Ein Stern über Sylt & Ein Weihnachtslicht über Sylt - Ines Thorn - E-Book
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Ein Stern über Sylt & Ein Weihnachtslicht über Sylt E-Book

Ines Thorn

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Beschreibung

Zwei Weihnachtsromane in einem E-Book - Von der Autorin des Bestsellers „Die Walfängerin“.

Ein Stern über Sylt. 

Weihnachten am Meer. Weihnachten auf Sylt! Was kann es Schöneres geben? Doch nicht für Thiemo, der eigentlich von der Insel stammt. Als er kurz vor Heiligabend mit seiner Freundin nach Kampen reist, um dort mit ihren reichen Freunden zu feiern, beschleichen ihn immer mehr Zweifel, ob die verwöhnte, launische Victoria die richtige für ihn ist. Um ihr ein Weihnachtsgeschenk machen sie zu können, bestiehlt er eine alte Frau. Doch ausgerechnet sie begrüßt ihn wie einen Sohn und lädt ihn zu sich ein. Als er die alte Dame besucht, um das Geld zurückzubringen, erlebt Thiemo die größte Weihnachtsüberraschung seines Lebens ...

Ein Weihnachtslicht über Sylt.

Weihnachten auf der Insel. Ben und Mina haben keine Mutter mehr. Mit Malte, ihrem Vater, leben sie auf Sylt. Obgleich sie sich nach einer Mutter sehnen, haben sie doch Angst davor, dass ausgerechnet die unfreundliche Nachbarin Cornelia bei ihnen einziehen könnte. Als die Kinder beobachten, wie Cornelia ihren Vater küsst, wird die Angst übermächtig. Jetzt kann nur noch einer helfen: der Weihnachtsmann. Sie schreiben einen Brief, in dem sie sich eine neue Mama wünschen oder wenigstens einen Hund. Auf der Post gerät der Brief in die Hände von Ole – der Postbote glaubt zu wissen, wer die Kinder retten kann ...

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Informationen zum Buch

Ein Stern über Sylt:

Weihnachten am Meer.

Weihnachten auf Sylt! Was kann es Schöneres geben? Doch nicht für Thiemo, der eigentlich von der Insel stammt. Als er kurz vor Heiligabend mit seiner Freundin nach Kampen reist, um dort mit ihren reichen Freunden zu feiern, beschleichen ihn immer mehr Zweifel, ob die verwöhnte, launische Victoria die richtige für ihn ist. Um ihr ein Weihnachtsgeschenk machen sie zu können, bestiehlt er eine alte Frau. Doch ausgerechnet sie begrüßt ihn wie einen Sohn und lädt ihn zu sich ein. Als er die alte Dame besucht, um das Geld zurückzubringen, erlebt Thiemo die größte Weihnachtsüberraschung seines Lebens.

Ein Weihnachtslicht über Sylt:

Weihnachten auf der Insel.

Ben und Mina haben keine Mutter mehr. Mit Malte, ihrem Vater, leben sie auf Sylt. Obgleich sie sich nach einer Mutter sehnen, haben sie doch Angst davor, dass ausgerechnet die unfreundliche Nachbarin Cornelia bei ihnen einziehen könnte. Als die Kinder beobachten, wie Cornelia ihren Vater küsst, wird die Angst übermächtig. Jetzt kann nur noch einer helfen: der Weihnachtsmann. Sie schreiben einen Brief, in dem sie sich eine neue Mama wünschen oder wenigstens einen Hund. Auf der Post gerät der Brief in die Hände von Ole – der Postbote glaubt zu wissen, wer die Kinder retten kann.

Über Ines Thorn

Ines Thorn wurde 1964 in Leipzig geboren. Nach einer Lehre als Buchhändlerin studierte sie Germanistik, Slawistik und Kulturphilosophie. Sie lebt und arbeitet in Frankfurt am Main. Im Verlag Rütten & Loening sind außerdem „Ein Stern über Sylt“ und „Die Strandräuberin“ erschienen.

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Ines Thorn

Ein Stern über Sylt&Ein Weihnachtslicht über Sylt

Zwei Weihnachtsromane in einem E-Book

Inhaltsübersicht

Informationen zum Buch

Informationen zur Autorin

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Ein Stern über Sylt

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

Ein Weihnachtslicht über Sylt

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

Epilog

Impressum

Ines Thorn

Ein Stern über Sylt

Ein Weihnachtsroman

1. Kapitel

Es war manchmal so, als würde eine unsichtbare Wand Thiemo von seinen Freunden trennen. Gerade jetzt wieder. Johannes hob die Hand und fragte die anderen: »Kennt ihr den? – Der Strand auf Sylt ist jedes Mal überlaufener. – Ja. Schrecklich. Diesmal mussten wir uns schon mit einer Reihensandburg zufrieden geben.«

Die anderen – Maja und Marten, Annabelle und Victoria – lachten. Thiemo stand mitten unter ihnen, sah in die fröhlich geröteten Gesichter, doch den Witz fand er nicht lustig, und, wenn er ehrlich war, wäre er lieber woanders gewesen als ausgerechnet hier in der rappelvollen Keitumer Teestube.

