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Der neue Kriminalroman der Bestseller-Autorin über Menschen, die in großem Schmerz leben. Verwirrt und verängstigt sitzt die sechsjährige Kandis in einer Hütte irgendwo im norwegischen Wald. Draußen lauert der Wolf – das jedenfalls hat der Mann gesagt, der Kandis einfach mitgenommen hat. Aber wer ist schlimmer: der Wolf da draußen oder der traurige Mann hier in der Hütte? Können Menschen auch Ungeheuer sein? Das muss sich auch Kommissar Eddie Feber fragen, als Alfie René in die Polizeistation stürzt und erzählt, dass seine kleine Tochter verschwunden ist. Eddie, der Kinder im gleichen Alter hat, gibt alles, um das Mädchen zu retten und dem verzweifelten Vater zu helfen. Denn nach dem Tod seiner Frau und einem schweren Unfall ist Kandis alles, was Alfie geblieben ist. Aber je tiefer Kommissar Feber in das Netz aus Schmerz, Schuld und Lügen eindringt, desto größer wird seine Angst, zu spät zu kommen. Viel zu spät, um eine zerbrechliche Kinderseele vor dem Schlimmsten zu bewahren.
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Seitenzahl: 387
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Verwirrt und verängstigt sitzt die sechsjährige Kandis in einer Hütte irgendwo im norwegischen Wald. Draußen lauert der Wolf – das jedenfalls hat der Mann gesagt, der Kandis einfach mitgenommen hat. Aber wer ist schlimmer: der Wolf da draußen oder der traurige Mann hier in der Hütte? Können Menschen auch Ungeheuer sein?
Das muss sich auch Kommissar Eddie Feber fragen, als Alfie René in die Polizeistation stürzt und erzählt, dass seine kleine Tochter verschwunden ist. Eddie, der Kinder im gleichen Alter hat, gibt alles, um das Mädchen zu retten und dem verzweifelten Vater zu helfen. Denn nach dem Tod seiner Frau und einem schweren Unfall ist Kandis alles, was Alfie geblieben ist. Aber je tiefer Kommissar Feber in das Netz aus Schmerz, Schuld und Lügen eindringt, desto größer wird seine Angst, zu spät zu kommen. Viel zu spät, um eine zerbrechliche Kinderseele vor dem Schlimmsten zu bewahren.
eBook-Ausgabe Dezember 2025
Die norwegische Originalausgabe erschien erstmals 2021 unter dem Originaltitel »Farvel, Farah Diba« bei Cappelen Damm, Oslo.
Copyright © der norwegischen Originalausgabe 2023 Cappelen Damm, AS, Oslo.
Copyright © der deutschen Erstausgabe 2025 by SAGA Egmont im Vertrieb bei Egmont Verlagsgesellschaften mbH Berlin.
Copyright © der eBook-Ausgabe 2025 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung mehrerer Bildmotive
von © shutterstock
eBook-Herstellung: dotbooks GmbH unter Verwendung von IGP (fe)
ISBN 978-3-69076-129-1
Diese Übersetzung wurde von NORLA gefördert.
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Karin Fossum
Kriminalroman
Aus dem Norwegischen von Roland Hoffmann
Smerdnos/smerdaleos. Schrecklich / entsetzlich / erschütternd.
Pain, poena. Strafe, Wiedergutmachung, Buße.
Vierter September
Dies war geschehen: Er hatte sich wie ein echter Mann auf das Sofa gesetzt, wie es ihn die Evolution gelehrt hatte, mit gespreizten Beinen, damit seine Düfte in ihre Richtung wehen würden. Seine Haare waren lang und grau und wippten an den Ohren, wenn er sprach, sein Adamsapfel zeichnete sich scharf ab wie ein Knochen, seine Hände waren groß wie Schaufeln.
Sie hatte sich auf einen Stuhl gesetzt, sie trug ein himmelblaues Kleid mit Rüschen, die Hände gefaltet und die Knie zusammengepresst, wie es die Evolution sie gelehrt hatte. Ihre Haare waren lang und dunkel, ein glänzender Zopf fiel ihr nach vorn über die Schulter.
Der Mann rauchte Selbstgedrehte, die Glut fiel herunter, aber er kümmerte sich nicht um Löcher in der Kleidung oder Brandflecken auf dem Tisch, denn das Holz war bereits hässlich und hatte Ringe von Flaschen und Gläsern. Er wirkte verblasst und eingefallen, seine Haut, seine Haare und seine Kleidung waren ohne Farbe und ohne Glanz, doch seine Augen, die sie über den Tisch hinweg betrachteten, waren schwarz wie Tinte. Sein Mund arbeitete die ganze Zeit, als ob er auf etwas herumkauen würde, vielleicht kaute er auf ihr herum, um herauszufinden, wer sie war und wie sie schmeckte.
Er hatte lange schweigend dagesessen. Ein wenig Licht drang zum Fenster herein, draußen stand ein Lieferwagen, ein blauer. Es war still, niemand sonst wohnte in dem Haus, und vom Verkehr draußen auf der Straße konnte sie nichts hören.
»Wie alt bist du?«, fragte er.
»Fast sechs.«
Sie setzte ein nettes Lächeln auf, dann hätte er keinen Grund, ihr etwas anzutun, sie wusste nicht, was ihm einfallen könnte. Ihre Füße reichten nicht bis zum Boden, wenn sie auf dem Stuhl saß, sie pendelten in einem regelmäßigen Rhythmus, die rosafarbenen Turnschuhe waren neu, und die Bewegung beruhigte sie.
»Du bist gut genährt, wie ich sehe.« Sein Blick, schwarz und tief, maß sie von oben bis unten. »Aber du siehst nicht norwegisch aus, bist du Norwegerin?«
»Ich bin Norwegerin!«, erwiderte sie rasch, vergaß ihre Knie und presste sie fest zusammen.
Er dachte nach.
»Aus welchem Land stammt deine Mutter?«
»Iran.«
»Wo im Iran?«
»Einer Stadt. Tabriz«, fiel ihr ein.
Der Gedanke an ihre Mutter tat ihr gut, er brachte Bewegung in ihr ganzes Ich, vom Kopf abwärts.
»Wie heißt deine Mutter?«
»Fayroz.«
»Da haben wir es«, sagte er und erhob einen Finger, »das ist nicht norwegisch.«
Sie blickte betroffen in ihren Schoß und hielt am Gedanken an ihre Mutter fest.
»Norwegische Kinder sind nicht so dunkel«, fügte er hinzu.
Er blickte zum Fenster hinaus, auf das Auto, dann schaute er auf seine Armbanduhr.
Von dort, wo sie saß, sah sie in eine Küche. Zwei Türen konnte sie ebenfalls erkennen, die eine, durch die sie hereingekommen waren, die der Weg nach draußen war, und die andere, die vielleicht in ein Schlafzimmer führte.
Sie pendelte weiter mit ihren Füßen hin und her, die ihr eigenes Leben führten und von ihr nicht zu stoppen waren. Sie sah wieder zum Fenster hinaus, zum Auto und irgendeinem grünen Gebüsch.
»Suchst du nach jemandem?«, fragte er.
Sie wandte ihre Augen ab und wurde verlegen. Alles musste genau durchdacht werden, falsche Antworten konnten zu einem Unglück führen, auch wenn ihr nicht klar war, welche Art von Unglück.
