setzte sich und griff nach dem Ei unter der Häkelhaube. »Was du immer hast! Du brauchst dir nichts dabei denken. Ich stehe jeden Morgen am Fenster, seit wir hier eingezogen sind. Und das weißt du.«

»Ich denke mir gar nichts. Und wie du deinen Tag beginnst, weiß ich auch. Aber neuerdings stehst du da so lange, bis die Friedrichsen vorbei ist. Ich bin doch nicht blind. Das fällt auf, mein Lieber!«

»Mir nicht.«

Während er die Fremde im Kopf hatte, seltsamerweise sogar an Krischan denken musste, beugte er sich vor, küsste Anke, murmelte, »riechst so lecker wie ein frisches Brötchen«, wobei ihn das Gefühl beschlich, dass diese Neue anders war als jene Frauen, die auf der Insel wochenlangen Urlaub machten.

Draußen wirbelte ein plötzlicher Windstoß gelbe, rote und braune Blätter durcheinander.

Kapitel 4

 

Kaffee trinkt er. Nichts anderes. Dass ich ihn hier in diesem gemütlichen Café Kanne finde, dachte Sonja, immer noch erstaunt. Vitte? Da muss man erst draufkommen. Schließlich kann er sich ja überall auf der Insel aufhalten. Jetzt erst weiß ich, dass es sie gibt. Ich dachte, Hiddensee läge sonst wo, vielleicht in der Südsee. Peinlich, peinlich, sollte ich besser keinem erzählen.

»Kristian«, flüsterte sie. Bei ihm bleibt einem ja glatt der Verstand stehen. Der hat sicher nicht so Komisches drauf wie Heiko. Als das mit ihm anfing, säuselte er jedes Mal: Nackt bist du mir am liebsten, als wenn so ein Spruch einen anmachen könnte. Aber meinen neuen Kaschmirpullover knallte er achtlos auf eine Apfelsinenkiste, und die gezogenen Fäden verzeihe ich ihm bis heute nicht. Der glaubt doch allen Ernstes, seine jungen Mitarbeiterinnen wären wild auf ihn. Der soll sich doch mal im Spiegel begucken. Meine Mutter sagte, Kind, es gibt viele Gründe, warum eine Frau bei einem Mann bleibt. Das muss nicht immer Liebe sein. Recht hat sie. Jedenfalls ist dieser Kristian Peterson ein ganz anderes Kaliber. Und Geld hat er auch. Oder? Hoffentlich nicht alles auf Pump gekauft. Danach sieht er eigentlich nicht aus … Und mein erstes Honorar hatte er ja sofort gezahlt. Bar auf die Kralle.

Sonja strich sich über die Ponyfransen, griff nach ihrer Sonnenbrille, die im Haar steckte, und setzte sie auf.

In Kloster hatte sie in einem der ältesten Gasthäuser der Insel ein Zimmer gefunden. Preiswert. Mit einem kostenlosen Leihrad. Mit Frühstück. Gott sei Dank mit Frühstück. Gnadenlos üppig belegte sie mehrere Brötchen, steckte sie ein, übersah ebenso gnadenlos die Blicke der anderen Gäste. Glück gehabt! Plötzlich erinnerte sie sich an das Grimmsche Märchen von Hans im Glück. Der bekam immer alles, was er wollte und sich wünschte. Eigenartigerweise war der aber auch mit immer weniger zufrieden. Wenn ihre Dinge schiefliefen, las sie vor dem Schlafengehen Märchen. Ansonsten las sie nicht viel.

Es war der zweite Tag auf Hiddensee, der zweite Tag, an dem sie diesen Mann beobachtete. Sonja setzte ihr weichstes Lächeln auf, dieses mädchenhafte, was ihr meist gut gelang. Sie wusste auch, dass dieses Lächeln einen scharfen Gegensatz zu ihrer engen schwarzen Lederhose schuf. Dennoch suchte sie sich auch jetzt einen Tisch aus, an dem der Fotograf sie nicht sehen konnte. Sie wollte ihn beobachten und spätestens morgen ansprechen. Zufrieden registrierte sie, dass der Mann allein an seinem Tisch saß und auf niemanden zu warten schien. Genauso wie gestern.

»Ein Kännchen Kaffee«, bestellte sie bei der weißblonden Bedienung. Dabei mochte sie keinen Kaffee. Aber der war günstiger als die anderen Getränke.

Ihr Exgeliebter becircte längst eine Neue. Sie hatte zwar nicht wie Hans im Glück sieben Jahre bei einem Herrn gedient, aber immerhin waren es doch satte zweieinhalb geworden. Nur weil sie zwei Tage nicht zur Arbeit erschienen war und den Porsche mitgenommen hatte, kündigte er ihr. Wie kleinlich war das denn?

So viel Mist hab ich dem Kerl weggeräumt, Waren geschleppt bis zum Muskelkater, abgelaufene Joghurts und solchen Kram diskret entsorgt. Da gab’s nämlich ganz schön viel davon, okay, ich habe auch was mitgenommen, wäre ja auf dem Müll gelandet, und so aufgeschäumte süße marmeladige Joghurts esse ich eben gern. Und einmal war er ziemlich beschickert, da fing er an, nackt wie er war, zu wiehern und den Hengst zu machen. Rannte selig grinsend hoch aufgerichtet durch das Zimmer. War der sauer, weil ich vor Lachen aus dem Bett gefallen bin. Aber sonst war er schon nett. Zuvorkommend. Großzügig. Und die anderen Nächte in seinem Bett, manchmal auch in der Küche, waren nicht die schlechtesten.

Langeweile gab’s nicht, dachte Sonja. Soweit eine Frau wie ich Fantasie von einem Filialleiter erwarten konnte, etwas hatte er davon. Für meine Großzügigkeiten lieh er mir den Porsche. Ist doch was, wenn Frau nur einen kleinen gebrauchten Fiat hat? Wahrscheinlich habe ich den nun zu früh verkauft. Aber Heiko ist auch selten blöd. 33 ist wahrlich kein schlechtes Alter bei einer Frau, und wenn er sich jetzt eine rothaarige Zwanzigjährige antut, dann wird er sich noch umsehen. Die haben ganz andere Interessen als einen Filialleiter mit Wampe und abgelaufenen Joghurts und so. Kündigt per Mail. Feige Nuss! Traut sich wohl nicht, mich dabei anzusehen. Den Porsche bin ich damit endgültig los. Der fehlt mir. Gerade jetzt, ohne Job und ohne Kohle.

Sonja brannte ihre Wünsche in den Rücken des Fotografen. Ich! Will! Dich! Und gerade noch rechtzeitig bückte sie sich, denn er stand auf und sprach mit einem Mädchen. Er sieht viel lässiger aus als letztens so braunleinengehypt in Berlin. Jünger! Sie fand, dass ihm die Jeans verteufelt gut stand. In seinem Alter! Da hatten die meisten entweder keinen Arsch mehr in der Hose oder zu viel davon. Sonja lächelte. Der Mann hat was. Ihn und einen Job werde ich kriegen. Sein Haus gefällt mir. Mit Reetdach, weißen Steinen und Bogenfenster – super. Sogar Büsche und Bäumchen ringsum. Ich weiß zwar nicht, wie die Dinger heißen. Egal. In dem Haus könnte ich leben. Könnte? Will ich. Werde ich.