Es hatte den ganzen Tag über geregnet. Ein feiner, spitzer Nieselregen, den man kaum sah, der einen aber doch bis auf die Haut durchnässte. Über der Insel hatten den ganzen Tag Nebelschwaden gehangen, die im leichten Wind wie schwere Bettdecken hin und her wogten und alle Farben aufsaugten, so dass die Insel ihr graues Gesicht zeigte und selbst das Meer wie stumpf gewordenes Silber aussah. Jetzt, am Abend, ging der Nieselregen in Schnee über. Und mit einem Mal wirkte die Insel wie der Ort aus einem Märchenbuch. Die Reetdächer der Friesenhäuser färbten sich weiß, das gemütliche Licht aus den Fenstern warf goldene Schatten auf die leicht verschneiten Vorgärten. Auch die Geräusche waren gedämpft, und Thiemo hatte den Eindruck, dass er sich zum ersten Mal an diesem Tag selbst hören konnte, hier im Garten der Keitumer Teestube vor einer Holzhütte, in der Glühwein ausgeschenkt wurde. Die Lichterketten verbreiteten ein festliches Licht, unter dem es sich schwer lärmen ließ. Sein Blick hing an Victoria, der schönen Victoria, Star der gesamten Bremer Jacobs-Universität. Victoria war wirklich schön. Schön auf den ersten Blick mit ihrem langen Blondhaar, den blauen Augen mit den rabenschwarz getuschten Wimpern, dem leichten Rougeschatten auf den Wangen und dem breiten Mund, der so herrlich lachen konnte. Oder – wie jetzt – in einem trotzigen Bogen nach unten zeigte.

»Dieser grüne Kaschmirpullover ist einfach ein Traum. Ich glaube, ich sterbe, wenn ich ihn nicht bekomme«, sagte sie und schaute dabei in seine Richtung, während ihre Hand auf dem Arm von Johannes lag. Sie waren am Vormittag bummeln gewesen. Ausgerechnet in Kampen auf der Whiskymeile. Sie waren Hand in Hand an Boutiquen und Bars entlanggeschlendert. Nur sie beide, Thiemo und Victoria. Und alles war so schön gewesen. Victoria hatte das Grelle und Laute abgelegt, das sie so oft hatte, wenn die anderen dabei waren. Mit ihm war sie leiser und irgendwie glänzender. So zumindest kam es Thiemo vor. Victoria, das sagten alle, hatte viel Glamour. Sie trug stets die neuesten Klamotten, hatte das coolste Smartphone und die trendigste Frisur. Sie verstand es ausgezeichnet, sich in Szene zu setzen; sie war der Mittelpunkt aller Partys, und selbst hier, in Kampen, drehten sich nicht nur die Männer nach ihr um. Thiemo wusste nicht genau, wieso, aber er mochte Victoria sehr viel lieber, wenn sie allein waren. So wie heute Vormittag auf dem Strönwai. Der Nieselregen war ihm wie Kristallschnüre vorgekommen, der Wind wie ein Streicheln. Doch dann hatte Victoria diesen Kaschmirpullover im Schaufenster einer dieser übertriebenen Boutiquen entdeckt.

»Sonderangebot!«, stand auf einem großen Schild dabei. »Statt 1999 EUR nur 999 EUR.« Thiemo hatte nicht gewusst, dass man so unfassbar viel Geld für einen Pullover bezahlen konnte, aber in Kampen auf Sylt war das noch nicht einmal ungewöhnlich. Er hatte gelacht, hatte sich nicht vorstellen können, dass irgendjemand 999 Euro für einen Pullover ausgeben würde. Das war ja der halbe Monatsverdienst seiner Mutter, die als Krankenschwester arbeitete. Victoria war wütend geworden über sein Gelächter. »Ja, ich weiß schon«, hatte sie ihn mit blitzenden Augen angezischt. »Für dich ist so etwas dekadent. Aber für mich ist Luxus einfach wichtig. Ich liebe es, gutgekleidet zu sein.« Sie hatte ihn einfach stehen gelassen. Sogleich waren aus den Kristallschnüren spitze Tropfen geworden, und das Laute der Whiskeymeile hatte alles übertönt, sogar Thiemos Gedanken. Er hatte Victoria hinterher gesehen, hoffend, dass sie einen Witz gemacht hatte. Wieder einmal einen Witz, den er nicht verstand. Aber jetzt war es genug. Jetzt müsste sie sich zu ihm umdrehen, mit einem Lachen und ausgebreiteten Armen ihm entgegenstürzen. Doch das tat sie nicht. Sie ging einfach weiter, und die Absätze ihrer Stiefel klackerten empört über das Pflaster. Nun endlich begriff Thiemo, dass sie ihre Worte ernst gemeint hatte. Er wusste ja, wie launisch Victoria sein konnte. Deshalb zuckte er mit den Achseln und begab sich weg von der lauten Straße hinunter zum Meer, das eigentlich noch schlimmer lärmte, seine krachenden Brecher mit unglaublichem Getöse an den Strand warf, aber seinen Ohren doch Erholung schenkte. Er war gern am Meer. Und er war gern allein. Beides unterschied ihn von Victoria, die es keine Minute ohne Gesellschaft aushielt und das Meer bedrohlich fand. Und vielleicht war es deshalb sogar gut, dass sie nun weg war. Weg. Bei den anderen.

