Ein todsicherer Job - Christopher Moore - E-Book

Ein todsicherer Job E-Book

Christopher Moore

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Beschreibung

Zum Brüllen komisch und absolut hinreißend – eine liebenswerte Komödie der besonderen Art.

Charlie Ashers Welt ist perfekt, bis seine Frau Rachel bei der Geburt ihres ersten Kindes stirbt. Über Nacht ist Charlie nicht nur Vater, sondern auch Witwer. Und darüber scheint er den Verstand zu verlieren – anders kann er sich das Wesen in Minzgrün nicht erklären, das ihm immer wieder erscheint. Dann fallen auch noch wildfremde Menschen tot vor ihm um, und es stellt sich heraus, dass Charlie von ganz oben eine neue Aufgabe zugewiesen bekommen hat: Seelen einzufangen und sicher ins Jenseits zu befördern. Ein todsicherer Job, aber trotzdem nichts für Charlie …

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Seitenzahl: 614

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Buch

Eigentlich ist Charlie Asher ein recht liebenswerter Mensch: ein wenig neurotisch, vielleicht auch ein kleiner Hypochonder, aber alles in allem eher durchschnittlich. Er besitzt ein Haus in San Francisco sowie einen gut gehenden Secondhand-Laden, den er mit Hilfe von zwei überaus loyalen, aber leicht exzentrischen Mitarbeitern führt. Er ist mit der hübschen Rachel verheiratet, die ihn gerade wegen seiner Normalität liebt. Und Rachel und Charlie erwarten ihr erstes Kind. Alles könnte ewig so weitergehen, stünde nicht der Tag der Geburt bevor. Denn an diesem Tag verändert sich Charlies Leben schlagartig: Rachel stirbt kurz nach der Geburt ihrer Tochter Sophie, und Charlie glaubt, darüber verrückt zu werden. Denn er ist sich ziemlich sicher, dass in dem Moment von Rachels Tod neben ihrem Bett ein außergewöhnlich großer, schwarzer Mann in einem mintgrünen Anzug auftauchte – allerdings auch auf ebenso unerklärliche Weise plötzlich wieder verschwand. Da die Sicherheitskameras nur Aufnahmen von Charlie am Totenbett seiner Frau zeigen, schickt man ihn mit einigen Medikamenten versehen nach Hause. Doch kaum dort angekommen, häufen sich die merkwürdigen Ereignisse. Die Dinge in seinem Laden fangen an zu leuchten, mannshohe Raben nisten sich auf seinem Dach ein, und wildfremde Menschen fallen mausetot vor Charlie um. Und dann taucht auch noch der Mann im grünen Anzug wieder auf, der ihn endlich aufklärt: Auf Befehl von ganz oben ist Charlie ein neuer Job übertragen worden. Er soll die Seelen der Sterbenden einfangen, bevor die Mächte des Dunklen sie entführen können. Keine angenehme Arbeit, aber irgendjemand muss sie ja schließlich machen. Charlie sieht nur nicht ein, warum ausgerechnet er dazu auserkoren sein soll, und fordert den Tod heraus...

Autor

Der ehemalige Journalist Christopher Moore arbeitete als Dachdecker, Kellner, Fotograf und Versicherungsvertreter, bevor er anfing, Romane zu schreiben. Er wird von der Kritik zu Recht immer wieder mit Douglas Adams und Terry Pratchett verglichen. Der Autor lebt auf Hawaii und freut sich unter www.chrismoore.com auf einen virtuellen Besuch.

Christopher Moore

Ein todsicherer Job

 

Roman

 

Deutsch

von Jörn Ingwersen

 

 

 

 

 

 

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2006

unter dem Titel »A Dirty Job« bei William Morrow,

a division of HarperCollins Publishers Inc., New York

Deutsche Erstveröffentlichung Dezember 2006

Copyright © 2006 by Christopher Moore

Copyright © 2006 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Die Nutzung des Labels Manhattan erfolgt mit freundlicher

Genehmigung des Hans-im-Glück-Verlags, München

Redaktion: Ilse Wagner

Datenkonvertierung eBook: Kreutzfeldt Electronic Publishing GmbH, Hamburg

ISBN 978-3-641-01256-4 V003

www.goldmann-verlag.de

 

 

 

 

 

 

 

 

Was du suchst, wirst du nicht finden,

Denn als die Götter den Menschen erschufen, Behielten sie die Unsterblichkeit für sich.

Iss Gutes.

Sei tagtäglich guten Mutes,

Lass deine Tage voller Freude sein.

Lieb’ das Kind an deiner Hand.

Schenk deiner Frau das Glück in deinen Armen. Darum allein soll sich die Menschheit sorgen.

