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Liebenswert-schräge Dorfbewohner, italienische Kulinarik und die große Liebe Der neue Urlaubsroman von Pia Casell erzählt mit viel Humor, wie eine Journalistin nach Sizilien reist und zurück zu ihren Wurzeln findet. Journalistin Helene hat immer versucht, ihre italienische Herkunft zu verheimlichen - wer will schon von vornherein als laut, temperamentvoll und chaotisch abgestempelt werden? Doch nun soll sie für ein angesehenes Reise- und Kulturmagazin über das kulinarische Erbe Siziliens berichten. Da mit diesem Auftrag eine Beförderung in greifbare Nähe rückt, reist Helene widerwillig in das kleine Städtchen Castelbuono. Dort erwarten sie nicht nur ein übereifriger Bürgermeister, allerlei Köstlichkeiten und die wohl schrägste Wohngemeinschaft der Insel, sondern auch der attraktive Pasticciere Gaetano, der einige ihrer Überzeugungen arg ins Wanken bringt ... Sommer auf Sizilianisch ist ein humorvoller Feelgood-Roman und die perfekte Lektüre für den nächsten Urlaub! Entdecken Sie außerdem von Pia Casell: - Oliven zum Frühstück - Ein Sommer voller Salbeiduft
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Seitenzahl: 371
Veröffentlichungsjahr: 2025
Pia Casell
Roman
Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG.
Journalistin Helene hat immer versucht, ihre italienische Herkunft zu verheimlichen - wer will schon von vornherein als laut, temperamentvoll und chaotisch abgestempelt werden? Doch nun soll sie für ein angesehenes Reise- und Kulturmagazin über das kulinarische Erbe Siziliens berichten. Da mit diesem Auftrag eine Beförderung in greifbare Nähe rückt, reist Helene widerwillig in das kleine Städtchen Castelbuono. Dort erwarten sie nicht nur ein übereifriger Bürgermeister, allerlei sizilianische Köstlichkeiten und die wohl schrägste Wohngemeinschaft der Insel, sondern auch der attraktive Pasticciere Gaetano, der einige ihrer Überzeugungen arg ins Wanken bringt …
Weitere Informationen finden Sie unter: www.droemer-knaur.de
Motto
»Sizilien verstehen«
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Vokabular
Anmerkungen der Autorin
Danke! – Grazie!
»Italien ohne Sizilien macht gar kein Bild in der Seele: hier ist erst der Schlüssel zu allem.«
Italienische Reise
Johann Wolfgang von Goethe
Als ich vor fast dreißig Jahren zum ersten Mal als Reiseleiterin nach Sizilien gekommen bin, war ich davon überzeugt, keinerlei Verständigungsproblemen zu begegnen. Schließlich kannte ich Italien und war stolz darauf, Italienisch zu sprechen.
Die Erkenntnis, dass Italien nun einmal nicht Sizilien und Italienisch auch nicht gleich Sizilianisch ist, ließ jedoch nicht lange auf sich warten.
Über die Frage, ob es sich dabei tatsächlich um eine eigenständige Sprache oder doch nur um einen Dialekt handelt, scheiden sich die akademischen Geister schon seit Langem.
Fragt man die Sizilianer, besteht meistens kein Zweifel: Sizilianisch ist neben dem offiziellen, im Alltag gebräuchlichen Italienisch eine eigene gelebte und gefühlte (Zweit-)Sprache. Ja, man könnte sie sogar als eine Identifikation bezeichnen, wobei deren Gebrauch natürlich maßgeblich vom gesellschaftlichen Kontext und Umfeld abhängt.
Nach anfänglichen Herausforderungen habe ich Sizilianisch inzwischen lieben gelernt, und das in all seinen regionalen Variationen und Eigenheiten. Es heißt nicht umsonst, dass die Sprache der Spiegel einer Kultur sei. Kaum etwas anderes verrät so viel über die Geschichte und die Mentalität einer Bevölkerung. Wie könnte ich also einen Roman über Sizilien schreiben, ohne hier und da ein paar typische Ausdrücke einzustreuen?
Zwar habe ich immer versucht, eine erklärende Übersetzung mit einzuflechten, für ein wirklich »umfassendes Erlebnis« der sizilianischen Sprache bedarf es aber einiger Erklärungen. So gibt es zum Beispiel ein paar Ausdrücke, die die Insel quasi versinnbildlichen und sogar auf dem italienischen Festland als typisch sizilianisch erkannt werden. Die Liste ist auch hier nicht abschließend:
Sì na camurrìa!:wahrscheinlich einer der bekanntesten Ausdrücke überhaupt. Übersetzt bedeutet er in etwa so viel wie »Du bist eine Plage« und wird oft und gerne von Eltern gegenüber ihren Sprösslingen angewendet. Alternativ kann damit auch eine besonders nervige Sache, also una cosa camurriusa beschrieben werden.
Amuninni oder auch amunì: auf Italienisch andiamo, also: »Gehen wir.« Nur kommt es im Sizilianischen sehr auf die entsprechende Betonung an. Je nachdem kann amunì dann auch »Ach, komm schon« bedeuten.
Matri! oder Bedda matri!:wörtlich übersetzt »Mutter« beziehungsweise »schöne Mutter«. Jetzt kommt aber der Trick mit der Aussprache. Im Dialekt der Region Palermo wie auch dem Großteil der Nordküste werden die Doppellaute dri/dra/dru oder tri/tra/tru nämlich ähnlich dem englischen »r« in tree oder dry ausgesprochen. So klingt das Wort matri somit fast wie »madschi« mit einer lang gezogenen ersten Silbe.
Nun lässt sich allein schon mit dem Ausruf »Matri!« je nach Betonung eine ganze Spannbreite an Emotionen von Überraschung und Staunen über Ungeduld, Erschrecken oder Verzweiflung bis hin zu Verärgerung ausdrücken.
Ruft jemand hingegen »Bedda matri!« (Bedda übrigens mit Betonung auf die erste Silbe),dann ist das quasi der Superlativ. Entweder möge uns in diesem Fall also der Himmel beistehen, weil das Unheil so grenzenlos ist, oder aber wir haben es mit einem Wunder zu tun. Sie sehen: kleines Wort, große Wirkung.
Wie fast alle Südländer sind auch die Sizilianer zudem Meister der nonverbalen Kommunikation. Ob mit Gesten, Blicken, der Mimik und dem wohl wichtigsten Ausdrucksmittel überhaupt, dem Zungenschnalzen. Oder wie ich es nenne: dem »Ntz«.
Dabei handelt es sich nicht um das übliche, dezente Schnalzen, sondern um einen lauten, absolut unmissverständlichen Ausdruck der Verneinung, der Missbilligung oder des Missfallens. Und Sie werden sehen, die Sizilianer lieben es zu »ntzen«.
Am Schluss des Buchs finden Sie eine Auflistung aller im Roman vorkommenden italienischen und sizilianischen Ausdrücke mit Übersetzung sowie ein Nachwort mit weiteren spannenden Details über die Insel.
Aber nun will ich Sie nicht noch länger mit Erklärungen aufhalten und wünsche Ihnen viel Spaß auf Sizilien
Ihre Pia Casell
Von Reisbällchen, Ginsterbüschen, einem Kastell und einem oberdämlichen Huhn
Die Morgensonne ließ den Himmel im tiefsten Blau erstrahlen, während sich die Berge und Hügel entlang der Küste Nordsiziliens wie die Schemen einer Fata Morgana aus dem Hitzedunst erhoben.
