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Pia Casells Roman "Oliven zum Frühstück" ist die perfekte Wohlfühl-Lektüre für den nächsten Urlaub am Mittelmeer: Ein Sommer auf Kreta führt die Archäologin Lisa unverhofft zum ganz großen Glück. Eintauchen und genießen! Idyllische Sandbuchten, verschlafene Bergdörfer, unberührte Landschaften: Kreta könnte ein Paradies sein – aber die ehrgeizige Archäologin Lisa hat keinen Blick dafür. Stattdessen muss sie auf ihrer Ausgrabung allerhand Probleme lösen: Es fehlt an Ausrüstung und Geld, die Behörden machen Schwierigkeiten und ein äußerst störrischer Olivenbauer lässt Lisa einfach nicht auf sein Land. Als dann auch noch der Sponsor der Ausgrabung abspringt, ist Lisa buchstäblich auf Kreta gestrandet. Notgedrungen fügt sie sich in das gemächliche Leben im Dorf. Und erliegt jeden Tag ein wenig mehr dem urtümlichen Charme der Insel – und dem des Olivenbauern Charis. Heiter bis sonnig: Die perfekte Urlaubslektüre für alle, die das mediterrane Flair lieben.
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Seitenzahl: 353
Veröffentlichungsjahr: 2019
Pia Casell
Roman
Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG.
Idyllische Sandbuchten, verschlafene Bergdörfer, unberührte Landschaften: Kreta könnte ein Paradies sein – aber die ehrgeizige Archäologin Lisa hat keinen Blick dafür. Stattdessen muss sie auf ihrer Ausgrabung allerhand Probleme lösen: Es fehlt an Ausrüstung und Geld, die Behörden machen Schwierigkeiten und ein äußerst störrischer Olivenbauer lässt Lisa einfach nicht auf sein Land. Als dann auch noch der Sponsor der Ausgrabung abspringt, ist Lisa buchstäblich auf Kreta gestrandet. Notgedrungen fügt sie sich in das gemächliche Leben im Dorf. Und erliegt jeden Tag ein wenig mehr dem urtümlichen Charme der Insel – und dem des Olivenbauern Charis.
Widmung
Kapitel 1
Ein Bouzoukis-Orchester, gefüllte Auberginen und ein Olivenbaum
Kapitel 2
Eine Woche früher, oder wie man den Auftrag seines Lebens erhält
Kapitel 3
Die Frau aus Deutschland und der Tag, an dem es mit der Ruhe vorbei war
Kapitel 4
Der kretische Fluch
Kapitel 5
Der Seitenscheitel und andere Komplikationen
Kapitel 6
Das Kafenion oder die letzte Männerbastion
Kapitel 7
Wurzeln und Flecken
Kapitel 8
Die Agia Triada, der Pentozalis und der Chaniótikos
Kapitel 9
Das überschwappende Mokkaschäumchen
Kapitel 10
Herkulesaufgaben
Kapitel 11
Der Unterschied zwischen Glatzköpfen, Zyklopen und Kleingeschriebenem
Kapitel 12
Von Desastern, miauenden Katzen und einem Mondkalb
Kapitel 13
Salto mortale
Kapitel 14
Göttinnendämmerung
Kapitel 15
Der lange Weg nach Spinalonga
Kapitel 16
Amaltheias Ziegenhorn mit Zuckerwatte
Kapitel 17
Zwischen Olivenöl, Kräutern und Quetzalcoatl
Kapitel 18
Der Zyprer und der Zahnstocher
Kapitel 19
Der anonyme Spender
Kapitel 20
Eine Harpyie auf dem Fahrrad
Kapitel 21
Eine Million von Kleinigkeiten
Kapitel 22
Störzonen
Kapitel 23
Wollpullover-Gefühl
Kapitel 24
Kretische Wahrheiten
Kapitel 25
Zypriotische Ratschläge
Kapitel 26
Kein guter Morgen
Kapitel 27
Die Iliás auf Kretisch
Kapitel 28
Der Tag, an dem Palekastro tat, was sich gehörte
Kapitel 29
Oppah!
Anmerkungen der Autorin
Die Minoer
Zum Schluss
Die Küche Kretas
Gemüsetopf mit Tomaten und Auberginen
(Laderó – Λαδερό)
Frikassee mit Schweinefleisch an Zitrone
(Frikase me avgolemono – Φρικασέ με αυγολέμονο)
Für Mam
Palekastro, Kreta
Es war Mitte Mai, als Lisa Stadler aus der von Menschen überfüllten und auf Eisschranktemperatur heruntergekühlten Ankunftshalle des Flughafens von Heraklion trat und ihr die kretische Nachmittagshitze entgegenschlug.
Die Luft roch nach Diesel. Gruppen entnervter Touristen mit voll beladenen Kofferkarren drängten links und rechts neben ihr vorbei in Richtung Parkplatz, wo die Transferbusse bereits auf die Gäste warteten.
»Das Auto steht gleich da drüben«, rief der Mann mit silberkrausem Haar ihr zu – er hatte sich ihr als Direktor des Museums von Sitia namens Línos Mouskouri vorgestellt – und lotste sie, zielstrebig den Wagen mit ihrem Gepäck vor sich herschiebend, durch das Gewühl.
Lisa bemühte sich, ihn nicht aus den Augen zu verlieren, und richtete dabei die Schlaufe ihrer Computertasche, sodass sie ihr nicht ständig von der Schulter rutschte. Kein leichtes Unterfangen mit all dem anderen Gepäck. Im selben Moment glitt ihr der Griff ihres Trolleys aus der Hand und fiel mit einem lauten Knall zu Boden. Gute Güte, und erst diese Menschenmenge! Dabei hatte die Touristensaison noch gar nicht angefangen.
Als sie endlich bei dem silbernen Toyota RAV4 ankamen, klebte Lisas T-Shirt ihr am Körper, sie war völlig außer Atem, und ihre beiden Koffer sowie die Computertasche schienen Zentner zu wiegen. Auf Línos’ Stirn hingegen war nicht einmal ein Schweißtropfen zu sehen. Wie machte er das bloß?
Als hätte er ihren Gedanken gehört, verschwand der Kreter im Wagen, schaltete Motor und Klimaanlage an, bevor er die drei schweren Transportkisten mit Lisas Ausrüstung in den Kofferraum wuchtete. Die übrigen Vermessungs- und Sondiergeräte würden erst übermorgen, zusammen mit den anderen Mitgliedern des Grabungsteams, ankommen.
Erst als sie sich auf den Beifahrersitz fallen ließ, atmete Lisa zum ersten Mal seit ihrer Ankunft tief durch. Sie war tatsächlich hier. Auf Kreta. Um im Auftrag der archäologischen Fakultät der Universität Trier die Ausgrabungen in Roussolakos bei Palekastro wieder aufzunehmen und zu leiten. Der Auftrag, auf den sie ein Leben lang hingearbeitet und den sie erst vor knapp einer Woche angeboten bekommen hatte.