Thiemo blieb lange am Strand. Es störte ihn nicht, dass die Gischt ihm einen Salzschleier auf das Gesicht und die Haare legte. Es störte ihn nicht, dass der Wind in seine Ohren biss, und es störte ihn auch nicht, sich klein und unbedeutend vor der gewaltigen See zu fühlen. Er bückte sich und griff in den kalten, feuchten Sand. Er zerkrümelte ihn zwischen den Fingern, holte dann ein Reagenzglas aus seiner Tasche und gab etwas von dem Sand hinein. Er hatte nicht bemerkt, dass Johannes zu ihm gekommen war. Plötzlich stand er hinter ihm, den Schal zweifach um den Hals geschlungen, die Hände in den Taschen seines glänzenden Anoraks.

»Was machst du da?«, fragte Johannes.

»Ich nehme Bodenproben«, erwiderte Thiemo. »Für meine Abschlussarbeit. Ich hatte dir davon kurz erzählt.«

»Ja. Die Sandabtragsgeschichte.« Johannes nickte und blickte auf das Meer hinaus, als wollte er die Schaumkronen zählen.

»Warum bist du nicht bei den anderen?«, wollte Thiemo wissen.

»Ich weiß es nicht. Vielleicht war mir einfach danach, zur Abwechslung etwas Sinnvolles zu tun. Falls man Spaziergänge am Strand als etwas Sinnvolles bezeichnen kann.« Er hockte sich neben Thiemo. »Manchmal beneide ich dich, weißt du das?«

»Mich? Warum denn? Ich habe nichts, was man beneiden kann.«

»Du hast ein Ziel. Und du hast Träume.«

»Du nicht?«

Johannes schüttelte den Kopf. »Es gibt nur Erwartungen, die ich erfüllen muss.«

Thiemo wusste nicht, was er sagen sollte, deshalb machte er eine Handbewegung, die die ganze Insel umschloss. »Jedes Jahr werden auf Sylt rund eine Million Kubikmeter Sand fortgespült. Die Insel wird immer kleiner.«

»Steht in jedem Heimatführer«, antwortete Johannes. »Und die Sandaufspülungen kriegen wir ja selbst mit. Überall Bagger und Lärm statt Strand und Ruhe.« Er lachte matt. »Sagt jedenfalls mein Vater. In den Griff bekommt man die Sache aber deshalb noch lange nicht.«

»Sagt auch dein Vater«, stellte Thiemo fest.

Johannes lachte. »Ja. Genauso ist es.«

»Ich würde gern etwas erfinden, was die Sandfortspülungen aufhält«, sagte Thiemo leise. »Ich würde gern dafür sorgen, dass die Insel nicht mehr kleiner wird.«

Johannes erhob sich. »Siehst du, das meine ich mit Traum. Oder Ziel. Du wirst das schaffen, da bin ich sicher. So und jetzt zurück zu den anderen. Kommst du auch?«

»Vielleicht später.«

»Victoria wird auf dich warten«, fügte Johannes hinzu.

»Nicht, wenn du da bist«, entgegnete Thiemo.

Die beiden jungen Männer lächelten kurz, dann hob Johannes die Hand und ging über den Strand zurück in die kleine Stadt.

Hier draußen, am nassen Strand hockend und das Gesicht von der Gischt ganz feucht, fühlte Thiemo sich wohl. Er fühlte sich mit sich und der Welt im Einklang. Er brauchte keinen Kaschmirpullover für beinahe tausend Euro wie Victoria. Er brauchte überhaupt sehr wenig. Nur ziemlich viel Ruhe und vielleicht einen Menschen, der ihn voll und ganz verstand. Bei dem er sich zu Hause fühlen konnte. Angenommen. Geschätzt. Victoria hatte ihn angenommen, zumindest hatte er hin und wieder den Eindruck. Aber so, wie man ein Hündchen aus dem Tierheim annimmt, das man notfalls zurückgeben kann, wenn man seiner überdrüssig wird. Victoria! Ach, wenn er sie doch verstehen würde! Wenn er doch immer wüsste, was sie gerade meinte. Wenn er doch sicher sein könnte, dass sie keinen solchen blöden Pullover brauchte und ihn vorhin nur an der Nase herumgeführt hatte.