»Ja, ja, sie ernähren sich gut, das ist schon was«, sagte er.
Er lächelte, seine Zähne waren schlecht.
Das Mobiltelefon lag zwischen ihnen auf dem Tisch, er behielt es im Auge.
»Hast du ein eigenes Handy?«, wollte er wissen.
»Nein.«
Ihre Füße arbeiteten.
»Das ist ja so teuer«, fügte sie altklug hinzu.
»Wann hast du denn Geburtstag?«
»Im Oktober. Am ersten.«
»Also gehst du schon zur Schule?«
Sie nickte.
»Ja, ja«, sagte er, »die meisten werden erwachsen.« Er lehnte sich nach vorn, mit prüfendem Blick. »Ich hatte eine wie dich, vor etlichen Jahren. Aber meine Frau war der Ansicht, dass das Mädel und ich uns zu nahe kamen«, erklärte er, »verstehst du, was ich meine?«
Sie wusste es nicht sicher. Aber sie war höflich und obendrein gut erzogen, und er stellte doch eine Frage.
»Ja«, sagte sie leise.
Sie setzte wieder ihr Lächeln auf und achtete auf ihre Knie, dass sie sie zusammenhielt.
»Wie heißt du noch gleich?«
»Kandis.«
»Kandis? Ist das dein Name? Oder ein Spitzname?«
»Das ist ein normaler Name«, sagte sie.
»Klar, du kommst ja aus dem Iran.«
Er bemerkte die runden Wangen, die dicklichen Knie und den dunklen Zopf mit blauer Schleife.
»Kandis«, wiederholte er, »bald sechs.«
Er entblößte seine Zähne in einem Lächeln.
»Als ich ein Junge war, zog man solche wie dich auf einen Faden.«
»Ach!«, rief sie erschrocken aus.
Er gähnte und hielt sich die Hand vor den Mund.
»Kandis-Zucker«, erklärte er, »so kleine Kristalle. Als wir sie alle gegessen hatten, blieb nur noch ein nasser Bindfaden übrig.«
»Ach!«, sagte sie erneut und traute sich, eine Frage zu stellen: »War das gut?«
Er sah sie unter schweren Augenlidern aus an.
»Ob es gut war? Darauf kannst du Gift nehmen. Kandis ist gut.« Er blickte wieder auf seine Armbanduhr. »Kannst du deine Haare so machen, dass sie offen sind?«
Er machte mit seinen Händen wogende Bewegungen.
Sie fummelte etwas herum, öffnete die Spange mit der Schleife, der Zopf ging auf, das Haar breitete sich aus und wurde groß und dunkel.
Das Mobiltelefon begann im selben Moment zu vibrieren, bewegte sich ruckweise auf dem Tisch umher. In seinem Kopf ging vieles vor sich, bemerkte sie, und vom Kopf aus fuhren die Gedanken in den Körper und wurden zu eigenartigen schaukelnden Bewegungen. Sie dachte an Tante Anna und etwas, das sie einmal gesagt hatte.
Wenn ein Mann dich in ein Auto lockt und dich zu einem fremden Haus fährt, dann musst du eine Saite spannen.
»Eine Saite?«, hatte sie gefragt.
»Eine Verbindung«, hatte Anna erklärt. »Und wenn du an dieser Saite zupfst, dann kommt er vielleicht zu sich. Das ist das Einzige, was du tun kannst.«
Aber sie wusste nicht, wie man eine Saite spannte.
Er sprach in das Mobiltelefon, knappe Sätze und rasche Blicke in ihre Richtung. Sie versuchte herauszufinden, worüber sie sprachen, aber er war kurz angebunden, es hieß Ja oder Nein und Ich glaube nicht und solche Dinge, aus denen sie nicht schlau wurde.
Hinter den schwarzen Augen herrschte reger Verkehr, an Gedanken und Plänen. Er schwieg, während der andere sprach, veränderte seine Position auf dem Sofa, lehnte sich nach vorn, sank wieder nach hinten und wackelte. Es war deutlich, dass derjenige, mit dem er sprach, etwas in ihm in Gang setzte.
Er legte das Mobiltelefon weg. Das Gespräch hatte ihn verändert, sie wusste nicht, in was, aber er fuhr vom Sofa hoch.
»Wir müssen weiter«, sagte er abrupt.
»Nein!«, rutschte es ihr heraus. Sie war nicht mehr gut erzogen, lächelte nicht mehr höflich und sanft, die Wörter quollen aus ihr heraus, ehe sie sie stoppen konnte. »Wir können nirgendwohin!«
Ihre Füße mit den rosafarbenen Turnschuhen pendelten schneller.
Doch der Mann war entschlossen. Begann, mit wogenden Schritten herumzugehen, wie auf einem nachgebenden Untergrund. Ging zu einem Schrank, holte ein paar Dinge heraus und steckte sie in seine Taschen, sah sie über die Schulter an.
»Du darfst nirgendwo hingehen!«
Schnell war er draußen in der Küche und wiederholte seinen Befehl.
»Nirgendwo hingehen!«
Er kam wieder herein, seine Taschen waren voller Dinge, sie sah, wie sie sich ausbeulten.
»Wir gehen jetzt zum Auto.«
»Nein«, sagte sie erschrocken. Sie verstand nicht, was er wollte oder wohin er wollte, aber es war niemand sonst im Haus, kein anderer Erwachsener, der etwas anderes sagte, bloß der Grauhaarige mit den schwarzen Augen. Also erhob sie sich und strich ihr Kleid glatt und folgte ihm nach draußen.
Sie hoffte, dass jemand sie in ihrem schönen Kleid auf dem Hof stehen sehen würde. Sie war umgeben von einer Hecke, sie sah all die Blätter, rund und dunkelgrün, und den Schotter mit seinem bläulichen Schimmer. Das benachbarte Haus wirkte verschlossen, und ein paar Bäume versperrten den Einblick, doch sie entdeckte ein Fenster, unter dem Dachfirst, und wenn jemand genau jetzt dort stand, dann würde man sie sehen, in ihrem blauen Kleid, das Haar lose hängend. Sie brachte ihre Beine nicht über den Kies. Sie wollte nicht in das Auto, es war hässlich mit etlichen Kratzern und vielen Roststellen.
Der Mann holte mehrere Dinge aus einem Schuppen. Alles wurde in das Auto gelegt. Sie selbst wurde auf den Vordersitz geschoben, auch hier reichten ihre Füße nicht bis nach unten. Sie beeilte sich, vielleicht musste er irgendetwas erreichen, er blickte laufend zur Straße, ob jemand sie sah.
Der Boden war übersät mit Müll, Zigarettenkippen, Papier und leeren Coladosen, Zeitungen und Werbung.
»Schnall dich an«, befahl er. »Für den Fall, dass sie uns verfolgen. Weißt du, warum Prinzessin Diana starb? Sie war nicht angeschnallt.«
Er startete das alte Auto, es ruckelte und wackelte, lief aber ruhig und rund, als er Gas gab. Er befand sich an einem anderen Ort, das sah sie, sie selbst war auch an einem anderen Ort, der Gehorsam brachte nichts mehr, das Lächeln war verschwunden, geblieben war bloß eine Sekunde nach der anderen, denn sie wusste nicht, wer er war, wohin sie fuhren oder warum sie wegmussten. Das war die Welt der Erwachsenen. Ihr war nichts anderes mehr geblieben als Sorge. Während er das alte Auto über die Straßen lenkte, blickte sie starr nach vorn oder durch das Seitenfenster, auf Häuser und Menschen.