»Macht euch bereit, ragazzi«, plapperte die Moderatorin im Radio fröhlich daher und spielte im Hintergrund bereits die ersten Noten des Songs Fresh von Kool & the Gang ein. »Heute ist Scirocco-Wind und der bisher heißeste Tag des Jahres vorhergesagt. Sorgen wir also schon jetzt für Abkühlung.«
Helene Mechler drehte die Lautstärke des Autoradios auf und schlug mit den Fingern den Takt auf das Lenkrad. Packte das Steuer jedoch sogleich wieder mit beiden Händen, als ein Lastwagen sie so dicht links überholte, dass der Fahrtwind ihren Cinquecento zum Rütteln brachte.
»Idiot«, murmelte sie und warf einen kurzen Blick in den Rückspiegel.
Der silberne Punto ihrer Kollegin Anja war immer noch direkt hinter ihr. Sehr gut.
Anja und sie arbeiteten beide bei Globo, einem der bekanntesten Reise- und Kulturmagazine Deutschlands mit Sitz in Berlin. In dessen Auftrag waren sie vor fast genau zwei Stunden hier auf Sizilien gelandet und befanden sich nun auf der Autobahn von Palermo entlang der Nordküste in Richtung Messina.
Sie schaute kurz auf ihre Armbanduhr. 10:15 Uhr. Obwohl sie einige Zeit zwischen Baustellen und Autogetümmel auf der Umgehungsstraße von Palermo verloren hatten, hielt sich der Verkehr hier in Grenzen. Ausgezeichnet, sie waren perfekt im Zeitplan.
Das gab Helene sogar ab und zu die Gelegenheit, einen Blick auf die Umgebung zu erhaschen. Denn was für eine Aussicht! Zu ihrer Rechten wechselten sich schroffe Felsgrate mit üppigen Olivenhainen und sanften, ins Meer abfallenden Hügeln ab. Hübsche Ortschaften schmiegten sich linker Hand die ganze Küste entlang.
Diese sahen allerdings nicht aus wie die üblichen idyllischen Städtchen mit fotogenen, wie aus bunten Bauklötzchen zusammengeschachtelten Häusern, wie man sie vielleicht aus den Cinque Terre oder von der Amalfiküste kannte. Stattdessen schienen sich die Gebäude hier eher trotzig aneinanderzuklammern, um sich gegenseitig zu stützen. Die meisten Fassaden waren entweder in Beige oder ähnlichen Farbnuancen bis hin zu einem warmen Ockerton gehalten. In derselben Farbe wie die Erde auf den Feldern.
Manche der Häuser waren schmuck zurechtgemacht, andere erweckten einen alten, ja hier und da sogar heruntergekommenen Eindruck. Trotzdem strahlten sie eine Würde aus, als wären die von der Sonne verblichenen Stoffrollos der Balkone lediglich Teil eines sich perfekt ergänzenden Gesamtkunstwerks.
Zwar kannte Helene Italien, sie war oft genug als Kind mit ihren Eltern während des Sommerurlaubs kreuz und quer durch den ganzen Stiefel gefahren. Nie zuvor hatte sie jedoch eine so satte Farbenvielfalt der Landschaft gesehen. Angefangen von den Grauschattierungen der Granitfelsen über die von dunkelrosa bis hellgelb variierenden Blüten der Oleandersträucher bis hin zum saftigen Grün der Agaven und der Orangenbäume entlang der Hügelterrassen. Dazwischen reckten sich immer wieder felsige Landzungen weit ins azurblaue Meer hinaus.
Helene hatte eben die Ortschaft Altavilla Milicia passiert, als sie zum Überholen eines Lieferwagens ansetzte. Dabei fiel ihr Blick auf einen alten, eckigen Steinturm, der dort, von den Sonnenstrahlen beleuchtet weithin sichtbar, auf einem ins Meer ragenden Felsen thronte.
Das war schon die zweite Turmruine, die sie unterwegs entlang der Küste sah. Die erste war ihr unweit des Flughafens ins Auge gefallen. Was es mit diesen Ruinen wohl auf sich hatte?
Völlig in Gedanken versunken, zuckte sie zusammen, als auf einmal statt des Radios ein Klingelton über die Bluetooth-Freisprechanlage des Mietwagens schrillte und Anjas Name auf dem GPS-Display erschien.
»Ich brauche dringend eine Mindestdosis an Koffein, sonst garantiere ich für gar nichts mehr«, ertönte Anjas Stimme vom anderen Ende der Leitung her. »Sofern die Beschilderung von eben stimmt, gibt’s ein paar Kilometer weiter eine Autobahnraststätte.«
Der Autogrill bei Caracoli Sud, Helene hatte das Schild ebenfalls gesehen.
Prompt hörte sie jedoch in Gedanken wieder die Stimme ihres Vaters während den Urlaubsfahrten. In dessen Weltbild stellten Autobahnraststätten schon seit jeher den Inbegriff eines gastronomischen Sakrilegs dar. »Autogrills sind dreckig und überteuert. Das Essen ist eine Beleidigung für jeden Geschmack, und das Personal ist außerdem unfreundlich«, hatte er immer behauptet. Und oft hatte er damit sogar recht gehabt.
Allerdings … Der Kaffee während des Flugs heute Morgen war scheußlich gewesen, hatte nach Schweißfüßen gerochen und nach Salzwasser geschmeckt. Endlich einen richtigen Espresso zu trinken, war eine herrliche Vorstellung. Die nächste größere Ortschaft war Termini Imerese, die Ausfahrt war nur noch fünfhundert Meter entfernt. Dort war bestimmt eine Cafébar zu finden. Sie hatten zudem genügend Zeit.
Kurz entschlossen setzte Helene den Blinker. »Fahr mir nach.«
Als sie wenig später die Bar del Vicolo in Termini Imerese betraten, schlug ihnen der Duft von Kaffee und gegrilltem Brot zusammen mit einer Mauer aus auf Polartemperatur heruntergekühlter Luft entgegen.
Der Raum war erfüllt von den Stimmen der vielen Leute und dem lauten Klackern der Kaffeetassen auf dem Tresen. Im Hintergrund war das Gitarrensolo des Vasco-Rossi-Konzerts von vor ein paar Tagen in Palermo zu hören, dessen Aufzeichnung auf dem Großbildschirm an der Wand lief.
»Was möchtest du? Ich kümmere mich ums Frühstück, während du uns einen Tisch besorgst, okay?«, wandte Helene sich zu Anja um.
Diese warf einen Blick auf die Vitrine bei der Theke und hob hilflos die Augenbrauen. Tatsächlich war das Angebot riesig. Allein schon der Geruch ließ sämtliche Geschmacksnerven im Mund jubilieren und gleichzeitig die Leber aufstöhnen: kleine mit Schinken und Champignons belegte Pizzen. Mit Teig umrollte Würstchen. Dick belegte Brötchen, die auf dem Grill getoastet wurden. Gefüllte und mit Sesamkörnern besprenkelte Teigfladen, aus deren Seiten geschmolzener Käse troff. Daneben lagen zwei ganze Reihen von Tabletts voll mit etwa faustgroßen, panierten und kross braun frittierten Reisbällchen. Wie konnte man um diese Uhrzeit so viel essen?