»Es ist uns allen eine Freude, Sie hierzuhaben. Professor Birkmeier hat Sie in den allerhöchsten Tönen gelobt«, rief Línos in Oxford-Gelehrten-Englisch, während er den Wagen über den Flughafenparkplatz lenkte und ein Bouzouki-Orchester in ohrenbetäubender Lautstärke aus dem Radio ertönte. »Sie können es wahrscheinlich kaum erwarten, mit der Arbeit zu beginnen.«
»Wir können uns auch in Ihrer Landessprache unterhalten«, erwiderte Lisa auf Griechisch, bemüht, die Musik zu übertönen. Sie war stolz auf ihre Sprachkenntnisse. Den Doktortitel in Klassischer Archäologie zu haben, ohne neben Altgriechisch und Latein auch Italienisch und Griechisch in Wort und Schrift zu beherrschen, war in ihren Augen so, als würde man auf dem Trockenen schwimmen lernen wollen. »Aber es stimmt, ich möchte mit den Ausgrabungen beginnen, sobald mein Team ankommt. Wären Sie so nett, mich direkt zum Fundort zu fahren? Ich würde mir gern das Gelände ansehen. Sie haben mir ja geschrieben, mit den Unterkünften wäre alles geregelt?«
Wie schaffte es Línos, sich auf den Verkehr zu konzentrieren, wenn ihm beim Fahren ständig der am Rückspiegel hängende Glücksbringer, ein blaues Auge aus Glas, vor der Nase hin und her baumelte?
Doch er hob nur kurz das Kinn, schnalzte mit der Zunge und fuhr unbeirrt auf Englisch fort: »Alles zu seiner Zeit. Für Ihr Team stehen bequeme Caravans bereit. Für Sie haben wir ein Zimmer in einem nahe gelegenen Gutshof gemietet.« Er nickte ihr zufrieden zu. »Dorthin fahren wir jetzt. Dann können Sie sich frisch machen und das Gepäck ausladen. Ich glaube, die Lösung passt ganz wunderbar. Die Besitzerin des Gutshofs ist eine hervorragende Gastgeberin, und das Anwesen grenzt direkt an Roussolakos. Sehr praktisch, nicht?«
Als Grabungsleiterin und Verantwortliche hätte es Lisa zwar vorgezogen, zusammen mit dem restlichen Team untergebracht zu werden, aber innerlich atmete sie erleichtert auf. In einem Zimmer gab es Steckdosen. Ohne Steckdosen keine Mückenstecker, und ohne Mückenstecker …
Besser rasch das Thema wechseln. »Dann gibt es also einen Direktzugang von diesem Gutshof zum Grabungsfeld? Sehr gut, so brauche ich nicht einmal ein Auto oder einen Scooter zu mieten«, sagte sie in professionellem Tonfall. Weitere Ausgaben vom Budgetplan, die sich sparen ließen. Perfekt.
»Nun ja …« Línos runzelte die Stirn und machte eine unbestimmte Handbewegung. »Ganz so einfach ist es leider mit dem Direktzugang nicht. Es gibt es da noch ein kleines … Hindernis.«
Lisa horchte auf. »Ein Hindernis?« Davon war bisher nicht die Rede gewesen.
Der Kreter lächelte besänftigend. »Nur eine kleine Unstimmigkeit, die sich bestimmt bald klären wird, da bin ich sicher. Aber wie gesagt, alles zu seiner Zeit. Nun lehnen Sie sich zurück und genießen Sie die Fahrt.«
Und die Bouzouki-Klänge wuchsen zum Crescendo an.
Natürlich hatte Lisa bereits alles gelesen, was es über die kleine Ortschaft Palekastro zu lesen gab. Das Dorf lag ein Stück landeinwärts auf einer Ebene im äußersten Nordosten Kretas, rund drei Stunden vom Flughafen Heraklion und dreißig Minuten von Sitia, dem nächstgrößeren Ort, entfernt. Ein Landzipfel, der bisher vom Massentourismus verschont geblieben war. Die einzigen Fremden, die sich dorthin verirrten, waren Surfer, denn die Wind- und Meeresströmungen boten ihnen ideale Bedingungen.
Tatsächlich, je weiter nach Osten die Fahrt ging, umso mehr verschwanden die Fremdenbusse von der Straße, und riesige Hotelanlagen machten einer ländlichen Umgebung Platz.
»Jetzt wird es etwas kurvig«, erklärte Línos, als sie vor Sitia von der Schnellstraße abbogen.
Oleander- und Mastixsträucher zeichneten nebst Olivenbäumen und Kermeseichen grün-silberne Tupfer in die Landschaft. Ein paar Ziegen kletterten auf Kalkfelshügeln umher und genossen die saftigen Grasbüschel, die schon bald von der Sommerhitze versengt werden würden.
»Dort sieht man schon Palekastro. Gleich sind wir da.« Línos zeigte nach vorn, wo sich die ersten kleinen Häuser wie weiße Würfel aus der Umgebung abhoben. Ein einzelner trapezförmiger Felsen dominierte die Ebene, hinter der am Horizont ein Streifen Meer zu sehen war. Das musste der Kastris sein, der Tafelberg, von dem die Ortschaft ihren Namen ableitete.
Als sie in das Dorf hineinfuhren, wurde die Straße noch enger, schlängelte sich zwischen hübschen, ein- oder zweistöckigen Häusern mit herrlich blühenden Bougainvilleasträuchern und vereinzelten Palmen hindurch. Autos parkten rechts und links am Straßenrand, manche sogar auf dem schmalen Gehweg.
Geschickt lenkte Línos den Wagen um die Kurven und quetschte sich in die kleinstmöglichen Lücken, um entgegenkommenden Lastwagen auszuweichen.
Entlang der Hauptstraße entdeckte Lisa ein paar Restaurants, Bars, ein Internetcafé und sogar eine Apotheke, direkt neben einem Barbierladen, und unzählige winzige Mini-Märkte. Sie fragte sich, wie die bei der großen Konkurrenz überhaupt überleben konnten? An Einkaufsmöglichkeiten mangelte es den Einwohnern jedenfalls nicht.
Sie waren ein paar Hundert Meter außerhalb des Dorfs angelangt und bogen in ein Seitensträßchen ein, an dessen Rand ein Holzschild mit der Aufschrift »Villa Esperides« stand. Ein Pfeil zeigte auf einen mit Bougainvilleen überwachsenen Mauerbogen, der in einen Innenhof führte.
Das Auto kam im Schatten eines knorrigen Olivenbaums in der Mitte des Hofs zum Stehen.
In Lisas Ohren blieb ein Dröhnen zurück, als Línos den Motor und damit auch das Radio abstellte. Sie stieg aus. Göttliche Ruhe. Und was für eine Wohltat, endlich die Beine ausstrecken zu können.
Ein warmer Windzug spielte in den Blättern der Oleandersträucher entlang der Natursteinmauer und erfüllte die Luft mit dem Duft nach Rosmarin, Salbei und einem Hauch von Jasmin.
Das Haupthaus, ebenfalls mit einer Fassade aus ockergelbem Naturstein, lag auf der gegenüberliegenden Seite des Platzes. Wobei das Ensemble eigentlich aus mehreren Häusern bestand, die zu einem einzigen Gebäude verwachsen schienen – fünf spielerisch zusammengesetzte und durch Steintreppen verbundene Quadrate unterschiedlicher Größe. Weinranken bedeckten die Schatten spendenden Pergolen im obersten Stock, Efeu schlängelte sich um die Tür- und Fensterbogen. Große und kleinere Terrakottakrüge mit Geranien dekorierten die linken Absatzmäuerchen zwischen den Rosen- und Kräuterbeeten und der kleinen Sitzlaube in der Ecke, wo drei Katzen im Schatten faulenzten. Auf der rechten Seite des Hofs hingegen, direkt entlang der Mauer, lagen zwei längliche Steinbauten mit je einem Rundtor als Eingang und kleinen, mit Gusseisengittern gesicherten Fensteröffnungen. Das mussten Gerätelager oder Vorratskammern sein.