Nach ein paar Minuten bremste er plötzlich ab und fuhr seitlich ran, und sie freute sich, denn sie glaubte, dass er sich umentschieden hätte, sie würden wieder zurückfahren, was für eine Erleichterung!
Er zog das Mobiltelefon aus der Tasche und schaltete es ab, legte es zwischen die Sitze und sah sie von der Seite her an.
»Wir hinterlassen keine Spuren«, erklärte er.
Sie nickte stumm. Es galt, sich klein zu machen, nichts Gefährliches in ihm zu wecken, wenn er denn gefährlich war. Dennoch unternahm sie einen Versuch, die Situation zu verändern, weg von dem zu kommen, wohin sie unterwegs waren, und zurück zum Haus, das sie verlassen hatten.
»Wir können nicht so lange weg sein«, sagte sie ernst.
Er machte Geräusche mit dem Mund, als ob er auf etwas Süßem herumkaute.
»Ich heiße Gusse«, sagte er, »das ist ein Spitzname.«
Er hatte große Hände mit langen Fingern. Sie fragte sich, warum seine Augen schwarz waren, ohne ein inneres Leuchten, das durchschimmerte, wie wenn jemand ein Licht hinter einem Fenster ausmacht.
Er fuhr wieder auf die Straße. Sie dachte daran, welche Möglichkeiten sie hatte, als sie so mit ihren Händen im Schoß dasaß.
Ich kann nicht aus dem fahrenden Auto springen, nein, das kann ich nicht.
Sie machte ihren Hals lang, um auf die Straße zu sehen, sie war bloß zwei Augen auf einem Stock, die verschreckt die entgegenkommenden Autos anstarrten.
Die Schlüssel am Zündschloss baumelten hin und her, es war ein großer Bund. Das Handy lag links von ihr, aber es war abgeschaltet. Er hatte aufgehört zu reden, es gefiel ihr besser, wenn er etwas sagte.
»Wohin fahren wir?«, fragte sie vorsichtig.
Sie würde wohl noch fragen dürfen, auch wenn sie ihn störte.
»Ist es weit?«
»Es ist ein Stückchen«, sagte er.
»Darf ich vielleicht das Mobiltelefon benutzen?«
»Wen willst du anrufen?«, fragte er. »Deine Mama?«
Sie zuckte zusammen. Etwas über die Mutter zu sagen fühlte sich falsch an, fast so wie lügen.
»Meinen Papa«, sagte sie bloß.
Er streckte seine Hand aus und berührte mit den Fingern ihr Ohrläppchen.
»Eine kleine Sukkulente«, sagte er begeistert. »Sie fühlen sich so gut an, und sie halten es ziemlich lange ohne Pflege aus.«
Gusse fuhr lange über die Straßen. Sie wurden schmaler mit immer weniger Häusern und Menschen, bloß noch Bäume und Felder, grasende Schafe und Kühe. Sie wusste nicht, wie lange sie schon gefahren waren, aber schließlich bremste er ab und hielt bei einem kleinen Geschäft an.
Kandis las das Schild über der Tür.
JOKER.
»Wir brauchen ja was zu essen«, sagte er und sah sie an. »Und weil du gut genährt bist, kaufe ich nur Abnehm-Essen.«
Sie nickte und verstand. So viele Male hatte sie gehört, dass sie mollig sei, daher war es wohl richtig und wichtig, dass sie Abnehm-Essen bekam.
»Das ist bloß Welpenspeck!«, sagte sie laut.
Gusse runzelte die Stirn.
»Wer sagt denn so was?«
»Mein Papa.«
Seine Stimme war barsch, als er sie anwies, sitzen zu bleiben.
»Du darfst nirgendwo hingehen, du kannst dich verlaufen, du kennst dich hier oben nicht aus.« Er öffnete die Tür und stieg aus. »Ich beeile mich, bleib einfach still sitzen!«
Er warf ihr einen warnenden Blick zu und sah zur Straße, zum Eingang des Ladens und weiter hinauf zur Fassade, um etwas an der Wand zu betrachten, sie wusste nicht, was. Dann verschwand er in den Laden, und eine Frau kam heraus. Sie trug zwei Beutel und blickte Kandis im Auto an, lächelte und verschwand über die Straße.
»Du könntest dich verlaufen!«
Daher saß sie still auf dem Sitz und sah zum Fenster hinaus.
Sie musste unbedingt jemanden sehen. Doch wenn sie bei seiner Rückkehr nicht auf ihrem Sitz säße, würde er sicherlich zornig werden, und es war ihr wichtig, dass er so lange wie möglich sanft war.
Er hatte nichts vom Laden gesagt, dass sie ihm nicht hineinfolgen dürfe, also löste sie den Gurt und öffnete die Autotür, ließ sich vom Sitz nach unten gleiten und bekam die Füße auf den Asphalt. Sie wagte es kaum, sich umzusehen, sondern ging mit raschen Schritten zum Eingang, während sie überlegte, was sie sagen sollte, wenn er sie erblickte.
Ich kann beim Tragen helfen.
Ich habe mich nur gefragt, wo du bleibst.
Sie war im Laden. Konnte zunächst keine Menschenseele erblicken, bewegte sich zwischen den Regalen tiefer ins Innere, vorbei an allen möglichen Lebensmitteln. Wenn sie nur jemandem auffallen würde, jemandem, der kapierte, was da vor sich ging. Sie selbst war sich nicht sicher, was da vor sich ging.
Sie sah eine Tür, eine von der Art, die wie ein Rollo nach oben und unten fuhr, bloß dass sie aus Metall war. Sie stand offen.
Sie schlüpfte hinein. Lebensmittel überall in hohen Stapeln, Kartons und Säcken. Es roch gut, und sie war hungrig, vielleicht konnte sie etwas zu essen finden, auch wenn Gusse ihr Abnehm-Essen versprochen hatte. Lange Leuchtstoffröhren blinkten an der Decke, sie hörte ein schwaches Brummen wie von einem Motor. Und sie hörte Schritte. Jemand war auf dem Weg ins Lager, mit einem leisen Summen, und sie mochte das Summen, es vermittelte Geborgenheit. Es war besser, sich im Lager zu verstecken, als mit Gusse weiterzufahren und nicht zu wissen, wohin sie unterwegs waren. Doch sie begriff, dass sie sich auf verbotenem Terrain befand.
Sie ging hinter ein paar Kartons in die Hocke und hielt die Luft an.
Das Summen endete. Es waren schwere und schlurfende Schritte. Bald darauf hörte sie ein reißendes Geräusch, sie dachte, dass er eine Schachtel mit einem scharfen Messer öffnete. Ritsch, ritsch!
Dann war das Summen wieder da, sie kannte die Melodie, die lief oft im Radio, irgendetwas vom nächsten Sommer.
Das Geräusch von raschelndem Kunststoff. Sie kroch in sich zusammen, machte sich so klein, wie sie konnte, saß mit dem Kinn auf den Knien da, die Schritte kamen näher.
Etwas Großes und Dunkles beugte sich über sie.