Schließlich schüttelte Anja den Kopf. »Egal was, Hauptsache, Kaffee.«
Die Kundschaft der Bar war bunt gemischt: Geschäftsleute in ihren perfekt sitzenden Anzügen und mit Sonnenbrillen – wie hielten die das bei dieser Hitze bloß aus? Daneben Bauarbeiter, die sich eine Pause gönnten, und Mütter mit laut quengelnden Kindern. Direkt neben Helene stand ein älteres Ehepaar, und am anderen Ende des Tresens erkannte sie zwei Beamte in der blauen Uniform der Polizia Stradale. Beide hielten je eines dieser Reisbällchen in der Hand und bissen genüsslich hinein.
Das mussten diese Arancine sein. Eine der bekanntesten sizilianischen Spezialitäten. Der Reis war gelb vom Safran und entweder mit Mozzarella, Erbsen und Bolognese-Soße oder nur mit Käse, Butter und Schinkenwürfeln gefüllt. Darüber und über die unzähligen anderen lokalen Köstlichkeiten hatte Helene während der vergangenen Wochen schon jeden Artikel, jedes Buch und jeden noch so winzigen Textschnipsel gelesen, den sie hatte finden können.
Wie üblich bezahlte sie zuerst an der Kasse und wollte schon mit der Quittung zum Tresen gehen, als der rechts von ihr stehende Geschäftsmann auf einmal irgendetwas Unverständliches in sein Handy bellte und dazu mit der freien Hand in der Luft herumzufuchteln begann.
Zwar schien sich sonst niemand daran zu stören, Helene machte jedoch sofort einen Schritt zurück. Nicht, dass er sie womöglich auch noch anschnauzte. Du liebe Güte, er redete so laut und so schnell und in einem Dialekt, der nach allem Möglichen klang, nur nicht nach Italienisch. Das hätte sie zumindest verstanden, sie sprach es sogar fließend.
Umso verblüffter war sie jedoch, als der Mann sie plötzlich mit einer ausladenden Geste anlächelte und noch immer mit dem Handy am Ohr, aber dafür im wohlklingendsten Italienisch sagte: »Prego, dopo di Lei.« – Bitte, nach Ihnen.
Bevor er es sich womöglich noch anders überlegte, trat Helene vor. Hinter sich hörte sie ihn erneut unbekümmert laut auf Sizilianisch weiterbrüllen.
Als sie kurz darauf ein Tablett mit je zwei Espresso, Wassergläsern und riesigen, mit Vanillecreme gefüllten Cornetti zu einem Tisch in der Ecke neben dem Ausgang trug, hatte Anja bereits ihr Notebook aufgeklappt. Auf dem Bildschirm war eine Google-Maps-Straßenkarte zu erkennen.
Sie sah auf, und ihr Gesicht begann zu strahlen. »Koffein. Meine Rettung.« Dennoch griff sie zuerst nach dem Cornetto, biss hinein und sank mit einem genüsslichen Grunzen gegen die Stuhllehne zurück. »Wow, das ist köstlich.« Vor lauter Wonne verdrehte sie die Augen. Puderzucker klebte ihr an Oberlippe, Nasenspitze und den Wangen, und das Kinn war mit Vanillecreme verschmiert, aber das schien ihr völlig egal zu sein.
Helene lachte. Doch Anja hatte recht, stellte sie nach ihrem ersten Bissen fest. Die Vanillecreme schmeckte göttlich – nicht zu süß, sondern genau richtig, und der Blätterteig war so zart, dass er einem fast im Mund zerging.
Und dann der Espresso … In der Tasse war gerade genug für zwei Schlückchen, ein echter Ristretto. Mit dem Zucker, den sie dazugegeben hatte, war daraus ein cremiger Genuss geworden. Man konnte sich über so manche italienische Sitte streiten. Auch darüber, dass Kaffee für die Italiener eine Art Heiliger Gral war, mit dem man die Lebensgeister weckte, die Verdauung förderte, Gäste bewirtete, Freundschaften besiegelte und in Gedanken sogar den Weltfrieden zu retten vermochte. Im Moment war Helene sogar versucht, all das zu glauben, denn der Ristretto war köstlich.
»Übrigens … Fast hätte ich’s vergessen«, sagte Anja nach einer Weile des kontemplativen Genießens mit vollem Mund. »Eben hat Sue angerufen. Sie und Holger sind gut in Trapani angekommen.«
Sofort setzte sich Helene auf ihrem Stuhl gerade hin. »So schnell schon?« Mit einer Papierserviette wischte sie sich die Finger sauber, bückte sich nach ihrer Tasche und zog das Notebook hervor.
Die Gedanken an Cornetto, Espresso und diesen unmöglichen sizilianischen Dialekt waren ruckzuck verflogen und machten stattdessen dem Fokus auf den eigentlichen Grund ihrer Reise nach Sizilien Platz. Denn sie alle vier – Anja, sie selbst sowie ihr Redaktionskollege Holger Petersen und die Fotografin Sue Hendricks – waren hier, um für die Artikel einer Sonderausgabe zu recherchieren.
Daran war im Grunde nichts Außergewöhnliches, über andere Länder zu schreiben, war Helenes Job. Ihr Traumjob sogar, für den sie bereits die halbe Welt bereist hatte.
Im Vergleich zu allen bisherigen Aufträgen war dieser hier jedoch anders. Dieses Mal trug sie nämlich die Verantwortung für die gesamte Koordination der Sonderedition. Das hieß, sie war die sogenannte Chefin vom Dienst, hatte nicht nur die Leitung des Journalistenteams, sondern überwachte und entschied auch über die redaktionelle Auswahl der Artikel. Eine Herausforderung, von der Helene bis vor einem halben Jahr nicht einmal zu träumen gewagt hatte, und zugleich ein entscheidender Wendepunkt in ihrer Karriere. Kurz gesagt: Es war die Chance ihres Lebens. Für die Helene eigentlich Feuer und Flamme sein sollte, was sie auch war. Wirklich, Ehrenwort. Würde Sizilien nicht zu Italien gehören und wäre genau diese Tatsache nicht der Grund für ihr Dilemma, weil …
Sie seufzte in Gedanken auf. Ach, es war verflixt kompliziert.
Ein Grund mehr, weshalb sie so eisern an ihrer PZZ-Regel festhielt: professionell, zielorientiert, zuverlässig. Ihr persönliches Motto und Mantra, schon seit Jahren.
Mit einem Klick rief sie ihre bis ins kleinste Detail ausgeklügelte Masterplanungsliste auf, von der aus sie über einen Direktlink die Storyline und somit die bisher gesammelten Artikelideen sowie die provisorische Seitenaufteilung, den sogenannten Seitenspiegel, aufrufen konnte.
Zugegeben, sowohl Storyline als auch Seitenspiegel bestanden im Moment noch aus sehr dürftig gefüllten Excel-Rastern. Aber genau deshalb waren sie nach Sizilien gekommen.
Sizilien – das kultur-kulinarische Erbe der Vergangenheit. So lautete der vorgegebene Titel der Globo-Sonderedition. Sie hatten genau einen Monat Zeit, um genügend Material zu sammeln und die über hundert geplanten Seiten mit spannenden Themen-Artikeln und Bildern zu füllen.
Ein weiterer Klick, und die geografische Übersichtskarte Siziliens erschien auf dem Bildschirm.
»Sue und Holger sind also schon angekommen. Ausgezeichnet.« Helene nickte zufrieden. Planung war das A und O jeder Recherchereise. Besonders, wenn man es mit der größten Insel im Mittelmeer zu tun hatte.