Gilgamesch-Epos

 

 

 

 

Charlie Asher wandelte auf Erden wie eine Ameise übers Wasser – als müsste er bei dem geringsten Fehltritt untergehen. Mit der Einbildungskraft eines Betamännchens blinzelte er sein Leben lang in die Zukunft, um herauszufinden, ob sich die Welt verschworen hatte, ihn umzubringen – ihn, seine Frau Rachel und die kleine Sophie, die eben erst zur Welt gekommen war. Doch trotz seiner Vorsicht, seiner Paranoia, seiner unablässigen Sorge, seit Rachel einen blauen Streifen auf ihren Schwangerschaftstest gepinkelt hatte, bis zu dem Moment, als man sie in die Aufwachstation des St. Francis Memorial gerollt hatte, schlich der Tod heran.

»Sie atmet nicht«, sagte Charlie.

»Sie atmet genau richtig«, sagte Rachel und klopfte dem Baby auf den Rücken. »Möchtest du sie halten?«

Charlie hatte die kleine Sophie schon vor einer Weile auf dem Arm gehabt, sie dann aber hastig an eine Krankenschwester weitergereicht und darauf bestanden, jemand, der qualifizierter sei als er, solle Finger und Zehen durchzählen. Er hatte es schon zweimal getan und kam jedes Mal auf einundzwanzig.

»Die tun gerade so, als sei nichts dabei. Als wäre alles in Ordnung, sobald ein Kind nur mindestens zehn Finger und zehn Zehen hat. Was ist mit Sonderausstattungen? Hm? Extrabonusfinger? Was ist, wenn es ein Schwänzchen hat?« (Charlie war überzeugt davon, dass er auf dem Sechs-Monats-Ultraschallbild einen kleinen Schwanz gesehen hatte. Von wegen Nabelschnur! Das Bild hatte er aufbewahrt.)

»Sie hat kein Schwänzchen, Mr. Asher«, erklärte die Krankenschwester. »Und es sind zehn und zehn. Wir haben genau nachgezählt. Vielleicht sollten Sie nach Hause gehen und sich etwas ausruhen.«

»Ich liebe sie trotzdem, auch wenn sie einen Finger mehr hat.«

»Sie ist absolut normal.«

»Oder einen Zeh.«

»Wir wissen, was wir tun, Mr. Asher. Sie ist ein hübsches, gesundes kleines Mädchen.«

»Oder ein Schwänzchen.«

Die Schwester seufzte. Sie war kurz und breit, mit einer tätowierten Schlange am rechten Unterschenkel, die durch ihre weißen Nylonstrümpfe schimmerte. Vier Stunden täglich verbrachte sie damit, Frühchen zu massieren, wobei sie ihre Hände durch Öffnungen im Brutkasten schob, als hätte sie es mit radioaktivem Material zu tun. Sie sprach mit ihnen, redete ihnen gut zu, dass sie etwas ganz Besonderes seien, und fühlte, wie die kleinen Herzen in Brustkörben flatterten, die kaum größer als ein Paar aufgerollte Tennissocken waren. Sie beweinte jedes einzelne Kind und glaubte fest daran, dass die Tränen und Berührungen etwas von ihrer eigenen Lebenskraft auf die winzigen Körper übertrugen. Sie hatte davon reichlich. Seit zwanzig Jahren war sie Säuglingsschwester, und noch nie hatte sie ihre Stimme gegen einen frischgebackenen Vater erhoben.

»Die Kleine hat aber keinen Schwanz. Sie Vollidiot! Hier!«

Sie riss die Decke zurück und hielt ihm den Babyhintern hin, als wollte sie eine Salve von waffenfähigem Urin auf das arglose Betamännchen abfeuern.

Charlie wich zurück, schlank und wendig mit seinen dreißig Jahren, doch als ihm einfiel, dass das Baby ja gar nicht geladen war, zupfte er mit einer Geste rechtschaffener Entrüstung das Revers an seinem Tweedjackett zurecht. »Er könnte im Kreißsaal entfernt worden sein, ohne dass wir etwas davon wüssten.« Er wusste es tatsächlich nicht. Man hatte ihn gebeten, den Kreißsaal zu verlassen, erst der Arzt, dann sogar Rachel. (»Er oder ich«, hatte sie gesagt. »Einer von uns beiden muss gehen.«)

In Rachels Zimmer sagte Charlie: »Falls man ihren Schwanz entfernt hat, werde ich ihn mir holen. Bestimmt will sie ihn haben, wenn sie älter ist.«

»Sophie, dein Papa ist nicht wirklich geisteskrank. Er hat nur ein paar Tage nicht geschlafen.«

»Sie guckt mich an«, sagte Charlie. »Sie guckt mich an, als hätte ich ihre Ausbildungsversicherung auf der Rennbahn verzockt, und jetzt muss sie fremden Männern gefügig sein, damit sie Ökonomie studieren kann.«

Rachel nahm seine Hand. »Liebling, ich glaube, in diesem Stadium kann sie noch gar nichts erkennen. Außerdem ist sie noch so klein. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen, dass sie fremden Männern gefügig sein muss, um Ökologie zu studieren.«

»Ökonomie«, verbesserte Charlie. »Heutzutage fangen sie früh an. Bis ich den Weg zur Rennbahn gefunden habe, könnte sie alt genug sein. Oh, Gott! Deine Eltern werden mich hassen.«

»Ist das was Neues?«

»Es gibt neue Gründe. Ich habe ihre Enkelin zur Schickse gemacht.«

»Sie ist keine Schickse, Charlie. Darüber haben wir doch schon gesprochen. Sie ist meine Tochter und genauso jüdisch wie ich.«

Charlie sank neben dem Bett auf die Knie und nahm Sophies winzige Hände zwischen seine Finger. »Es tut Daddy leid, dass er dich zur Schickse gemacht hat.« Er ließ den Kopf hängen, vergrub sein Gesicht zwischen Rachel und dem Baby. Rachel strich mit dem Fingernagel an seinem Haaransatz entlang.