»Hallo!«
Ein Mann in einem grauen Kittel blickte von oben auf sie herab. Er war groß und dick, seine Wangen waren rot, seine Ohren standen ab.
»Du kannst nicht hier im Lager sein«, sagte er barsch.
Sie setzte wieder ihr Lächeln auf, brachte aber keine Antwort heraus.
»Suchst du nach jemandem?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Bist du allein hier? Bist du mit deiner Mama hier? Vielleicht sucht sie nach dir, du gehst jetzt besser wieder raus.«
Kandis erhob sich und stand vor ihm. Er hatte so Schuhe wie Tante Anna, die waren aus Plastik und hatten viele Löcher. Seine Wangen waren wirklich ziemlich rot, dachte sie, große, hitzige Flecken. Der Rest des Gesichts hatte eine gute Farbe. Die Gestalt war mächtig groß, mit Bauch und dünnen Beinen.
Sie warf ihm ihren traurigsten Blick zu. Das brachte ihn dazu, etwas genauer hinzusehen, doch die Nachricht, die sie ihm zu vermitteln versuchte, entging ihm. Er stand einfach in seinem grauen Kittel da und wollte sie loswerden.
Deshalb huschte sie wieder aus dem Lager, schlich die Regale entlang, schielte zur Kasse, näherte sich dem Ausgang, das Herz schlug ihr bis zum Hals. Sie konnte Gusse nirgendwo sehen, vielleicht war er weitergefahren, ach, wie sie das hoffte! Denn dann könnte sie wieder hineingehen und den Dickwanst bitten, ihren Papa in Øvre Skog anzurufen.
Doch das Auto stand wie zuvor da. Jetzt galt es, wieder ihren Platz einzunehmen, die Tür zu schließen, unschuldig dreinzublicken und auf das Essen zu warten. Sie würde es essen, egal ob sie es mochte oder nicht, wenn es bloß keine Pillen waren. Tante Anna war im Laden gewesen und hatte sich Reformkost gekauft, die sie dünn machen sollte, große gelbe Pillen, die sie mit Wasser schluckte.
Da kam Gusse aus dem Laden. Er trug mehrere Tüten. Verstaute sie ordentlich im Auto, damit sie nicht umfielen.
»Wir machen uns wohl lieber aus dem Staub!«, rief sie aus.
Er sagte nichts dazu. Er startete das Auto, bog auf die Straße, und sie merkte sich ein Schild, auf dem Norum 1,2 km stand.
Und danach ein neues Schild.
»Fahren wir nach Mørk?«, fragte sie.
Er schaltete hoch. Blickte häufig in den Spiegel, als ob ihnen jemand folgte, sie hoffte sehr, dass ihnen jemand folgte.
»Ich frage mich gerade etwas«, sagte sie mit der unschuldigen Stimme eines Kindes. »Ich frage mich gerade, wie spät es wohl ist.«
Er deutete auf das Armaturenbrett, auf die digitale Uhr.
»12:50 Uhr«, sagte er.
»Wohin fahren wir?«
»Wir müssen bloß etwas holen.«
Gusse fuhr geradeaus, ein Stück weiter das Tal hinauf. Dann bremste er wieder ab und bog in eine Tankstelle ein. Parkte an einem grünen Container.
Kandis las auf einem Schild:
Propangastausch NOK 179,00
Er holte etwas aus dem Auto und verschwand hinter dem Container.
Kandis reckte ihren Hals und starrte durch die Windschutzscheibe, als eine Frau aus dem Tankstellengebäude kam. Sie erblickte Kandis im Auto, und Kandis winkte heftig mit der Hand, winkte so lange, bis die Frau zurückwinkte.
Da wedelte sie mit beiden Händen, und die Frau wurde langsamer, sie begann zu zweifeln. Kandis winkte, bis das Wunder geschah, sie kam mit raschen Schritten zu ihr.
Das hättest du nun sehen sollen! Da tauchte Gusse von hinter dem Container auf, und jetzt war er wie ausgewechselt, mit federnden Schritten und einem warmen Lächeln, die langen Haare flatterten ihm um die Ohren. Er erreichte die Frau, ehe sie zu dem Auto gelangte, sie wechselten ein paar Worte, und die Frau war höflich, lächelte und entschuldigte sich, denn sie verstanden einander jetzt, alles war in Ordnung. Sie winkte Kandis ein letztes Mal zu, ehe sie kehrtmachte und davonging, über den Platz und auf die Straße hinaus. Ihr gelber Mantel leuchtete wie eine Butterblume.
Gusse legte die Propangasflaschen ins Auto.
Kandis’ Mund war trocken.
Da passierte etwas, was sie doch fröhlich werden ließ. Er bog auf die Straße und fuhr wieder in Richtung des Joker-Ladens.
»Fahren wir wieder nach Hause?«, fragte sie hoffnungsvoll. »Sind wir fertig?«
Darauf antwortete er nicht.
»Warum hast du dich abgeschnallt?«, fragte er. »Bist du ausgestiegen?«
»Nur kurz«, sagte sie schüchtern.
Sie verkrampfte sich, ihr Körper spannte sich vom Nacken bis ganz nach unten an, denn wenn sie sich entspannte, würde sie sich in die Hose machen, so fühlte sich das an. Sie traute sich nicht, mehr Fragen zu stellen. Es half weder, sich in einem Lager zu verstecken, noch, einer fremden Frau zuzuwinken, sie gehörte wohl hierher ins Auto zu Gusse.
Wie erschöpft sie von alldem war. Antworten auf Dinge zu suchen und sich gleichzeitig in der fremden Situation zurechtzufinden. Sie wollte in den nächsten Augenblick gelangen, doch sie wusste nichts über den nächsten Augenblick oder darüber, was passieren würde. Eine leere Coladose auf dem Boden fing an zu rollen, lag ein paar Sekunden still da und rollte wieder, vor und zurück. Sie fühlte sich wie die leere Dose, in jeder Kurve wurde sie von einer Seite auf die andere geworfen.
Plötzlich bog er scharf rechts ab, und sie befanden sich auf einem schmaleren, unbefestigten Weg.
Da blieb er stehen und half ihr mit dem Gurt.
»Der Ordnung halber«, sagte er, »ich heiße nicht Gustav.«
Sie erwiderte darauf nichts.
Wenn du dich verläufst, oder wenn etwas Unangenehmes passiert, dann musst du einen Erwachsenen finden, das pflegte Tante Anna zu sagen. Doch ein erwachsener Mann hatte sie in ein Auto geschoben. Ein Erwachsener hatte sie aus dem Lager gejagt, ein Erwachsener hatte gewunken und war davongegangen.
Und der Erwachsene am Lenkrad fuhr so schnell auf dem Kiesweg, dass das Auto ins Schlingern geriet.
*
Ein Mann stürzte durch die Türen der Polizeiwache im Bezirk Süd. Er war eine Unterbrechung in dem ansonsten gemächlichen Rhythmus von wartenden Menschen. Offensichtlich stimmte etwas nicht, er schleuderte das eine Bein nach vorn, eine beeindruckende Technik, die er sich angeeignet hatte.
Pässe und Ausweise nach links, Wartebereich nach rechts. Ein Büro mit Glaswänden, wenn man Diskretion haben wollte. Und ein offener Schalterbereich in der Mitte.
Der Mann hinkte in diese Richtung.