Lisa war sprachlos. Falls sie einmal irgendwo auf einem Landgut leben wollte, dann würde es dort so aussehen müssen. Mit Blumen, Sträuchern, Düften und zirpenden Zikaden. All diesen liebevollen Details, die eine beruhigende Gemütlichkeit ausstrahlten – eine Idylle.
»Kalós irthate! Willkommen!«, ertönte eine fröhliche Stimme hinter ihnen.
Eine Frau mit dunkelgrauen, kurzen Locken in einem moosgrünen Leinenkleid winkte ihnen von der Pergola her zu, ehe sie mit klappernden Holzsandalen die Steintreppe hinuntereilte.
»Herzlich willkommen.« Lächelnd und mit ausgebreiteten Armen kam sie näher. Sie mochte um die sechzig Jahre alt sein und war klein – sie reichte Lisa gerade bis zur Brust –, doch ihr Händedruck war kräftig, und ihre Augen strahlten, als sie Lisa zu sich herunterzog und sie auf beide Wangen küsste.
Auf Deutsch, jedoch mit unüberhörbarem Akzent, sagte sie dann: »Mein Name ist Sofía Zoidaki. Ich freue mich sehr, dich kennenzulernen. Ich darf doch Du sagen? Entschuldige, es ist eine Weile her, seit ich jermaniká gesprochen habe, ich bin etwas eingerostet. In Kassel – da haben wir gelebt. Fast dreißig Jahre lang. Aber nun zu dir. Wie war dein Flug? Bestimmt bist du völlig erschöpft von der Reise, du armes Ding.«
»Ich, äh …« Mehr brachte Lisa nicht heraus.
Sofía schnalzte kopfschüttelnd mit der Zunge, seufzte und tätschelte ihr die Hand. »Natürlich bist du erschöpft, du bist ja ganz bleich. Komm, ich mach dir einen kleinen Imbiss. Du musst kurz vor dem Hungertod sein.«
Ohne auf eine Antwort zu warten, winkte die Ältere mit dem Finger in Línos’ Richtung, damit er ihnen folgte, bevor sie Lisa mit sich über den Vorplatz zur Treppe zog.
Die zur Hälfte von einer Pergola überdachte Terrasse war noch weitläufiger, als es von unten aus den Anschein gehabt hatte. So groß, dass die zwei zusätzlich aufgespannten Sonnenschirme lediglich einen kleinen Teil zu beschatten vermochten. Direkt neben der Pergola stand ein Holzofengrill, und auf der gegenüberliegenden Seite der Terrasse, unter einem Vordach, befand sich eine komplett eingerichtete Küche mit Tresen. Auf dem Herd blubberte es in mehreren Kochtöpfen. Zwei ältere Frauen und eine jüngere Frau von ungefähr achtzehn Jahren saßen an einem langen Holztisch und schälten Berge von Kartoffeln und Zwiebeln.
Die Jüngere sah auf, ihr Gesicht begann zu strahlen. »Endlich!«, rief sie in akzentfreiem Deutsch, ließ die Kartoffel sowie das Schälmesser in die Schüssel vor sich fallen und rieb die Hände an einem Tuch trocken, bevor sie Lisa entgegeneilte. Die Flipflops an ihren Füßen flappten dabei im Stakkato. »Eine echte Archäologin, und noch dazu aus Jermanía. Ich hab mich schon so auf dich gefreut. Du musst mir jede noch so kleine Neuigkeit aus Deutschland erzählen, hörst du? Alles. Du hast ja keine Ahnung, wie sehr ich Kassel vermisse.« Sie umarmte Lisa, als würden sie sich schon ewig kennen. »Ich bin übrigens Kalli.«
Völlig überrumpelt, erwiderte Lisa die Umarmung. »Lisa. Freut mich ebenfalls.«
Kalli, das war die Kurzform für Kalliópi – »die Schönstimmige«, die Tochter des Zeus und zugleich die Muse der Dichtung. Der Name passte zu dem sympathischen Mädchen. Zu diesem vorwitzigen Funkeln in den Augen und den winzigen Fältchen, die sich auf ihrer Nase kräuselten, wenn sie lachte. So wie jetzt. Ein Lachen, das ansteckend wirkte.
»Komm, ich stell dir meine Verwandten vor.« Kalli zog Lisa zu den Frauen am Tisch, von denen sie im Chor mit einem fröhlichen »Ya sou« begrüßt wurde, die jedoch unbeirrt mit Gemüseschälen fortfuhren. »Das sind meine Tanten mütterlicherseits, Dimitra und Nefeli, und meine Cousine Apollonia. Fühlst du dich nicht wohl, Lisa? Du siehst fix und fertig aus.«
Cousine Apollonia nickte ernst. »O ja, das tut sie. Sie sollte etwas essen.«
»Stimmt, und wie bleich sie ist«, rief Tante Dimitra.
Tante Nefeli nickte verständnisvoll. »Das ist wegen dem Wetter da oben im Norden. Immer nur Kälte und Regen. Du wirst doch nicht etwa krank werden, kopeliá? Du solltest wirklich etwas essen.«
»Nein, nein.« Lisa winkte überwältigt ab. Himmel, die Frauen redeten so schnell und alle gleichzeitig, dass sie sich konzentrieren musste, um überhaupt mitzukommen. »Es geht mir gut. Wirklich. Ich bin nur etwas …« Ja, was? Überrumpelt? Überfordert? Verwirrt, weil die Frauen sie in ihrem Alter noch kopeliá nannten, was so viel wie »Mädchen« hieß.
»Müde. Natürlich ist sie müde«, vervollständigte Sofía den Satz für sie und tätschelte ihr mitleidig die Wange.
Nur einen Moment später saßen Lisa und Línos unter den Schatten spendenden Weinranken an einem Holztisch, vor ihnen eine immer größer werdende Ansammlung von Tellern und Tellerchen: Oliven, mit Minze vermischter Schafskäse, Brot, Tomatenmus mit Knoblauch, Salat aus Roter Bete, gegrillte Paprika und herrlich aromatisch duftende, in Weinblätter eingewickelte Reisröllchen.
Hatte Sofía nicht von einem kleinen Imbiss gesprochen? Das war mehr Essen, als Lisa jemals in ihrem Kühlschrank gelagert hatte. Vorausgesetzt, sie dachte daran, einkaufen zu gehen, was bei ihren Kochkünsten, die sich gerade mal auf Spiegeleier und Fertignudeln beschränkten, meist ein sinnloser Vorsatz blieb. Aber das hier … es schmeckte einfach göttlich …
»Dann werde ich jetzt Ihr Gepäck ausladen. Wenn Sie wollen, bringe ich Sie danach nach Roussolakos«, meinte Línos schließlich. »So können Sie sich schon mal einen ersten Eindruck verschaffen, bevor es dunkel wird.«
Rasch schluckte Lisa einen letzten Bissen der in Olivenöl eingelegten Auberginen hinunter, schaute auf ihre Armbanduhr und sprang auf. Herrje, richtig … Roussolakos. Inzwischen war es schon fast sieben Uhr Ortszeit, und die Sonne ging bald unter.