Bei diesen Vorstellungen wurde sie fast glücklich. Morgen würde sie ihn hier wie zufällig treffen, ohne Anstrengung, und endlich kam ihr der Tag besonders hoffnungsfroh vor. Und wenn er morgen nicht hier ist?, meldete sich eine innere Stimme zweifelnd.

»Dann gehe ich zu seinem Haus und klingele. Und wenn er nicht da ist, setze ich mich vor die Tür und warte, bis er kommt. Er wird mich schon wiedererkennen. Das krieg ich hin. Denn er wird mich ansehen – denn ich bin jung, und er ist alt. So einfach ist das.« Erschrocken schlug sie die Hand vor den Mund, denn sie merkte erst jetzt, dass sie laut gesprochen hatte. Nervös hustete sie, griff nach ihrer Tasse und verschüttete den Kaffee. Um sich zu beruhigen, betrachtete sie das schön restaurierte hochgiebelige Haus, in dem das Café untergebracht war, drehte ihren Stuhl so, dass sie auf den Hafen schauen konnte. Vor das blaue Kaffeekännchen stellte sie einen Spiegel. Richtete ihn so aus, dass sie den Fotografen im Blick hatte. Er notierte sich etwas, dann schaute er zum Wasser. Gleiche Blickrichtung wie Sonja, wie ein Schienenpaar. Zwischendurch grüßte er jemanden. Und die meisten, die vor dem Café saßen, waren ganz sicher Touristen.

Es war Anfang September. Passend dazu sang Bryan Ferry den »September Song«. Aus den Lautsprechern neben dem Eingang hörte Sonja danach: »As time goes by.« Die CD spielte wohl wieder von vorn. Ihre Mutter war vernarrt in den Song und bekam immer so einen Sehnsuchtsblick. Einmal hatte Sonja kess gefragt: »An Papa denkst du dabei aber nicht?« und sich postwendend eine Ohrfeige eingefangen.

Aber in diese Stunde passte Bryan Ferry. Das Spätnachmittagslicht war weich, warf längere Schatten als im August, und die Sonne glitzerte auf den Wellenspitzen.

Entschlossen steckte Sonja den Spiegel ein, stand auf, nahm den Weg zur Toilette, schwang bei jedem Schritt ihren kleinen festen Hintern. Sie wusste, dass er in gerader Haltung, durchgedrücktem Rücken mit etwas Hohlkreuz gut zur Geltung kam. Und in Leder sowieso. Sie wusste, dass Männer ihr hinterher schauten. So etwas spürt eine Frau. Und wenn sie das spürte, wurde sie groß und schlank und strahlte. Jedenfalls hatte sich Sonja für diesen Auftritt Mühe gegeben.

Im Waschraum tuschte sie die Wimpern nach, tropfte etwas Glyzerin in die Augenwinkel und verwuschelte ihr aufgestecktes Haar, bevor sie sich zufrieden im Spiegel betrachtete.

 

Zurück kam sie mit leichtem Hüftschwung, setzte sich, schob die Tasse mit dem Kaffeerest fort und dachte an den zu Ende gehenden Sommer. Sie zahlte, und als sie das Café verließ, schaute sie für heute ein letztes Mal wie hypnotisiert zu dem Mann in der hellen Jeans herüber und empfand so etwas wie Besitzerstolz. »Kristian«, flüsterte sie. »Kristian.« Als sie mit ungefähren zwei Metern Abstand an ihm vorbeiging, verzog sie ihre Lippen mit dem ausgeprägten Amorbogen zu einem angedeuteten Lächeln und registrierte seine Tränensäcke und das Silbergrau der Haare.

Erst als sie sich von niemandem mehr beobachtet glaubte, holte sie aus der Tasche das letzte Brötchen vom Frühstücksbüfett und biss gierig hinein, betrachtete am Hafenbecken ein rostrot gestrichenes Boot, dessen ebenso rostrotes Segel mit der Aufschrift: ›Vitte‹ im Wind flatterte. Der Skipper war nicht zu sehen. Vielleicht besitzt Kristian auch ein Boot. Der verdient doch eine Menge. Bestimmt. Schon sah sie sich mit wehenden Haaren, den Kopf dekorativ nach hinten gebogen, fotogen dahingleiten.

Sie stieg aufs Rad, fuhr langsam die Straße ›Norderende‹ entlang, überlegte, dass der Kristian bloß nicht morgen mit der Fähre woanders hinmuss, bitte nicht. Ich brauche ihn.

In Kloster sah sie die Hinweistafeln: ›Gerhart Hauptmann-Haus‹. Nie davon gehört. Ein Schauspieler?

Sonja hatte Zeit. Ein langer Abend lag vor ihr. Hunger hatte sie auch. Sie überschlug ihre Barreserve. Egal, dachte sie, das wird sich ändern.

Am Kirchweg fand sie ein Restaurant. Der Wind wurde frischer. Trotzdem setzte sie sich auf die große Terrasse, mit Blick auf Büsche, Wiesen und Meer. Sonja aß gut, aß viel, aß auf Vorrat. Zwischendurch erhellte ein Strahlen ihre Augen, und der junge Kellner fragte beim Abräumen: »Verliebt?«

»Fast.« Sie zahlte und stand auf.

Am Strand schuf die Sonne für ihre Liebeswünsche die passende Kulisse, sank an der Linie, die das Meer vom Himmel trennte, ins Wasser, und das Meer schimmerte orangerot. Aus einem plötzlichen Impuls heraus hüpfte sie wie Rumpelstilzchen auf einem Bein. In Abwandlung des Märchens sang sie: »Einen Tag sollst du noch haben. Dann bist du mein.«

Kapitel 5

 

»Moin. Frau Friedrichsen?«

»Ich kaufe nichts. Sind Sie Versicherungsvertreter?«

»Seh ich so aus?« Ulf Jörgsen guckte besorgt.

»Gerade weil Sie nicht so aussehen.« Nora musterte ihn von unten nach oben, ein aufmerksamer Blick, der sofort das Wesen des vor ihr stehenden Mannes zu erfassen schien.

»Kommen Sie gut voran?«

»Was wollen Sie von mir?«, fragte sie misstrauisch.