»Du solltest nach Hause fahren und schlafen.«

Charlie murmelte etwas in die Decke. Als er aufblickte, hatte er Tränen in den Augen. »Sie fühlt sich warm an.«

»Sie ist auch warm. Das soll so sein. Es liegt daran, dass sie ein Säugetier ist. Hat mit dem Stillen zu tun. Warum weinst du?«

»Ihr beiden seid so wunderschön.« Er breitete Rachels dunkles Haar auf dem Kissen aus, drapierte eine lange Locke auf Sophies Kopf – wie eine Babyperücke.

»Ist schon okay, wenn ihr keine Haare wachsen. Es gab da mal so eine wütende, irische Sängerin, die keine Haare hatte und trotzdem ansehnlich war. Wenn wir ihr Schwänzchen hätten, könnten wir daraus vielleicht Haare transplantieren.«

»Charlie! Geh nach Hause!«

»Deine Eltern werden mir die Schuld geben. Ihre kahle Enkelin ist eine Schickse, die fremden Männern gefügig ist und Betriebswirtschaft studiert... wahrscheinlich kriege ich die Schuld an allem.«

Rachel nahm den Summer von ihrer Decke und hielt ihn hoch, als wäre er mit einer Bombe verdrahtet. »Charlie, ich schwöre dir: Wenn du nicht auf der Stelle nach Hause gehst und dich ausschläfst, rufe ich nach der Schwester und lass dich rauswerfen.«

Sie klang ernst, lächelte aber. Charlie hatte sie schon immer gern angesehen, wenn sie lächelte. Es fühlte sich an wie Zustimmung, Genehmigung. Die Lizenz, Charlie Asher zu sein.

»Okay, ich werde gehen.« Er fühlte ihre Stirn. »Hast du Fieber? Du siehst müde aus.«

»Ich habe eben ein Kind zur Welt gebracht, du Träumer!«

»Ich mach mir nur Sorgen um dich.« Er war kein Träumer. Sie gab ihm nur die Schuld an Sophies Schwänzchen, und deshalb nannte sie ihn »Träumer« und nicht »Vollidiot« wie alle anderen.

»Liebster, geh! Bitte! Damit ich mich ein bisschen ausruhen kann.«

Charlie schüttelte ihre Kissen auf, sah nach dem Wasserkrug, stopfte die Bettdecke fest, küsste ihre Stirn, küsste das Baby, schüttelte das Baby auf, dann fing er an, die Blumen umzuarrangieren, die seine Mutter geschickt hatte, holte die große, weiße Lilie nach vorn, rückte das Knabenkraut zurecht...

»Charlie! «

»Ja, doch! Ich geh ja schon!« Er sah sich noch mal im Zimmer um, dann schob er sich rückwärts zur Tür.

»Soll ich dir irgendwas von zu Hause mitbringen?«

»Ich bin gut versorgt. In dem Klinikkoffer, den du mir gepackt hast, ist alles drin. Es könnte sogar sein, dass ich den Feuerlöscher gar nicht brauche.«

»Besser, einen zu haben und ihn nicht zu brauchen, als einen zu brauchen und...«

»Geh! Ich ruh mich etwas aus. Der Arzt will sich Sophie noch mal ansehen, dann nehmen wir sie morgen mit nach Hause.« »Das scheint mir doch sehr bald zu sein.«

»Es ist normal.«

»Soll ich dir noch ein bisschen Propangas für den Campingkocher bringen?«

»Wir werden versuchen, ohne auszukommen.«

»Aber...«

Rachel hielt den Summer hoch, als drohte sie mit harschen Konsequenzen, falls man ihren Wünschen nicht entsprechen sollte. »Hab dich lieb«, sagte sie.

»Ich dich auch«, sagte Charlie. »Euch beide.«

»Bye, Daddy.« Wie eine Puppenspielerin winkte Rachel mit Sophies kleiner Hand.

Charlie hatte einen Kloß im Hals. Noch nie hatte jemand »Daddy« zu ihm gesagt, nicht mal eine Puppe. (Einmal hatte er Rachel beim Sex gefragt: »Wer ist dein Daddy?«, woraufhin sie »Saul Goldstein« antwortete. Danach war er eine Woche lang impotent gewesen, denn es warf alle möglichen Themen auf, über die er lieber gar nicht nachdenken wollte.)

Rückwärts ging er aus dem Zimmer und schloss die Tür ganz leise, dann lief er den Flur entlang, am Tresen vorbei, wo ihn die Krankenschwester mit dem Schlangen-Tattoo im Vorübergehen anlächelte.