»Wollen Sie Anzeige erstatten? Dann müssen Sie eine Nummer ziehen.«
Er ignorierte die Anweisung. Stützte seine Hände auf den Tresen, sah sie mit seinem linken Auge an, über das rechte fielen ihm schräg die Haare.
Die Beamtin betrachtete ihn mit mäßigem Interesse und nahm ihn in Augenschein, um einzuschätzen, was für ein Anzeigender er war.
»Meine Tochter ist weg!«, rief er.
Er beugte sich über den Schalter, während er sprach. Er war dunkel und mager, mit einem schmerzhaften Zug um den Mund.
»Aha? Weg von wo?«
»Von zu Hause.«
»Wie lange ist sie schon weg?«
»Weiß nicht.«
»Das wissen Sie nicht?«
»Ich wollte bei einem Kumpel vorbeischauen, ich habe ihr gesagt, nirgendwo hinzugehen.«
»War sie allein zu Hause?«
»Nur ganz kurz«, erwiderte er verzweifelt.
»Wie alt ist sie?«
»Fast sechs.«
Der Mann konnte kaum stillstehen, die Unruhe war überall an ihm sichtbar, sein Körper schmerzte vor Angst und Sorge.
Die Beamtin fuhr mit ihrer Einschätzung fort, sie lief wie ein automatisches Zählwerk und registrierte ein paar offensichtliche Dinge:
In den Dreißigern, schlank, beinahe schmächtig, und gut gekleidet.
»Sie heißt Kandis«, sagte er.
»Ist das ein Spitzname?«
»Nein, sie heißt Kandis!«
»Was haben Sie bisher unternommen?«
»Was ich unternommen habe? Ich bin hierhergefahren.«
Seine Stimme schwoll an.
»Ich meinte, ob Sie ein paar Telefonate geführt haben?«
»Natürlich habe ich ein paar Telefonate geführt! Ihre beste Freundin heißt Sandra, aber dort ist sie nicht.«
»Wartet jemand auf sie zu Hause? Der sie empfängt, wenn sie auftaucht?«
»Die Tür ist offen. Ich habe ihr gesagt, nirgendwo hinzugehen, ich weiß nicht, warum sie aus dem Haus gegangen ist, sie macht normalerweise, was ich sage, sie ist ein folgsames Mädchen, hier stimmt irgendetwas nicht.«
Er schlug mit den Händen auf den Tresen. Eine Panik, für die es sicherlich keinen Grund gab, dachte die Beamtin, laufend verschwanden Kinder, plötzlich tauchten sie zu Hause wieder auf, ohne etwas von der kalten Dunkelheit zu wissen, in der sich die Eltern befunden hatten.
Sie sah ihn sich näher an. Sein Schrecken ließ sie ernst werden, aber sie verhielt sich dennoch ruhig und bat ihn, zum Aufzug zu gehen.
»Feber«, sagte sie, »fünfter Stock. Er hilft Ihnen weiter. Wie ist Ihr Name?«
»Alfie René«, antwortete er. »Oder Alf.«
»Ihr Nachname?«
»René.«
»Alfie René. Also gut. Ich werde ihm mitteilen, dass Sie kommen.«
Sie nickte in Richtung Aufzug.
Die Gruppe wartender Menschen war aufmerksam auf den Auftritt geworden. Sie selbst wollten ihren Pass erneuern, sie hatten eine Reise in den Süden geplant. Die Mühe des Mannes beim Gehen und sein panisches Verhalten erinnerten sie daran, dass sie sich bei der Polizei befanden, deren Archive voll von Tod und Verderben waren.
Sie folgten ihm mit Blicken, als er zum Aufzug ging.
Eddie Feber hatte selbst Kinder, ein kleines Mädchen mit sechs und Söhne im Alter von acht bis achtzehn. Er öffnete die Tür, sah hinaus auf den Korridor und verfolgte die roten Ziffern, während der Aufzug in dem großen Gebäude nach oben fuhr. Die Fünf leuchtete auf. Ein Mann kam hinkend aus dem Aufzug. Eddie nahm ihn mit in sein Büro und bot ihm einen Stuhl an.
»Wie heißt sie?«
»Kandis Mohaved.«
»Wie alt ist sie?«
»Fast sechs.«
»Warum ist sie nicht in der Schule?«
»Lehrerfortbildung.«
»Und die Mutter des Kindes?«
Der Mann ließ den Kopf sinken.
»Da sind bloß Kandis und ich, ihre Mutter ist tot.«
Er strich sich die dunklen Haare mit einer bleichen Hand aus dem Gesicht. Eddie sah, dass sie zitterte.
»Wo wohnen Sie?«
»In Øvre Skog, wir haben ein kleines Haus.«
»Wie ist sie verschwunden?«
»Sie ist aus dem Haus verschwunden, ich war bei einem Kumpel.«
»Sie haben sie nicht mitgenommen?«
»Sie wollte nicht mit.«
»Wann haben Sie das Haus verlassen, und wann sind Sie wieder zu Hause gewesen?«
»Es war wohl halb elf, als ich ging, und ich war um zwölf wieder zu Hause, ich war nicht lange weg. Ich habe ihr gesagt, nirgendwo hinzugehen, sie macht normalerweise, was ich sage, irgendetwas ist hier eigenartig.«
Eddie nickte.
»Was hatten Sie zu tun?«
»Bei meinem Kumpel? Ich wollte nur vorbeischauen und ein bisschen quatschen. Er ist viel besser ausgerüstet als ich, bei vielen Dingen, zum Beispiel Werkzeug. Mein Haus ist alt. Die Veranda ist renovierungsbedürftig. Solche Sachen.«
»Gut.« Eddie nickte.
»Und der Garten und alles ist vernachlässigt«, fuhr er nervös fort. »Ich bin bei schlechter Gesundheit. Meine Frau ist vor über zwei Jahren gestorben, jetzt gibt es nur noch Kandis und mich.«
Er sprach schnell und atemlos. Die Nervosität des Mannes steckte Eddie an.
Er hatte ein Formular herausgezogen, in dem alles in Bezug auf das Kind erfasst werden sollte.
»Also, Kandis Mohaved. Kennen Sie ihre Größe und ihr Gewicht?«
»Nein«, sagte er unglücklich, »das weiß ich nicht. Wie groß sind sie denn, wenn sie sechs sind?«
Er klang verlegen.
»Also«, sagte Eddie, »meine Tochter ist sechs. Sie ist einen Meter und fünfzehn groß und wiegt achtzehn Kilo.«
Alfie René nickte. Und sagte, dass Kandis ein molliges Kind sei, dass sie sicherlich mehr als das wiege.
»Rund und gesund?«, sagte Eddie und lächelte.
»Rund und gesund«, erwiderte er ernst.
»Haare und Augenfarbe?«
»Ihre Mutter war aus dem Iran, Kandis hat daher ziemlich dunkles Haar, das ihr weit über den Rücken geht. Braune Augen.«
»Was hat sie heute an?«
»Ein blaues Kleid und rosa Turnschuhe. Das Haar ist zu einem Zopf gebunden mit blauer Schleife.« Mit großer Besorgnis fügte er hinzu: »Sie ist immer höflich und folgsam, sie tut, was die Leute ihr sagen.«
»Woran denken Sie?«, fragte Eddie.