»Kegen’n Backohmd kamme nich jåånen!« Jörgsen grinste breit über Noras verblüfftes Gesicht. »Plattdeutsch kennen Sie nicht? Entschuldigen Sie, war nur ein kleiner Scherz. Wir haben uns doch schon mal gesehen. Ich bin Ulf Jörgsen, der hiesige Bürgermeister, und freue mich, wenn so fleißige Lies…, äh Frauen, ihre Häuser selbst renovieren. Respekt! Schaffen Sie das alles? Oder haben Sie jemanden, ich meine, einen Mann dafür?« Suchend sah er sich um, entdeckte aber niemanden außer Nora und sich selbst. »Haben Sie Erfahrung mit den Problemen, die noch auf Sie zukommen werden? Wir haben gute Handwerker. Ich meine, wollen Sie jeden Tag auf dieser ollen Leiter rumklettern und Mörtel abklopfen? Ich weiß doch, dass dieses Häuschen ganz schön marode ist. Zurzeit haben wir ja mehrere, die sich wie Sie auf unserer wunderschönen Insel niederlassen. Ganz besondere Menschen, so wie Sie.«

»Ich komm schon zurecht. Handwerker werde ich ganz sicher noch brauchen. Aber was ich kann, mache ich selbst. Tut mir gut.«

»Na dann. Sind ja auch prima in Form.«

»Wie?«

»Na, ich sehe Sie morgens laufen, wenn Sie Ihre Runden drehen.«

 

Kristian legte den Hörer auf und schaute aus dem Fenster. Das war kein gutes Gespräch gewesen. Hatte man ihn schon vergessen? Einfach von heute auf morgen zu den abgetakelten Fregatten geschoben? Es ging ihm nicht gut. Die Verspannungen im Nacken, dieser Druck auf der Brust, und irgendwie war da immer häufiger ein unangenehmes Gefühl im Magen.

In der Küche holte er sich ein Glas aus dem Schrank und goss sich Cognac ein, der dort immer stand. Schon der erste Schluck entspannte.

Andererseits, was hast du denn bloß erwartet?, fragte er sich. Hast allen mitgeteilt, dass du jetzt aufhörst – wenn’s am schönsten ist, hast du noch groß geklotzt –, und jetzt kommst du angekrochen und willst wieder Aufträge haben. Als wenn die anderen darauf warten würden. Die haben sich ja ganz schnell nach anderen Fotografen umgesehen. Das mussten sie auch, sie konnten ja nicht ahnen, dass ich mich verzockt habe und dringend Geld brauche.

Ein bitteres Gefühl überkam ihn. Kristian trank das Glas leer und goss sich erneut Cognac ein.

Verzockt und vergeigt. Nie habe ich eine Spielbank betreten, das Glück im Lotto gemieden wie der Teufel das Weihwasser und Pferde nur zum Reiten betrachtet. Und ausgerechnet mir geht das Ersparte bei dieser beschissenen Geldanlage verloren. Verzockt von anderen, an die ich Esel geglaubt habe. Kristian schlug mit der geballten Faust auf den Küchentisch, und verzog das Gesicht vor Schmerzen.

Raus, ich muss raus. Er griff nach der Jacke, stieg in seine grünen Gummistiefel und eilte zum Strand. Voller Unruhe lief er am Wassersaum entlang, bückte sich, prüfte Steine, fand zwei Hühnergötter, befühlte sie auf dem Rückweg in der Jackentasche. Unterdessen war es dunkel geworden. Kein guter Tag.

 

Sie fühlte sich verlassen wie ein Kind und beschloss, Kristian anzurufen und gleich wieder aufzulegen. Sonja starrte auf ihr Handy, tippte langsam seine Nummer ein und warf gleichzeitig einen Blick auf die Armbanduhr. 22.45 Uhr. Da würde doch auch ein älterer Mensch noch wach sein? Oder gingen Leute über Fünfzig gleich nach den Nachrichten ins Bett? Zu ihrer Überraschung hörte sie wirklich seine Stimme mit einem knappen »Hallo?«.

Sie versuchte erst gar nicht zu antworten, lauschte nur auf seine Atemzüge, genoss dieses stumme Zuhören, es war wie ferne Musik. Sonja zuckte zusammen, als sie jetzt: »Wer ist denn da?«, vernahm. Schnell drückte sie das Gespräch weg. Seine Stimme war weich, so hatte sie diese nicht in Erinnerung. Vielleicht sprach er zu Hause anders als in Berlin? Da war er knapp, auffordernd und autoritär gewesen. Sie war versucht, noch einmal anzurufen – aber was sollte er ihr sagen, wenn er nicht wusste, wer ihn anrief?

Sonja legte sich in das weiß lackierte Pensionsbett und betete, dass der Fotograf weder verheiratet noch anderweitig liiert war. Es war keine Zeit mehr, das selbst herauszufinden. Morgen würde sie ihn ansprechen, auf sich aufmerksam machen, nachher war er weg, und alle Hoffnungen verzogen sich wie eine Fata Morgana.

 

Die heiße Dusche entspannte die schmerzenden Nackenmuskeln. Später zog er sich eine DVD mit einer Aufnahme von Monteverdis Orfeo aus dem Regal, schob sie in den DVD-Player und holte sich ein Glas Rotwein. Barockopern beruhigten ihn normalerweise. Nur heute nicht. Er war nervös, kribbelig, trank den Wein zu schnell, und nach einem Drittel schaltete er den Player aus. Er konnte sich nicht konzentrieren, gähnte und wollte nur noch ins Bett und schnell einschlafen, um nicht über seine Sorgen grübeln zu müssen.

Während er das Glas in die Küche brachte, klingelte das Telefon. Kristian sah auf die Wanduhr – 22.45 Uhr –, während er sich fragte, wer ihn um diese Zeit noch anrufen könnte, bevor er abnahm: »Hallo?« Er hörte jemanden am anderen Ende schweigen. Spürte, dass es ein unruhiges Schweigen war, kein gesammeltes, das Ruhe bringen würde. Als das Schweigen immer nervöser schien, wurde aufgelegt. Das ärgerte ihn. Gereizt wollte er das Telefon in die Ecke werfen, atmete durch, stellte es weg und ging ins Bett. Warum sich über andere aufregen, die nur schweigen.

Sie zog die Bettdecke über den Kopf und stellte sich sein Gesicht vor. Ein schweres, beinahe faltenloses Gesicht und keinen schmallippig gewordenen Mund, wie ihn ältere Männer häufig haben, nein, sie sah diesen vollen Mund, wahrscheinlich küsste er gut. Seine Halspartie war nicht mehr so straff, aber Sonja fand, dem Mann stehe sein Alter. An seine Hände konnte sie sich nicht erinnern, und die Augen waren dunkel, vielleicht braun. Sein Blick wirkte freundlich und offen, nicht misstrauisch. Aber so dumm war sie nicht. Sie wusste, dass auch ein freundlicher Blick hart, ernst und wütend werden konnte.

Dieses Mal werde ich nichts falsch machen! Und in Berlin werde ich dann mit ihm in Heikos Klitsche gehen, der fetten Irina an der Kasse sagen, ich möchte den Geschäftsführer sprechen, letztens kaufte ich hier Salat, so was von vergammelt … Allein dafür brezel ich mich auf, mit Kleid und Hut, dem Heiko wird vor Ärger die Lülle triefen.