 

Charlie fuhr einen sechs Jahre alten Minivan, den er von seinem Vater geerbt hatte, zusammen mit dem Secondhandladen und dem Gebäude, in dessen Erdgeschoss sich dieser befand. Schon immer hatte es im Lieferwagen leicht nach Staub, Mottenkugeln und Körpergeruch gestunken, trotz aller Duftbäumchen, die Charlie auf sämtliche Haken, Knöpfe und Knäufe verteilt hatte. Er öffnete die Fahrertür, und der Duft des Unerwünschten – die Ware eines Trödlers – zog über ihn hinweg.

Bevor er den Schlüssel überhaupt im Zündschloss hatte, sah er die Sarah-McLaughlin-CD auf dem Beifahrersitz. Rachel würde sie vermissen. Es war ihre Lieblings-CD, und jetzt musste sie ohne sie entspannen. Das wollte er nicht zulassen. Charlie griff sich die CD, schloss den Lieferwagen ab und machte sich auf den Weg zu Rachels Zimmer.

Zu seiner Erleichterung stand die Schwester nicht mehr hinterm Tresen, was ihm einen vorwurfsvollen Blick ersparte. Im Stillen hatte er eine kleine Ansprache darüber vorbereitet, dass ein guter Ehemann und Vater die Bedürfnisse seiner Frau vorauszusehen habe, und dazu gehöre eben auch, ihr Musik zu bringen... na ja, er konnte den kleinen Vortrag auch auf dem Rückweg halten, wenn sie ihn mit ihrem frostigen Blick bedachte.

Langsam schob er die Tür von Rachels Zimmer auf, um sie nicht zu erschrecken, erwartete ihr freundlich tadelndes Lächeln, doch sie schien zu schlafen, und ein sehr großer, schwarzer Mann im mintgrünen Anzug stand neben ihrem Bett.

»Was machen Sie da?«

Erschrocken fuhr der Mann in Mint herum. »Sie können mich sehen?« Er deutete auf seine schokoladenfarbene Krawatte, und eine Sekunde lang fühlte sich Charlie an diese dünnen Pfefferminztaler erinnert, die in besseren Hotels auf den Kopfkissen lagen.

»Natürlich kann ich Sie sehen. Was machen Sie hier?«

Charlie trat an Rachels Bett, drängte sich zwischen den Fremden und seine Familie. Die kleine Sophie schien von dem großen, schwarzen Mann ganz fasziniert zu sein.

»Das ist nicht gut«, sagte der Mintmann.

»Sie sind im falschen Zimmer«, sagte Charlie. »Raus hier!« Charlie langte hinter sich und tätschelte Rachels Hand.

»Das ist wirklich, wirklich nicht gut.«

»Sir, meine Frau versucht zu schlafen, und Sie sind im falschen Zimmer. Wenn Sie jetzt bitte gehen würden, bevor ich...«

»Sie schläft nicht«, sagte Mintmann. Seine Stimme war sanft, klang nach Südstaaten. »Tut mir leid.«

Charlie drehte sich um und sah Rachel an, erwartete, sie lächeln zu sehen, doch sie hatte die Augen geschlossen, und ihr Kopf war neben das Kissen gesunken.

»Liebling?« Charlie ließ die CD fallen und schüttelte sie vorsichtig.

Die kleine Sophie fing an zu schreien. Charlie fühlte Rachels Stirn, nahm sie bei den Schultern und rüttelte sie. »Liebling, wach auf! Rachel! « Er hielt sein Ohr an ihr Herz und hörte nichts. »Schwester!«

Charlie hechtete über das Bett, um den Summer zu nehmen, der Rachel aus der Hand gefallen war, und lag quer auf der Decke. »Schwester!« Er drückte den Knopf und drehte sich zu dem Mann in Mint um. »Was ist passiert...?«

Er war weg.

Charlie rannte auf den Flur hinaus, doch da war niemand. »Schwester!«

Zwanzig Sekunden später kam die Schwester mit dem Schlangen-Tattoo, dreißig Sekunden darauf gefolgt vom Wiederbelebungsteam mit einem Rollwagen.

Sie konnten nichts mehr tun.

 

 

 

 

Frische Trauer besitzt eine besondere Schärfe, die die Nerven kappt und die Wirklichkeit abtrennt... eine scharfe Klinge ist barmherzig. Erst nach einer Weile, wenn die Schneide stumpf wird, setzt der echte Schmerz ein.

Deshalb merkte Charlie auch nichts von seinem Geschrei in Rachels Zimmer, von den Beruhigungsmitteln, die man ihm verabreichte, von dieser elektrisierten Hysterie, die sich wie ein Film über alles legte, was er an jenem ersten Tag tat. Danach war alles nur noch wie die Erinnerung eines Schlafwandlers, gefilmt aus der Augenhöhle eines Zombies, und wie ein Untoter taumelte er durch Vorwürfe, Erklärungen, Vorkehrungen und Formalitäten.