»Nichts, ich meine bloß …« Er stockte, seine Hände huschten ziellos über Eddies Pult. »Ich versuche bloß zu sagen, dass wenn jemand an die Tür gekommen ist, während ich weg war, oder wenn jemand sie draußen im Garten bemerkt hat und sie gebeten hat, in ein Auto einzusteigen, dann hat sie sicherlich getan, was ihr gesagt wurde, das meine ich nur. Sie ist ziemlich folgsam.«
»Wir brauchen ein Foto«, sagte Eddie freundlich.
Alfie René wühlte in seinen Taschen nach dem Mobiltelefon, seine Hände zitterten gewaltig. Er suchte in der Fotogalerie und zeigte Eddie ein Foto. Ein hübsches Kind mit dunklen Augen und runden Wangen. Der Anblick des Kindes versetzte Eddie einen Stich. Jetzt ging die Fantasie mit ihm durch, so wie bei dem Vater, der vor ihm saß.
»Was ist mit Großeltern?«, erkundigte er sich.
»Die Eltern ihrer Mutter wohnen im Iran. In Tabriz. Mein Vater wohnt in Trøndelag.«
»Tanten und Onkel?«
»Meine Schwester, Anna.«
»Haben Sie weitere Kinder?«
»Nein.«
Eddie schrieb fortlaufend mit. Alle Informationen wurden eingegeben, und er sprach in Klischees, aber die Klischees waren die Wahrheit. Eine ansehnliche Anzahl von Menschen verschwand jedes Jahr, und die allermeisten tauchten wieder auf.
Alfie René hörte zu. Seine Augen hatten die ganze Zeit über dieses panische Leuchten.
»Ist Ihnen irgendetwas Besonderes aufgefallen, als Sie nach Hause kamen?«
»Etwas Besonderes aufgefallen?«
Alfie verstand nicht. Eddie suchte nach Formulierungen, die ihn nicht noch mehr erschrecken würden.
»Ob es Spuren von anderen als Kandis gab, draußen oder im Haus. Etwas, was normalerweise nicht da ist?«
»Nein«, erwiderte er, »alles ist wie immer, es ist ganz wie immer.« Er lächelte dünn. »Wir sind ziemlich unordentlich, Kandis und ich. Sie wissen schon, wenn die Mutter weg ist und so, überall liegt etwas herum.«
Eddie nickte.
»Was hat Kandis gerade gemacht, als Sie sie verlassen haben?«
Er dachte nach.
»Was sie gemacht hat? Also, sie mag es, mit Wasserfarben zu malen, so etwas war es wohl. Sie ist ziemlich gut im Malen.«
»Haben Sie irgendeine Form von Kameraüberwachung an Ihrem Haus?«
»Nein.«
»Wissen Sie, ob Ihre Nachbarn so etwas haben?«
»Darüber habe ich mir noch nie Gedanken gemacht«, sagte er, »nein, das weiß ich nicht.«
»Sie haben eine Tante erwähnt?«
»Meine Schwester, Anna, sie liegt im Krankenhaus, sie hatte eine Operation.«
»Weiß sie, dass Kandis verschwunden ist?«
»Ich habe sie sofort angerufen. Vielleicht wird sie heute entlassen, dann bekomme ich Hilfe.« Er hielt einen Moment lang inne. Die Situation war für ihn offensichtlich anstrengend. »Vielleicht ist sie jetzt zu Hause«, sagte er, »das hoffe ich zumindest.«
»Was arbeiten Sie?«
»Bin in einer Reha.«
»Darf ich fragen, warum?«
»Chronische Schmerzen nach einem Motorradunfall.«
»Ist es lange her?«
»Es ist jetzt schon ein paar Jahre her. Es braucht seine Zeit, bis man sich erholt.«
»Erhalten Sie irgendeine Form von Behandlung?«
»Bin in der Schmerzklinik in Ullevål. Lerne Entspannungstechniken und Atemübungen und solche Sachen. Die sagen, dass der Schmerz im Kopf steckt, doch was sie eigentlich meinen, ist, dass ich an etwas anderes denken soll, wenn die Schmerzen kommen. So reden bloß Leute, die noch nie Schmerzen erlebt haben.«
Eddie nickte.
»Welche Art von Verletzungen haben Sie davongetragen, wollen Sie dazu etwas sagen?«
Er begann mit seiner Aufzählung.
»Gebrochenes Becken, Schulter und linkes Knie ebenso. Gehirnerschütterung und mehrere Schnitte. Platten und Schrauben und Stäbe wurden eingesetzt. Stahl in Beinen und Armen«, fügte er hinzu. »Schaffe nicht mehr sehr viel. Nach dem Tod von Fayroz sind nur noch Kandis und ich da.«
»Kann die Gemeinde Ihnen keine Hilfe zur Verfügung stellen?«
»Habe sie nicht gefragt. Kann keine fremden Menschen im Haus haben.«
»Ihre Versicherung war in Ordnung?«
»Ich warte auf die Auszahlung. Aber die haben es nicht eilig, das braucht seine Zeit«, sagte er, zum zweiten Mal. »Überall Schmerzen und kaum Geld, das ist hart.« Er neigte den Kopf, sein Haar fiel nach vorn. »Meine Schwester kommt regelmäßig vorbei und erledigt einiges. Ohne sie wäre ich nicht zurechtgekommen.«
Eddie beendete die Arbeit an dem Formular. Seine Stimme war die ganze Zeit ruhig und gefasst.
»Auch wenn Sie nichts Ungewöhnliches im Haus oder außerhalb des Hauses beobachtet haben, fahre ich mit zu Ihnen. Es kann Anzeichen geben, die für uns sichtbar sind, an die Sie aber gar nicht denken. Wenn man ängstlich ist, ist man nicht besonders aufmerksam. Zerbrechen Sie sich nicht den Kopf wegen Dingen, die vielleicht gar nicht passiert sind«, fügte er hinzu, als er das bleiche Gesicht sah. »Mit sechs Jahren lässt man sich leicht ablenken.«
Alfie führte einen Finger zum Mund.
»Ihr fehlt ein Zahn«, sagte er. »Hier oben.«
Øvre Skog lag irgendwo im Nirgendwo, kein Vorort und auch kein Stadtteil, sondern ein dünn besiedeltes Gebiet südwestlich des Zentrums, mit gemischter Bebauung. Alfies Haus war klein und bescheiden, mit einem ungepflegten Vorgarten, Sandkasten, Schaukelgerüst und Wellblechschuppen mit Mülltonnen.
Am Briefkasten stand René und Mohaved.
»Vielleicht ist sie zu Hause!«, rief Alfie aus.
Er hatte es plötzlich eilig, öffnete die Tür und hinkte ins Haus, Eddie folgte ihm.
Er kam in einen schmalen Flur mit kleinen und großen Schuhen, Stiefeln, Sandalen und Pantoffeln mit einer Troddel in einem chaotischen Haufen. Eine kleine Jacke und eine große Jacke an Kleiderhaken, ein schwarzer Schirm an die Wand gelehnt.
Auf der Küchenanrichte standen schmutzige Töpfe und Schüsseln, auf dem Tisch Teller und Gläser, eine Kaffeekanne und Servietten. Auch im Wohnzimmer herrschte ein großes Durcheinander, Kleidung über den Stuhllehnen, Bücher und Zeitungen auf dem Couchtisch, Kaffeetassen und Weingläser. Eddie bemerkte die Bilder über der Couch, ein Foto von einer exotischen Schönheit, daneben ein Bild von der kleinen Kandis im blauen Kleid.