In der Dunkelheit wanderte ihr Blick durch das Pensionszimmer, zu dem Kleiderschrank aus Holz, dem Schreibtisch, Stuhl, zu den Bildern, Fotografien von Hiddensee, Hafen, Pferde, Natur. Sie stellte sich das Innere seines Hauses vor und begann, es nach ihrem Geschmack einzurichten. Die Küche ließ sie aus, Kochen konnte sie nicht. Bisher hatte sie in ihrer kleinen Berliner Küche ausschließlich die Mikrowelle zum Aufwärmen von Fertiggerichten genutzt oder mit Heiko gegessen, in Szenerestaurants am Prenzlauer Berg wie dem Rodeo, das über einen dunklen Hinterhof zu erreichen war. Beim ersten Besuch konnte sie nicht glauben, was Heiko ihr versprochen hatte. Aber nachdem sie die alte Treppe hinaufgestiegen waren, staunte sie mit offenem Mund über den prächtigen Kuppelsaal mit den festlich eingedeckten Tischen. Nur hatte ihr Filialleiter leider keine Lust, nach getrüffeltem Rahmwirsing noch irgendwo abzutanzen. Nein. Ins Bett wollte er dann. Mit ihr.

Wenn ich bei Kristian wohne, können wir ja auch außerhalb essen. Wie kocht man bloß? Sonja seufzte.

In ihrer Vorstellung kam sie über das Schlafzimmer nicht hinaus. Ob die Tapete hellrosa-weiß gestreift sein dürfte? Würde er das zu mädchenhaft finden? Und so ein riesiges Bett mit Baldachin oder besser nicht? Ich lege mich mit grün lackierten Fußnägeln da drauf und mit sonst gar nichts. Grün hebt sich so schön von rosa ab.

Eins nach dem anderen, ging es ihr durch den Kopf, ehe sie gegen zwei Uhr einschlief.

Kapitel 6

 

»Ist das warm!« Nora Friedrichsen setzte sich auf die Leitersprossen und ließ die Beine baumeln, während sie die Hemdärmel hochkrempelte, die ständig rutschten. In der Dachrinne lag eine Flasche Wasser. So brauchte sie nicht jedes Mal nach unten steigen. Sie griff danach, öffnete und trank durstig. Den Rest goss sie sich über das Gesicht und ließ es vom Wind trocknen.

Diese Insel … Kennengelernt hatte sie Hiddensee vor vielen Jahren, und die Erinnerung daran war geblieben als eine Sehnsucht, der man gern nachhängt. Sie hatte sogar seit einiger Zeit im Gesamtwerk Gerhart Hauptmanns gelesen.

Als die Dinge geschahen, die ihr Leben durcheinanderwirbelten, nahm sie auf Anraten ihres damaligen Chefs den Jahresurlaub, gab endlich dieser Inselsehnsucht nach und reiste nach Hiddensee. Sicher war es kein Zufall, dass sie beim Spazierengehen in einen Garten schaute, in dem Mohn und Kornblumen üppig blühten und leuchteten. Das Tor stand weit offen. Sie legte sich ins Gras, um einzelne Blüten zu fotografieren. Erst, als sie wieder aufstand, sah sie die zierliche Frau, die vor ihr stand, und dahinter das Haus, das sich auch auf dem Grundstück befand. Sofort kam sie mit ihr ins Gespräch, es war, als hätten sie sich schon lange gekannt. Und in diesen Gesprächen erzählte Jutta Weiß, dass sie verkaufen wolle, da ihr die Pflege des Gartens und das Haus zu viel würde. »Sehen Sie, überall bröckelt es, das schaffe ich mit meinen Dreiundsiebzig nicht mehr. Aber ansonsten ist es in Ordnung, es muss nur gründlich renoviert werden.« Sie habe sich in Hannover eine Wohnung gekauft. Ohne weiter zu überlegen, fragte Nora: »Wie viel wollen Sie denn dafür haben?« Als Frau Weiß sagte: »Na, einhundertachtzigtausend müssen es schon sein. Und das ist günstig. Schauen Sie sich mal um, was hier allein die Grundstücke kosten!«, dachte Nora an ihre Eigentumswohnung in Tübingen, die eine fantastische Innenstadtlage hatte, und daran, dass der Urlaub bald zu Ende war und es ihr nicht gut ging, wenn sie an die Rückreise dachte, weil amtsärztliche Untersuchungen anstanden. Es ging ihr so viel durch den Kopf, dass Frau Weiß sie am Ärmel fasste und fragte: »Hat Sie der Blitz getroffen?« Nora war entsetzt zurückgewichen. Sie konnte es nicht ertragen, wenn Fremde sie anfassten.

»Das Haus interessiert mich sehr«, brachte sie stattdessen hervor. »Ich möchte es gern von innen sehen.«

Wieselflink eilte Frau Weiß vor ihr her. Das Haus roch nach Verfall, nach Staub, nach alten Menschen. Und doch bezauberte es Nora auf eine Weise, die sie nicht genau benennen konnte. Sie wollte es haben, unbedingt, und überredete Frau Weiß, ihr eine Option für ein viertel Jahr zu geben, schließlich müsse sie neben ihrer Arbeit zu Hause eine Menge regeln. Was sie wirklich musste, ging Frau Weiß nichts an.

 

Bei kurzen, lauten Geräuschen erschrak Nora sehr und musste weinen, egal, in welcher Situation sie sich befand, sie konnte sich nicht mehr konzentrieren, war gedanklich abwesend, und Flashbacks überfluteten sie. Es folgten Gespräche mit einem Traumatologen. Sie wurde krankgeschrieben. In dieser Zeit entschloss sich Nora endgültig, ihre Wohnung zum Verkauf anzubieten und machte einen Vorvertrag. Nach der Prüfung des Hausexposés bewilligte die Bank Nora die Zwischenfinanzierung. Ihre Eigentumswohnung war mehr als dieses Häuschen wert. Mit Frau Weiß einigte sie sich auf 143.000 Euro.

Der Amtsarzt vom medizinischen Dienst schrieb Nora arbeitsunfähig und empfahl die Frühpensionierung. Während das Haus auf der Insel leergeräumt wurde, konnte Nora ihre Wohnung verkaufen und ließ die Möbel durch eine durch eine Spedition in Stralsund einlagern.

 

Sie wollte nur noch weg. Noch aber kamen Gespräche mit dem Polizeipsychologen, denen musste sie sich stellen. Alles noch ordentlich abwickeln, war ihr Gedanke. Der Mann riet ihr zur Frührente. Nur davon wollte sie nichts wissen. »Es wird schon wieder!«, sagte sie ihm wenig überzeugend. Dann meldete sich ihr Fluchtimpuls. Nicht einmal von Freunden und Kollegen verabschiedete sie sich richtig. Lud auch niemanden der Kollegen ein. ›Besucht mich doch später, wenn ich eine Wohnung habe‹, brachte sie nicht heraus. Nora hinterließ eher kühle Abweisung und nur wenige ahnten, warum.