»Man spricht von zerebraler Thromboembolie«, hatte der Arzt gesagt. »Während der Wehen bildet sich in den Beinen oder in der Hüfte ein kleiner Blutklumpen, der dann zum Gehirn wandert und die Blutzufuhr unterbricht. Sehr selten, aber es kommt vor. Wir konnten nichts machen. Selbst wenn es dem Notfallteam gelungen wäre, sie wiederzubeleben, hätte ihr Hirn schweren Schaden genommen. Sie hatte keine Schmerzen. Vermutlich wurde sie nur müde und ist dann eingeschlafen.«

Charlie flüsterte, um nicht schreien zu müssen. »Dieser Mann in Mintgrün! Er hat irgendwas mit ihr angestellt. Er hat ihr etwas injiziert. Er war da, und er wusste, dass sie im Sterben lag. Ich habe ihn gesehen, als ich ihr die CD bringen wollte.«

Sie zeigten ihm das Überwachungsvideo. Die Schwester, der Arzt, die Krankenhausleitung und die Anwälte – sie alle sahen sich die schwarzweißen Bilder an, wie er aus Rachels Zimmer kam, dann den leeren Flur und schließlich, wie er wieder in ihr Zimmer ging. Kein großer, schwarzer Mann in Mint. Sie fanden nicht mal die CD, von der er sprach.

Schlafentzug, sagten sie. Halluzinationen, hervorgerufen durch Erschöpfung. Trauma. Man gab ihm Medikamente zum Schlafen, Medikamente gegen Angst, Medikamente gegen Depressionen, und dann schickten sie ihn mit seiner kleinen Tochter nach Hause.

Charlies ältere Schwester Jane hielt die kleine Sophie im Arm, als sie Rachel zwei Tage später begruben. Er konnte sich nicht erinnern, einen Sarg ausgesucht oder sonstige Arrangements getroffen zu haben. Es war wieder dieser somnambule Traum: Die angeheirateten Verwandten rannten hin und her, wie taumelnde Gespenster, und gaben unangemessene Kondolenzklischees von sich: »Es tut uns so leid. Sie war so jung. Eine Tragödie. Wenn wir irgendetwas tun können...«

Rachels Vater und Mutter umarmten ihn, so dass sie die Köpfe wie ein dreibeiniges Stativ zusammensteckten. Tränen tropften auf die Schieferplatten im Foyer des Beerdigungsinstitutes. Jedes Mal, wenn Charlie spürte, dass die Schultern des alten Mannes bebten, brach sein Herz von neuem. Saul nahm Charlies Gesicht in die Hände und sagte: »Du kannst es dir nicht vorstellen, denn ich kann es mir nicht vorstellen.« Doch Charlie konnte es sich vorstellen, denn er war ein Betamännchen. Vorstellungskraft war sein Fluch, und er konnte es sich sehr wohl vorstellen, denn er hatte Rachel verloren und jetzt eine Tochter, diese winzig kleine Unbekannte, die dort in den Armen seiner Schwester lag. Er konnte sich gut vorstellen, wie der Mann in Mint sie ihm genommen hatte.

Charlie blickte vom tränenfeuchten Boden auf und sagte: »Deshalb sind Beerdigungsinstitute mit Teppichen ausgelegt. Man könnte ausrutschen.«

»Armer Junge«, sagte Rachels Mutter. »Selbstverständlich sitzen wir shiva mit dir.«

Charlie bahnte sich einen Weg quer durch den Raum zu seiner Schwester Jane im dunkelgrauen Zweireiher aus Nadelstreifen-Gabardine, in dem sie – mit ihrer gegelten Eighties-PopstarFrisur und dem Baby in pinkfarbener Decke auf dem Arm – nicht so sehr androgyn, als eher etwas ratlos aussah. Ihr stand der Anzug besser als ihm, aber trotzdem fand Charlie, sie hätte ihn um Erlaubnis bitten sollen.

»Ich kann das nicht«, sagte er. Er beugte sich vor, bis seine Halbinsel aus dunklem Haar ihren platinblonden Flock-of-Seagulls-Flip berührte. Das schien die beste Haltung für gemeinsame Trauer zu sein, und es kam ihm vor, als stünde er betrunken an einem Pinkelbecken und lehnte sich mit dem Kopf an die Wand. Verzweiflung.

»Du hältst dich wacker«, sagte Jane. »Niemand kann so was gut.«

»Was ist denn eigentlich Shiva?«

»Ich glaube, diese Hindu-Göttin mit den vielen Armen.« »Das kann nicht stimmen. Die Goldsteins wollen mit mir darauf sitzen.«

»Hat Rachel dir denn nichts über jüdische Bräuche beigebracht?«

»Hab nicht aufgepasst. Ich dachte, wir hätten noch Zeit.«

Jane schob sich die kleine Sophie auf die Schulter und strich Charlie mit der freien Hand über den Rücken. »Wird schon werden, Kleiner.«

 

»Sieben«, sagte Mrs. Goldstein. »Shiva bedeutet ›Sieben‹. Früher haben wir sieben Tage beisammen gesessen, gebetet und die Toten betrauert. Das ist orthodox. Heutzutage sitzen die meisten nur drei Tage.«