Zu spät bemerkte sie das gefährlich nah am Tischrand stehende Wasserglas.
Mit einem lauten Knall schlug das Glas auf dem Boden auf und zerschellte in tausend Stücke.
»Das … das tut mir fürchterlich leid«, stammelte Lisa und bückte sich, um die Scherben aufzulesen. Typisch. Warum musste so etwas immer nur ihr passieren?
Doch Sofía schob sie sanft, aber bestimmt zur Seite. »Nicht doch. Wie hießt es so treffend: Outhén kakón amiyés kaló. Es gibt nichts Schlechtes, an dem nicht auch etwas Gutes ist. Diese Trinkgläser sind schon so alt und angeschlagen, dass ich sie ohnehin ersetzen muss.« Sie lächelte. »Nun geh schon und schau dir Roussolakos in Ruhe an. Wir essen heute Abend ohnehin etwas später. Es kommen noch ein paar Verwandte vorbei, die dich unbedingt kennenlernen wollen. Und lass die Koffer ruhig unten auf dem Hof stehen. Wir kümmern uns darum«, rief Sofía ihr noch nach, als Lisa Línos die Treppe hinunter folgte.
Vor einem verrosteten Eisentor brachte Línos den Wagen kurz darauf zum Stehen. »Da wären wir. Dort drüben sehen Sie die Camper für ihr Team.« Mit einem zufriedenen Lächeln deutete er auf die im Kreis geparkten fünf großen Caravans auf einem Feld rund zwanzig Meter entfernt. »Morgen werden noch die Feldküche und die nötigen sanitären Anlagen aufgebaut. Bis Ihr Team eintrifft, ist alles bereit.«
Ausgezeichnet. Und das Ausgrabungsgelände von Roussolakos lag zudem so nah beim Gutshof, dass Lisa nach der Inspektion problemlos zu Fuß zurücklaufen konnte. Um diese Jahreszeit war es noch nicht zu heiß dafür. Im Gegenteil, ein angenehmes Lüftchen brachte Kühlung, und nach der ganzen Schlemmerei würde ihr ein kleiner Spaziergang sogar guttun.
»Bitte sehr. Ihr neues Reich.« Mit einer einladenden Geste stieß Línos das Eisentor auf.
Voller Ehrfurcht betrat Lisa Roussolakos. Ein Kiesweg führte vom Eingang zu den für die Öffentlichkeit zugänglichen und teilweise zum Schutz gegen die Witterung überdachten Mauerresten von Villen und Gebäuden. Für Laien nicht mehr als eine wilde Ansammlung von Steinen und Felsblöcken, doch Lisas geübtes Auge erkannte die Gebäudegrundrisse der einzelnen Häuser.
In der frühen Abendsonne schienen die Ruinen wie von einem rotgoldenen Ton überzogen zu sein. Das Gras und die Sträucher raschelten im Wind, Schwärme von Zikaden zirpten um die Wette. Es roch nach dem nahen Meer und sonnengewärmter Erde.
Dieses Gefühl, hier an dem Ort zu stehen, wo bereits vor mehr als fünftausend Jahren Menschen gesiedelt hatten. Wo eine mächtige Handelsstadt erblüht war, während die Menschen andernorts in Europa noch in Lehmhütten hausten. Wo jeder Stein und jeder Kiesel eine Geschichte offenbarte, wenn man nur genau hinsah und genug Geduld aufbrachte, um sich auf die Vergangenheit einzulassen und sie unter dem Staub der Zeit zu entdecken.
Momente wie dieser machten das jahrelange Studium und all die Monate der Feldarbeit bei Regen und Wind, im Schlamm und unter brütend heißer Sonne wieder wett.
»Wie Sie sehen, befinden wir uns hier im Nordteil der Anlage. Direkt vor uns liegen die Häuser eins bis sechs, dahinter die Hauptstraße und der Sektor D«, erklärte Línos und zeigte mit ausgestrecktem Arm nach vorn.
Roussolakos bestand insgesamt aus neun verschiedenen Grabungssektoren, wie Lisa wusste, wovon ein paar nach der Untersuchung wieder zugeschüttet worden waren. Eine übliche Vorgehensweise, denn so konnten Ruinen und noch verborgene Bodenfunde besser vor Umwelteinflüssen oder gar Diebstahl geschützt werden.
Línos runzelte die Stirn. »Ein sehr ambitioniertes Ziel, das Ihr Auftraggeber da hat. Den Nachweis eines Palasts in Roussolakos. Und dafür lässt man Ihnen tatsächlich nur einen Monat lang Zeit?«
»So ist es«, erwiderte Lisa und versuchte, dabei so optimistisch wie nur möglich zu klingen.
Denn Línos hatte recht: Einen Palast in Roussolakos zu finden – das war wahrhaftig der sprichwörtliche Haken an der Geschichte. Schließlich fehlte trotz aller zutage gebrachten Artefakte und Funde bis heute der endgültige Beweis, dass es sich bei den bronzezeitlichen Ruinen um eine administrativ autonome Stadt handelte, wie es ihre Größe zweifelsohne vermuten ließ. Der Puzzlestein, der die Theorie wahr werden ließ: Ein typischer Palastbau, wie er in Knossos, Sitia, Pano Zakros und all den anderen wichtigen Städten der Minoer gefunden worden war.
Eine Tatsache, die Roussolakos in Fachkreisen jenen mystischen Touch eines griechischen Avalons verlieh. Jeder Archäologe, der etwas auf sich hielt, träumte von einem Grabungsprojekt hier, und bereits Studenten im ersten Semester flüsterten sich den Namen voller Ehrfurcht zu. Denn wer immer diesen Palast fand, würde auf dem direkten Weg ins Pantheon der Halbgötter unter den Archäologen aufsteigen.
Und ausgerechnet Lisa sollte diese Chance nun erhalten, die sich nur ein Mal im Leben bot.
Sie schluckte trocken. Professionell bleiben.
»Gemäß meinen Unterlagen haben die letzten Grabungen auf der Südostseite stattgefunden, richtig?« Ohne auf eine Antwort zu warten, ging sie über das Gelände voraus. Vorsichtig. Langsam. Auf jede Bewegung konzentriert. Den Blick stets auf den Boden gerichtet, damit ihr nicht versehentlich ein Fund entging oder sie auf etwas trat, das sich als Relikt entpuppte. Die typische Gangart von Archäologen, sobald sie ein Grabungsfeld betraten.
Es dauerte nicht lang, bis sie die mit Steinplatten gepflasterte Straße erreichte, die von Norden nach Süden quer durch Roussolakos verlief.
Lisa lächelte. Schusselig, wie sie war, verirrte sie sich oft – in Kaufhäusern, an Bahnhöfen, sogar in dem Wohnviertel, in dem sie nun schon seit zwei Jahren lebte. Na ja, was letzteren Punkt betraf, war nur die verflixte Stadtplanung daran schuld, weil die Zufahrtsstraße aufgrund von Bauarbeiten auf einmal gesperrt gewesen war. Ausgrabungsfelder hingegen, sogar wenn Lisa sie zum allerersten Mal betrat, waren für sie so deutlich zu lesen wie ein aufgeschlagenes Buch.