Auf Hiddensee richtete sie sich provisorisch ein. Riss die scheußlichen Tapeten ab. Dieses Gebäude schrie nach Farbe, ganz sicher nicht nach Blümchentapeten.

Sie nahm ihre neue Umgebung, die neuen Menschen deutlich wahr, aber noch waren sie Figuren, die über ihre Netzhaut huschten.

Sie wollte für sich sein.

Nun war Nora angekommen. Die Insel war für sie Magie. Dies war der Ort, an dem sie bleiben wollte. Sofort hatte Hiddensee ihr ein Zuhauseseingefühl vermittelt. An manchen Tagen, wenn sie verdreckt in ihrem vorsintflutlichen Badezimmer stand, die freistehende Wanne mit der vom Alter gelblich gefärbten Emaille betrachtete, wünschte sie sich einen luxuriösen Badetempel. Dafür und für die weitere Innenausstattung, auch für den Kamin, versuchte sie, regelmäßig von ihrem Krankengeld einen Betrag wegzulegen. Das gelang nicht immer. Es musste Geld für anderes übrigbleiben, wenn sie das Bedürfnis verspürte, raus zu müssen, nach Hamburg, Stralsund oder Göteborg. Aber nach Tübingen würde sie nicht mehr ohne zwingenden Grund fahren.

Kapitel 7

 

Unter rauschendem Wasser sang Sonja: »Oh Lord, won’t you buy me, a mercedes benz. My friends all drive porsches …«, und ihre jubelnde Stimme störte niemanden. Vergnügt cremte sie sich nach dem Abtrocknen ein, genoss den Duft, den die Lotion verströmte, und als sie sich anzog, sah sie, wie der neue Push-Up-BH ihren Busen anhob, obwohl das eigentlich nicht nötig war, aber so sah er prall und lecker wie reife Pfirsiche aus.

Sie radelte durch das Dorf und hielt am Kirchweg an. Ihr war langweilig. Soll ich rechts oder links fahren? Auf dem Weg, der eher ein Sandpfad war, entdeckte sie hinter Büschen und Bäumen ein Haus mit brauner Holzverkleidung, weißen Fensterrahmen, einem hellen Wintergarten und grünen Fensterläden. Gerhart Hauptmann-Haus. Wieso hat der Typ eine Gedenkstätte? Und dafür muss man Eintritt zahlen?, staunte sie. Was soll’s, auf die drei Euro kommt’s auch nicht mehr an. Mir ist so ätzend langweilig.

In einem Holzhäuschen gab es unzählige Bücher über ihn. Auf der Terrasse hing in Lebensgröße auf einem Foto der alte Mann. Beeindruckt blickte sie ihn an. Anzug, Spazierstock, helle Schuhe. Edel! Dichter war er also. Gewaltig sieht er aus, mit den wilden weißen Haaren. In den Zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts lebte er hier? Hatte der es gut. Brauchte nur zu dichten, dachte sie neidisch, der musste sich nicht um einen Job und eine Wohnung kümmern. Konnte fantastisch wohnen, Terrasse, Arbeitszimmer, Schlafräume, Weinkeller. Verdient man heute mit Dichten auch noch Geld? Ich muss mich mal erkundigen, kann ja nicht so schwer sein. Vielleicht ist das auch was für mich. Sie strich über das leuchtende dunkle Petrol einer Holztür, ein Fenster war weit geöffnet und ein Holunderbusch wuchs bis in den Raum. Sonja setzte sich auf die Stufen aus rotem Klinker und blickte in den kleinen Park, sah Vergissmeinnicht und sommerroten Klatschmohn. Ein kostenloses Faltblatt hatte sie eingesteckt, auf dem eines seiner Gedichte stand:

»… ein buntes Geschwärm:

entbundener Geist,

verdorben, gestorben zuallermeist.«

Was meint er damit? Versteh ich nicht. Aber verdorben und gestorben sagten ihr etwas – und beunruhigte sie. »Ich will noch lange nicht sterben. Ganz bestimmt nicht.«

Sie fuhr zur Inselkirche, stieg ab und lehnte das Rad gegen eine Mauer. Das alte weiß gestrichene Gotteshaus war geöffnet. Sie entdeckte die Glocke im alten Gebälk, betrachtete andächtig die Rosenbemalung auf der Holzdecke, den schwebenden Taufengel und dachte, einen Engel, ja, den kann ich gebrauchen. Mein Schutzengel hat mich ja schon vor langer Zeit allein gelassen. Erstaunt nahm Sonja die helle Atmosphäre wahr. Weiß und blau, erfrischende klare Farben. Die Vergoldungen am Altar waren ohne Prunk. Durch die Fenster rechts und links vom Altar strömte Septembersonne, und sie spürte einen Frieden, der ihre Unruhe beiseiteschob.

Sie bekam Lust, sich auch den Friedhof anzuschauen. Es war so still hier. Ungewohnt, wenn man aus dem lauten Berlin kam. Sie sah das satte Grün der Büsche und Bäume, jahrhundertealte Grabsteine, las Namen, die sie noch nie gehört hatte.

Als sie auf ihre rosafarbenen Turnschuhe mit den Strasssteinchen blickte, kam sie sich mit einem Mal deplatziert vor. Sie fand, dass die anderen Besucher, die meist im Rentenalter waren, sie komisch ansahen. Vielleicht aber auch, weil sie sich einen bunten Schal ins Haar und auf dem Kopf zu einer Schleife gebunden hatte. Sie fand das witzig, es sah ein bisschen wie Daisy aus. Der Wind zauste sowieso, und auf einer Ferieninsel durfte eine Frau wie sie alles tragen.

An der Ecke zum Biologenweg bückte sie sich, weil ein Schnürsenkel lose war. Als sie sich aufrichtete, entdeckte sie ein verfallenes Haus, und in dem dazugehörigen Garten leuchteten Äpfel. Sonja hatte schon wieder Hunger.

Sie schob das schief hängende Gartentor auf, stapfte durch hohes Gras, bückte sich nach dem Fallobst und erschrak, als sie eine Stimme hörte: »Nehmen Sie nur, ich kann die gar nicht alle essen!«

In verwaschener Jeanslatzhose und Männerhemd kam Nora Friedrichsen die Leiter herunter. Sie hatte die Ärmel hochgekrempelt. Gesicht, Arme und das Dekolleté waren braun gebrannt. Das blonde Haar war mit einem Kamm hochgesteckt, sie war groß und schlank und blinzelte die Besucherin mit zusammengekniffenen Augen im Gegenlicht an.

»Also, darf ich?«, rief Sonja und steckte Äpfel in die Hosentaschen. »Ich dachte, hier wohnt keiner. Ich meine, sieht ja hier aus, als würde das Häuschen gleich zusammenbrechen. Was machen Sie auf der Leiter? Wird Ihnen nicht schwindelig?«

»Arbeiten. Dach abdecken. Die meisten Ziegel sind hin. Nein, ich bin schwindelfrei. Und Sie? Was machen Sie?«

»Urlaub und mich bei jemandem vorstellen. Schönen Tag noch, Wiedersehn.«

Schnell war Sonja weg. Nachher fragte die Frau noch, wo, was und wie. Besser nicht. Genussvoll biss sie in den Apfel.