Sie saßen shiva in Charlies und Rachels Apartment mit Blick auf die Cable Cars an der Ecke Mason und Vallejo Street. Das Gebäude war ein vierstöckiger, edwardianischer Backsteinbau (architektonisch nicht ganz der pompöse Kurtisanenstil der Viktorianer, aber doch so nuttig, dass sich manch ein Seemann in der Seitenstraße darauf einen runterholen mochte), erbaut nach dem Erdbeben und dem Brand von 1906, dem das ganze Viertel dessen, was heute North Beach, Russian Hill und China Town ist, zum Opfer fiel. Charlie und Jane hatten das Haus und den Laden im Erdgeschoss geerbt, als ihr Vater vor vier Jahren starb. Charlie bekam das Geschäft, die große Doppelwohnung, in der sie aufgewachsen waren, und dazu die Instandhaltungskosten des alten Gebäudes aufs Auge gedrückt, während Jane die Hälfte der Mieteinnahmen und das oberste Apartment mit Blick auf die Bay Bridge erbte.

Auf Mrs. Goldsteins Anweisung hin waren sämtliche Spiegel im Haus mit schwarzem Stoff verhängt, und auf dem Kaffeetisch mitten im Wohnzimmer stand eine große Kerze. Man sollte auf niedrigen Bänken oder Kissen sitzen, was Charlie beides nicht im Haus hatte, und so ging er zum ersten Mal seit Rachels Tod hinunter in den Laden, um nachzusehen, ob er was Brauchbares finden konnte. Die Hintertreppe führte von einer Speisekammer neben der Küche direkt ins Lager, wo Charlie sein Büro hatte, zwischen Kisten voller Waren, die sortiert, ausgezeichnet und eingeräumt werden mussten.

Der Laden war dunkel – bis auf das Licht, das von den Laternen draußen auf der Mason Street durchs Schaufenster fiel. Charlie stand am Fuß der Treppe, mit einer Hand am Lichtschalter, und starrte ins Dunkel. Überall auf den Regalen voller Bücher und Krimskrams, zwischen alten Radios und Kleiderständern leuchtete es rot, pulsierte fast wie pochende Herzen. Ein Sweater auf dem Ständer, ein Porzellanfrosch in der Grabbelkiste, vorn beim Schaufenster ein altes Coca-Cola-Tablett, ein Paar Schuhe. Alles rot.

Charlie drückte den Schalter, dass die Neonröhren an der Decke flackerten und es hell im Laden wurde. Das rote Leuchten war verschwunden. »Okaaaaay«, sagte er zu sich selbst, ganz ruhig, als wäre jetzt alles in Ordnung. Dann knipste er das Licht wieder aus. Rotes Leuchten. Auf dem Tresen, nicht weit von ihm, stand ein Visitenkartenhalter aus Messing in Form eines schreienden Kranichs und leuchtete matt. Er nahm sich den Moment, ihn näher zu betrachten, um sicherzugehen, dass nicht von irgendwo draußen rotes Licht hereinschien. Er betrat den dunklen Laden, sah sich den Kranich von allen Seiten an. Nein, das Messing pulsierte. Definitiv. Er machte kehrt und hastete – so schnell er konnte – die Treppe hinauf.

Fast rannte er Jane über den Haufen, die Sophie sanft in ihren Armen wiegte und leise mit ihr sprach.

»Was?«, sagte Jane. »Ich weiß genau, dass da unten irgendwo große Kissen sein müssen.«

»Ich kann nicht«, sagte Charlie. »Ich steh unter Drogen.« Er baute sich vor dem Kühlschrank auf, als wollte er sich daran festketten.

»Ich geh ja schon. Hier, nimm das Baby.«

»Ich kann nicht. Ich bin auf Droge. Ich habe Halluzinationen.«

Jane hielt das Baby in der rechten Armbeuge und nahm ihren Bruder in den Arm. »Charlie, du hast Antidepressiva und Beruhigungsmittel genommen, kein Acid. Sieh dich um. Du wirst in dieser Wohnung niemanden finden, der nicht in irgendeiner Form zugedröhnt ist. « Die Durchreiche ermöglichte einen Blick ins Wohnzimmer: Frauen in Schwarz, die meisten um die Fünfzig oder älter, schüttelten die Köpfe, die Männer wirkten ungerührt, standen im Wohnzimmer herum, alle mit einem Glas voll Alkohol. Sie starrten ins Nichts.

»Siehst du? Die sind doch alle breit.«

»Was ist mit Mom?« Charlie nickte zu seiner Mutter hinüber, die aus dem Pulk der grauhaarigen Frauen in Schwarz herausstach, weil sie mit Navajo-Schmuck behängt und so braungebrannt war, dass sie sich in ihrem »Old Fashioned«-Cocktail aufzulösen schien, wenn sie davon trank.