»Ist es dieses Kleid?« Eddie deutete auf das Bild.
»Ja, das ist es.«
»Was ist mit Ihrer Frau passiert?«
»Krebs«, sagte Alfie.
Eddie verlor sich in der dunklen Frau aus dem Iran. Sie war in Lila und Blau gekleidet. Dunkler Lidschatten, schwarze Haare und ein glitzerndes Schmuckstück um den Hals. Sie stand im selben Stil da wie das Kind auf dem Bild daneben. Alle beide waren märchenhaft schön.
Sie gingen weiter zum Schlafzimmer.
»Ja«, sagte Alfie verlegen, »wir schlafen im selben Bett. Ich habe mich nicht getraut, es jemandem zu sagen, nur meiner Schwester, die Leute kommen gleich auf komische Gedanken. Aber Kandis hatte ziemliche Schlafstörungen, nachdem ihre Mama gestorben war, und ich auch«, fügte er hinzu, »also ist es so gekommen.«
Eddie blickte auf das Doppelbett mit zwei Kissen und einer extragroßen Bettdecke. Er fragte, ob etwas fehle, ihm wurde jedoch klar, dass man es in diesem Durcheinander kaum bemerken würde.
»So ist es also hier bei uns«, sagte Alfie und breitete hilflos die Arme aus.
Eddie betrachtete den Teil des Bettes, wo das Kind seinen Platz hatte, mit Kuscheltieren und einem hellblauen zusammengeknüllten Schlafanzug. Bilder an der Wand, ein alter Wäschekorb. Ein Paar blaue Schnürschuhe, ein Hausmantel, der sicherlich Alfie gehörte. Eine Kommode mit kleinen Figuren aus Glas, ein Korb, vielleicht für Schmutzwäsche. Er entdeckte auch etwas an der Wand in Glas und Rahmen.
»Der Schmerz ist allein dein Erleben,
er befindet sich nur in deinem Kopf.
Sagst du, dass er stark ist,
dann wird er stark.
Statt diesen unwillkommenen Gast zu jagen,
öffnest du alle Räume in dir selbst
und lässt ihn frei wüten.
Alle, die zu deinem Haus kommen,
grüßen dich mit gedämpften Stimmen.
Bringen Trost und Linderung
wie Geschenke für einen Prinzen.«
»Wer hat das geschrieben?«
Alfie schnaubte verächtlich.
»Irgendein Dummkopf, dem noch nie irgendetwas wehgetan hat. Meine Schwester meint, dass es mir guttut, diese Zeilen zu lesen, wenn ich abends zu Bett gehe.«
Sie gingen weiter und betraten das Zimmer von Kandis. Spielsachen lagen verstreut auf dem Boden. Eddie bemerkte diese Dinge, ohne ihnen Bedeutung beizumessen, es war eher ein automatisches Registrieren, und sein Gedächtnis war gefährlich gut.
»Welche Gedanken haben Sie sich gemacht, wo sie sein könnte?«
»Sie ist aus dem Haus gegangen«, sagte Alfie, »ich habe ihr gesagt, dass sie nirgendwo hingehen soll, ich weiß nicht, wohin sie gegangen ist.«
Eddie sah auf die Uhr.
»Sie sind um halb elf zu Ihrem Kumpel gegangen?«
»Ja, so ungefähr. Ich war nicht lange weg, ich war um zwölf oder so wieder zu Hause, ich schaue ja nicht die ganze Zeit auf die Uhr, aber ich war nicht lange weg.«
»Also haben wir keinen genauen Zeitpunkt«, sagte Eddie, »aber es ist so oder so nicht alarmierend lange. Was kann sie dazu gebracht haben zu gehen, was glauben Sie?«
Alfie zuckte hilflos mit den Schultern.
»Was soll ich sagen? In ihrem Alter? Irgendjemand hat sie wohl gelockt oder ihr etwas Schönes versprochen. Gab es da nicht vor einiger Zeit so eine Geschichte, dass ein paar Jungs zwei kleine Mädchen mit neugeborenen Kätzchen gelockt haben? Sie wissen doch, was mit ihnen passiert ist?«
»Ganz ruhig, Herr René«, meinte Eddie beschwichtigend, »ganz ruhig. Ist Kandis ein gesundes Mädchen?«
»Natürlich ist sie gesund.«
»Wir müssen es wissen«, fuhr Eddie fort. »Ob sie irgendwelche Medikamente nimmt, die sie unbedingt braucht. Insulin oder so etwas.«
»Sie braucht kein Insulin«, erwiderte Alfie rasch.
»Das ist gut«, sagte Eddie.
Sie verließen das Kinderzimmer und gingen hinaus auf die Veranda.
»Was für eine Aussicht«, sagte Eddie, er beugte sich über das Geländer, sein Blick schweifte über die Wälder, den Himmel und die Hügel. Das Licht war wie Zinn, es blitzte in kleinen Gewässern auf. Wie groß er war, dieser Raum, den sie Natur nannten.
Eddie deutete nach draußen.
»Gibt es Wege oder Pfade, die sie gerne geht?«
»Nein«, sagte Alfie, »wir sind nie im Wald. In unwegsamem Gelände bekomme ich Probleme.«
Sie gingen wieder nach drinnen. Abgesehen von der charmanten Unordnung gab es in Alfies Haus keine Anzeichen für ein Drama.
»Schicken Sie mir alle Fotos, die Sie von Kandis haben, auf mein Handy«, bat Eddie. »Dann habe ich sie überall dabei.«
Alfie bekam die Nummer und verschickte Fotos, fünf Stück insgesamt.
»Ich habe nur sie«, sagte er.
Er konnte dies nicht oft genug sagen, und unter den Worten steckte etwas, eine Warnung an Eddie Feber, ein Gnade dir, wenn sie nicht gefunden wird.
»Wie lange ist ›alarmierend lange‹?«, erkundigte er sich.
»Viel länger als das hier, Herr René. Kommen Sie, wir gehen ins Freie.«
Sie standen auf der Treppe und blickten nach rechts hoch, wo ein Kiosk lag. Ein altes, heruntergekommenes Gebäude, dessen Fassade zum Großteil von Werbeplakaten bedeckt war. Links unten lag ein Gebäude, das wie ein Lager aussah, und darunter ein paar niedrige Reihenhäuser. Auf der anderen Straßenseite ein freies Grundstück mit Fußballtoren.
»Sitzt sie oft auf dieser Schaukel?«, fragte Eddie und deutete auf das Grundstück.
»Ja, schaukeln liebt sie«, erwiderte Alfie.
»Wann kommt Ihre Schwester wieder aus dem Krankenhaus, was glauben Sie?«
»Der Arzt muss begreifen, dass ich sie brauche«, sagte er, »ich hoffe, dass sie schnell rauskommt.«
»Und Ihr Vater? Kann er helfen?«
»Nein, kann er nicht«, sagte Alfie, »er wäre der Letzte, den ich fragen würde.«
Die Antwort kam hart und schroff.
Er wollte wieder ins Haus zurück.