Am Strand, der wenige Meter von diesem baufälligen Haus entfernt war, setzte sie sich in den Sand und überlegte. Schließlich konnte sie so gar nicht planen, wann sie wieder ins Café Kanne müsse. Woher sollte sie wissen, ob und wann Kristian dort seinen Kaffee trank? Oder fahre ich noch mal an seinem Haus vorbei? Dann müsste ich nach Vitte, in Richtung Neuendorf. Schön sahen sie alle aus, gegenüber von der Fährinsel diese vier roten Punkte am Weg. Reetdachhäuser. Und das letzte, das ist seins.

Ich fahre besser nicht. Denn was soll ich tun, wenn er mir entgegenkommt? Würde Kristian mich wiedererkennen? Unsinn, er wird denken, ich sei eine Urlauberin. Im Café habe ich mehr Chancen.

Was mache ich bis zum Nachmittag? Keiner da, mit dem ich reden kann, quatsche ja schon seit Tagen nur mit mir. Da wird man ja regelrecht blöd im Kopf. Ich wäre besser noch etwas bei der Frau mit dem kaputten Haus stehen geblieben, da hätte ich jemanden zum Reden gehabt. Ich muss mir abgewöhnen, immer so schnell wegzulaufen.

Sie zog ihre Turnschuhe aus, krempelte die Jeans hoch, ging bis zu den Waden ins Wasser, kreischte: »Ist das kalt!« Etwas weiter schwamm eine Frau, die sie breit anlachte. »Ausziehen und reingehen!«

»Sind doch höchstens 20 Grad.«

»Na und?«, kam es fröhlich zurück.

Eine Familie kam ihr entgegen. Sonja wollte ausweichen, hüpfte zur Seite, und eine etwas kräftigere Welle schwappte ihr bis über die Knie. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als in der Sonne zu trocknen. Fluchen lohnte nicht, und sie wollte sich auch keine Blöße geben. Die schwimmende Frau kam raus, ging zu ihrer Kuhle und brachte ihr ein Handtuch: »Versuchen Sie, etwas trockener zu werden.«

Während der kleinen Unterhaltung, über die Sonja froh war, dachte sie an ihre Hoffnung auf Arbeit, den Mann, auf eine Wohnung.

 

Kein Tisch frei? Kann doch nicht wahr sein! Sonja umrundete das Café, entdeckte zu ihrer Erleichterung den Fotografen, der auch heute allein vor seinem Kaffee und einem Buch saß. Eine große Kamera lag neben der Tasse.

Könnte mich ja gleich daneben setzen? Sie überlegte, geh doch hin, aber sie ging zu den Schiffen, das war nicht so auffällig. Sie betrachtete übereinander gestapelte leere Fischkisten und hatte nicht die Nerven, sich ein anderes Szenario auszudenken, sie dachte an das beschissene Leben, das ohne ihn vor ihr lag. Wie im Traum hörte sie Stimmen, das Plätschern der Wellen und wusste nicht mehr, wie sie den Mann ansprechen sollte. Ich muss mich entscheiden. Die erste Chance hatte sie verpasst – sich eben nicht an seinen Tisch gesetzt zu haben. Wäre so einfach gewesen. Ein Mann in dem Alter würde ihr die Bitte ganz sicher nicht verweigern.

Sie drehte sich um, schließlich musste sie weggehende Gäste im Blick behalten. Endlich wurde was frei. Sie raste dahin, keuchte, als sie sich setzte. Es war ihr, als hätte sie Schwerstarbeit geleistet. »Eine Tasse Kaffee, bitte.« Ein großes Stück Kuchen dazu wäre ihr lieber gewesen. Nur das gestrige Abendessen war verdammt teuer gewesen, jedenfalls für ihre derzeitige finanzielle Situation. Was für ein Blödsinn, das Ganze! Sie blickte ihre Hände an. Der helle Nagellack blätterte. Und die Finger bebten wie der beginnende Flügelschlag eines großen Insekts.

Hastig trank sie den bitteren Kaffee, verbrannte sich die Zungenspitze, während sie sich wie vor einem Zehn Meter-Sprung von irgendeinem Freibadturm fühlte.

Mit einem Ruck stand sie auf und zupfte ihre Schleife zurecht. Das Tuch jetzt rausnehmen ging nicht, dann würde sie wie eine zerzauste Krähe aussehen. Sie steuerte auf den Mann zu. Der lange geübte Satz fiel ihr nicht mehr ein: ›Sie sind doch der Fotograf aus Berlin, der Herr Peterson, erkennen Sie mich wieder?‹ Sie war so angespannt, dass sie über ihren wieder losen Schnürsenkel stolperte. Noch im freien Fall fühlte sie Arme und roch einen satten herben Duft. »Eine junge Frau zum Nachtisch auf meinem Schoß?«

Die Gäste an den anderen Tischen schmunzelten.

»Ich bin nicht Ihr Nachtisch«, sagte sie, »ich …«

»Beruhigen Sie sich.« Und dann hörte sie ihn lachen, laut und überrascht.

Sie saß auf seinem Schoß, und als sie merkte, dass die Situation eine reale war, sprang sie erschrocken hoch.

»Wollen Sie nicht sitzen bleiben?« Seine Augen blitzten.

Kapitel 8

 

Kristian wusste nicht so recht, warum er ihr vorgeschlagen hatte, das Café zu verlassen. Er hatte Hunger. Nur Kaffee war etwas wenig, schließlich war es Nachmittag geworden und das Frühstück lange vorbei. Aber jetzt irgendwohin und etwas bestellen, lange warten, bis das Essen käme – nein, heute nicht. »Haben Sie schon was gegessen?«, hatte er die Kleine gefragt, die da so unvermittelt auf seinem Schoß gelandet war. Sie hatte mit dem Kopf geschüttelt, und ehe er noch überlegte, war das »Na dann lad ich sie doch auf einen Stehplatz bei Annemarie ein«, heraus. Jetzt standen sie vor dem Imbiss, jeder ein Brötchen mit geräuchertem Butterfisch in den Händen und ein Bier vor sich.

Dieses Tuch, das sie sich da ins Haar gebunden und verknotet hatte, war ein gewöhnungsbedürftiger Anblick. Obwohl … na ja, irgendwie auch nett.

