Ein Sommer voller Salbeiduft - Pia Casell - E-Book
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Ein Sommer voller Salbeiduft E-Book

Pia Casell

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Beschreibung

Wie ein Sommer-Urlaub auf Kreta: Im heiteren Urlaubsroman »Ein Sommer voller Salbeiduft« verliebt sich ein Hamburger nicht nur in die wunderschöne griechische Insel. Eigentlich will der Hamburger Geschäftsmann Sören auf Kreta nur möglichst schnell das baufällige alte Haus verkaufen, das er von einer Tante geerbt hat. Doch bevor er dort überhaupt ankommt, hat sein Mietwagen eine Panne, sein Handy kein Netz, und die Wegweiser sind natürlich auf Griechisch. Sören ist mitten in der kretischen Pampa gestrandet. Zum Glück gabelt ihn die selbstbewusste Alíki auf und nimmt ihn kurzerhand mit zu ihrer fröhlichen (und nur ein kleines bisschen verrückten) Großfamilie, die einen Oliven-Hof mit angeschlossenem B&B bewirtschaftet. Während Sörens Aufenthalt auf Kreta sich ungeplant in die Länge zieht, verliebt er sich nicht nur in die nach Salbei und Meersalz duftende griechische Insel. Doch in Hamburg wartet nicht nur die Verantwortung gegenüber dem Familienunternehmen auf ihn: Es gibt da noch etwas anderes, das er Alíki gleich am Anfang hätte sagen sollen … Mit »Ein Sommer voller Salbeiduft« hat Pia Casell ihren zweiten Urlaubsroman zum rundum Wohlfühlen geschrieben: Perfekte Urlaubslektüre für alle, die nach Kreta oder Griechenland in Urlaub fahren oder davon träumen. In Pia Casells erstem heiterem Urlaubsroman, »Oliven zum Frühstück«, lernt die deutsche Archäologin Lisa auf Kreta den Oliven-Bauern Charis kennen – Alíkis Cousin.

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Seitenzahl: 379

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Pia Casell

Ein Sommer voller Salbeiduft

Roman

Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG.

Über dieses Buch

Wie ein Sommer-Urlaub auf Kreta:

Im heiteren Urlaubsroman »Ein Sommer voller Salbeiduft« verliebt sich ein Hamburger nicht nur in die wunderschöne griechische Insel.

Eigentlich will der Hamburger Geschäftsmann Sören auf Kreta nur möglichst schnell das baufällige alte Haus verkaufen, das er von einer Tante geerbt hat. Doch bevor er dort überhaupt ankommt, hat sein Mietwagen eine Panne, sein Handy kein Netz, und die Wegweiser sind natürlich auf Griechisch. Sören ist mitten in der kretischen Pampa gestrandet.

Zum Glück gabelt ihn die selbstbewusste Alíki auf und nimmt ihn kurzerhand mit zu ihrer fröhlichen (und nur ein kleines bisschen verrückten) Großfamilie, die einen Oliven-Hof mit angeschlossenem B&B bewirtschaftet. Während Sörens Aufenthalt auf Kreta sich ungeplant in die Länge zieht, verliebt er sich nicht nur in die nach Salbei und Meersalz duftende griechische Insel. Doch in Hamburg wartet nicht nur die Verantwortung gegenüber dem Familienunternehmen auf ihn: Es gibt da noch etwas anderes, das er Alíki gleich am Anfang hätte sagen sollen …

 

Mit »Ein Sommer voller Salbeiduft« hat Pia Casell ihren zweiten Urlaubsroman zum rundum Wohlfühlen geschrieben: Perfekte Urlaubslektüre für alle, die nach Kreta oder Griechenland in Urlaub fahren oder davon träumen.

In Pia Casells erstem heiterem Urlaubsroman, »Oliven zum Frühstück«, lernt die deutsche Archäologin Lisa auf Kreta den Oliven-Bauern Charis kennen – Alíkis Cousin.

Inhaltsübersicht

Widmung

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Anmerkungen der Autorin

Danke!

 

 

 

 

Für meinen Lieblingsbruder …

Weil es keinen besseren als dich gibt.

Kapitel 1

Von platten Reifen, neunmalklugen Schafen und dem allerheiligsten kretischen Ehrenkodex

Irgendwo im Osten von Kreta, Anfang Juni

Zufrieden sog Sören Johannsen die Luft ein, die durch das offene Fenster des Leihwagens drang, während die Hügellandschaft Ostkretas an ihm vorbeizog.

Die Mittagssonne brannte auf den Asphalt und die umliegenden Kalkfelsen, Sträucher und zögerlich grünen Grasbüschel nieder. Doch Sören genoss es, den Fahrtwind im Gesicht zu spüren. Er war heute Morgen bei knapp zehn Grad und Regen von Hamburg abgeflogen. Jetzt, nur ein paar Stunden später, schien es, als wäre er in einer völlig anderen Welt gelandet. Wo der Himmel strahlend blau und wolkenlos war und sogar der Wind nach Sommer roch.

Es störte ihn ausnahmsweise auch kein bisschen, dass die Klimaanlage nicht funktionierte und er gar keine andere Wahl hatte, als mit offenem Fenster zu fahren, wollte er bei diesen Temperaturen nicht geröstet werden. Der rote Toyota Aygo war der einzige kurzfristig verfügbare Mietwagen am Flughafen von Heraklion gewesen, der mehr Platz als eine Sardinenbüchse bot. Das sei nun mal so während der Touristensaison im Sommer, und wer nicht im Voraus reserviere, müsse sich halt mit den übrig gebliebenen Fahrzeugen begnügen, hatte der Angestellte des Autovermieters mit vorwurfsvollem Kinnrecken gesagt. Normalerweise hätte Sören die Klapperkiste nie im Leben akzeptiert: Die Kupplung im zweiten Gang klemmte, der Sitz ließ sich gerade mal so weit zurückschieben, dass seine Knie ihm beim Lenken nicht ständig in die Quere kamen, und das Navigationsgerät funktionierte nur nach dem Zufallsprinzip. Oder wenn der Wind gerade günstig wehte.

Egal. Diesmal nahm Sören das alles gelassen hin, das hatte er sich fest vorgenommen. Der Grund für seine Reise nach Kreta war zwar eine rein formelle Angelegenheit, es sprach jedoch nichts dagegen, dass er die Pflicht mit dem Angenehmen verband und sich wenigstens eine winzige Auszeit gönnte.

Ein harziger Geruch nach Piniennadeln und trockener Erde wehte ihm in die Nase, als er um die nächste Kurve lenkte. Rundum stiegen kantige Hügel empor. Die Tupfen der Bäume und Sträucher hoben sich deutlich vom Ocker der Erde ab. Rechter Hand konnte Sören das Meer sehen. Ein Streifen aus sattem Türkis, der sich im etwas helleren Blau des Himmels zu verlieren schien. Zu Hause in Hamburg gab es solche Farben nicht. Nicht einmal bei bombastischem Wetter. Allein dafür hatte sich der Kurztrip gelohnt.

Nach einer weiteren Kurve erkannte er ein Dorf. Ein Häufchen kleiner, weißer Häuser mit ockerfarbenen Ziegeldächern. Lastros. So stand es auf dem Ortsschild.