Um die Arbeit möglichst effizient und flächendeckend zu gestalten, hatte Helene jedem der Journalisten im Team eine zu verantwortende Region zugeteilt: Holger war für den gesamten Westzipfel zwischen Palermo, Caltanissetta, Agrigento und Trapani zuständig. Anja würde den Südosten mit Siracusa und Catania bis landeinwärts nach Enna übernehmen und Helene schließlich den nordöstlichen Teil mit der Region rund um Taormina, Messina, Cefalù sowie den inländischen Gebirgsregionen der Madonien und Nebrodi. Sue, die Fotografin, hatte von allen vieren den Jackpot gewonnen und würde zwischen den drei Regionen hin- und herreisen, um für das Bildmaterial zu den Artikeln zu sorgen.
»Wann hast du deine ersten Termine?«, fragte sie Anja. Alle von ihnen waren auch für die Themenbeschaffung innerhalb des zugewiesenen Gebiets verantwortlich. Sie hatten dafür schon im Voraus zum Teil sehr ausführliche Onlinenachforschungen betrieben und Kontakte geknüpft. Ja, Themenrecherche war wie eine Art Detektivarbeit, nur ohne Täter und Mordopfer. Doch auch hier bargen die unauffälligsten Details oft die erstaunlichsten Geschichten und Hintergründe.
Anja klaubte ein paar Cornetto-Krümel vom Teller auf und runzelte konzentriert die Stirn, während sie ihren eigenen Bildschirm betrachtete. »Morgen um 10 Uhr treffe ich mich mit dem Verantwortlichen einer Schokoladenfabrikations-Kooperative in Modica«, erklärte sie. »Die Schokolade von Modica soll noch immer nach dem gleichen, von den Spaniern im 16. Jahrhundert aus Südamerika nach Europa gebrachten Verfahren hergestellt werden. In der Gegend rund um Ragusa gibt es zudem noch einige andere Spezialitäten, denen ich auf den Grund gehen will.« Sie scrollte durch ihre Notizen. »In der Ortschaft Scicli gibt es zum Beispiel eine Süßspeise namens Testa di Turco, die an eine Schlacht gegen die Osmanen im 11. Jahrhundert erinnern soll und nur am Ehrentag der Lokalheiligen hergestellt wird. Daraus lässt sich womöglich ein spannendes Thema entwickeln.«
»Sehr gut.« Helene nickte erneut. Anja war eine hervorragende Journalistin, die es verstand, ihren Texten einen ganz eigenen Ton zu verleihen, ohne sie durch überschwängliche Beschreibungen zu beschweren. Ihre ruhige, besonnene Art war einnehmend, täuschte jedoch oft über ihren staubtrockenen Humor hinweg, mit dem Anja einen aus dem Hinterhalt überrumpelte. Außerdem sprach sie Italienisch. Ein weiterer Grund, weshalb Helene sie ins Team geholt hatte.
»Mein Ziel für heute Abend liegt hingegen im Hinterland von Cefalù, mitten im Madonien-Gebirge«, erklärte Helene nun ihrerseits. Sie schob sich die Brille auf der Nase zurecht, ehe sie den Blick zurück auf den Bildschirm richtete. »Die Ortschaft heißt Castelbuono. Scheint eine recht malerische Gegend zu sein und bekannt für die angeblich von den Byzantinern eingeführte Produktion von Manna.«
»Echt jetzt?« Anja riss die Augen auf. »Das biblische Manna?«
Helene schüttelte lachend den Kopf. »Nicht ganz so episch. Soweit ich gelesen habe, nennt man das Harz der Manna-Esche so. Es wird nur noch in Castelbuono und dessen Umland gewonnen. Jedenfalls gibt es dort auch eine Konditorei, die eine Art Manna-Panettone und Manna-Eiscreme herstellt.«
»Hm, das klingt le…«
Sie sahen beide auf, als von der anderen Seite des Raums auf einmal ein durch Mark und Bein fahrendes Kinderheulen ertönte, dem prompt das deftige Schimpfen einer sizilianischen Mutter folgte, während der Inhalt des zu Boden gefallenen Eisbechers langsam über die Terrakottafliesen rann. Sie waren offenbar alle ziemlich laut, diese Sizilianer.
»Ich bin jedenfalls gespannt«, nahm Helene die Ausführung wieder auf. »Der Bürgermeister von Castelbuono hat für morgen ein Treffen mit dem Inhaber der Konditorei für mich organisiert. Er war ganz begeistert, als ich ihm von einem möglichen Artikel in unserer Sonderausgabe erzählt habe. Ich bin heute Nachmittag mit ihm verabredet, um alles zu besprechen.« Und das war sogar noch untertrieben. Der Bürgermeister, ein gewisser Vincenzo Cusimano, hatte sich am Telefon schier überschlagen vor Enthusiasmus und ihr alle nur erdenkliche Unterstützung zugesichert.
Auf dem Parkplatz der Bar verabschiedete sich Helene wenig später von Anja. Sie hatten beide noch eine lange Fahrt vor sich, wobei sich ihre Wege beim nächsten Autobahndreieck trennen würden.
Anja hupte dreimal zum Abschied, ehe sie sich kurz darauf bei Buonfornello auf die rechte Fahrbahn in Richtung Catania einordnete.
Helene winkte ihr noch einmal kurz zu, dann sah sie den silbernen Punto der Kollegin auch schon um die Kurve biegen. Sie selbst folgte der Autobahn weiter entlang der Nordküste. Vorbei an Ortschaften wie Campofelice di Roccella und Cefalù.
Es war fast Mittag, als sie bei der Ausfahrt Pollina-Castelbuono von der Autobahn abzweigte. Von nun an war es einfach, der Beschilderung zu folgen, es schlängelte sich nur eine einzige Straße in Hunderten von Kurven hinauf in die Berge.
Mit jedem Kilometer, den sich Helene von der Küste entfernte, wurde die Vegetation dichter und grüner. Feigenkakteen und üppige Ginsterbüsche säumten die Straße. Saftige Weiden, Macchia, Olivenhaine, Korkeichen- und Kiefernwälder überzogen abwechselnd die Hügel bis fast hinauf zu den Berggraten und schufen so ein Mosaik aus unzähligen Klecksen in allen möglichen Grünschattierungen.
Am faszinierendsten waren jedoch die Dörfer, die wie Tortendekoration an den Berggipfeln oder auf den Hügelgraten klebten. Manche waren klein, bestanden lediglich aus ein paar Häusern, andere hatten hingegen eine beachtliche Größe mit bestimmt mehreren Tausend Einwohnern.
Helene hatte zuvor schon einiges über die Madonien gelesen, die seit dem Jahr 1989 den Status eines Nationalparks hatten sowie seit über zwanzig Jahren als Geopark auch von der UNESCO anerkannt wurden. Die gesamte Region umfasste in etwa 40.000 Hektar mit insgesamt fünfzehn Gemeinden. Und obwohl die Fläche nur etwa zwei Prozent des sizilianischen Territoriums ausmachte, waren hier mehr als die Hälfte der gesamten Flora sowie alle auf der Insel vorkommenden Säugetiere vertreten.
Das Thermometer des Autos zeigte zweiunddreißig Grad Außentemperatur an. Trotzdem öffnete Helene das Fenster. Im ersten Moment fühlte es sich an, als hätte sie die Tür zu einem Backofen aufgestoßen. Heißer Scirocco-Wind wehte ihr ins Gesicht. Ihr brach der Schweiß aus allen Poren. Doch zugleich war da dieser Geruch. Würzig und dennoch frisch. Nach Kiefernnadeln, trockenem Gras und Heidekraut mit einem Hauch von Meersalz. Sie sog tief die Luft ein. Herrlich.