»Fischbrötchen gehören eigentlich nicht zu meiner üblichen Ernährung. Es schmeckt aber gut«, begann er das Gespräch. Ich habe mal wieder nicht gefrühstückt. Passiert mir inzwischen oft.« Er schluckte hastig, gierig und betrachtete Sonja. »Essen Sie auch so unregelmäßig?«

»Nein, nein. Fisch geht schon.«

»Ja, Sie müssen wissen, ich ernähre mich sonst nach der Fünf-Elemente-Lehre und das schon seit fast dreißig Jahren. Aber ein Fanatiker bin ich nicht, ich kann auch fünfe grade sein lassen. Sehen Sie ja. Dann ist mal ein Fischbrötchen bei Annemarie dran, Fritten im Pott oder eine Bulette in Berlin drin.«

»Ich kenn das. Ich ernähre mich auch phlegmatisch.«

»Bitte was?«

»Na ohne Fleisch. Nur Fisch. Aber wenn’s gar nicht anders geht, dann esse ich auch Fleisch mit, um diejenigen nicht zu kränken, mit denen ich zum Essen bin.«

»Sie meinen, Sie essen vegetarisch?!«

»Genau das. Was habe ich gesagt?«

»Phlegmatisch.«

»Komisch. Was ist das?«

»Das sind Menschen, deren Temperament langsam, ruhig und schwerfällig ist.«

»Nee, dat bin ick nich. Ick glob, et jibt keene Balinerin, die phlegmatisch ist. Wa?«

Er musste lachen. Ihr dialektgefärbter Ausspruch kam so unvermittelt und frisch. Muss ich mir merken, dachte er. Irgendwie war da auch noch was, so, als hätte er sie schon mal gesehen.

»Ich bin da anders«, redete sie hochdeutsch weiter. »Ich kann nicht lange ruhig sitzen, muss immer was tun. Am liebsten organisiere ich. Alles muss bei mir zack, zack! gehen. Lange aufschieben oder ewig warten, ist ja genauso Hölle, ist fast wie nichts zu tun haben.«

»Was machen Sie beruflich?«, fragte er interessiert.

»Nichts.« Sie schluckte den letzten Bissen Butterfisch. »Im Moment jedenfalls. Deshalb bin ich ja hier.«

Sie fasste in ihren Rucksack, wühlte und zog dann eine Visitenkarte heraus, die sie ihm hinschob. Er erkannte, dass es seine eigene war.

»Die haben Sie mir in Berlin gegeben und gesagt, ich könne immer wieder mal anfragen.«

In Berlin? Was war in Berlin? Er überlegte fieberhaft. Ach, der letzte Auftrag. Diese Fotoserie mit den Designermöbeln.

»Ach? Dann waren Sie das Model, das wir für die Schreibtische, Schränke und Regalwände brauchten.«

»Genau. Bin ich aber froh, dass Ihnen das eingefallen ist.«

Sie schien erleichtert darüber zu sein. Aber eine konkrete Erinnerung hatte er nicht. Er merkte sich die Gesichter der Models ja nie. Die standen bei seinen Arbeiten nicht im Vordergrund. Nicht sie wurden fotografiert, sondern die Objekte, zwischen die sie gestellt wurden.

»Sie sind von Berlin nach Hiddensee, um mich nach einem Job zu fragen? Da hätten Sie doch anrufen können.«

»Hab’s versucht, aber wieder aufgelegt, weil ich mich nicht traute. Eine Absage kann ich nicht gebrauchen, und so anonym am Telefon … Wenn mir aber einer gegenübersteht und mich ansieht, kann ich besser reden. Zumindest bei jemandem wie Ihnen. Sie kanzeln mich ja nicht ab oder schieben mich hochnäsig beiseite, wie andere das machen. Zumindest denke ich, dass Sie so sind. Hab ja gesehen, wie Sie mit den anderen umgingen.«

Meinte sie das ernst? Oder hatte sie ihren Honigtopf dabei, um einen Job zu bekommen? Er sah ihr in die Augen. Sie erwiderte seinen Blick offen und auf eigentümliche Weise unschuldig. Ohne zu zucken. Blau, dachte er. Unglaublich blau.

Bei diesem langanhaltenden Blick legte er seine Hand auf ihre und sagte: »Einen Job als Model kann ich Ihnen nicht geben. Das Projekt, das ich bald in Angriff nehme, kommt ohne aus. Aber es sind einige administrative Aufgaben zu erledigen. Wollen Sie die übernehmen? Wenn ja«, er machte eine Pause, zog mit irritiertem Blick seine Hand zurück, »dann haben Sie für die nächsten Wochen einen Job.«

Jetzt lacht sie überrascht. Mit so einem schnellen Erfolg hat sie wohl nicht gerechnet.

»Administrativ? Was muss ich da machen?«

»Haben Sie nicht eben gesagt, Sie organisieren gern und bei Ihnen muss alles zack, zack! gehen?«

Sie nickte.

»Also, damit meine ich, dass es viel zu organisieren gibt. Verwaltungskram ist zu erledigen. Telefonate sind zu führen. Leute müssen organisiert werden, Termine sind abzusprechen. Die Einhaltung der Termine ist zu überwachen. So etwas.«

»Top. Das mach ich. Das kann ich gut. Wann geht’s los?«

»Sofort. Das heißt, heute nicht mehr, aber morgen oder übermorgen können wir anfangen. Kommen Sie morgen zu mir, meine Adresse haben Sie ja, dann erkläre ich alles und übergebe Ihnen die Aufgaben.«

»Arbeiten wir auf Hiddensee?« Sie strahlte ihn dermaßen an, dass er sich fragte, warum denn nur? Und blickte zu der Stoffschleife in ihrem Haar, die auch zu strahlen schien.

»Nur anfangs. Später müssen wir nach Berlin. Es gibt einiges mit meinem dortigen Assistenten zu besprechen. Er muss uns auch ein paar Dinge am Computer vorweg machen, 3D-Modelle entwickeln, die wir später in die Fotos integrieren. Und dann fahren wir nach Köln. Dort sitzt der Auftraggeber.«

»Wie lange bleiben wir auf Hiddensee?«, fragte sie. »Ich habe ja nur noch mein Zimmer bis morgen.«

»Verlängern Sie für fünf Tage.«

Schweigend betrachtete sie ihre Fingernägel.

»Geht das nicht? Ist schon alles belegt?«

»Doch, nein … nur …«

Er verstand plötzlich, weshalb ihre Stimmung so schnell umgeschlagen war.

»Verlängern Sie. Ich gebe Ihnen einen Vorschuss über fünfhundert Euro. Für die ganzen sechs Wochen bekommen Sie zweitausend Euro, Spesen für die Reisen nach Berlin und Köln extra. Aber ich kann Sie nicht einstellen. Sie müssen das freiberuflich machen.«

Gleich springt sie über den Tisch und knutscht mich ab, dachte er. So, wie sie lacht und rumhüpft, ist sie zu allem fähig.

»Klar, das mache ich immer. Ich arbeite seit langem nur noch freiberuflich. Das Honorar ist schon okay. Der Vorschuss ganz besonders. Dummerweise bin ich überklamm sozusagen. Mit dem Geld helfen Sie mir aus einer ganz blöden Patsche. Das Zimmer ist bis morgen bezahlt, aber dann hätte ich nicht weitergewusst.«

»Kommen Sie, wir gehen noch ein wenig spazieren«, schlug er vor.