»Bleiben Sie auf der rechten Seite«, säuselte die monotone, fast schon gelangweilt klingende Frauenstimme des Navigationsgeräts, während Sören das Dörfchen passierte. »Folgen Sie der E75. Signalverlust. Die Route wird neu berechnet.«

Er sah auf die rotierende Anzeige auf dem Display des Navigationsgeräts und runzelte die Stirn. Schon wieder? Zum Glück hatte er während des Fluges auf einer rudimentären Touristenstraßenkarte wenigstens die ungefähre Richtung recherchiert. Die Straße führte nach Sitia, der größten Stadt im Umkreis. Von dort sollte es laut der Karte nur noch ein Katzensprung bis zu seinem Ziel am äußersten nordöstlichen Zipfel der Insel sein. Einem Dorf, von dem er bis vorgestern noch nie etwas gehört hatte. Genauer gesagt, bis ihn der Rechtsanwalt angerufen hatte, um ihm die völlig unerwartete Nachricht über das Ableben von Großtante Mette zu überbringen.

In Gedanken sah Sören den mageren Mann mit Halbglatze wieder vor sich, den er tags darauf in dessen Büro getroffen hatte, um die Testamentskopie in Empfang zu nehmen. Die Verstorbene, Mette Pappien, hatte ihn, Sören Johannsen, als alleinigen Erben bestimmt, stand dort, und er war somit der stolze neue Besitzer eines Hauses samt Grundstück in Palekastro. Auf Kreta. Wie es schien, mitten im Nirgendwo.

Aber im Grunde war das typisch für Mette. Großtantchen war immer die Exotin der Familie gewesen und hatte sich ihr Lebtag nie um irgendwelche Konventionen geschert. Im Gegenteil, Sören kannte niemanden sonst, der seine Meinung so direkt und ungefiltert aussprach. Der Umgang mit den meisten Leuten war für Mette genau deswegen vor allem lästig gewesen. Kein Wunder, dass sie sich ein Haus in einer beinahe menschenleeren Gegend gekauft hatte.

Bei der Erinnerung verzogen sich seine Lippen zu einem Grinsen. Gerade weil sie so anders gewesen war als der Rest der Verwandtschaft, hatte er Mette während seiner Flegel-Zeit zu seiner geheimen Superheldin erkoren. Sie war die Einzige gewesen, die ihn in seiner Begeisterung für einen Beruf förderte, der völlig entgegen dem Willen der Eltern und der Familientradition stand.

Das war jedoch lange her. Inzwischen war er Mitte dreißig und hatte seine Flausen endgültig abgelegt. Nach mehreren Semestern in Toronto und Peking hatte er einen Master in Economics gemacht, sprach fließend sowohl Englisch als auch Mandarin und führte zusammen mit seinem Bruder Gerit die Johannsen Tee GmbH, eine der traditionsreichsten und namhaftesten Teehandelsfirmen Hamburgs. Vom aufmüpfigen, gegen alles und jeden rebellierenden Teenager, der Actionfilme sammelte und Konservator und Restaurator in Fachrichtung Stein werden wollte, zum erfolgreichen Geschäftsmann, dem in Hamburgs High Society alle Türen offenstanden. Manchmal kam alles anders, als man es erwartete.

Es folgten noch weitere Dörfchen mit so seltsamen Namen wie Skafa oder Tourloti. Wie weiße Flecken schmiegten sie sich an die Hügelhänge und bildeten damit einen durchaus malerischen Kontrast zur Landschaft.

Sören staunte, als sich das Gelände kurz vor der Ortschaft Myrsini öffnete und linker Hand auf einmal wieder den Blick aufs Meer freigab. Die Sonnenstrahlen glitzerten auf den sanften Wellen. Oleanderbüsche blühten beidseits entlang der Straße in all ihrer Pracht, von Weiß über zartes Hellrosa bis hin zu dunklem Pink. Obwohl es sein Zeitplan eigentlich gar nicht erlaubte, brachte Sören den Wagen auf einem mit Kalkkieseln bedeckten Wendeplatz zum Stehen und stieg aus.

Sofort spürte er den warmen Wind im Gesicht, trat bis ganz an die Leitplanke heran, nahm die Sonnenbrille ab und atmete zum ersten Mal seit seiner Ankunft tief ein. Die Luft roch nach Meer und wilden Kräutern, rundum das Zirpen der Grillen, und – wow, was für ein Panorama! Wenn sich die Gegend um Palekastro nur halb so idyllisch zeigte, war es kein Wunder, dass es Mette auf diese Insel verschlagen hatte. Eigentlich schade, dass er nicht länger Zeit hatte.

Doch zu Hause in Deutschland standen wichtige Geschäftstermine an: eine Videokonferenz mit einem potenziellen neuen Geschäftspartner aus Übersee zum Beispiel. Die sich hoffentlich daraus ergebenden Vertragsverhandlungen stellten für die Firma einen Meilenstein dar. Gerit konnte die Termine zwar übernehmen, doch Sören wusste haargenau, dass sein Bruder ihm das bis zum Tag des Jüngsten Gerichts unter die Nase reiben würde. Darauf deuteten allein schon die zwölf Sprachnachrichten hin, die dieser ihm seit heute Morgen auf dem Handy hinterlassen hatte.

So kurzfristig nach Kreta zu fliegen, war allerdings keine spontane Idee gewesen, sondern eine juristische Notwendigkeit, die Sören so schnell wie möglich über die Bühne bringen wollte. Morgen um elf Uhr hatte er bereits einen Termin mit einem Anwalt aus Palekastro vereinbart. Denn um den Verkauf der Erbschaft in die Wege leiten zu können, verlangten die griechischen Behörden eine Unterschriftsbeglaubigung mit persönlicher Anwesenheit. Außerdem wollte er das Haus wenigstens einmal sehen, so viel war er Mette schuldig. Morgen Abend würde er wieder zurück nach Hamburg fliegen. Alles in allem eine kurze Angelegenheit. Schmerzlos und effizient – perfekt.

»Folgen Sie der E75 bis zur nächsten Abzweigung. Weiter in Richtung Sitia«, riet die Navi-Stimme.

»Wo soll denn hier eine Abzweigung sein?« Sören schüttelte den Kopf. Rundum gab es nichts außer den paar wenigen Autos, die ihn mit halsbrecherischem Tempo überholten, während sein Toyota den Hügel hochschnaufte.

Nach einer weiteren halben Stunde erreichte er die Stadt Sitia. Endlich. Halleluja! Gemäß Navi waren es von hier aus nur noch rund dreißig Minuten bis nach Palekastro. Sehr gut. Er hatte schließlich keine Zeit, um hier noch länger durch die kretische Pampa zu trödeln.

Die Straße führte nun die Küste entlang in Richtung Osten, vorbei an vereinzelten kleinen Hotels und Villen, während sich rechter Hand ein sanfter Hügelzug erhob.

Je weiter sich Sören von Sitia entfernte, umso spärlicher wurde der Verkehr. Auch die Landschaft hatte sich verändert, war karger, felsiger geworden, und die Oleandersträucher waren vereinzelten windzerzausten Mastixsträuchern gewichen. Die Straße schlängelte sich zunächst den Hügel empor, führte dann jedoch landeinwärts. Auf einmal waren links und rechts nur noch Olivenbäume zu sehen, dazwischen vereinzelte ockerbraune Felder, und abgesehen von den zotteligen Schafen, die dort weideten, kein Lebewesen weit und breit.

»Signalverlust. Die Route wird neu berechnet.«

»Na wunderbar. Was für ein super Timing«, schnaubte Sören. Langsam, aber sicher wurde sein Geduldsfaden immer dünner, womit auch seine guten Vorsätze einer nach dem anderen verblassten. Trotzdem drosselte er das Tempo, als er sich einem Straßenschild näherte. Kein Zweifel, er befand sich im absoluten Niemandsland. Sogar die Ortsnamen waren hier nur noch in griechischen Buchstaben.