Erst am Nachmittag, im Garten der Keitumer Teestube, waren sie wieder aufeinandergetroffen. Und noch immer hatte Victoria nichts anderes als diesen blöden Pullover im Kopf.

»Du hast doch bestimmt schon ein halbes Dutzend Kaschmirpullover«, erklärte Thiemo, des Themas allmählich überdrüssig. »Warum brauchst du unbedingt noch einen weiteren? Ich kann dich doch wärmen.«

Die anderen lachten. Thiemo kam sich dumm vor, aber er verstand wirklich nicht, warum Victoria noch einen Pullover brauchte.

»Du hast doch mich. Ich kann dich wärmen«, wiederholte er leise. Er meinte, was er sagte, während die anderen seine Worte für einen Witz hielten. Wenn man liebt, hatte er immer gedacht, dachte er noch heute, dann hat man keine anderen Bedürfnisse, als dem oder der Geliebten nahe zu sein. Dann kannte man weder Hunger noch Durst, noch brauchte man einen Pullover. Vor allem dann nicht, wenn der Mantel des Liebsten Platz bot für zwei. Aber Victoria war ja nicht seine Geliebte. Er wusste eigentlich gar nicht, was sie für ihn war. Manchmal berührte sie ihn und küsste ihn gar, und dann glaubte er, sie wäre seine Freundin. Und dann, so wie jetzt, hängte sie sich bei Johannes ein, warf ihm verliebte Blicke zu, und Thiemo war sich sicher, dass sie Johannes’ Freundin war.

Als er noch auf der Insel gewohnt hatte, hatte es eine alte Frau gegeben, die manchmal auf ihn aufgepasst hatte. Sie hatte ihm Geschichten erzählt, Märchen und Sagen oder einfach nur Lebensweisheiten. Wie sie aussah, wusste er heute nicht mehr, und ihren Namen hatte er auch vergessen. Doch nicht ihre Geschichten. Und an ihre Worte konnte er sich ebenfalls noch gut erinnern: »Liebe macht satt«, hatte sie immer gesagt. »Liebe macht wunschlos, weil sie alles enthält, was du dir je gewünscht hast. Wenn du einen Menschen triffst und keinen anderen Wunsch mehr hast, als mit ihm zusammen zu sein, dann weißt du, dass es Liebe ist.«

Ob er Victoria liebte, wusste er nicht genau, denn es gab da noch ein paar Wünsche, die er auch in Victorias Gegenwart nicht vergessen konnte. Aber die Zeiten hatten sich geändert. Und wahrscheinlich auch die Liebe. Wenn er sich denn sicher sein könnte, dass Victoria ihn liebte, dann – so sagte er sich – wüsste er auch sicher, ob er sie liebte. Aber dieses ewige Hin und Her verwirrte ihn ganz und gar, so dass er manchmal einfach nicht wusste, was er von Victoria halten sollte.

Thiemo hätte Victoria zu gern gefragt, warum er sie nicht wunschlos machte, aber er sah ein, dass diese Frage im Kreise der Freunde am Keitumer Glühweinstand unpassend war. Außerdem kannte er die Antwort. Victoria schien trotzdem seine Gedanken lesen zu können. »Ich liebe dich, ich liebe euch alle hier«, sprach sie. »Aber in diesem grünen Pullover könnte ich mich selbst auch lieben.«

»Oh, wie philosophisch!«, rief Johannes aus und stieß mit seinem Glühweinbecher gegen den Becher von Victoria.

Die anderen lachten wieder, und Thiemo verstand wieder einmal nicht, warum. Wie konnte ein Pullover dafür sorgen, dass man sich selbst liebte? Aber er hatte keine Gelegenheit, über diesen seltsamen Satz nachzudenken, denn Victoria zog einen Schmollmund, fixierte nacheinander Johannes und Thiemo und erklärte: »Ich wünsche mir so sehr diesen Pullover. Wer ihn mir schenkt, ist dabei ganz egal.«

Johannes lachte. »Ich bewundere immer wieder deinen Egoismus«, sagte er. »Du würdest für diesen Pullover sogar deine Freunde verkaufen, oder?«

Victoria zuckte mit den Schultern. »Was soll ich machen? Dieses Grün ist einfach himmlisch. Der ganze Pullover ist einfach wundervoll. Und er passt so gut zu Weihnachten. Ich könnte ihn am Heiligen Abend tragen.« Sie machte eine Pause, lächelte nacheinander erst Thiemo und dann Johannes an und fügte hinzu: »Ich kann nur demjenigen mein Herz schenken, der mir auch zeigt, dass ich ihm etwas bedeute.«

Diesmal lachte Thiemo und stellte erschrocken fest, dass die anderen nicht in sein Gelächter einstimmten. Johannes zog Victoria sogar ein wenig an sich und küsste sie auf das Haar. So, als bräuchte sie Trost. Und Victoria blickte zu Johannes auf, und eine Schneeflocke schmolz unter ihrem linken Auge und rollte tränengleich ihre Wange hinab. Die Szene erinnerte Thiemo an einen der Filme, die seine Mutter so gern am Sonntagabend schaute, und mit einem Schlag wurde ihm klar, dass Victoria es ernst meinte. Wenn er ihr den Pullover nicht schenkte, würde Johannes es tun. Victoria würde ihn nicht mehr beachten und stattdessen mit Johannes Hand in Hand den Strönwai entlangspazieren.