Kapitel 9

 

Sie gingen zum Hafen, bogen den Weg am Ufer ein Stück Richtung Neuendorf, vor der Seeblänke zum Wiesenweg ab und wieder zurück nach Vitte. Sie erzählte von Heiko. Sie musste wenigstens einen Teil dieser Geschichte loswerden. »Ich habe ihm die Hauptarbeit der Verwaltung beim Discounter abgenommen. Er ist nur rumstolziert, kontrollierte und schnauzte mich an. Plötzlich hat er eine neue, so eine junge Verkäuferin ohne Erfahrung, kaum zwanzig, und ich bin nicht nur abserviert – ›deine Zahnbürste kannst du heute Abend auch bei mir abholen‹, hat er grinsend gesagt und die Porscheschlüssel eingefordert – sondern von jetzt auf gleich gekündigt. Kündigungsschutz bei freien Mitarbeitern gibt’s ja nicht, hat er mir noch hämisch ins Mail geschrieben. Seine abgelaufenen Lebensmittel habe ich ihm dann ins Büro geknallt, aber richtig! Ein paar Joghurts platzten auf und liefen ganz fein über seinen edlen Schreibtisch. Ich hatte ja keinen Arbeitsvertrag. Als Freie habe ich nachher mehr in der Hand, dachte ich jedenfalls. Aber dann kam das Finanzamt, diese blöden Hunde, was sind die gierig nach anderer Leute Kohle. Alles war weg, futsch, alles, was ich mir zur Seite gelegt hatte. Angeblich hätte ich nicht genug Steuern gezahlt.«

»Warum gehen Sie nicht zum Arbeitsamt?«

»Nein danke. Einmal und nie wieder. Dann wäre ich ja Hartz IV. Lieber verhungern, ehrlich. Das mach ich nicht.« Sie bückte sich, hob eine Muschel auf und hielt sie gegen das Licht. Sie schimmerte wie Perlmutt. Kristian betrachtete Sonja von der Seite. Hübsche Figur, fürs Modeln zu klein. Aber fürs … Er schüttelte energisch den Kopf, um weiterführende Gedanken zu vertreiben, und sagte stattdessen: »Ich kann Ihnen auch keinen langfristigen Job geben. Nach sechs Wochen ist erst Mal Schluss, und ob es Folgeaufträge gibt, hängt von verschiedenen Faktoren ab.«

»Sie meinen, ob ich diesen Job gut mache?«

»Das auch. Natürlich. Aber vor allem auch davon, ob ich selbst neue Aufträge bekomme. Bisher hatte ich nie Probleme. Aber ich habe meinen Kunden gesagt, dass ich eigentlich nicht mehr arbeiten will. Dass ich es jetzt doch noch für eine Weile muss, haben nicht alle wirklich registriert, als ich mich wieder meldete. Und manche haben sich längst neu orientiert.« Was erzähle ich da einer Fremden, die nur kurz bei mir arbeiten wird? Werde ich geschwätzig wie ein altes Weib?

Sie schwiegen. Der Hafen zur rechten Hand kam wieder in Sicht.

Feriengäste radelten in Gruppen vorbei. Ältere korpulente Männer mit Jeansjacken, Kappen und T-Shirts, mit Hosenträgern und Sandalen. Sie winkten Kristian und seiner Begleiterin zu.

Eine Frau joggte auf sie zu und blieb abrupt vor ihnen stehen. »Sorry, ich war in Gedanken beim Dachdecken.« Bei den Worten blickte sie Kristian an, begann zu lächeln, die Mundwinkel bogen sich zögernd nach oben, das Lächeln wanderte über die Wangenknochen, erreichte ihre Augen, die aufleuchteten und dann skeptisch blickten. Aber dieses kurze Lächeln ergriff Kristian wie ein lange nicht gelesener Brief. Er rührte sich nicht. Sein Mund war trocken, er brachte nur: »Dachdecken?« hervor.

»Warum nicht?«, sagte die Frau, die er um die Fünfzig, vielleicht auch etwas darüber schätzte. Ihr blondes offenes Haar wehte im Wind.

Sie musterte den Mann und die junge Frau. Möwen kreischten. Kraniche flogen vorüber. »Wollen Sie mich nicht vorbeilassen? Ihre Tochter habe ich ja schon kennengelernt.« Wieder dieser zweifelnde Blick, versetzt mit einer Prise Spott.

Ohne darüber nachzudenken, nur mit dieser aufwallenden Freude, die aus großen Enttäuschungen herrühren kann, verbeugte er sich und trat beiseite. Sonja, die eigenartig verbissen aussah, war stehen geblieben und wollte nicht weichen. Er griff mit bebenden Fingern nach seiner Begleiterin, sagte zu ihr: »Sie sehen, unsere schönen Insulanerinnen sind recht eigenwillig.« Seine Betonung lag auf »Sie«.

Die Frau lief weiter. Er starrte ihr hinterher, und dann sah er sie nicht mehr.

Sonja hustete, um sich bemerkbar zu machen. »Tochter? Die hat sie wohl nicht mehr alle. Die Frau habe ich heute früh gesehen, die werkelte an so einem alten Haus rum, eine richtige Bruchbude, in der Nähe von diesem Dichterhaus. Egal. Aber was Sie mir vorhin erzählten, verstehe ich schon. Irgendwann ist das Alter erreicht, wo man nicht mehr arbeiten will oder muss. Das kenne ich von meiner Mutter. Die ist jetzt in Rente. Na klar. Wäre auch zu schön gewesen, gleich eine Lebensstellung zu bekommen. Aber ich freue mich schon über diese sechs Wochen und dass das geklappt hat – den Blues kann ich danach immer noch singen.«

»Sie singen?«

»Unter der Dusche und ausschließlich für mich alleine.«

»Ach so. Trotzdem. Musik machen …« Er schwieg und schien nachzudenken. Erst nach ein paar Minuten setzte er wieder ein: »Ganz früher habe ich mal Klavier gespielt. Klassische Ausbildung. Während des Studiums dann auch in einer Jazzband. Mitte der Sechziger war das noch das Richtige für Intellektuelle. Der aufkommende Beat war da noch verpönt. Das kam erst später so richtig, nach 68.«

»68? Mensch, da hatte man mich noch nicht mal geplant. So lange ist das her? Erzählen Sie mal, ich find’s wahnsinnig aufregend …«

»Wir hatten die alten Jazz-Standards drauf. Heute höre ich nur noch Klassik, am liebsten italienische Barockopern, doch manchmal fallen mir die Sachen wieder ein. ›Goodbye, Pork Pie Hat‹, oder ›Ain’t Mishbehavin’‹ …«

Sie blickte ihn erstaunt an und begann leise zu singen:

»No one to talk with,

All by myself …«

Er griff die Melodie durch Pfeifen auf, brach dann ab und sang mit ihr zusammen das Ende des Refrains:

… Ain’t misbehavin’,

I’m savin’ my love for you.«

Er lachte, und sie fiel in dieses Lachen ein.