Auf dem Schild waren drei Richtungen angegeben. Mit viel Fantasie ließen sich die ungewohnten Schriftzeichen des obersten Ortsnamens als »Palekastro« deuten. Sören hoffte es zumindest, denn die Richtung stimmte. Auch die Distanz von sechs Kilometern kam seiner Schätzung nach in etwa hin.

Der Motor röchelte, als er den Schaltknüppel mit aller Kraft vom vierten in den dritten Gang drückte. Die Straße stieg erneut an. Weiter vorn schien sie scheinbar über der nächsten Hügelkuppe zu verschwinden.

Die Sonne brannte immer heißer vom wolkenlosen Himmel. Durchs offene Fenster spürte Sören die Hitze, die vom Asphalt aufstieg. Die Luft war so heiß, als würde sie direkt aus einem Haartrockner strömen.

Oben auf dem Grat mündete die Straße in eine Linkskurve entlang einer Kalkfelswand. Er pfiff anerkennend durch die Zähne, als sich zu seiner Rechten nun eine weite, im Süden von einer weiteren Hügelkette begrenzte Ebene auftat. Der Boden war hier etwas dunkler, fast rostbraun, und übersät von dunkelgrünen Sträuchern. Dazwischen, als kleine weiße Tupfen zu erkennen …

Sören sah die Schafe auf der Fahrbahn gerade noch rechtzeitig, um das Steuer herumzureißen. Zugleich trat er auf die Bremse. Umklammerte das Lenkrad mit aller Kraft. Die Reifen quietschten. Es klang wie ein blechernes Trommelfeuer, als der Wagen über ein Kiesbett schlitterte und endlich bei einer kleinen Geröllaufschüttung etwa drei Meter vom Straßenrand entfernt zum Stehen kam.

Langsam, ganz langsam atmete er aus, schloss kurz die Augen, versuchte, seinen Herzschlag wieder zu beruhigen. Verdammt, das war knapp gewesen.

Als er wieder aufsah und den Kopf wandte, begegnete sein Blick dem eines Schafes, das unweit des Autos neben einem Strauch stand und ihn bedächtig kauend musterte. Als wäre nichts weiter geschehen und er, Sören, nur ein vage interessanter Zweibeiner, der für etwas Abwechslung im drögen Schafsalltag sorgte.

Er stieg aus und lehnte sich gegen die Flanke des Wagens. Seine Beine fühlten sich an wie Wackelpudding. Es roch nach verbranntem Gummi, Staub kratzte ihm in den Augen. Der Motor klickte. Doch da war auch dieses leise, unüberhörbare Zischen.

Sören sah nach unten und seufzte resigniert, als er den platten Vorderreifen entdeckte. Mist, auch das noch.

Ein beinahe keckerndes Blöken ließ ihn wieder aufschauen. Inzwischen hatte sich eine ansehnliche Zahl von Schafen versammelt. Sehnige Viecher mit langen, schwarz-weiß gescheckten Gesichtern und langfaserigen Fellzotteln. Sie glotzten ihn an und wackelten dabei mit den Ohren. Ein paar von ihnen trugen blechern bimmelnde Glocken um den Hals. Die Tiere schienen so weit alle fidel und munter. Immerhin Glück im Unglück. Trotzdem wurde er das Gefühl nicht los, dass sie sich gerade mächtig auf seine Kosten amüsierten.

»Das findet ihr wohl sehr witzig, was?«, brummte er den Schafen zu, während er, die Hemdsärmel hochkrempelnd, um den Wagen herum zum Kofferraum ging. Dort fand er zwar den Wagenheber, doch aus der Mulde, in der eigentlich das Ersatzrad liegen sollte, gähnte ihm Leere entgegen.

»Das darf doch nicht wahr sein!« Mit der flachen Hand schlug er auf den Wagenrahmen und erntete dafür prompt ein weiteres Blöken seitens der Schafsrunde. Dieses Mal klang es fast schon vorwurfsvoll. War das zu fassen?

»Von euch will ich keinen weiteren Kommentar hören, verstanden?«, wandte er sich an die Tiere und hob warnend den Zeigefinger. Er senkte jedoch die Hand sofort wieder, als ihm bewusst wurde, dass er sich mit Schafen stritt und dabei eindeutig den Kürzeren zog. Stattdessen griff er nach seinem Mobiltelefon.

Kein Empfang. Nicht einmal ein lausiger Strich. Nichts. Hier stand er also. Mitten in der kretischen Einöde. Mit einem platten Reifen, ohne Reserverad, umgeben von einer Herde neunmalkluger Schafe und mit der wachsenden Erkenntnis, dass er seinen portablen WLAN-Hotspot doch hätte mitnehmen sollen.

Ein Blick auf die Uhr. Schon fast drei. Er hatte wirklich nicht die geringste Zeit für solchen Schiet.

Mit Mühe mahnte er sich zur Ruhe und legte den Kopf in den Nacken. »Konzentrier dich, Mann, konzentrier dich.«

Das letzte Straßenschild hatte er vor rund zwei Kilometern gesehen, also sollte dieses Palekastro noch knapp vier Kilometer weit entfernt liegen. Zur Not konnte er die auch zu Fuß gehen, er hatte schließlich nicht viel Gepäck dabei. Mit etwas Glück gab es in dem Dorf auch einen Automechaniker, der ihm den Reifen flicken konnte.

Na schön. Ein letztes Mal sah Sören zu den Schafen hinüber. Die schienen ihn inzwischen jedoch nicht mehr zu beachten und widmeten sich lieber den jungen Zweigen eines in der Nähe stehenden Busches. Umso besser.

Rasch sammelte er seine Sachen im Wagen zusammen, tauschte das Hemd gegen ein bequemeres T-Shirt und stopfte die Jacke von heute Morgen in die Reisetasche. Die Wasserflasche nicht vergessen. Die hatte er, einer Eingebung folgend, noch am Flughafen gekauft. Dann schloss er den Wagen ab, machte mit dem Handy ein Foto des Autos mitsamt Nummernschild – man konnte schließlich nie wissen –, warf sich die Tasche über die Schulter und marschierte los.

Schon nach wenigen Schritten spürte er das Brennen der Sonne auf der Haut. Zwar trieb er gern Sport und verbrachte so viel Zeit wie möglich im Freien, doch seine Haut war hell, und er riskierte sogar an einem mäßig sonnigen Frühlingstag in Hamburg einen Sonnenbrand. Das norddeutsche Klima war jedoch kein Vergleich zu dem hiesigen Glutofen. An Sonnenschutzmittel hatte er natürlich nicht gedacht.

Sören war so sehr damit beschäftigt, sich in Gedanken einen Trottel zu schimpfen, dass er zusammenzuckte, als es hinter ihm hupte und ein Auto vorbeibrauste. Ein alter Peugeot 205. In einem so grellen Quietschenten-Gelb, dass es einen in den Augen schmerzte. Nur ein paar Meter weiter hielt der Wagen am gegenüberliegenden Straßenrand an.

Wenn es sich Sören im Nachhinein überlegte, hätte seine Reaktion bestimmt weltmännischer sein können. Andererseits und zu seiner Verteidigung … Wer hätte in dieser Situation und nach den vergangenen Stunden nicht auch wie ein glotzender Idiot dagestanden, wenn plötzlich ein Mensch aus Fleisch und Blut vor einem aus dem Auto stieg? Eine Frau, um ganz genau zu sein.

 

Sie nahm die Sonnenbrille ab, kam ein paar Schritte näher und warf dabei das lange, dunkle Haar über die Schulter zurück. Sie war noch jung, um die dreißig vielleicht. Der Wind verfing sich in den Falten ihres knöchellangen Sommerkleids. Dessen knalliges Muster aus Feuerblumen auf anthrazitfarbenem Grund fiel einem sofort ins Auge. Genauso wie der Ohrschmuck aus geschliffenen Holzringen, die breiten Holzarmreife und die Halskette mit dem eingefassten roten Schmuckstein.