Und wie aus heiterem Himmel waren auf einmal wieder alte Kindheitserinnerungen da: der alljährliche Urlaub mit den Eltern in den Abruzzen. In dem kleinen, scheinbar von der Welt vergessenen Bergdörfchen Cocullo, das sich an den Südhang des Monte Catini schmiegte. Wo die Leute sie nicht Helene, sondern Elena nannten und wo die Eltern sie schon als Achtjährige bedenkenlos allein durchs Dorf streifen ließen, weil hier jeder jeden kannte und sich alle um alle kümmerten, wie man das eben in diesen kleinen Orten noch tat. An besonders heißen Sommertagen hatte die Luft dort ganz ähnlich gerochen. Helene hatte seit Jahren nicht mehr daran gedacht.
Sie lenkte das Auto um die nächste Kurve, und … »Wow!«
Vor ihr eröffnete sich die Sicht auf eine weite, von sanft aufsteigenden Bergen umgebene Talebene, in deren Mitte sich ein Städtchen an einen Hügelrücken schmiegte. Castelbuono – unverkennbar und genau wie auf den unzähligen Fotos abgebildet.
Die Gegend sei recht malerisch, hatte sie Anja gesagt. Sie würde sich eine neue, passendere Beschreibung einfallen lassen müssen, denn »malerisch« wurde dem hier wirklich kaum gerecht: Die fast perfekt symmetrisch verlaufenden Häuserreihen ließen den mittelalterlichen Grundriss noch immer erkennen. Zwei Kirchtürme überragten die restlichen Dächer. Ganz am nördlichen Ende des Orts jedoch thronte, von rundum zu sehen und im Sonnenlicht sandfarben leuchtend, das trutzige mittelalterliche Kastell. Auch davon hatte Helene gelesen. Die Festung war im Jahr 1317 auf Wunsch von Federico Ventimiglia, des Conte di Geraci und treuen Gefolgsmanns Königs Federico III. von Sizilien, erbaut worden.
Zwar herrschte auf dieser Strecke kaum Verkehr, doch auf einer so kurvenreichen Straße rechts heranzufahren, war trotzdem gegen jede Vorsicht und gesunden Menschenverstand. In Deutschland würde sie nicht einmal im Traum auf die Idee kommen. Aber die Journalistin in Helene konnte nicht anders. Dieses Licht, die Farben der Landschaft und der Häuser mit all ihren Schattierungen, dazu der wolkenlos blaue Himmel – diesen Anblick musste sie einfach festhalten. Sie war ohnehin viel zu früh dran, der Bürgermeister erwartete sie erst gegen 16 Uhr.
Kurzerhand schnappte sie sich ihre Fotokamera und stieg aus. Nur schnell ein paar Bilder schießen. Sie ließ sogar den Motor und das Autoradio laufen.
Mist, von ihrem Standpunkt aus verdeckten ihr die Büsche auf dem gegenüberliegenden Straßenrand die Sicht.
Ein kurzer Blick nach links und rechts, dann eilte sie über die Fahrbahn.
Sie spürte die Sonne auf der Haut, während sie sich durch die Zweige des Ginsterbuschs kämpfte. Aus dem Autoradio ertönte der bekannte Siebzigerjahre-Schlager von Massimo Ranieri Se bruciasse la città. Sogar die jüngere Generation der Italiener liebte diese alten Hits, erinnerte sich Helene. Jetzt gab das laute Zirpen der Grillen dem Lied sogar einen seltsam passenden Backgroundeffekt.
Endlich fand sie eine Stelle mit perfekter Sicht auf das Städtchen Castelbuono und das Kastell, drückte gleich mehrmals auf den Auslöser und wechselte immer wieder die Position.
Die Fotos waren gut gelungen. Sie würde sie heute Abend gleich auf den Server laden, damit Sue sie begutachten konnte.
Der Schweiß rann ihr über die Schläfen, als Helene wieder über die Straße eilte.
Was für eine Hitze. Rasch zurück ins Auto und die Klimaanlage auf die Höchststufe stellen.
Sie öffnete die Autotür und wandte sich zum Einsteigen, als genau im selben Moment hinter ihr ein lautes, lang gezogenes Hupen ertönte.
Vor Schreck stieß sie einen Schrei aus, ehe im nächsten Augenblick ein weißer Lieferwagen nur um Haaresbreite neben ihr vorbeibrauste und hinter der nächsten Kurve verschwand.
Es dauerte mehrere stockende Herzschläge lang, bis sich Helene erneut zu bewegen wagte. Rasch stieg sie ein und blieb einen Moment lang wie erstarrt sitzen.
Himmel, das war knapp gewesen.
Ihre Knie zitterten immer noch so heftig, dass sie den Motor dreimal abwürgte, bevor sie den Wagen endlich in Gang brachte. Während sie im Schneckentempo weiterfuhr, stand ihr der Schreckensmoment von eben noch immer vor Augen. Das Hupen, das ihr durch Mark und Bein gegangen war. Der weiße Lieferwagen. Ein kleiner Citroën-Van.
»Ich dämliches Huhn«, fluchte sie und schlug die flache Hand auf das Lenkrad. Denn natürlich hatte sie nicht daran gedacht, sich das Nummernschild zu merken, um den Vorfall auf der nächsten Polizeistation zu melden.
Doch schon im nächsten Atemzug verwarf sie den Gedanken wieder. Was sollte sie den Beamten denn erzählen? Etwa, dass sie selbst höchst fahrlässig gewesen war, weil sie das Auto dort am Straßenrand hatte stehen lassen, nur um ein paar Fotos zu machen? »Ich oberdämliches Huhn.«
Aber da war ein eigenartiger Schriftzug auf der Rückseite des Vans gewesen, erinnerte Helene sich. Ja, richtig. Zwar hatte sie den Namen nicht lesen können, jedoch zumindest einen Teil des Logos erkannt: Zweige mit feinen Blättern – eine stilisierte Baumkrone.
Und vor ihr säumten bereits die ersten Häuser von Castelbuono den Straßenrand.
Der Unterschied zwischen kulinarischer DNA und einer Pizza-Schachtel
Der Märzmorgen war nass, trist und ungemütlich. Sogar der schlanke Turm der Immanuelkirche auf der gegenüberliegenden Straßenseite hatte sich hinter einem Mantel aus Schauerschwaden versteckt. Die Regentropfen prasselten laut gegen die Fensterscheiben des Sitzungszimmers. So laut, dass Helene sich anstrengen musste, um die Worte ihres dort am Tischende stehenden Vorgesetzten überhaupt verstehen zu können.
»Es soll der Auftakt zu einer mehrteiligen Sonderedition werden. Ganz im Zeichen der Bewahrung des europäischen Kulturerbes«, erklärte Jürgen Heck, der Chefredakteur des Kultur- und Reisemagazins Globo. Euphorie strahlte aus seinem Gesicht und ließ ihn einen Moment lang wie einen Teenager mit grau meliertem Stoppelbart und schütterem Haar wirken. Erst vor zwei Wochen hatten sie auf seinen sechzigsten Geburtstag angestoßen.