Thiemo bewunderte ihr wundervolles goldenes, weiches Haar, ihre zarte Gestalt, ihren sanft geschwungenen Mund und sogar ihren eisernen Willen. Aber manchmal beschlich ihn das Gefühl, dass ihm eigentlich ein Bild, eine Fotografie von Victoria reichen würde. Ein Bild, auf dem sie entspannt lachte und keine Forderungen stellte. Er erschrak ein wenig und wischte den Gedanken sofort zur Seite, und jetzt ärgerte er sich auch darüber, dass sie so an Johannes hing. Er kannte ihre beständige Flirtlust, aber das hier, das war kein Flirt. Das war etwas anderes, und es fühlte sich nicht gut an.

Er wusste, wenn Victoria etwas wollte, dann bekam sie es auch. Sie stammte aus einem reichen Hamburger Elternhaus, war die einzige Tochter und daran gewöhnt, dass man ihr jeden Wunsch von den Augen ablas. Und das, was ihre Eltern für sie taten, hielt sie für den Standard: das teure Internat Schloss Torgelow, das Auto zum bestandenen Abitur, die hohe dreistellige Summe Taschengeld jeden Monat und die kostspieligen Einkaufstouren mit ihrer Mutter nach New York oder Mailand. Deshalb ihr Anspruch an alle und alles und jeden. Er hatte einmal in einem Buch einen Satz gelesen, der ihm jetzt wieder einfiel: »Sie hatte alles. Nur keinen Charakter. Aber den brauchte sie auch nicht, weil sie niemals einen benötigte. Sie war ein teures Erlebnis, ein waschechtes Material-Girl.« Genauso war Victoria. Nein, das stimmte so nicht. Victoria hatte sehr wohl einen Charakter. Nur manchmal, da war sie einfach so wie die anderen. So oberflächlich und ein bisschen gemein zu denen, die nicht so waren wie sie.

Thiemos Mutter war nicht reich. Er war der Sohn einer Alleinerziehenden, ohne Auslandssemester und Internatserfahrung. Bis zu seinem zehnten Lebensjahr war er auf der Insel aufgewachsen, ein echter Sylter Junge. Von seinem Vater wusste er nichts, weder den Namen noch sonst irgendetwas. Seine Mutter behauptete stets, Thiemo sei ein »glücklicher Ausrutscher« gewesen, sie wisse selbst nicht, wer sein Vater sei. Aber Thiemo hatte ihr nicht geglaubt. Seine Mutter war nicht so. Sie hatte nie einen neuen Freund gehabt, sondern hatte immer nur gearbeitet und sich um ihn gekümmert. Wegen Thiemo hatte die Mutter auch ihre Arbeit in der Nordseeklinik auf Sylt gekündigt und hatte eine Stelle auf dem Festland angenommen, die besser bezahlt wurde.

Thiemo war mit seiner Mutter nach Hamburg gezogen, und erst jetzt, nach fünfzehn Jahren, wieder auf die Insel zurückgekehrt. Die anderen außer Johannes glaubten, er wäre Victoria zuliebe zurückgekehrt. Aber das war nicht so. Thiemo war im Oktober fünfundzwanzig Jahre alt geworden. Seine Mutter hatte ihm zu seinem Geburtstag ein Buch geschenkt, ein Fachbuch, das er sehr gut für sein Studium der Geowissenschaften gebrauchen konnte. Es hieß »Der Sandabbau vor Sylt, seine Folgen und neue Möglichkeiten der Strandstabilisierung«. Das Thema passte hervorragend, denn ein paar Tage danach hatte er mit seinem Professor über seine bevorstehende Abschlussarbeit gesprochen. Er hatte den Sandabbau auf Sylt gewählt. Nicht nur weil er ein Sylter Junge war, sondern weil das Buch ihn so gefesselt hatte. Das Buch, das ein Professor für Geowissenschaften geschrieben hatte, der das Problem bereits in Amerika auf Cape Cod studiert hatte.

Vor etlichen Wochen dann hatte Johannes in der Mensa einige Freunde aus der Uni eingeladen, die Weihnachtsfeiertage im Haus seiner Eltern auf Sylt zu verbringen, und Thiemo hatte einfach gefragt, ob er auch mitkommen könne, obwohl seine Mutter natürlich gerne mit ihm gefeiert hätte.