Ein ziemlich ungewöhnlicher Stil – eigenwillig, aber kreativ, obwohl das durchaus zu ihr passte, fand Sören.

»Chriázeste voíthia?«, rief sie ihm zu.

Zwar hörte er ihre Stimme ganz deutlich, aber er war zu sehr mit seinen Gedanken beschäftigt, um zu antworten. Ihr Gesicht. Es schien wie aus hellem Ton modelliert, und irgendwoher kam sie ihm bekannt vor. Wenn er nur wüsste, woher.

»Iste kalá?«, fragte sie erneut.

Richtig, jetzt fiel es Sören wieder ein: die berühmte Büste der ägyptischen Königin Nofretete. Die sah im Profil fast genauso aus. Doch erst jetzt wurde ihm bewusst, dass er die Frau noch immer anstarrte, und er räusperte sich, ehe er auf Englisch erklärte: »Es tut mir leid, ich spreche kein Griechisch.«

»Oh.« Sie legte einen Moment lang den Kopf schief. Dabei klickerten die Holzringe ihres Ohrschmucks. Ihre Stimme klang eine winzige Spur tiefer, und der Akzent war deutlich zu hören, als sie noch zwei Schritte näher trat und nun ebenfalls auf Englisch fragte: »Brauchen Sie Hilfe?«

»Ich war auf dem Weg nach Palekastro. Aber mein Wagen hat einen platten Reifen.« Mit dem Daumen zeigte er über die Schulter zurück. »Wenn Sie mich bis zur nächsten Werkstatt mitnehmen könnten?« Er vermied es tunlichst, die Episode mit den Schafen zu erwähnen.

»Palekastro liegt nicht weit von hier. Dort gibt es zwar eine Autowerkstatt, aber die öffnet erst später wieder. Jetzt ist Mittagsruhe«, sagte sie mit lockerer Selbstverständlichkeit.

Mittagsruhe? Um halb vier Uhr nachmittags?

Gerade noch rechtzeitig verbiss sich Sören einen Kommentar. In Gedanken sah er kurz seinen Bruder Gerit vor sich, wie er abschätzig die Oberlippe hochzog. Dessen übliche Reaktion gegenüber den meisten nicht deutschen Gepflogenheiten.

Nichtsdestotrotz brachte die Verzögerung seinen Zeitplan einmal mehr durcheinander. Er hatte noch gar keine Unterkunft für die kommende Nacht. Ganz abgesehen davon, dass sein morgiges Tagesprogramm noch knapper ausfallen würde, sollte er es nicht mehr schaffen, Mettes Haus heute zu besichtigen. Er musste morgen spätestens um fünf Uhr nachmittags wieder am Flughafen von Heraklion sein. Der Rückflug ging um halb sieben.

»Wenn Sie wollen, kann ich Sie zum Gutshof meiner Verwandten mitnehmen. Dort können Sie warten, bis die Werkstatt öffnet«, fuhr die Kreterin fort.

Entschieden schüttelte er den Kopf. »Ich will keine Umstände machen. Es reicht völlig, wenn Sie mich vor der Werkstatt absetzen. Wirklich.« Er stellte sich vor, wie seine eigene Verwandtschaft reagieren würde, wenn plötzlich ein Wildfremder unangemeldet in ihrem Haus auftauchte. Das wäre Grund genug für völliges Unverständnis und mühsam zurückgehaltene Empörung. Ein absolut undenkbares Szenario.

Doch die Kreterin schnalzte nur mit der Zunge. »Das kommt gar nicht infrage.« Mit einer wegwerfenden Geste wischte sie den Einwand beiseite, bevor sie sich die Hand auf die Brust legte und mit dramatisch klingendem Unterton in der Stimme erklärte: »Für uns Kreter ist Gastfreundschaft eine Ehrensache, und Sie kennen meine Familie nicht. Wollen Sie etwa, dass man mich auf Lebzeiten verstößt, weil ich diesen heiligen, ungeschriebenen Ehrenkodex missachtet habe?« Dabei zwinkerte sie ihm schelmisch zu.

Fassungslos starrte er sie an. Wie bitte?

Dann setzte sie die Brille wieder auf und winkte ihn heran. »Steigen Sie ein. Sie sollten ohnehin nicht länger in der prallen Sonne stehen. Ihr Gesicht ist schon so rot wie ein gekochter Hummer.«

So kam es, dass Sören einen Augenblick später neben der Kreterin im Auto saß. Seine Vorbehalte waren allerdings noch nicht verschwunden. Zudem war der Peugeot noch kleiner als der Toyota, und er musste sich regelrecht auf dem Beifahrersitz zusammenfalten.

Ein von der Sonne ausgebleichter Plüschfrosch lag vor ihm auf dem Handschuhfach und schaute ihn breit grinsend an. Vom Rückspiegel baumelte eine kleine blaue, von Perlen eingefasste Glasscheibe, in deren Mitte, ähnlich einem Auge, ein weißer Fleck mit einem schwarzen Punkt prangte. Die um den Schaltknüppel gewundene hawaiianische Blumengirlande bot einen zusätzlichen Farbtupfer. Zusammen mit dem Quietschgelb der Außenlackierung und dem Kleidungsstil ein durchaus passendes Gesamtbild. Diese Frau liebte Farben, das ließ sich nicht leugnen.

»Das ist wirklich sehr freundlich von Ihnen«, sagte Sören.

»Keine Ursache.« Sie lächelte ihm zu, bevor sie den Zündschlüssel umdrehte. Sofort dröhnte laute Musik aus den Lautsprechern. Die Kupplung knirschte, als sie den ersten Gang einlegte. Vor dem Losfahren sagte sie noch: »Mein Name ist übrigens Alíki.«

»Sören. Freut mich.«

Sofort drehte sie sich erneut zu ihm um und hob die Sonnenbrille hoch. Erst jetzt aus der Nähe erkannte er die markante olivgrüne Farbe ihrer Augen. Und sie erstaunte ihn einmal mehr, als sie in einwandfreiem Deutsch mit leicht singender Betonung rief: »Kommst du etwa aus Jermanía – aus Deutschland? Oder doch aus Skandinavien?«

Er sah sie perplex an. »Aus Hamburg.«

Sogleich machte sich ein Strahlen auf ihrem Gesicht breit, und sie klatschte fröhlich in die Hände. »Oh, meine Verwandten werden begeistert sein.« Der Motor heulte auf, als sie losfuhr.

 

»In allerhöchstens einer Viertelstunde sind wir in Palekastro«, erklärte Alíki. Sie redete ganz offensichtlich für ihr Leben gerne. Denn es schien, als wollte sie die Dauer der Fahrt bis auf die letzte Sekunde ausnutzen, um Sören mit einem wahren Wasserfall von Informationen und Erklärungen zu überschütten: Ihre Verwandten hätten bis vor nicht allzu langer Zeit in Kassel gelebt, seien aber dann zurück nach Kreta gekommen, weil ihr Cousin vierten Grades den Gutshof sowie den dazugehörigen Olivenhain übernehmen musste.