Es war Montagmorgen um 9:30 Uhr und damit Zeit für die allwöchentliche Redaktionssitzung. Dieses Mal war jedoch etwas anders als sonst, bemerkte Helene. Es waberte nicht, wie sonst üblich, die geschäftsmäßige Konzentration, sondern eine erwartungsvolle Spannung durch die Luft. Zusammen mit dem Geruch nach frisch aufgebrühtem Filterkaffee.
Sie ließ den Blick unauffällig über die Runde der Anwesenden gleiten. Ausnahmsweise saßen heute alle sechs Hausredakteure, die drei festen freien Mitarbeiter sowie die vier Fotojournalisten des Verlags am Tisch. Eine wahre Seltenheit, denn normalerweise war immer jemand von ihnen abwesend. Meistens auf Recherchereise irgendwo auf der Welt. Globo gehörte nicht umsonst zu den renommiertesten Reise- und Kulturzeitschriften auf dem Deutsch sprechenden Markt, das sich vor allem durch spannende und ausführlich recherchierte Foto- und Textreportagen auszeichnete. Es verging kaum ein Jahr, in dem nicht mindestens ein Artikel des Magazins für den Stern-Preis nominiert wurde und ihn nicht selten auch gewann.
Die Augen aller Anwesenden hingen nun aber an Jürgen, dem Chef. Der hatte die Sitzung bereits vor zwei Wochen mit dem Vermerk »Wichtigkeit: hoch« bekannt gegeben. In den vier Jahren, in denen Helene bereits bei Globo arbeitete, hatte er noch nie eine solche Ankündigung gemacht.
»Ein Mehrteiler? Es hat doch immer geheißen, die wären zu aufwendig in der Produktion und generierten zu wenig Umsatz.« Die Bemerkung kam von dem neben Helene sitzenden Mann. Sein Name war Holger Petersen. Er gehörte zu ihren langjährigen Journalisten-Kollegen.
»Das ist richtig. Normalerweise jedenfalls.« Jürgen nickte. »Außer wenn sich ein Auftrag von höherer Stelle anbietet, der zugleich für einen mächtigen Imagepush sorgt.« Sein Grinsen wurde noch breiter, und er drückte den Knopf auf der Fernbedienung in seiner Hand. Das leise Surren des Beamers ertönte, zugleich erschien ein Bild auf der Wand hinter Jürgen: die Europaflagge auf blauem Hintergrund, darunter der Hashtag #europeforculture. »Erinnert ihr euch noch an die Ausschreibung des Cultural Heritage Forums?«
Helene stutzte. »Die Expertengruppe der EU? Aber die Ausschreibung ist doch schon fast drei Jahre her.«
»Die internationalen Mühlen mahlen nun einmal langsam.« Jürgen zuckte die Schultern. Dann jedoch ließ er den Blick langsam und zufrieden von einem zum anderen wandern, während er erneut den Knopf der Fernbedienung drückte. Auf der Projektion hinter ihm erschienen sieben Titelseiten verschiedener Magazine. Helene erkannte das britische Magazin Wanderlust oder Echappée Belle aus Frankreich. Und auch eine Titelseite des Globo-Magazins. »Viel wichtiger ist hingegen …«, nahm Jürgen seine Rede erneut auf, »… dass wir zusammen mit sieben anderen europäischen Kulturmagazinen den Zuschlag bekommen haben. Unser Globo-Magazin.« Unüberhörbarer Stolz schwang in seiner Stimme mit. »Wir sind somit Teil einer groß angelegten, von EU-Geldern gesponserten Kampagne und haben zugleich die Exklusivität auf dem gesamten Deutsch sprechenden Markt. Dit wird en janz dickes Ding, sach ick euch.«
»Wow.« Mehr brachte Helene nicht heraus. Wie alle anderen Kollegen brauchte sie einen Moment, um die Neuigkeit sickern zu lassen: eine von der Europäischen Union gesponserte, mehrteilige Sonderedition. Das war nicht nur eine Auszeichnung für Globo, sondern bedeutete zugleich europaweite Werbung und damit eine um ein Vielfaches erhöhte Auflage. Ein ganz dickes Ding, tatsächlich.
Damit die Produktion der üblichen Magazinausgaben trotzdem geregelt weiterlaufen konnte, würden sie sich in mehrere Rechercheteams, bestehend aus jeweils drei Journalisten und einem Fotografen, aufteilen, die abwechselnd nur für die Sondereditionen zuständig waren. »Jedes Team stellt eine Leitungsperson, die für die Koordination der Artikel sowie das Bildmaterial verantwortlich ist«, bestimmte Jürgen.
Sogleich begannen in Helenes Kopf die Gedanken zu rotieren, und ihre Finger trommelten auf den Rand des vor ihr liegenden E-Ink-Tablets.
Eine mehrteilige Sonderedition mit Fokus auf die Bewahrung des europäischen Kulturerbes. Das bedeutete geschätzt pro Ausgabe je ein bis zwei Hauptthemen mit vielleicht zehn dazugehörigen Artikeln. Und es gab eine schier unermessliche Anzahl von Ländern, Kulturen und Geschichten, über die man schreiben könnte.
Sie griff zum Eingabestift und begann, Ideen auf den Bildschirm zu kritzeln. Die Stichworte kamen wie von selbst, hörten gar nicht mehr auf zu sprudeln:
~ Türkei: Osmanisches Reich, Konstantinopel, Tor zum Orient, internationaler Handel, Seidenstraße, Nordafrika
~ Spanien: arabische Invasion, Alhambra, Córdoba, Andalusien, Kastilien, Aragón, Reconquista, Habsburger …
Bald schon war Helene ganz in ihre Notizen vertieft und bekam nur noch am Rande mit, worüber die anderen redeten.
So war es schon immer gewesen. Kulturen, Länder und Traditionen kennenzulernen und darüber zu schreiben … Dass das ihr Traumberuf werden würde, war ihr bereits klar gewesen, als sie im letzten Grundschuljahr einen Aufsatz über die Hopi, eine indigene Bevölkerungsgruppe in Arizona, geschrieben hatte. Seit jenem Tag hatte Helene während ihrer gesamten schulischen Laufbahn einzig und allein auf dieses Berufsziel hingearbeitet, den Bachelor in Medienkommunikation und Journalismus gemacht, um anschließend Berufserfahrungen zu sammeln. Erst bei verschiedenen Tageszeitungen, zwischendurch sogar bei einer Lifestyle-Zeitschrift, für die sie Reportagen und Kolumnen im Kulturteil schrieb. Das war zwar noch längst nicht das, was sie eigentlich wollte. Sie wollte Storys mit Gehalt und Tiefe schreiben. Über Themen, die den Lesern in Erinnerung blieben.
Solche zu finden, war allerdings nicht einfach, im Gegenteil. Viele eröffneten sich einem erst nach einer langwierigen Recherche, über andere stolperte man hingegen ganz zufällig. Doch die richtig guten Themen erkannte Helene inzwischen sofort. Wobei, es war kein Erkennen im eigentlichen Sinn, sondern vielmehr ein Gefühl. Ein Gespür – ja, fast eine Art Vorahnung, bei der sich ihr jedes Mal die Härchen im Nacken aufrichteten und ein warmes Kribbeln verursachten.
So arbeitete sie unermüdlich und mit verbissener Hartnäckigkeit weiter. Schrieb sich Tag und Nacht, Zeile um Zeile ihrem Ziel entgegen. Sehr zum Unverständnis ihrer Eltern.