»Was soll ich jetzt tun?«
»Sie müssen einfach abwarten«, sagte Eddie. »Und während Sie warten, müssen Sie die letzten Tage durchgehen. Hat Kandis Ihnen etwas Neues erzählt, von jemandem, den sie getroffen hat? Haben Sie Leute oder Autos in der Straße beobachtet, die nicht hierhergehören? Ferner müssen Sie eine genaue Liste erstellen, über alle in ihrem Bekanntenkreis, Lehrer, Klassenkameraden, Verwandte und Nachbarn, und eine Liste Ihrer eigenen Bekanntschaften.«
»Die wird nicht lang«, sagte Alfie. »Sie wissen schon, wenn die Gesundheit schlecht ist und so. Ich bleibe meist zu Hause.« Er sah Eddie Feber an. »Wie geht’s jetzt weiter?«
»Wir geben eine Meldung mit ihrer Beschreibung heraus und richten ein Telefon für Hinweise ein«, gab Eddie zur Antwort.
Im Stillen dachte der Hauptkommissar, während wir all diese Dinge in die Wege leiten, kommt sie vielleicht einfach diese Straße hier anspaziert, als ob nichts passiert wäre.
Doch Worte, die einmal gesagt waren, ließen sich nicht zurücknehmen, deshalb behielt er die innerliche Hoffnung für sich.
*
Gusse lenkte abrupt nach rechts, das Auto neigte sich zur Seite, die Coladose rollte, und Kandis schwankte im Sitz. Der Weg wurde schmaler und uneben, der Wald stand wie eine schwarze Wand da. Steine auf dem Weg brachten das Auto zum Wackeln. Kandis machte ihren Hals lang und starrte durch die Scheibe.
»Bist du schon einmal in einem Labyrinth gewesen?«, fragte Gusse.
Sie dachte nach. Es war ziemlich schwer, zu denken, auf Dinge zu antworten und zugleich darauf zu achten, was alles passierte oder was ihr vielleicht alles passieren könnte.
»Nur auf Papier«, fiel ihr ein. »In so einem Buch mit Aufgaben. So eines hatte ich mal.«
»Da bist du mit dem Stift durchgefahren?«
»Ja.«
»Hast du denn den Weg nach draußen gefunden?«
»Nein. Denn es wurden so viele Striche, bis das ganze Blatt verschmiert war, und zum Schluss bekam das Papier ein Loch.«
Sie spürte, wie sich ihr Gesicht anspannte, es ließ sich nicht in seine gewohnte Ordnung bringen.
»Pass auf«, sagte er belehrend. »Wenn du einmal wirklich in ein Labyrinth geraten solltest, dann musst du einfach immer nach rechts gehen. Und wenn der Weg nach rechts in einer Sackgasse endet, dann nimmst du den nächsten nach rechts, und wenn du das lange genug machst, dann kommst du wieder raus ans Licht. So ist das mit den Wegen hier oben. Ich fahre nach rechts.« Er manövrierte das Auto durch die Kurven, sah sich konzentriert um, als ob er etwas suchte. »Dinge verändern sich«, murmelte er. »Wir glauben, dass wir uns an einem Ort auskennen, wenn wir aber zurückkommen, ist der Wald gewachsen, und alles wirkt fremd.«
»Einem Ort?«, erkundigte sie sich.
»Eine alte Hütte. Bin lange nicht hier gewesen.«
Er kratzte sich mit den Fingernägeln am Kiefer.
»Gott weiß, wie es dort heute aussieht.«
»Deine Hütte? Dorthin fahren wir also?«
Er nickte.
»Wie lange werden wir dort denn bleiben?«
Plötzlich stieg er auf die Bremse. Das Auto blieb abrupt stehen, Kandis spürte, wie sich der Gurt anspannte.
Gusse hielt das Lenkrad mit beiden Händen, es war, als ob er aufwachte.
»Ich weiß nicht«, sagte er bloß, »ich weiß nicht.« Er sah sie mit einem langen Blick an. »Hast du zehn Kronen für deinen Zahn bekommen? In einem Glas auf dem Nachtkästchen?«
»Ich habe zwanzig bekommen«, sagte Kandis. »Ich glaube aber, dass es Tante Anna war, die sie dort hingelegt hat. Papa versteht sich nicht auf solche Dinge.«
Er fuhr weiter, der Weg wurde noch schmaler. Die schwarzen Zweige sperrten das Licht aus.
»Ist es schon Abend?«
»Dauert nicht mehr lange.«
»Fahren wir nach oben auf einen Berg?«
»Wir müssen nach oben, ja.«
Jetzt war der Waldweg so schmal, dass die Zweige an den Seiten des Autos entlangpeitschten.
Er fuhr weiter. Ein ziemlich langes Stück, eine ganze Zeit wurde nichts gesagt. Und dann. Aus dem Nichts, eine graue Wand.
Das Auto blieb stehen. Kandis starrte. Sie dachte, dass die Wand sich öffnen und eine Höhle offenbaren würde, und wenn sie hineinginge, würde sie von einer großen Dunkelheit umgeben sein.
»Oje!«, rief Gusse aus und schlug auf das Lenkrad.
»Ist das deine Hütte?«, fragte sie.
»Sieht so aus.«
»Bist du dir nicht ganz sicher?«
Sie starrte die graue Wand weiter an, trocken und grob wie ein alter Schuppen.
Gusse hatte das Lenkrad losgelassen, die Hände ruhten in seinem Schoß.
»Das ist die Rückseite«, sagte er, »die Vorderseite ist viel hübscher.«
Kandis versuchte herauszufinden, was schlau war. Wo sie am sichersten war, im Auto oder in der Hütte oder in dem schwarzen Wald, allein oder zusammen mit Gusse. Vielleicht war sie nirgendwo sicher, sie konnte nichts anderes tun, als ihm zu folgen.
Er öffnete die Tür und stieg aus, kontrollierte die Zeit, kontrollierte Kandis. Stand aufrecht da, mit hängenden Armen.
»Wirklich zugewachsen«, sagte er. »Wenn wir die Natur in Ruhe lassen, dann frisst sie uns mit Haut und Haaren.«
Kandis erschauderte. Sie blieb im Auto sitzen. Ihre Hände im Schoß zusammengepresst.
»Komm schon!«, rief er. Er wühlte in seinen Taschen nach etwas. »Es können Leute hier oben gewesen sein, das weiß man nie. Es gibt Leute, die leben im Wald und in den Hütten, von dem Essen, das sie finden. Sie leeren die Schränke und schlafen in den Betten. Hüttendiebe.«
Kandis bekam Angst.
»Denk nur, wenn sie jetzt da drin sind!«, rief sie aus.
Gusse begann, auf dem Pfad in den Wald zu gehen, auf seine eigenartige schaukelnde Art. Sie kämpfte mit der Tür auf ihrer Seite.
»Nehmen wir das Abnehm-Essen nicht mit?«, rief sie.
Gusse machte ein komisches Gesicht.
»Aber klar! Hab ich vergessen, wir nehmen unser Essen mit.«
Er kam zurück, hob die Tüten heraus.
»Die Propangasflaschen kann ich später holen«, sagte er.
Er schob die Autotür zu und ging auf dem Pfad in den Wald, sie folgte ihm. Es war bloß ein schmaler Trampelpfad. Äste und Zweige streiften ihre Arme, peitschten und piekten sie. Eine Weile lang war nur Gusses schwerer Atem zu hören, oder waren das die Tiere des Waldes, die einander zuflüsterten, dass jetzt jemand komme?