»Mom ganz besonders«, sagte Jane. »Ich such was, worauf man shiva sitzen kann. Obwohl ich nicht verstehe, wieso man nicht auf dem Sofa sitzen darf. Jetzt nimm endlich deine Tochter.«

»Ich kann nicht. Mir ist nicht zu trauen.«

»Nimm sie, Schwachkopf!«, bellte Jane ins Charlies Ohr, so etwas wie ein Flüsterbellen. Die beiden hatten schon lange geklärt, wer hier das Alphamännchen war, und Charlie war es nicht. Sie reichte ihm das Baby und steuerte die Treppe an.

»Jane!«, rief ihr Charlie nach. »Sieh dich um, bevor du Licht machst. Guck nach, ob dir was komisch vorkommt, okay?«

»Aha. Komisch also.«

Sie ließ ihn in der Küche stehen, wo er seine Tochter betrachtete und dachte, dass ihr Kopf zwar etwas eckig wirkte, sie ansonsten aber Rachel ähnlich sah. »Deine Mama mochte Tante Jane«, sagte er. »Die beiden haben sich bei Risiko immer gegen mich verbündet – und bei Monopoly – und bei Diskussionen – und beim Kochen...« Er rutschte an der Kühlschranktür herab und saß mit gespreizten Beinen auf dem Boden, vergrub sein Gesicht in Sophies Decke.

Im Dunkeln stieß Jane mit dem Schienbein gegen eine Holzkiste mit alten Telefonen. »Also, das ist doch bescheuert«, sagte sie und machte Licht. Da war nichts komisch. Und dann – weil Charlie alles Mögliche war, nur nicht verrückt – machte sie das Licht wieder aus, um sicherzugehen, dass ihr nichts entgangen war. »Na klar. Sehr komisch.«

Das einzig Komische im Laden war, dass sie dort im Dunkeln stand und ihr Schienbein rieb. Doch dann, kurz bevor sie das Licht wieder anmachte, sah sie jemanden, der durchs Schaufenster hereinschaute. Er schirmte seine Augen ab, um im Licht der Straßenlaternen etwas zu erkennen. Ein Obdachloser oder ein betrunkener Tourist, dachte sie. Sie schob sich durch den dunklen Laden, zwischen Türmen von Comicheften hindurch, die sich am Boden stapelten, bis dorthin, wo sie hinter einem Jackenständer einen Blick auf das Schaufenster werfen konnte, das mit billigen Kameras, Vasen, Gürtelschnallen und allem möglichen vollgestopft war, was Charlies Ansicht nach von Interesse, aber natürlich keinen Einbruch wert war.

Der Mann sah groß aus, mitnichten obdachlos, gut gekleidet, wenn auch einfarbig. Es sah gelblich aus, aber im Licht der Laternen war das schwer zu sagen. Konnte auch hellgrün sein.

»Wir haben geschlossen«, sagte Jane laut genug, dass man sie durch die Scheibe hören konnte.

Der Mann da draußen sah sich im Laden um, konnte sie aber nicht finden. Er trat von der Scheibe zurück, und da sah sie erst, wie groß er wirklich war. Sehr groß. Licht von der Laterne fiel auf seine Wange, als er sich umwandte. Er war ausgesprochen dünn und ausgesprochen schwarz.

»Ich suche den Besitzer«, sagte der große Mann. »Ich muss ihm etwas zeigen.«

»Es gab einen Todesfall in der Familie«, sagte Jane. »Wir haben diese Woche geschlossen. Könnten Sie nächste Woche wiederkommen?«

Der große Mann nickte, sah sich auf der Straße um. Er wippte auf einem Fuß, als wollte er gleich losrennen, musste sich aber bremsen wie ein Sprinter vor dem Start. Jane rührte sich nicht. Es waren immer Leute draußen auf der Straße, und es war ja noch nicht spät, aber dieser Typ war zu nervös für diese Situation. »Hören Sie, wenn Sie etwas schätzen lassen wollen...«

»Nein.« Er fiel ihr ins Wort. »Nein. Sagen Sie ihm einfach, sie ist... nein. Sagen Sie ihm, er soll auf ein Päckchen achten, das mit der Post kommt. Ich weiß nicht genau, wann.«

Jane lächelte in sich hinein. Der Typ hatte irgendetwas – eine Brosche, eine Münze, ein Buch –, von dem er glaubte, dass es vielleicht etwas wert sein mochte. Wahrscheinlich hatte er es in der Kommode seiner Großmutter gefunden. Dutzende Male hatte sie es schon erlebt. Sie taten, als hätten sie die untergegangene Stadt Eldorado entdeckt, trugen es unter ihren Mänteln oder eingewickelt in tausend Lagen Taschentuch und Klebeband. (Je mehr Klebeband, desto wertloser war der Gegenstand normalerweise – da ließ sich bestimmt eine Gleichung aufstellen.) In neunzig Prozent der Fälle war es Schrott. Sie hatte erlebt, wie ihr Vater alles tat, um das Ego der Besitzer zu schonen, sie langsam auf die Enttäuschung vorzubereiten und davon zu überzeugen, dass der Erinnerungswert manche Dinge unbezahlbar machte, und er – bescheidener Gebrauchtwarenhändler, der er war – sich nicht erdreisten wollte, einen Preis dafür zu nennen. Charlie dagegen erklärte ihnen nur, er verstünde nichts von Broschen oder Münzen oder was sie sonst noch bei sich haben mochten, und überließ es anderen, die schlechte Nachricht zu überbringen.