»Du?«, hatte Johannes gefragt. »Bei dir hatte ich nie den Eindruck, dass du Weihnachten bei deiner Familie nicht überleben würdest. Aber wenn du willst, dann gern. Das Haus meiner Eltern verfügt über genügend Gästezimmer.«

»Es ist wegen der Abschlussarbeit«, hatte Thiemo zugegeben. »Ich muss ein paar Sandproben vom Sylter Strand nehmen. Möglichst an aufeinanderfolgenden Tagen.« Er hatte sich ein bisschen geschämt, weil er nicht wegen der Leute, sondern wegen seiner Arbeit Weihnachten mit Johannes und den anderen verbringen wollte, aber Johannes hatte gelacht. »Wenigstens einer von uns, der etwas Vernünftiges tut.«

Victoria hatte eigentlich lieber nach Pontresina in das Ferienchalet ihrer Eltern fahren wollen und erst der Syltreise zugestimmt, als sie erfuhr, dass Thiemo auf der Insel aufgewachsen war. »Oh, es wird bestimmt spannend, mal einen echten Einheimischen dabeizuhaben.«

Thiemo hatte den anderen nichts von den Bodenproben zu seiner Abschlussarbeit gesagt, denn er befürchtete, sie würden ihn verspotten. Nicht einmal an Weihnachten konnte er sein Studium unterbrechen. Außerdem hatte er ein leicht schlechtes Gewissen, denn er hatte noch nie ein Weihnachtsfest ohne seine Mutter verbracht. Er war der Einzige, den sie hatte. Aber sie hatte ihm so zugeredet. Ja, sie hatte sogar ein Treffen mit dem Autor des Buches organisiert. Bis heute war es Thiemo ein Rätsel, wie sie das geschafft hatte. Auf seine Fragen hatte sie nur geantwortet, dass sie den Mann von früher her kenne. »Von damals«, hatte sie gesagt. »Als wir alle noch auf Sylt lebten.« Und Thiemo hätte gern weitergefragt, aber er kannte seine Mutter gut genug, um zu wissen, dass sie nichts weiter sagen würde.

Damals auf Sylt! Damals, als sie mit ihm schwanger geworden war. Thiemo wusste selbst nicht, warum er gerade jetzt so häufig an den Vater dachte, den er nie gekannt hatte. Vielleicht lag es daran, dass er ihn gerade jetzt gebraucht hätte. Er hatte so viele Fragen. »Was soll ich mit meinem Leben anfangen?«, »Woher weiß ich, dass es Liebe ist?«, »Was ist wichtiger: die Liebe oder der Beruf?« Seine Mutter konnte er so etwas nicht fragen. Einmal hatte er es versucht. Vor Jahren, als er sich nicht sicher war, was er studieren sollte. Da hatte sie ihn lange betrachtet und dann gesagt: »Thiemo, wir brauchen deinen Vater nicht.«

Seither hatten sie das Thema vermieden. Und die Eltern seiner Mutter wussten so wenig wie er. Das zumindest hatten sie ihm zu ihren Lebzeiten immer mitgeteilt, wenn er gefragt hatte. Als er noch ein kleiner Junge gewesen war, hatte er sich in Gedanken einen Vater zurechtgebastelt. Einen, den das Schicksal gezwungen hatte, dem Sohn fernzubleiben. Vielleicht weil er als Agent im Ausland arbeitete. Vielleicht weil er ein berühmter Schauspieler in Hollywood war. Später hatte er sich gedacht, dass er womöglich das Ergebnis einer Affäre war. Ein verheirateter älterer Mann, der sich unsterblich in die junge, schöne Krankenschwester verliebt hatte. Ein Professor der Medizin, ein ausländischer Patient. Und jetzt, da er fast erwachsen war, wünschte er sich nur noch, endlich zu wissen, woher er stammte. Und manchmal dachte er sogar, dass er sich so oft unvollständig fühlte, weil er eben keinen Vater hatte, nichts über ihn wusste.

»Wann wirst du mir endlich alles sagen, was ich wissen möchte?«, hatte er seine Mutter bei seinem letzten Besuch in Hamburg gefragt.