Zielstrebig folgte sie dem Weg in Richtung Süden.
Während der letzten Tage hatte sie sämtliche vorhandenen Dokumentationen der früheren Grabungen wieder und wieder studiert: alle bisher erfassten Karten, Berichte, mikromorphologischen Sondierungsergebnisse, geomagnetischen Prospektionen und sogar die von Drohnen übermittelten Orthofotografien des Geländes.
Zwar gab es anhand der Untersuchungen keine eindeutigen Hinweise, trotzdem war sich die Mehrheit der bisherigen Forscher Roussolakos’ in einem Punkt einig: Wenn es hier tatsächlich einen Palastbau gab, musste er im Südteil der Anlage zu finden sein.
Sie war so sehr in Gedanken versunken, dass sie zusammenzuckte, als sie Línos’ Stimme neben sich hörte. »Die letzten Grabungsabschnitte befinden sich auf der Ebene im Südosten. Drei weitere Gebäudegrundrisse und zusätzliche Mauerreste liegen in unmittelbarer Nähe des Strands. Von einem Palast gibt es jedoch nicht die geringste Spur.«
Er verschränkte die Hände hinter dem Rücken und senkte fast entschuldigend den Blick. »Bei zwei Probegrabungen auf dem Gelände direkt daneben sind außer Abwasserablagerung und Schwemmmaterial aus den umliegenden Hügeln nicht einmal Scherben zutage gekommen.«
»In einer Gegend wie Roussolakos rein gar nichts zu finden, das ist eine ziemliche Leistung«, witzelte Lisa, drehte sich jedoch sogleich wieder um, als der Kreter sie eher verständnislos als belustigt ansah. Wieder einer, der ihren Humor nicht verstand, aber daran war sie schon gewohnt.
Inzwischen waren sie in ein Nebengässchen abgebogen und folgten über Treppenstufen den kniehohen Mauerresten. Lisa schritt zügiger aus.
Jenseits der Ebene hinter Roussolakos erhob sich die Hügelkette des Petsophas. Dort oben, das wusste sie, lag ein minoischer Opfertempel.
Die Minoer waren eine Hochkultur gewesen, die zwar, ihrer Epoche entsprechend, nur über beschränkte Mittel und keinerlei Technik verfügt hatten, jedoch dafür umso mehr mit ihrer Umwelt vertraut gewesen waren, überlegte sie.
Links von Roussolakos lag die Küste, rechts davon die Ebene mit dem Petsophas, an dessen Hängen deutliche Spuren der von den winterlichen Regenfällen verursachten Schlammschwemmen zu sehen waren.
Wer hier lebte, kannte die Gefahr, die sowohl von Springfluten wie auch von Schlammlawinen ausging. Mit diesem Wissen und einem natürlichen, noch nicht von modernen Annehmlichkeiten verfälschten Instinkt … Wo würde ein bronzezeitlicher Minoer also einen Palast bauen?
Die letzten Mauerreste lagen bereits ein gutes Stück weit hinter ihnen. Das Gässchen war in einen von Büschen flankierten Trampelpfad übergegangen, der schon bald an einem Maschendrahtzaun endete. Ein großes Holzschild mit der Aufschrift »Betreten verboten« stand auf Augenhöhe direkt jenseits des Zauns. Dahinter eröffnete sich eine weite Fläche mit Hunderten von Olivenbäumen mit dicken, knotigen Stämmen und silbernem Laub, das im Wind tanzte.
Ein Grinsen zuckte über Lisas Lippen. »Genau da würde ich einen Palast bauen«, sagte sie und drückte die Hände gegen das Drahtgeflecht des Zauns. »Landeinwärts versetzt und in möglichst sicherem Abstand vor Überschwemmung oder Überflutung.«
Línos trat neben sie und seufzte tief.
Warum zeigte sein Gesicht auf einmal diesen zerknirschten Ausdruck?
»Die Idee ist nicht neu, ihre Vorgänger waren derselben Ansicht. Ich hatte Ihnen jedoch von dem Hindernis erzählt«, erklärte er und deutete in Richtung des Olivenhains. »Das ist er. Der Grund, weshalb wir jenseits dieses Zauns nicht graben können.«
»Die Olivenbäume?« Sollte das ein Witz sein?
Der Kreter schnalzte mit der Zunge. »Deren Besitzer. Er verweigert uns das Zutrittsrecht. Schon seit Jahren. Und er ist der halsstarrigste Mensch, der mir je begegnet ist. Sogar für kretische Verhältnisse.«
»Dann werde ich mit ihm sprechen und versuchen, ihn zu überzeugen«, erwidert Lisa voller Inbrunst.
Línos verzog zweifelnd das Gesicht. »Ich fürchte, Sie stellen sich das etwas zu einfach vor.«
Warum war er auf einmal so nervös und fingerte am Kragen seines Poloshirts herum?
»Wenn wir es nicht versuchen, können wir das nicht wissen. Organisieren Sie doch bitte ein Treffen mit dem Landeigentümer. Am besten gleich morgen, was meinen Sie?«
Hier ging es schließlich um eine immense archäologische Entdeckung. Um eine Bereicherung des Kulturguts, die die gesamte Region von Palekastro aufwerten und mit der richtigen Vermarktung touristisch noch interessanter machen konnte. Mehr Besucher bedeuteten mehr Arbeit, und nach allem, was Lisa bisher gesehen hatte, konnte das in dieser Gegend nicht schaden.
»Oh, ich habe ganz vergessen, wie spät es schon ist«, rief Línos mit einem Mal und klopfte mit dem Zeigefinger auf seine Armbanduhr. »Es tut mir sehr leid, aber ich habe noch einen dringenden Termin. Sie sagten, Sie finden allein zum Gutshof zurück, ja? Es ist ganz einfach. Immer die Straße entlang. Richten Sie sich in Ruhe ein. Ich hole Sie morgen um neun Uhr ab. Einverstanden?«
Bevor Lisa etwas erwidern konnte, hatte sich der Kreter bereits umgedreht und war zwischen den Büschen und Mauerresten verschwunden.
Eigenartig. Was war denn auf einmal in ihn gefahren? Aber gut. Wenigstens konnte sie sich so ungestört weiter umsehen. Bis die Sonne unterging, blieb ihr ungefähr noch eine halbe Stunde.
Lisa zog die Dokumentenmappe mit den Untersuchungsskizzen aus ihrer Tasche. Unter den Papieren war auch eine der letzten geomagnetischen Prospektionen, die vor rund zehn Jahren – noch vor dem Mauerbau – gemacht worden war. Sie nahm den Plan in die Hand und folgte dem Zaun, bis er in eine mannshohe Natursteinmauer überging.
Die Grenzmauer schien erst vor Kurzem errichtet worden zu sein, denn auf den Steinen war noch nicht einmal die kleinste Spur von Flechtenbildung zu erkennen. Dieser Olivenbauer machte seinen Standpunkt überdeutlich, das musste man ihm lassen.
Lisa blieb stehen, blickte zur Kontrolle noch einmal auf die Prospektionskarte.