Irgendwann zwischen »die Verlobte meines Cousins kommt ebenfalls aus Deutschland«, »gut laufender Agrotourismusbetrieb«, »eine riesengroße Familie« und »Vorbereitungen für die Hochzeit« verlor Sören jedoch den Faden. Alíkis Deutsch war zwar gut, aber nicht ganz so fließend wie ihr Englisch. Und sie vermischte hier und da ein paar Wörter, was es bei der Redeflut nicht einfach machte, ihr zu folgen. Stattdessen ertappte er sich mehr als einmal dabei, wie er sie von der Seite beobachtete. Ihre Gesten, ihre Mimik waren faszinierend. Es war, als unterstrich sie jedes einzelne Wort damit.

»Eine kretische Hochzeit ist etwas Spezielles, musst du wissen. Bei uns heiratet man nämlich nicht nur den Partner oder die Partnerin, sondern die gesamte Familie. In diesem Fall sogar das gaaaanze Dorf.« Dazu weitete sie die Augen und machte mit der rechten Hand einen großen Bogen in der Luft, während sie mit der anderen das Lenkrad festhielt. Sören konnte nicht anders, als zu schmunzeln. Es war ein Spektakel, ihr beim Reden zuzusehen.

Es dauerte tatsächlich nicht lange, bis sie Palekastro erreichten. Ein Dorf mit engen Straßen, gesäumt von weißen, mit Bougainvillea-Sträuchern verzierten Häusern, ein paar Restaurants, Bars und einem weiten Platz direkt vor der Kirche.

Der Ort schien wie verlassen. Nur in dem kleinen Café am Kirchplatz saßen zwei alte Männer im Schatten einer Platane.

Aber hier gab es Funknetz. Augenblicklich begann Sörens Handy, im Stakkato zu vibrieren. Vier neue Sprachnachrichten von Gerit und fünf verpasste Anrufe von Julia, seiner Verlobten. Rasch tippte er eine SMS an beide, dass er sich später melden würde, und schob das Gerät wieder zurück in die Hosentasche. Das musste vorerst reichen. Er hatte ihnen früh am Morgen vom Flughafen aus noch eine Nachricht geschickt und sie über seine kurzfristige Abreise informiert. Außerdem brauchte er zuerst jemanden, der den Reifen seines Wagens reparierte. Dann stand, wenn irgend möglich, die Besichtigung von Mettes Haus auf dem Programm und schließlich die Suche nach einer Unterkunft.

Ein Blick auf die Uhr: kurz nach vier.

Sie hatten fast schon das Dorfende erreicht, als sie in ein Seitensträßchen einbogen. Ein kunstvoll geschnitztes Schild mit der Aufschrift »Villa Esperides« stand dort. Der Weg führte durch einen großen, mit violetten und rosaroten Bougainvilleen überwachsenen Mauerbogen hindurch in einen Innenhof.

»Da sind wir«, verkündete Alíki gut gelaunt und platzierte den Peugeot neben drei anderen Autos im Schatten eines alten, knorrigen Olivenbaums.

Sören hörte das laute Zirpen der Zikaden, sobald er aus dem Wagen stieg. Der Wind raschelte in den Blättern des Olivenbaums und trug den Duft verschiedenster Kräuter und Pflanzen herbei. Er erkannte Rosmarin, Geranien und eine weitere feine, herb-süßliche Note. Der Duft kam von den Büscheln mit den zartvioletten Blüten, die in den rund um den Platz verteilten Terrakotta-Krügen wuchsen. Neugierig trat er an die am nächsten stehende Pflanze heran, brach eines der kleinen, mit silbernem Flaum bedeckten Blättchen ab und roch mit geschlossenen Augen daran. Ah, er liebte den Geruch von Salbei.

»Das hier war ursprünglich das Lager für Geräte und Vorräte. Jetzt machen wir hier Seifen aus Olivenöl.« Mit ausgestrecktem Arm zeigte Alíki auf einen an der rechten Seite des Innenhofs stehenden Steinbau mit mehreren Rundtoren. Dann drehte sie sich weiter und wies auf ein Nebengebäude am Ostende des Hofs, das aus mehreren Wohnblöcken mit flachen Dächern bestand. Deren Fassaden waren teils mit Gips verputzt, teils mit Natursteinplatten verkleidet. »Dieses Gebäude hat mein Cousin erst kürzlich errichten lassen. Das sind die fünf Gästezimmer. Hübsch und mit allem Komfort ausgestattet. Und das ist das Haupthaus. Dort wohnt die Familie.« Dabei zeigte sie auf das große Gebäude, das, wie der Neubau mit den Gästezimmern, aus mehreren quadratischen Teilen zusammengewachsen schien. Wie Sören sogleich bemerkte, herrschte auch hier Naturstein als Baumaterial vor. Dessen Ockerfarbe verlieh dem Gebäude einen warmen, erdigen Ton und bildete einen herrlichen Kontrast zum satten Grün des Efeus und der Weinranken, die sich entlang der Tür- und Fensterrahmen schlängelten. Eine Außentreppe führte hoch zur Terrasse. Von dort waren die Stimmen und das Gelächter von Frauen zu hören.

»Bist du wirklich sicher, dass deine Verwandten nichts dagegen haben, wenn ich plötzlich hier auftauche?«, fragte Sören noch einmal.

Alíki lachte, während sie mehrere längliche Schachteln vom Rücksitz ihres Autos holte und drei davon kurzerhand auf Sörens Arme stapelte. »Ganz sicher«, sagte sie nur und ging, selbst zwei Schachteln auf den Armen balancierend, auf die Treppe zu.

Die Terrasse war größer, als es von unten her den Anschein gehabt hatte. Die eine Hälfte war von einer Pergola vor der Sonne geschützt, die andere wurde von zwei trapezförmigen Sonnensegeln beschattet. Ein angenehmer Luftzug sorgte für Kühlung. Unter einem Vordach in Richtung Haus befand sich eine große, offene Küche. Davor standen mehrere Holztische mit Stühlen und Bänken, die zusammen genug Platz für mindestens dreißig Personen boten.

Dort, in einem im Windschatten platzierten und von Weinranken vor der Sonne geschützten Liegestuhl, döste ein alter Mann vor sich hin. Ungefähr zehn Frauen saßen an einem der Tische über Näharbeiten gebeugt und scherzten. Die meisten von ihnen waren schon etwas älter, andere ungefähr in Alíkis Alter. Doch Sören entdeckte auch drei jüngere Mädchen in der Gruppe. Vor ihnen auf den Tischen lagen Berge von beigem Leinenstoff, Schachteln voll mit farbigem Nähgarn und feinsten, geklöppelten Spitzenbändern.

»Yaaaa saaaas«, rief Alíki freudig und eilte den Frauen entgegen.

Sören hingegen blieb beim Treppenaufgang stehen, spannte instinktiv die Schultern an und fühlte auf einmal ein unangenehmes Prickeln auf der Haut, als die Frauen die Blicke hoben, die sich erst auf Alíki und dann mit unverhohlener Neugier auf ihn richteten.

Eine der älteren Frauen sowie ein junges Mädchen standen auf, begrüßten Alíki mit Umarmungen und Küssen, während diese ihren Verwandten ihrerseits in einem rasend schnellen Wortschwall erklärte, wer er war. Zumindest meinte Sören, seinen Namen und das Wort »Jermanía« herauszuhören. Letzteres, so hatte er inzwischen gelernt, war das griechische Wort für »Deutschland«.

Sogleich begann das Gesicht des Mädchens zu strahlen, und sie kam mit fliegendem Haar auf ihn zu. »Du kommst aus Deutschland?«, rief sie in fast akzentfreiem Deutsch. »Wie toll ist das denn! Hi, ich bin Kalli. Meinem Bruder, Charis, gehört der Hof hier.« Ohne zu zögern, streckte sie ihm die Hand entgegen. »Warte nur, bis Lisa davon erfährt. Sie ist Charis’ Verlobte und eine Landsfrau von dir.«

»Äh …« Mehr brachte Sören nicht heraus.