»Sehr bald schon.«

»Warum noch länger warten? Ich warte schon seit über zwanzig Jahren darauf!«

Die Mutter hatte ihn angesehen, die Hand nach ihm ausgestreckt, doch Thiemo wich zurück, und die Mutter ließ die Hand einfach fallen und seufzte. »Manche Dinge brauchen Zeit«, sagte sie. »Du musst mir glauben, dass ich dir nie schaden wollte. Im Gegenteil.«

Und nun waren sie alle zusammen hier: Johannes, Victoria, Marten, Maja und Annabelle, die zwar nicht so hübsch war wie Victoria, deren Eltern aber eine Privatbank in Hamburg gehörte. Sie alle waren Studenten an der Jacobs-Universität in Bremen. Die Eltern der anderen waren mühelos in der Lage, die horrenden fünfstelligen Studiengebühren pro Semester zu bezahlen, nur Thiemo hatte ein Vollstipendium bekommen und musste sich seinen Lebensunterhalt und die Miete für das winzige WG-Zimmer als Kartenabreißer in einem Kino verdienen. An sich war es für ihn keine Überraschung, dass er sich unter seinen Kommilitonen nicht zugehörig fühlte. Da waren nicht nur seine Klamotten und seine preisgünstigen Freizeitbeschäftigungen. Es war seine ganze Art. Die Art zum Beispiel, mit der er sein Studium ernst nahm. Wie er immer und immer wieder in der Bibliothek hockte, statt Party zu machen. Wie er um gute Ergebnisse kämpfte, während die anderen sich weniger mühten, weil sie wahrscheinlich ohnehin niemals zu arbeiten brauchten oder aber einen guten Job in den Firmen ihrer Eltern bekamen. Manchmal nannte Victoria ihn »ihren Exoten«, weil er so anders, so besonders, so bodenständig war. So geerdet, wie sie es ausdrückte. Und anscheinend war das nichts, was man vorn in seine Vita eintragen sollte, denn die anderen lachten darüber. Und dann wieder hatte sie ihn »ihren kleinen Streber« genannt, weil er so konsequent auf sein Ziel – einen sehr guten Abschluss als Geowissenschaftler – hinarbeitete. Für Victoria war das Leben partybunt.

Thiemo war vom ersten Tag seines Studiums von Victoria fasziniert gewesen. Sie war so anders, so glamourös, so selbstsicher. Ein Mädchen wie sie hatte er bisher noch nie getroffen. Doch für ihn war sie so unerreichbar gewesen wie die Venus selbst. Dann hatte Johannes ihn auf eine Party mitgeschleppt als Dank dafür, dass er ihm bei einer Seminararbeit in Mathematik geholfen hatte. Eine Party, in der die Jungs alle Hemden mit aufgestickten Poloreitern trugen und die Mädchen allesamt Handtaschen desselben Labels mit Goldemblem. Die Musik war laut und wurde immer lauter, Leute, die sich vorher kaum kannten, knutschten hemmungslos, Haschischtüten wurden herumgereicht. Leere und halbleere Flaschen rollten über den Boden, und jemand hatte aus dem Fenster gekotzt.

Thiemo hatte allein am Küchenfenster der fremden Wohnung gestanden und in die Bremer Nacht geschaut, ein Glas Wein in der Hand. Hier war es einigermaßen ruhig, hier konnte er dem überdrehten Treiben ausweichen. Victoria war zu ihm getreten. »Langweilig, oder?« Sie seufzte, warf ihr langes Haar über die Schulter zurück. »Irgendwie sind alle Partys gleich. Man trinkt zu viel und raucht zu viel und kifft zu viel, und meistens redet man auch noch zu viel. Ich glaube, ich fange langsam an, diese fucking Partys zu hassen.«

»Warum gehst du dann hin?«, hatte Thiemo gefragt. Victoria hatte ihn verblüfft angeschaut. »Was soll ich denn sonst machen?«

Jetzt war es Thiemo, der verwundert war. »Du könntest zu Hause bleiben, könntest lesen oder ins Kino gehen.«

»Aber …« Sie brach ab, machte eine Handbewegung, die die ganze Party umfasste. »Aber das hier ist doch das Leben.« Dann lachte sie, reckte das Kinn und stieß Thiemo gegen die Schulter. »Jetzt sind wir schließlich jung. Deshalb müssen wir uns jetzt amüsieren und so viel Spaß haben wie überhaupt nur möglich.«

»Hast du denn Spaß?«, hatte Thiemo gefragt und ihr in die Augen gesehen.

Victoria hatte seinem Blick kurz standgehalten, dann hatte sie sich zu ihm gebeugt und die Lippen gespitzt. »Küss mich!«, hatte sie geflüstert, und Thiemo hatte nicht gewusst, warum er sie so plötzlich küssen sollte, aber er hatte es getan. Später an diesem Abend war er in Victorias Bett gelandet und hatte mit ihr geschlafen. Für ihn war es das erste Mal gewesen. Und obwohl er sich diesen Augenblick immer irgendwie aufregender, magischer vorgestellt hatte, war er bis zum Frühstück geblieben. Von diesem Morgen an hatte er sich für Victoria verantwortlich gefühlt. So, als hätte er in der Nacht ein Versprechen abgelegt. Man schlief nicht einfach mit einem Mädchen, wenn es nichts bedeutete. Er wusste, dass seine Einstellung altmodisch war, doch er war nicht bereit, davon abzuweichen. Also blieb er in ihrer Nähe, passte auf, dass sie nach den Partys sicher nach Hause kam, und half ihr bei den Seminararbeiten, die ihr herzlich egal waren. Und nun waren ihre Freunde auch seine Freunde, und er stand nicht mehr so allein da. Ihre letzten Worte dröhnten noch in seinen Ohren: »Ich kann nur demjenigen mein Herz schenken, der mir auch zeigt, dass ich ihm etwas bedeute.« Natürlich hatte sie damit auf den Pullover angespielt.«Oder hast du schon ein Weihnachtsgeschenk für mich?«, hatte Victoria wissen wollen, den Glühweinbecher in der Hand und halb an Johannes gelehnt.