Oh, die waren natürlich immer stolz auf sie gewesen, aber sie hatten den verbissenen Ehrgeiz ihrer Tochter nie so recht nachvollziehen können. Obwohl Mutter seit dem Beginn von Helenes Journalistenkarriere all ihre Artikel ausschnitt, um sie sorgfältig in Ordnern mit Sichtmäppchen aufzubewahren und dann bei jedem Verwandten- oder Bekanntenbesuch vorzuzeigen. Inzwischen war so eine ordentliche Sammlung zustande gekommen. Vor allem seit sie für das Globo-Magazin schrieb.
~ Griechenland: Wiege Europas, Antike, Seefahrermächte, Philosophie, Wissenschaften, Sparta, Troja, Odysseus, Byzantinisches Reich …
»Helene?«
Jemand stieß sie mit dem Ellenbogen an. »Helene!«
»Hm?« Gedankenversunken sah sie von ihrem Tablet auf. »Oh.« Und fühlte im selben Moment, wie ihr die Röte in die Wangen schoss, sobald sie die amüsierten Blicke von Jürgen und den übrigen Kollegen bemerkte. Sie fasste sich jedoch sogleich wieder und sagte in gekonnt professionellem Ton: »Ich habe inzwischen schon ein kleines Brainstorming zu möglichen Themen gemacht.«
Sogleich hörte sie Holger neben sich glucksen. »Hätte mich auch gewundert, wenn unser Helenchen bei so einer Gelegenheit nicht gleich die Griffel wetzen würde.« Er knuffte sie erneut kumpelhaft mit dem Ellenbogen. »Ich bin froh, dass wir uns nur auf Europa beschränken. Wenn’s nach dir ginge, wäre bestimmt von einem möglichst unaussprechlichen Land in der hintersten Ecke der Welt die Rede, stimmt’s?«
»Wie voriges Jahr«, rief eine Fotografin, die eigentlich Susanne hieß, jedoch von allen nur Sue genannt wurde. »Als du mich für eine Reportage über alte Steppenvölker in die Mongolei geschleppt hast.« Ihr Tonfall klang vorwurfsvoll, als sie fortfuhr: »Deinetwegen musste ich drei Wochen lang nur gegorene Stutenmilch trinken.« Doch ihr spitzbübisches Grinsen strafte ihre Worte Lügen. Die Tage im Terelj-Nationalpark und in Ulan-Bator waren fantastisch gewesen.
Helene schenkte den beiden ein zuckersüßes Lächeln als Antwort. Sie liebte Sue über alles. Zu deren Markenzeichen gehörte nicht nur ihr frecher, schlumpfblauer Kurzhaarbob, sondern vor allem der knallrote Lippenstift und der silberne Nasenring. Sie war außerdem eine der besten Fotografinnen, die Helene kannte. Absolut professionell und zuverlässig, und in ihren Bildern fing Sue Emotionen mit einer solchen Tiefe ein, dass sie dem Betrachter ihre ganz eigene Geschichte zu erzählen schienen.
Holger hingegen hatte sie damals als Allererster als neue Kollegin begrüßt, überall herumgeführt und ihr alles gezeigt, was – so hatte er damals erklärt – bei Globo überlebenswichtig war. Etwa, wie man den Drucker durch einen gezielten, aber wohldosierten Fußtritt gegen die Gehäuseecke unten links wieder zum Laufen brachte. Oder wo sie die Reservepackungen finden konnte, wenn der Kaffee alle war.
Er schrieb phänomenale Texte, scheute dabei keinen Aufwand und recherchierte zum Teil wochenlang für seine Artikel. Doch was seine Arbeitsweise anging, hatte Helene noch nie im Leben einen größeren Chaoten erlebt. Es war ihr sogar nach all den Jahren noch ein Rätsel, wie Holger inmitten des Gewühls aus lose herumliegenden Notizzetteln auf dem Tisch und mit dem vollständig von farbigen Post-its umklebten Bildschirm überhaupt arbeiten konnte.
Süffisant lächelnd sagte Helene an die beiden Kollegen gewandt: »Wie heißt es so schön? Der Weg ist das Ziel. Und das ist da, wo sich gute Storys finden.« Sie lehnte sich vor und streckte dabei den Zeigefinger hoch, als hätte sie eben einen bahnbrechenden Einfall gehabt. »Ich hab’s! Was haltet ihr von einer Reportage über grönländische Fischerdörfer?«
»Oh Gott.« Sue verzog gespielt gequält die Miene, während alle anderen lachten.
»Gute Idee.« Sogar der Chef grinste. »Aber was ich eigentlich sagen wollte: Du wirst die Koordination des ersten Teams übernehmen, Helene.«
Sie stockte fassungslos. »Was? Ich?« Zugleich spürte sie, wie ihr Herzschlag vor lauter Aufregung aussetzte. Hatte sie richtig gehört? Sie als Koordinatorin des Journalistenteams einer Sonderedition? Das war nicht nur eine große Herausforderung, sondern zugleich ein unglaublicher Vertrauensbeweis. Jürgen hätte genauso gut sonst jemanden aus dem Team mit der Aufgabe betrauen können. Jemanden mit viel mehr Erfahrung. Jemanden wie Holger zum Beispiel.
»Ja, du«, erwiderte Jürgen und klopfte mit den Fingerknöcheln auf den Tisch. »Land und Titel der ersten Ausgabe stehen nämlich schon. Die Verlagsleitung hat sich dafür entschieden. Und du bist die ideale Besetzung dafür.«
Die Worte ließen Helene sogleich aufhorchen. Thema und Titel standen schon?
Und als hätte jemand den Startschuss gegeben, redeten mit einem Mal alle durcheinander. »Dann spann uns doch nicht länger auf die Folter.« – »Ja, nun sag schon.« – »Ich wette, es geht nach Skandinavien. Oder ins Baltikum.« – »Nee, oder? Den Norden hatten wir doch erst kürzlich schon.«
Aber Jürgen hob nur beschwichtigend die Hände und drückte dabei auf den Fernbedienungsknopf. An der Wand erschien ein neues Bild. Sofort herrschte wieder Ruhe im Raum, während alle angestrengt auf das Foto starrten: eine enge Straße zwischen mehrstöckigen Häusern, mit von roten und orangefarbenen Markisen überdachten Marktständen links und rechts. Die Tische der Stände waren über und über mit Waren gefüllt. Das Angebot reichte von Gemüse in allen Variationen und saftigen Früchten – Zitronen, Melonen, Aprikosen und Kirschen – über Fleisch, schier unendlich lange Wurstgirlanden und riesige Käselaibe bis hin zu Zubern voller Muscheln, Krebse, in Salz eingelegten Sardellen und Langusten. Ein Bild, so reich an Farben und Schattierungen, dass man beinahe die Süße der Erdbeeren riechen und das Geschrei der Verkäufer hören konnte.
Die Menge der Marktstände, das schmale Sträßchen, umringt von Schatten spendenden Häuserreihen – auf den ersten Blick schien es eine typische Szene, wie man sie auf einem arabischen Souk erleben würde. Wäre auf dem riesigen gelben Schild beim Früchtestand nicht in roten, gekringelten Lettern die Aufschrift auf Italienisch Frutta e verdura zu lesen gewesen. Obst und Gemüse.
Helene erkannte das Schild sofort. Sie schloss die Augen und stieß langsam den Atem aus. Italien. Bitte nicht Italien.