Kein Zweifel, etwa zehn Meter jenseits der Mauer hatten die Geräte eindeutig etwas erfasst und auf der Karte mit einem länglichen, dunklen Fleck verzeichnet.
Wenn sie wenigstens einen Blick über die Mauer werfen könnte, verflixt und zugenäht. Selbst wenn auf der Bodenoberfläche nichts zu erkennen war, sprach die Vegetation oftmals Bände: Pflanzen, die nur an den Stellen wuchsen, wo bestimmte Gesteinsmineralien im Boden vorhanden waren. Bäume, deren Wachstumsform irgendwelche Auffälligkeiten zeigte.
Sie setzte den Fuß in eine Mauerspalte und versuchte hochzuklettern, rutschte jedoch immer wieder ab.
»Mist! Mist! Mist!« Sie hätte geeignete Schuhe anziehen sollen statt der Stoffballerinas, die sie schon während der Reise getragen hatte.
Aber da … nur ein paar Schritte entfernt … ein Olivenbaum. Noch nicht sehr alt, aber groß genug, damit der unterste Ast über die Mauer reichte.
»Heureka!«
Ohne einen weiteren Gedanken zu verschwenden, hangelte sich Lisa am knorpeligen Stamm hinauf und schürfte dabei das Schienbein an der Rinde auf, aber egal …
Ein letztes Mal zog sie sich hoch, bis sie den Ast erreicht hatte und nun bäuchlings so weit wie möglich nach vorn rutschte.
Jetzt bloß nicht hinunterschauen.
Ein leises Knacken ertönte.
Vorsichtig bewegen. Ganz vorsichtig.
Mist, das Laub versperrte ihr die Sicht.
Nur noch ein kleines Stückchen weiter nach vorn. Sie war schon jenseits der Mauer angelangt. Die Olivenblätter raschelten bei jeder ihrer Bewegungen.
»Hey, ti kánis eki? – Was machst du da?«, ertönte auf einmal eine tiefe, wütend klingende Männerstimme.
Im selben Augenblick hörte Lisa das laute Knacken. Sie spürte jenes bleierne Gefühl des Fallens. Einen stechenden Schmerz im rechten Fuß.
Sie schrie auf, und ihr wurde schwarz vor Augen.
Doch statt auf dem Boden aufzuschlagen, fühlte sie nur einen weichen Aufprall.
Arme, die sie festhielten.
Lisa riss die Augen auf und sah ein von der Arbeit im Freien gebräuntes, unrasiertes Gesicht, umgeben von dunklem, zerzaustem Haar, und Augen, so düster wie ein Gewitterhimmel.
Trier, Deutschland – 07. Mai
Lisa hielt den Atem an und konzentrierte sich mit aller Kraft auf die von Fingerabdrücken verschmierten Brillengläser des Mannes, der ihr gegenübersaß, damit dieser auf keinen Fall bemerkte, dass sie ihm am liebsten um den Hals gefallen wäre.
Karl Birkmeier, Professor für Klassische Archäologie und Dekan des Fachbereichs Archäologie und Altertumskunde der Universität von Trier, saß hinter seinem Schreibtisch, auf dem wie immer vor lauter Bücherstapeln, Plänen von Bodenanalysen, Landkarten und Kartonschachteln voller Plastik-Fundbeutel kein Zentimeter der Tischplatte mehr zu erkennen war. Ein kleiner Mann in seinen Sechzigern mit Halbglatze und jenem stets abwesenden Gesichtsausdruck, als lebte er in Gedanken in seinem eigenen, versunkenen Atlantis. Lisas Mentor und Vorbild. Schon seit sie zu Beginn ihrer Studienzeit hier in Trier die erste Vorlesung bei ihm besucht hatte.
»Amaltheias Ziegenhorn mit Zuckerwatte«, entfuhr es ihr. Sie schluckte. »Ich meine … das ist tatsächlich ein sehr unerwarteter Auftrag.«
Professor Birkmeier lächelte versonnen und schob ihr über den Tisch hinweg ein Blatt Papier im A3-Format zu. »Ein Auftrag, den Sie sich mit Ihrer jahrelangen Felderfahrung mehr als redlich verdient haben. Außerdem sind Sie eine der besten Expertinnen auf diesem Spezialgebiet.«
Lisa versuchte, sich die Aufregung nicht anmerken zu lassen.
Es stimmte, während ihrer bisherigen Laufbahn als Archäologin hatte sie bei mehr Ausgrabungen mitgearbeitet, als sie zählen konnte, hatte alle Energie und Leidenschaft in die Forschung gesteckt und vor drei Jahren ihre Dissertation über das Fachgebiet der bronzezeitlichen Minoer mit summa cum laude gemacht. Über jenes geheimnisvolle Volk, das mit seiner Hochkultur auf der griechischen Insel Kreta die erste Zivilisation Europas und sogar Kolonien bis hinauf aufs Festland begründet hatte.
Seither arbeitete sie als freie Mitarbeiterin an der Fakultät. Doch ein Ausgrabungsteam zu leiten, die Verantwortung über eine ganze Feldplanung zu haben – das war eine völlig andere Herausforderung. Und noch dazu in …
Ihr Blick fiel auf das Papier vor sich. Eine geomagnetische Prospektion. Für das ungeübte Auge lediglich eine Ansammlung von undefinierbaren roten Strichen, blauen Zeichen, die aussahen wie Fadenkreuze, und dunkelgrauen Klecksen. Lisa jedoch erkannte die Geländekarte mit den Höhenkurven und den aufgezeichneten Landmarken sofort. Roussolakos. Maßstab 1:1000 stand oben in der linken Ecke.
Augenblicklich vollführte ihr Magen einen Salto.
Roussolakos.
»Der Auftrag kommt vom Hauptsponsor persönlich. Wie war noch gleich der Name? Hm …« Stirnrunzelnd durchwühlte Professor Birkmeier die Papiere auf seinem Tisch. Bis er endlich fand, wonach er suchte, und seine Miene sich triumphierend aufhellte. »Ozuka Founding. Da haben wir’s ja.«
Lisa hatte noch nie zuvor von diesem Sponsor gehört.
»Die private Nachlassstiftung eines japanischen Multimillionärs.« Der Professor winkte ab, bevor Lisa etwas dazu sagen konnte. »Ich weiß, ich weiß, Privatsponsoren können eine Plage sein, aber leider kann man sich die Geldgeber heutzutage kaum noch aussuchen. Immerhin … gemäß ihren Statuten setzt sich die Stiftung aktiv für den Erhalt weltweiter Kulturgüter des Altertums ein. Sie hat kürzlich sogar das Patronat über eine neue Ausgrabung in Himera auf Sizilien übernommen.«
»Einem geschenkten Gaul soll man nicht ins Maul schauen.« Lisa nickte. Solange die Finanzierung legal und gesichert war, hatte sie keine Probleme damit. Im Gegensatz zu öffentlichen Geldgebern, bei denen es meist nur um Eigenwerbung ging, handelten Privatsponsoren erfahrungsgemäß aus echtem Kulturinteresse, was für Lisa die oft sehr eigenartigen Auflagen beinahe wieder akzeptabel machte. In diesem Fall jedoch …
»Ozuka will den Beweis der Existenz eines Palasts in Roussolakos haben«, führte Professor Birkmeier weiter aus. »Um diesen zu finden, bleibt gemäß Bedingung ein Monat lang Zeit.« Bei einem Erfolg würden die finanziellen Mittel für alle weiteren Grabungsarbeiten garantiert, was unter Umständen eine gesicherte Arbeit während mehreren Grabungssaisons in den Sommermonaten bedeutete. Nicht zu reden von dem Quantensprung, den eine solche Entdeckung für die Karriere darstellte.