»Nun lass den Ärmsten doch erst einmal zu Atem kommen.« Die ältere Frau erschien an Kallis Seite, eine kleine Gestalt mit kurzen, dunkelgrauen Locken und einem vor Freundlichkeit leuchtenden Gesicht. »Mein Name ist Sofía Zoidaki. Kalós irthate – willkommen in der Villa Esperides.« Ihr Händedruck war erstaunlich kräftig.

Endlich fand auch Sören wieder Worte. »Danke, es freut mich, Sie kennenzulernen. Mein Name ist Sören. Sören Johannsen.«

Sofía lächelte. »Soren? Was für ein origineller Name.«

»Sören. Mit ö«, verbesserte er. »Das ist die nordische Form des lateinischen Namens Severin.« Idiot, wen interessierte das schon?

Die ältere Kreterin tätschelte ihm den Arm. Dann drehte sie sich zu den anderen Frauen um und rief in ihrem akzentschweren Deutsch: »Das ist Soren Johannsen.«

Die Frauen winkten ihm lachend zu. Und niemand schien auch nur im Mindesten überrascht oder überrumpelt von seinem Erscheinen. Ganz im Gegenteil, sie bemühten sich sogar, Deutsch zu sprechen, als eine der Frauen sagte: »Du solltest dich besser in den Schatten setzen, junger Mann.«

»Ja, das sollte er wirklich. Er ist schon ganz rot im Gesicht«, pflichtete eine andere bei.

Eine dritte Frau nickte wissend. »Die Leute aus dem Norden sind unsere Sonne nun mal nicht gewohnt.«

Als wäre das ihr Stichwort gewesen, fielen nun auch die restlichen Kreterinnen in die Diskussion mit ein. »Mit so einem Sonnenbrand ist nicht zu spaßen.« – »Joghurt mit einem Tropfen Olivenöl. Das ist das beste Mittel dagegen.« – »Oder ein Umschlag aus gepressten Gurken.« – »Oder Aloe vera.« – »Und du musst trinken. Viel, viel trinken.«

»Aber nun setz dich erst einmal hin, und iss etwas«, sagte Sofía und drückte Sören auf die Sitzbank im Schatten, direkt neben dem Tisch der Frauen.

»Machen Sie sich bitte keine Umstände.« Verstohlen schielte er auf seine Uhr. Viertel vor fünf. Das Telefon in seiner Hosentasche vibrierte schon wieder. »Ich habe eigentlich gar keine Zeit. Wirklich. Ich suche bloß jemanden, der meinen Autoreifen repariert, und muss dann gleich weiter«, versuchte er zu erklären.

Doch niemand hörte Sören zu, während sich der Tisch vor ihm wie durch Zauberhand mit unzähligen Tellern und Tellerchen voll mit allerlei Köstlichkeiten zu füllen begann.

Kapitel 2

Goldgelber Darjeeling

Am Hauptsitz der Johannsen Tee GmbH in Hamburg, am Tag zuvor

Es war einer dieser Tage, an denen sich die Welt irgendwie verkehrt herum drehte und auf einmal nichts mehr in den gewohnten Bahnen verlief.

Mit bemühter Geduld stand Sören im Aufzug und sah auf die leuchtenden Nummern der Stockwerkanzeige. Als könnte er den altersschwachen Lift allein durch seine Willenskraft dazu bringen, schneller zu werden.

Der Hauptsitz der Johannsen Tee GmbH lag in einem der wuchtigen Klinkerbauten entlang des Zollkanals, direkt neben dem Kibbelsteg, mitten in der Hamburger Altstadt. Das Gebäude war ebenso alt und traditionsreich wie die Firma selbst. Der Name »Johannsen Tee GmbH« bürgte schließlich schon seit über hundert Jahren weltweit für auserlesene Teekreationen und einen entsprechend hohen Standard der Rohstoffe sowie der Fertigprodukte.

»In den Adern der Johannsens fließt kein Blut, sondern feinster, goldgelber Darjeeling, und das schon seit sechs Generationen«, hatte Vater immer voller Stolz gesagt. In Carl Johannsens Weltbild hatte Tee auf immer und ewig zu den Johannsens gehört und die Johannsens zum Tee – Ende, aus, Punkt. Die Familientradition war so heilig wie das Wasser der Elbe.

Mit einem heiseren Pling kam der Lift im vierten Stock zum Stehen, und die Schiebetür öffnete sich. Geschäftiges Telefonklingeln, Stimmen und Tastaturtippen empfingen Sören, während er mit weit ausholenden Schritten durch den Gang eilte, der das Großraumbüro in zwei Hälften trennte.

Sein Bruder Gerit und er hatten die beiden wichtigsten Hauptgebiete des Betriebs unter sich aufgeteilt: Gerit leitete den Verkauf sowie den gesamten Vertrieb und das Marketing. Ihm unterstand somit die gesamte linke Hälfte des Büros. Er hingegen leitete das Importwesen mit Fracht und Produktion. Diese Abteilungen lagen allesamt auf der rechten Seite.

»Moin, Herr Johannsen«, grüßte ihn Peter, der junge Praktikant, mit einem breiten Grinsen.

Sören nickte ihm zu. »Moin.« Normalerweise pflegte er ein kollegiales, aber dennoch striktes Verhältnis zu seinen Mitarbeitern und nahm sich sogar Zeit für ein, zwei Worte mit ihnen. Heute hatte er es jedoch eilig. Seine Gedanken wanderten ständig zu dem mehrseitigen Dokument in dem braunen Umschlag in seiner Aktentasche. Ein Auszug aus Großtante Mettes Testament. Deren Anwalt hatte es ihm heute Morgen persönlich übergeben, und Sören wusste noch immer nicht, was ihn mehr aus der Bahn geworfen hatte: dass Großtantchen gestorben war oder dass sie ihn als Einzigen der Familie mit einer Erbschaft bedachte. Und das, obwohl der Kontakt zu ihr vor mehr als fünfzehn Jahren abgebrochen war.

»Ah, da sind Sie ja«, rief ihm seine Sekretärin zu, als Sören wenig später sein Büro erreichte. »Ihre Verlobte hat angerufen, und Ihr Bruder ist schon drauf und dran, Ihnen einen Suchtrupp auf die Fersen zu hetzen.«

Ihr Name war Matilde Uffhausen – kurz Tilly genannt. Sie gehörte schon zur Johannsen Tee GmbH, solange Sören denken konnte. Ein wahres Urgestein. Sie war tüchtig, loyal, zuverlässig, verschwiegen, und er schätzte ihre unverblümte Ehrlichkeit. Vor allem aber liebte er ihre typische »Tilly-Miene«. Jenen ungerührten Blick und das fast schon vorwurfsvolle Hochziehen des rechten Mundwinkels, das einem – wie genau in diesem Moment – deutlich zu verstehen gab, dass der Mensch, der Matilde Uffhausen je beeindrucken sollte, erst noch geboren werden musste.

Mit spitzen Fingern rückte sie die Brille auf ihrer Nase zurecht. Die Brille selbst fiel dem Betrachter vor allem wegen des enzianblauen Gestells ins Auge. Das wiederum passte perfekt zum Perlensilber ihrer modisch frisierten Haare. Dann sagte Tilly mit ihrem typisch norddeutschen Akzent: »Ihre Verlobte lässt ausrichten, dass Sie sie dringend zurückrufen sollen.«

Sören zog sein Handy aus der Tasche. Während seines Besuchs beim Anwalt hatte er es auf lautlos gestellt und dann völlig vergessen. Sieben Anrufe von Julia. Heute Abend würde er sie in eines ihrer Lieblingslokale ausführen.