Was sollte Thiemo sagen? Ja. Er hatte ein Geschenk für sie. Er hatte ein kleines Album gebastelt mit Fotos von Victoria und Gedichten von Rilke. Jetzt kam ihm sein Geschenk plötzlich unglaublich lächerlich und armselig vor. Ein Album mit Fotos und Gedichten! Wie hatte er nur glauben können, damit Victoria zu beeindrucken. Er hatte es romantisch gefunden, aber jetzt merkte er, dass Romantik bei Victoria keinen hohen Stellenwert hatte. Es sei denn, er käme auf einem weißen Pferd mit einer roten Rose zwischen den Zähnen vor die Universität galoppiert. Romantik war für Victoria das, was die anderen romantisch fanden. Und höchstwahrscheinlich gehörten Rilke-Gedichte nicht dazu.

Also schüttelte er den Kopf. »Nein, ich muss noch etwas besorgen«, sagte er leise.

»Na ja, dann weißt du ja, was ich mir wünsche!« Sie lachte, als wäre nichts weiter dabei.

Woher aber sollte Thiemo 999 Euro nehmen? Er musste in knapp zwei Wochen die Miete bezahlen. Er brauchte ein teures Fachbuch. Ob er sich von Johannes das Geld leihen konnte? Er hatte so viel, das wusste Thiemo. Es war nicht so, dass Johannes damit prahlte. Geld war für ihn so selbstverständlich wie die Luft zum Atmen. Er würde sich gar nicht vorstellen können, wie es war, kein Geld zu haben. Thiemo hatte mal gehört, dass Johannes über eigene Aktienpakete verfügte und dass ihm seine Großeltern ein Mietshaus in Hamburg hinterlassen hatten, über dessen Einnahmen er frei verfügen konnte. Er hatte in Bremen ein eigenes Loft und fuhr einen großen BMW.

Aber Johannes würde ihm kein Geld leihen. Einfach deshalb, weil er ihn nie danach fragen würde. Auch die anderen würden ihm kein Geld leihen. Nicht aus Bosheit, sondern einfach, weil sie es gewohnt waren, Geld zu haben. Er hatte niemanden, den er anpumpen konnte. Seine Mutter schon gar nicht mit ihrem Krankenschwesterngehalt. Sie würde das Geld schon irgendwie zusammenkratzen, wenn er ihr sagte, wie dringend er es brauchte. Aber ein Pullover war einfach nicht dringend. Nicht für jemanden, der Dutzende davon hatte.

»Kommst du mit? Wir gehen in die Kupferkanne.« Johannes schlug ihm auf die Schulter. »Es wird Zeit, die Champagnerkorken fliegen zu lassen.«

Thiemo schüttelte den Kopf. »Ich glaube, ich möchte ein bisschen allein sein.«

»Dann eben nicht.« Johannes zuckte mit den Schultern. »Den Schlüssel für die Hütte hast du ja, und wo die Getränke stehen, weißt du auch.« Mit Hütte war die Villa von Johannes Eltern gemeint, ein zweistöckiges Friesenhaus voller Designermöbel und Elektronik, in dem er zurzeit eine kleine Kammer im Souterrain bewohnte. Und selbst diese Kammer war mit dicken Teppichen ausgelegt und hatte ein winziges eigenes Bad dabei. Eigentlich hatte er davon geträumt, sich ein Zimmer mit Victoria zu teilen, doch sie hatte abgelehnt. »Vielleicht schnarchst du ja?«, hatte sie gesagt und dann den Kopf geschüttelt. Jeden Abend hatte er gewartet, dass Victoria an seine Zimmertür klopfen würde, doch bisher hatte sie das nicht getan. Und so, wie es jetzt aussah, würde sie wahrscheinlich auch eher bei Johannes anklopfen.

»Alles klar?« Johannes schlug ihm auf die Schulter. »Soll ich dir Gesellschaft leisten?«

Thiemo verneinte.

Dann sah er, wie sich Victoria bei Johannes einhängte und gemeinsam mit den anderen im Schneegestöber verschwand.

Er lief durch den Keitumer Mungard-Wai bis hinunter zum Hoyerstig und von dort ans Wattenmeer. Obgleich es noch immer schneite, begegneten ihm viele Menschen. Urlauber zumeist. Sie spazierten gutgelaunt in Gruppen oder zu zweit durch Keitum.