Du kannst das. Darauf hast du dein Leben lang hingearbeitet.
Prompt bekam sie einen Hustenanfall, von dem sie sich erst nach einer halben Ewigkeit schniefend und mit tränenden Augen erholte.
Mit mitfühlendem Blick reichte Professor Birkmeier ihr einen mit Wasser gefüllten Pappbecher, bevor er die Brille auf die Nasenspitze vorschob und seine Aufmerksamkeit auf einen mit Teeflecken dekorierten Notizzettel richtete.
»Sie haben eine Woche lang Zeit, um das Team zusammenzustellen, ich lasse Ihnen dabei freie Hand. Ihr Flug ist für den fünfzehnten Mai gebucht. Ich hoffe, das ist Ihnen nicht zu kurzfristig, aber Sie kennen den Drill ja. Hat man endlich Sponsoren gefunden, ist Zeit ein kostbares Gut.«
»Kein Problem«, beeilte sich Lisa zu erwidern, während sie die Unterlagenmappe entgegennahm, die der Professor ihr reichte. Er gehörte noch der alten Schule an, in der moderne Datenübermittlungsmöglichkeiten mit Nichtbeachtung gestraft wurden.
In der Mappe lagen Unterkunfts- und Verpflegungslisten neben Budget- und Terminplänen. Sofort stellte Lisa in Gedanken eine ungefähre Gehaltsrechnung auf. Das Budget für den ersten Monat reichte für ein Team von fünf Archäologen plus mindestens einen Vermessungstechniker und einen Geologen. Vor Ort konnten sie an die zwanzig Grabungshelfer rekrutieren. Dazu kamen noch zusätzliche lokale Mitarbeiter – sie benötigten Bagger, Lastwagen für Material und den Erdtransport sowie jemanden, der sich um die Verpflegung und Instandhaltung der Unterbringungen kümmerte. Gemäß der Dokumentation bot das Museum von Sitia ebenfalls Unterstützung an. Sehr gut.
»Ich werde die gesamten Unterlagen der bisherigen Messungen und Prospektionen brauchen«, sagte Lisa, angelte einen Bleistift aus der Blechdose, die Professor Birkmeier als Stifthalter benutzte, und begann, eine Liste von Namen potenzieller Teammitglieder auf die Rückseite des Budgetplans zu kritzeln, durchzustreichen und neu zu schreiben.
Und wer käme als zweiter Grabungstechniker infrage? Als ihre rechte Hand und Stellvertretung? Zu dumm, der fähigste Kollege, den sie kannte, arbeitete zurzeit bei einem Projekt im nordspanischen Galicien mit.
Lisa schrieb »GT« und drei große Fragezeichen aufs Papier, machte einen dicken Strich darunter und fing eine neue Liste an: Sonnenschutzlotion. Mückenschutz – eine Unmenge an Mückenschutz. Nobite – nein, besser Autan Protection Plus, zehn Pumpflaschen davon sollten fürs Erste reichen. Oder vielleicht doch besser noch mehr?
Und nicht zu vergessen das Moskitonetz. Und Mückenstecker. Und viele, viele Tuben Fenistil. Besser zu viele statt zu wenige, sie hatte schließlich schon genug schmerzhafte Erfahrungen machen müssen. Es war beinahe unheimlich, mit welcher Zielsicherheit sich die gesamten Mückenkolonien auf Lisa stürzten, sobald sie auch nur Deutschlands Südgrenze bei Konstanz überschritt. Als hätte sie Zuckerwatte auf der Haut kleben.
»Ihrer Geschäftigkeit nach zu urteilen, nehmen Sie den Projektauftrag also an?« Professor Birkmeiers amüsiert klingende Stimme riss Lisa aus ihren Gedanken.
»Ja. Ja, selbstverständlich.« Was für eine Frage.
»Wunderbar.« Er lächelte. »Die Tochter des berühmten Archäologen Helmut Stadler tritt in ihres Vaters Fußstapfen. Er wird bestimmt begeistert sein, wenn er davon erfährt, dass Sie die Familientradition fortführen. War es nicht ganz in der Nähe von Roussolakos, wo er damals seinen Sensationsfund gemacht hat?«
Mit einem Ruck stand Lisa auf. Der Blätterstapel aus der Dokumentenmappe flatterte zu Boden.
Hastig sammelte sie die Papiere ein, klemmte sich einen Teil davon unter den linken Arm, den Rest unters Kinn und streckte die freie rechte Hand zum Gruß aus. »Vielen Dank, Professor Birkmeier. Ich werde Sie nicht enttäuschen. Versprochen.«
Damit eilte Lisa aus dem Zimmer.
Am fünfzehnten Mai. In einer Woche. Dann würde sie nach Kreta fliegen. Nach Palekastro. Für mindestens einen Monat. Als Grabungsleiterin.
Vater würde früh genug davon erfahren.
Herrgott, sie hatte noch so viel zu tun bis zu ihrer Abreise.
Palekastro, Kreta – Mitte Mai
Charis sah die beiden Gestalten schon von Weitem beim Grenzzaun stehen: Línos Mouskouri zusammen mit einer unbekannten Frau.
Charis’ Nacken schwoll vor lauter Wut an. Der Blitz soll diesen Esel Mouskouri mitsamt der restlichen Brut der Museums- und Kulturbehörden treffen.
Er rammte die Schaufel in die Erde und richtete sich zu seiner vollen Größe auf. Zwar war er zu weit entfernt, um hören zu können, was die beiden besprachen, aber er hatte während der letzten Monate schon genug andere von diesem hartnäckigen Pack verjagt. Er wusste genau, was sie wollten, es drehte sich schließlich immer um dasselbe: Auf seinem Land würden Ruinen von unschätzbarem kulturellem Wert vermutet, behaupteten sie. Und mit der Entschädigung, die Charis erhalten sollte, wenn er ihnen zu Ausgrabungszwecken Zutritt auf seinen Olivenbaumhain gewähren würde, hätte er eine Zeit lang ausgesorgt, versprachen sie.
Die Aasgeier hielten ihn für dämlich, was ihn in seinem Stolz beinahe noch mehr beleidigte als das Angebot selbst. Dreißigtausend Euro, damit er ihnen rund ein Drittel seines Landes zur Verfügung stellte, das diese Archäologenfritzen dann umgraben und für Jahrzehnte unbrauchbar machen würden, falls sie es ihm überhaupt jemals wieder zurückgaben.
»Ihr könnt mich mal kreuzweise«, knurrte er und lief mit großen Schritten in Richtung Grenzzaun. Den beiden würde er schon zeigen, dass sich Charíalos Zoidakis von niemandem für dumm verkaufen ließ. Selbst wenn auf seinem Grund und Boden eine zweite Akropolis verborgen läge, würde er ihnen das Zutrittsrecht nicht gewähren. Nicht auf dem Land, das er von seinem Vater geerbt hatte.