Das Brazzo’s war eine der bekanntesten Adressen für gehobene mediterrane Küche in Hamburg und ein Muss für alle Feinschmecker, Prominente oder solche, die sich im Glanz der High Society sonnen wollten. Die Tische waren meistens auf Monate hinaus ausgebucht. Dieses ganze Schickimicki-Getue war Sören zwar schon immer zuwider gewesen – ganz im Gegensatz zu Gerit. Einer der bekanntesten Familien der Stadt anzugehören brachte ohnehin schon genug solcher Öffentlichkeitsverpflichtungen mit sich. Doch er hatte es Jule versprochen. Außerdem gehörte das Lokal einem von Sörens besten Freunden.

»Und Ihr Bruder …« Tilly holte tief Atem. »Ganze acht Mal hat er schon angerufen.«

Er seufzte in Gedanken. Ausgerechnet. Gerit hatte ihm jetzt gerade noch gefehlt. »Danke, Tilly. Ich kümmere mich so schnell wie möglich darum.« Damit ging er an ihrem Tisch vorbei und stieß die Glastür zu seinem Büro auf. Er musste unbedingt noch einmal in Ruhe diesen Testamentsauszug lesen, verstehen, das Ganze dann sacken lassen und entscheiden, was als Nächstes zu tun war. Dabei konnte er Gerit nicht gebrauchen.

Doch wie immer ließ sich Tilly nicht so leicht abwimmeln und folgte ihm mit entschiedener Miene. »Sie wissen, dass ich vieles für Sie tu, aber in den ewigen Knatsch zwischen Ihnen und dem Herrn Gerit, da steck ich mich nicht zwischen.«

Er hob fragend den Blick und sah, wie sie die Lippen spitzte. Das tat sie normalerweise nur, wenn etwas ihr Missfallen erregte.

»Die Videokonferenz mit Wellington Hotels«, sagte sie endlich.

Sören runzelte die Stirn. »Die ist für heute Nachmittag um drei angesetzt.«

Doch Tilly schüttelte den Kopf. »Ihr Bruder hat den Termin vorgezogen. Sie läuft bereits seit einer Viertelstunde. Die gesamte Marketingleitung ist zugeschaltet.«

Ohne ein weiteres Wort warf Sören die Tasche auf den Sessel vor seinem Tisch und trat an seinen Arbeitsplatz.

»Ich habe Ihnen schon alles bereitgelegt, Sie müssen sich nur noch über den Zoomlink anmelden«, erklärte die Sekretärin und stellte eine dampfende Tasse Kaffee neben die Computertastatur auf den Tisch.

»Danke, Tilly.« Sören setzte sich vor den Bildschirm.

Verdammt, was dachte sich Gerit überhaupt dabei? Er konnte doch eine so wichtige Sitzung nicht einfach vorziehen, ohne ihn darüber zu informieren. Die Wellington Hotels waren ein potenzieller neuer Großkunde. Vom Erfolg dieser Verhandlung hing ein Exklusivvertrag mit einer der wichtigsten Hotelketten der USA ab. Darauf arbeiteten sie nun schon seit zwei Jahren hin.

Er legte die Hand auf die Computermaus. Doch ehe er den Link anklickte, hielt Sören noch einmal inne, schloss die Augen, um sich zu sammeln. Er langte in seine linke Hosentasche und schloss die Hand um den kleinen, runden Kieselstein. Ein Stück grüner Granit. Den hatte er vor Jahren bei einem Spaziergang am Elbufer gefunden. Dessen fast moosgrüne Farbe und die markante Maserung waren ihm sofort aufgefallen. Seither trug er ihn immer mit sich. Der Stein passte genau in seine Handfläche. Die glatte, warme Oberfläche zu spüren, wirkte auf eine seltsame Art besänftigend.

Jetzt nur die Ruhe bewahren. Gerit lag ebenso viel an dem Deal wie ihm selbst, und er würde niemals riskieren, ihn platzen zu lassen. Allerdings neigte sein Bruder auch zu eher risikofreudigen Verhandlungstaktiken.

Mit dem Zeigefinger klickte er auf den Link und auf die Bestätigung. Sogleich erschienen die Gesichter aller Besprechungsteilnehmer in kleinen Quadraten auf dem Bildschirm. Tilly hatte recht gehabt, die gesamte Leitung von Marketing und Verkauf war dabei. Ebenso die drei Männer und eine Frau, die, allesamt in maßgeschneiderten Anzügen, braun gebrannt und mit jener für Amerikaner so typischen, selbstsicheren Attitüde, zusammen auf einem Bild an einem Tisch saßen. Die Führung des Purchasing Departments der Wellington Hotels.

»Ah, da ist er endlich«, rief Gerit auf Englisch und hob zur Begrüßung den Daumen. »Sie haben meinen Bruder ja bereits bei den vorherigen Telekonferenzen kennengelernt.«

Nach den üblichen Begrüßungsfloskeln lehnte sich Sören in seinem Stuhl zurück, während Gerit mit der Rede fortfuhr. Dabei stellte er den Amerikanern gezielte Fragen über ihre Firmenphilosophie, den großen Stellenwert, den sie der Auswahl ihrer Cateringprodukte beimaßen und damit einen möglichst hohen Qualitätsstandard anstrebten.

»Genau das ist auch der Wertemaßstab der Johannsen Tee GmbH«, sagte Gerit offen lächelnd und schuf damit einen gekonnten Übergang zur vorbereiteten Produktpräsentation, die sogleich allen Teilnehmenden auf dem Bildschirm erschien.

Dem potenziellen Geschäftspartner die eigenen Maßstäbe vor Augen halten, um zu verdeutlichen, dass man auf dieselben Werte baute. Eine geschickte Überzeugungstaktik. Gerit war schon immer der geborene Redner und Performer gewesen, das musste Sören ihm neidlos zugestehen. Er wusste genau, wie er eine Vertrauensbasis mit dem Gesprächspartner herstellen und Stück für Stück aufbauen musste. Dabei setzte er gezielt und ganz situativ entweder Charme oder Diplomatie ein, um zu erreichen, was er wollte. Hartnäckig, fokussiert, zielstrebig – und ja, manchmal, wenn es die Situation erforderte, auch skrupellos.

Sören hörte schweigend zu, als Gerit eine PowerPoint-Präsentation der Firmenwertschöpfungskette erklärte. Die Zusammenfassung davon würden sie den Amerikanern elektronisch übermitteln. Dazu ließ er eine Bemerkung über die hervorragende Qualität der Wellington Hotels und deren Speiseangebot fallen. Ganz beiläufig wirkend, doch mit einer effektiven Raffinesse.

Oh ja, er war gut – verdammt gut sogar. Doch Sören kannte die Maschen seines Bruders bereits sein Leben lang. Schon früher hatte der die Lehrer, Klassenkameraden, Verwandten – und ja, sogar die Eltern – mit Charme, Redegewandtheit und schlagfertigen Argumenten um den Finger gewickelt. Mit den Jahren hatte Gerit diese Fähigkeit sogar noch perfektioniert. Er wollte der Beste sein, in allem, was er tat. Vor allem aber besser als sein großer Bruder. Mutter nannte das »typische Junghengstkämpfe«.