»Sizilien – das kultur-kulinarische Erbe der Vergangenheit«, rief Jürgen in die Runde und warf dazu den linken Arm in einer alles umfassenden Geste in die Luft, als wäre er der römische Kaiser Titus vor dem versammelten Volk im Kolosseum.
Und im selben Moment fühlte Helene, wie ihre anfängliche Euphorie mit einem Schlag auf den Nullpunkt sank.
»Ich hatte eigentlich erwartet, dass du Feuer und Flamme für den Auftrag sein würdest. Du bist doch Italienerin. Über das eigene Herkunftsland zu schreiben – einfacher geht es ja kaum.« Jürgen schüttelte verständnislos den Kopf, als sie wenig später in seinem Büro vor ihm saß.
Helene rutschte unbehaglich auf dem Stuhl hin und her. Sie konnte ihm die Verwunderung beim besten Willen nicht verübeln. Denn er hatte ja recht, und jede ihrer Erklärungen musste sich für ihn wie das gezierte Gehabe einer Primadonna anhören.
»Ich meinte nur … Spanien ist doch genauso spannend. Ich hätte dazu schon einige Ideen. Hier, schau mal«, sagte sie und hielt ihm ihre Notizen hin. Ein letzter, an den Haaren herbeigezogener Versuch.
Zugleich brüllte ihr ihr sonst so durch und durch vernünftiger Verstand im Geiste zu, was für eine unglaublich dämliche Pute sie doch war, eine solche Chance zu riskieren. Und das alles nur aus Gründen, die wahrscheinlich niemand außer ihr nachvollziehen konnte.
Aber Jürgen fegte den Einwand mit einem Händewedeln beiseite. »Weil es kaum eine andere Region Europas gibt, die das Thema besser verinnerlicht als Sizilien.« Er geriet geradezu ins Schwärmen. »Stell dir vor: Griechen, Phönizier, Römer, Karthager, Goten und Was-weiß-ich-wer-noch – sie alle haben die Insel im Laufe der Geschichte erobert und ihre Fußabdrücke hinterlassen. Was will man mehr an Kultur und noch dazu in einem einigermaßen überschaubaren Radius? Außerdem zieht Kulinarisches immer, egal von wo.«
Darauf wusste Helene beim besten Willen nichts zu erwidern. Wie gesagt, ihre Argumentation war ohnehin schon von Anfang an mehr als dürftig gewesen.
Jürgens Stimme nahm nun einen geschäftsmäßigen Tonfall an. »Nur, damit wir uns recht verstehen. Mich interessiert kein neues Rezept für Spaghetti Bolognese oder wie man Ravioli macht. Ich will das Besondere. Das Ursprüngliche, das sich bis heute bewahrt hat.« Er schnipste mit den Fingern. »Die kulturelle DNA der sizilianischen Küche, wenn dir das besser gefällt.«
»Okay, verstanden.« Eilig notierte sie ein paar Stichworte und gab sich damit zugleich geschlagen. Was blieb ihr auch anderes übrig?
Denn sie konnte sich noch so sehr um »Deutschheit« bemühen, ihren Vornamen noch so sehr verdeutschen und sich noch so sehr einreden, dass es normal war, nach der Scheidung den Nachnamen des Ex-Mannes zu behalten, weil der so unauffällig deutsch klang. Das alles änderte jedoch nichts an der Tatsache, dass ihre Eltern vor etwas mehr als vierzig Jahren aus einem kleinen Dorf in den italienischen Abruzzen als Gastarbeiter nach Deutschland gekommen waren. Ihr Geburtsname lautete nicht Helene Mechler, sondern Elena Buccitelli. Kurz: Ja, sie war eine waschechte Italienerin. Eigentlich. Und genau das machte ihr Leben alles andere als einfach.
»Na also!« Jürgen nickte zufrieden. Dann lehnte er sich auf einmal mit einem Ruck vor, und seine Stimme wurde ganz leise, als er sagte: »Da ist übrigens noch etwas. Ich wollte eigentlich noch nicht mit der Tür ins Haus fallen, aber vielleicht hilft es dir als zusätzlicher Ansporn. Ich habe mich dazu entschlossen, nächstes Jahr in Frührente zu gehen. Die Information an die Belegschaft geht morgen früh raus.«
Erschrocken starrte sie ihn an. Was sagte er da? Als ob es an diesem Morgen noch nicht genügend Neuigkeiten gegeben hätte. »Du in Frührente?« Sie schüttelte den Kopf. Ausgerechnet Jürgen? Er, der das Magazin zu dem gemacht hatte, was es heute war, und der kaum einen Tag ohne seine Arbeit aushielt? Aber vor allem: ein Globo-Magazin ohne ihn?
Er winkte augenzwinkernd ab. »Klingt seltsam, ich weiß. Aber ich freue mich darauf. Vielleicht kaufe ich ja ein Haus irgendwo am Meer. Warum nicht? Und was das Magazin angeht, so hat mich die Verlagsleitung um eine Auswahl an potenziellen Nachfolgern gebeten. Ich habe deinen Namen genannt.«
»Wie?« Sogleich fühlte Helene, wie sich ihr einen kleinen Moment lang der Kopf drehte. Sie stieß den Atem aus und umklammerte den Rand ihres Tablets fest mit beiden Händen, damit Jürgen auf keinen Fall bemerkte, wie sehr sie zitterte. Professionell wirken und Gelassenheit ausstrahlen, obwohl sie es kaum noch fertigbrachte, still zu sitzen.
Sie als Chefredakteurin. Das war eines ihrer beruflichen Ziele, von denen sie immer geträumt und auf die sie so hart hingearbeitet hatte. Auf einmal lag es direkt vor ihr, in Reichweite. Völlig unverhofft und so reizvoll wie eh und je. Und dafür bräuchte sie wirklich nur über ihren eigenen Schatten zu springen und eine Sonderausgabe über Sizilien zu produzieren? »Aber ich bin doch noch gar nicht so lange …«
»Komm jetzt nicht mit der Leier, du hättest nicht genügend Erfahrung, und solchem Blödsinn«, fiel Jürgen ihr ins Wort. »Du bist eine der besten Journalistinnen im Haus. Du arbeitest zielorientiert und strukturiert, hast Talent, Geschäftssinn und ein untrügliches Gespür für gute Storys.« Er unterstrich jedes Wort mit einem Nicken. Dann lehnte er sich vor und richtete einen eindringlichen Blick auf sie. »Genau deshalb will ich dich als Verantwortliche dieser Sonderausgabe haben. Das ist deine Chance, um auch der Verlagsleitung zu beweisen, dass du die richtige Kandidatin für die Position bist. Du kannst das, dessen bin ich mir absolut sicher.«
»Ich werde dich bestimmt nicht enttäuschen. Danke, Jürgen. Danke für alles«, beeilte sich Helene zu sagen und sprang auf. »Ich mach mich gleich an die Arbeit. Du bekommst die Namen meines Rechercheteams so schnell wie möglich.«
Sie wandte sich zum Gehen, in Gedanken bereits mitten in den Vorbereitungen. Die erste Ausgabe sollte im Frühling des nächsten Jahres erscheinen, hatte Jürgen noch vorhin im Sitzungszimmer erklärt. Es blieben ihr also mindestens elf Monate für Konzeption, Planung, Recherche und Bildbeschaffung sowie das Schreiben der Artikel für die vorgesehenen hundertsechzehn Magazinseiten. Das klang nach viel Zeit, doch Helene wusste, wie schnell die Wochen mit der Arbeit an einem neuen Projekt vorbeirasten.