Er hob den Blick und blieb wie angewurzelt stehen. Wo waren die beiden?
Dann hörte er das Aufheulen eines Motors. Kurz darauf sah er Línos Mouskouris Wagen, eine Staubwolke hinter sich aufwirbelnd, davonbrausen.
Charis blickte dem Auto nach und verzog die Lippen zu einem abfälligen Grinsen. »Feiglinge.« Etwas anderes war auch kaum zu erwarten gewesen.
Gerade wollte er wieder zurückgehen, als etwas anderes seine Aufmerksamkeit weckte. Ein seltsames Geräusch. Wie das Schaben von Schuhsohlen auf Stein, und es kam von der anderen Seite der Mauer.
Was, zum …?
»Mist! Mist! Mist!« Die Stimme einer Frau.
Fassungslos hielt Charis inne und starrte die Mauer an, als wäre diese es gewesen, die in einer Sprache gesprochen hatte, die er zwar seit seiner Kindheit kannte, jedoch nie damit gerechnet hätte, sie ausgerechnet inmitten seiner alten Olivenbäume zu hören.
»Heureka!«, rief die Stimme.
Wie bitte?
Doch weiter kam er mit seinen Überlegungen nicht, denn nur einen Moment später hörte Charis das Rascheln von Laub. Die Äste des Olivenbaums direkt jenseits der Mauer begannen, sich eigenartig zu bewegen.
Einer der Äste reichte über die Grenze. Der war Charis schon lang ein Dorn im Auge, aber der besagte Olivenbaum stand nicht auf seinem Grundstück, somit konnte er den Ast nicht absägen.
Dann sah er sie. Es war die Frau, die vorhin zusammen mit dem Esel Mouskouri am Grenzzaun gestanden hatte. Er erkannte sie an dem haselnussbraunen Haarschopf.
Versuchte sie etwa, sich über den Ast zu schieben? War sie noch ganz bei Trost? Der Ast war doch viel zu dünn …
»Hey, ti kánis ekí?« Charis reagierte, ehe er den Satz zu Ende gesprochen hatte, und war in drei Schritten bei der Mauer angelangt.
Der Ast brach mit lautem Knacken.
Die Frau schrie auf und fiel in Charis’ Arme wie eine reife Wassermelone.
Sie wog nicht viel – kein Wunder, sie war auch nicht besonders groß und noch dazu recht mager. Durch das zu einem Pferdeschwanz zusammengebundene Haar traten ihre Wangenknochen in einer markanten, fast schon eleganten Wölbung hervor, die einen interessanten Gegensatz zu den vorwitzigen Sommersprossen auf ihrer Nase bildete.
Sie riss die Augen auf, starrte ihn an und schrie erneut.
Die Haarsträhne, die ihr ins Gesicht gefallen war, hatte fast genau dieselbe Farbe von flüssigem Karamell wie ihre Augen. Wie alt sie wohl sein mochte? Wahrscheinlich ungefähr so alt wie er selbst, schätzte er, also Mitte dreißig.
Und sie schrie immer noch. Immer schriller.
Mit einem Ruck stellte Charis die Frau auf die Beine.
Sie verstummte, nur um im nächsten Moment aufzustöhnen.
Er griff nach ihrem Oberarm. Was war denn nun schon wieder?
»Mein Fuß. Ich kann nicht mehr auftreten«, sagte sie keuchend in fehlerfreiem Griechisch und verzerrte dabei das Gesicht vor Schmerz.
Auch das noch …
»Nur wer Hirse im Kopf hat, klettert auf einen Olivenbaum, nachdem es im Winter kaum geregnet hat«, raunzte Charis wütend und kümmerte sich nicht um irgendwelche Höflichkeitsfloskeln. »Was hattest du außerdem da oben zu suchen? Hast du das Schild da vorn nicht gesehen? Das hier ist mein Grundstück. Betreten verboten.« Mit ausgestrecktem Arm zeigte er auf das Holzschild, das er genau dort aufgestellt hatte, wo jeder dieser Buddeldeppen es sehen konnte.
»Sie sind das?« Die Augen der Frau wurden groß. Mit einer entschiedenen Geste zog sie den Arm aus seinem Griff, stützte sich mit einer Hand an der Mauer ab und straffte die Schultern – leicht wankend, denn sie balancierte noch immer auf einem Bein.
»Sie sind der Besitzer des Olivenhains?« Sie strich sich die Haarsträhne hinters Ohr und zupfte ihr kakifarbenes Hemd zurecht. »Was für ein glücklicher Zufall, ich wollte ohnehin mit Ihnen sprechen. Mein Name ist Lisa Stadler. Ich arbeite für die Archäologische Fakultät in Trier und soll die Ausgrabungen hier in Roussolakos wieder aufnehmen.« Damit streckte sie ihm die freie Hand entgegen.
Ihren Gruß ignorierend, verschränkte Charis die Arme vor der Brust und warf ihr einen herablassenden Blick zu.
Hatte er’s doch gewusst. Wieder eine dieser Archäologen. Obwohl, zugegeben, die Hübscheste, die ihm bisher unter die Augen gekommen war. Und sie war aus Deutschland. Dennoch war ihr Griechisch wirklich tadellos.
»Nun gut.« Sie zog die Hand wieder zurück, hüpfte auf einem Bein näher zur Mauer, versuchte, sich kurz mit dem verletzten Fuß abzustützen, sog jedoch sogleich vor Schmerz die Luft ein. Dann fuhr sie fort: »Vielleicht sollte ich mich erst mal entschuldigen. Es war nicht meine Absicht, Ihr Grundstück unerlaubt zu betreten, glauben Sie mir. Ich wollte mir nur einen kleinen Blick er… Oooh!«
Charis sah, wie die Frau von einem Moment zum nächsten erbleichte und gegen die Mauer sackte.
In zwei großen Schritten war er neben ihr. Herrgott, sie fiel doch nicht etwa in Ohnmacht?
»Vorsicht. Langsam hinsetzen.« Er stützte sie, während sie sich, die Lippen zusammengepresst, ins Gras niederließ. Sie hatte große Schmerzen, das war nicht zu übersehen.
»Zeig mir mal deinen Fuß.« Er kniete vor sie hin.
»Das ist nicht nötig. Es geht schon wieder. Wirklich«, protestierte die Frau.
Ohne ihren Einwand zu beachten, krempelte er ihr rechtes Hosenbein hoch und begutachtete den Knöchel. Es schien nichts gebrochen, aber das Gelenk war inzwischen stark angeschwollen und mit einem prächtigen Bluterguss dekoriert. Kein Wunder, wer kam schon auf die hirnrissige Idee, mit diesen unnützen Schuhen auf einen Baum zu klettern? Dabei hatte sie noch Glück gehabt.
Er schnalzte mit der Zunge, schüttelte den Kopf. Verflucht, verflucht und dreimal verdammt dazu. Dieses vermaledeite Archäologenpack brachte nur Ärger. Aber obwohl sich jede Faser in ihm allein bei dem Gedanken daran sträubte, konnte er die Frau nicht einfach hier sitzen lassen, er war schließlich kein Unmensch.
»Das muss versorgt werden«, sagte er knapp.