Zugegeben, auch Sören selbst war vor allem in seiner Jugend kein Engel gewesen. Allerdings war es ihm auch damals nie um einen Konkurrenzkampf mit Gerit gegangen, sondern einzig ums Prinzip. Rückblickend war wahrscheinlich auch eine große Portion an jugendlichem Rebellionswillen dabei gewesen. Hauptsache, anders als der Rest der Johannsens sein. Keine einfache Sache in einer Familie, die so weitverzweigt war wie eine Ameisenkolonie und in der jeder irgendwie mit dem Teehandel zu tun hatte. Sei es im Firmensitz in Hamburg, in einer der Tochterfirmen in Bremen und London oder in einem der von Mutters Schwager gegründeten Tea-Brokingunternehmen in Kenia und Sri Lanka.

Es folgte eine kurze Vorstellung der wichtigsten Lieferanten von Sören sowie ein Video mit einem virtuellen Rundgang durch den Produktionsbereich. Nach einer kurzen Frage- und Small-Talk-Runde verabschiedeten sich die Amerikaner mit dem Versprechen, sich noch im Laufe derselben Woche für die finalen Verhandlungen zu melden. Ihr Bildquadrat verschwand.

Sören wartete gerade so lange, bis sich Gerits Mitarbeiter ebenfalls ausloggten, bevor er zu seinem Bruder sagte: »In fünf Minuten in meinem Büro.« Ohne ein weiteres Wort klickte er die Zoomverbindung weg.

 

Kurz darauf war Gerit schon von Weitem durch die offene Tür zu hören. »Moin, Tilly. Na? Was will er denn wohl von mir, mein großer Bruder?«

Ohne auf eine Aufforderung zu warten, trat der Jüngere ein und ließ sich mit breitem Grinsen auf den Sessel vor Sörens Schreibtisch fallen. »Zum Rapport, wie befohlen.«

»Lass die Witze.« Sören legte den Kugelschreiber nieder und lehnte sich zurück. »Was, zum Teufel, sollte das eben sein? Die Videokonferenz war erst für heute Nachmittag vorgesehen.« Er legte absichtlich einen tiefen Unterton in die Stimme, während er seinen Bruder mit stechendem Blick musterte.

Es hieß immer, sie beide würden sich trotz ihres Altersunterschieds von zwei Jahren wie ein Ei dem anderen gleichen. Die Leute mussten jedoch blind sein. Zugegeben, ihr Haar hatte dieselbe aschblonde Farbe. Im Gegensatz zu Gerits waren Sörens Augen jedoch eisengrau, dafür hatte er Vaters markante Wangenknochen und die schmalen Lippen geerbt.

Seelenruhig schlug Gerit die Beine übereinander. »Nun reg dich nicht auf. Ist doch alles bestens gelaufen.« Er hob die Hände. »Es war übrigens nicht meine Schuld, ich schwör’s. Die Amerikaner haben mich auch erst heute Morgen angerufen und um eine Vorverschiebung des Treffens gebeten. Sie waren unerwarteterweise bereits in ihrer Zweigstelle in London und mussten dringend weiterreisen. Hätte ich das Ganze etwa abblasen sollen?«

»Natürlich nicht«, gab Sören zurück.

Gerits Augen funkelten in tiefstem Eiswasserblau, während sein rechter Mundwinkel spöttisch zuckte. »Eben. Außerdem habe ich mehrmals versucht, dich zu erreichen, aber du wolltest heute Morgen ja anscheinend lieber ausschlafen.«

So ein himmelschreiender Blödsinn. »Ich hatte einen Termin.«

»Den du natürlich nicht verschieben konntest.«

»Der Termin ist ebenso unerwartet gekommen wie der Anruf der Amerikaner.« Sörens Stimme war lauter geworden, und er biss sich sogleich auf die Zunge. Er hatte schlecht geschlafen und die Ereignisse des Morgens noch immer nicht verdaut. Das machte ihn reizbar. Und unprofessionell. Diese momentane Schwäche brauchte er Gerit nicht auch noch unter die Nase zu reiben.

Mit einem tiefen Atemzug bemühte er sich erneut um Ruhe und die Vernunft, die er als Älterer von ihnen beiden eigentlich demonstrieren sollte. »Nun gut. Wir haben schon eine Unmenge an Aufwand und Energie in diesen Deal mit Wellington Hotels investiert. Sehen wir also zu, dass wir ihn erfolgreich über die Bühne bringen, okay? Außerdem … Falls es dich interessiert: Großtante Mette ist gestorben.«

Gerit hielt mitten in der Bewegung inne und runzelte die Stirn. »Großtante Mette? Die Verrückte? Von ihr haben wir seit Jahren kein Wort mehr gehört. Woher …?«

»Ihr Anwalt hat mich gestern angerufen. Ich war heute Morgen bei ihm.« Sören griff nach dem Umschlag in seiner Tasche, zog die Testamentskopie heraus und reichte sie seinem Bruder.

Stumm überflog der die Seiten, sah Sören dann über den Seitenrand hinweg an. »Sie hat dir ein Haus in Griechenland vermacht?« Dabei lehnte er sich vor, legte den Ellenbogen auf der Glasplatte ab und schob damit den dort stehenden, handgroßen Mauerstein gefährlich nah an den Tischrand.

Sogleich griff Sören danach.

Gerit rollte nur kurz die Augen. »Du und dein Geröll.« Dann tippte er mit dem Zeigefinger auf das Papier in seiner Hand. »Und was hast du damit nun vor?«

»Ich weiß es noch nicht«, gab Sören zurück und stellte den Stein in sicherer Entfernung auf die gegenüberliegende Tischseite. Was Gerit da profan als »Geröll« abtat, war die minimierte, aber detailgetreue Gipsreplik des Falken im Sockel der Johannes-Statue beim St.-Nikolai-Mahnmal. Man konnte sogar den gebogenen Schnabel erkennen und die Federn auf der Brust. Doch Sören verzichtete auf einen weiteren Kommentar dazu. Er hatte keine Lust auf Streit. Schon gar nicht, wenn es dabei um etwas ging, das inzwischen nur noch sein ganz privates Hobby darstellte.

»Am besten, du verkaufst die Immobilie so schnell wie möglich. Bei der aktuellen Marktlage kannst du mit etwas Glück vielleicht sogar noch Gewinn machen«, meinte Gerit mit seinem typisch pragmatischen Tonfall, stand auf und reichte ihm die Papiere zurück.

»Wie gesagt, ich habe mich noch nicht entschieden«, antwortete Sören nachdenklich. Immerhin ging es hier um Mettes Letzten Willen, und er war nicht nur gerührt, sondern auch neugierig. Wie, um alles in der Welt, kam sie dazu, ausgerechnet ihm etwas zu vermachen? Und noch dazu ein Haus auf Kreta?

Sein Blick fiel auf das Dokument in seiner Hand. Darauf stand der Kontakt des kretischen Anwalts, den Mette als lokalen Nachlasspfleger eingesetzt hatte. Ein gewisser Konstantinos Konstantakis. Er sollte ihn anrufen. Er brauchte mehr Informationen über die Liegenschaft, bevor er sich für einen weiteren Schritt entschied, in welche Richtung auch immer dieser gehen würde.

Sören sah auf, als er die Hand auf seiner Schulter spürte. Gerit war schweigend neben ihn getreten. Er staunte über das Mitgefühl in dessen Blick.

»Ich weiß, du und Mette, ihr habt euch damals nahegestanden. Es tut mir ehrlich leid, dass sie gestorben ist«, sagte der Jüngere leise. »Doch du musst jetzt fokussiert bleiben. Die nächsten Tage sind wichtig für uns. Für die Arbeit der letzten zwei Jahre. Für die Firma. Ich brauche dich.« Mit ernster Miene drückte er Sörens Schulter und verschwand dann ohne ein weiteres Wort nach draußen.

Sören schaute seinem Bruder nach und schüttelte dann den Kopf.