»Okay, ich sag es ihm«, rief Jane aus ihrer Deckung hinter den Mänteln hervor.

Daraufhin verschwand der Mann, stakste wie eine Gottesanbeterin mit Riesenschritten die Straße hinauf und war nicht mehr zu sehen. Jane zuckte mit den Schultern, ging zurück und machte Licht, dann suchte sie zwischen den Stapeln nach Kissen.

Der Laden war groß, nahm fast das gesamte Erdgeschoss in Anspruch, und war nicht besonders gut sortiert, da alle Ordnungssysteme, die Charlie ausprobierte, schon nach wenigen Wochen unter ihrem eigenen Gewicht zu kollabieren schienen, was nicht so sehr ein organisatorisches Flickwerk mit sich brachte, sondern einen Garten kunterbunter Stapel. Lily, das rothaarige Gruftimädchen, das drei Nachmittage die Woche bei Charlie arbeitete, sagte, der Umstand, dass sie nie etwas fand, sei der Beweis, dass hier die Chaostheorie praktische Anwendung fand, nur um sich dann murmelnd davonzumachen, in der Gasse hinter dem Haus Nelkenzigaretten zu rauchen und in die Hölle zu starren. (Wobei Charlie aufgefallen war, dass die Hölle einem Müllcontainer verdächtig ähnlich sah.)

Zehn Minuten brauchte Jane, um die Inseln zu umschiffen und drei Kissen aufzutreiben, die breit und dick genug zu sein schienen, dass man darauf shiva sitzen konnte, und als sie wieder in Charlies Wohnung kam, fand sie ihren Bruder eingerollt auf dem Küchenfußboden, in Embryonalstellung, mit der kleinen Sophie vor dem Bauch, eingeschlafen. Die anderen Trauergäste hatten ihn total vergessen.

»Hey, Schwachkopf.« Sie stieß mit dem Zeh an seine Schulter, und er rollte auf den Rücken, hielt das Baby im Arm. »Sind die Kissen okay?«

»Hast du gesehen, dass es leuchtet?«

Jane ließ den Kissenstapel fallen. »Was?«

»Das rote Leuchten! Hast du im Laden was Leuchtendes gesehen? Was Rotes, Pulsierendes?«

»Nein. Du?«

»Glaub schon.«

»Lass sie weg.«

»Wen?«

»Die Medikamente. Gib sie zurück. Offenbar sind sie viel besser, als du zugibst.«

»Aber du hast doch gesagt, sie sind nur gegen Angstzustände.«

»Lass die Finger von den Drogen. Ich pass auf die Kleine auf, solange du shiva sitzt.«

»Du darfst nicht auf meine Tochter aufpassen, wenn du unter Drogen stehst.«

»Auch gut. Gib mir die kleine Sabberschnute und setz dich hin.«

Charlie reichte Jane das Baby. »Außerdem musst du Mom ruhig stellen.«

»O nein. Nicht ohne Drogen.«

»Die sind im Medizinschrank im Badezimmer. Unterstes Fach.«

Inzwischen hockte er am Boden, rieb sich die Stirn, als wollte er die Haut straffen. Sie stieß mit dem Knie an seine Schulter.

»Hey, Kleiner. Es tut mir ehrlich leid. Das weißt du, hm? Muss ich nicht erst sagen, oder?«

»Nein.« Ein schwaches Lächeln.

Sie hob das Baby hoch, betrachtete es liebevoll, spielte die Mutter Jesu. »Was meinst du? Sollte ich mir auch so was besorgen?«

»Du kannst meines jederzeit leihen, wenn du möchtest.« »Nein, nein. Ich sollte mir selbst eines klauen.«

»Jane!«

»Kleiner Scherz! Meine Güte. Manchmal bist du so ein Weichei. Geh und sitz shiva. Geh. Geh. Geh.«

Charlie sammelte die Kissen ein und ging ins Wohnzimmer, um mit seinen Verwandten zu trauern, etwas nervös, denn das einzige Gedicht, das er kannte, war »Müde bin ich, geh zur Ruh«, und er hatte so eine Ahnung, dass es ihn nicht drei Tage über Wasser halten würde.

Jane vergaß völlig, den großen Mann draußen vor dem Schaufenster zu erwähnen.

 

 

 

 

Es dauerte zwei Wochen, bis Charlie wieder vor die Tür ging und zum Geldautomaten an der Columbus Avenue spazierte, wo er seinen ersten Mitbürger tötete. Die Waffe seiner Wahl war der 41er-Bus auf dem Weg von der Trans-Bay-Station zum Presidio an der Golden Gate Bridge. Will man sich in San Francisco von einem Bus überfahren lassen, ist der 41er die beste Wahl, denn er bietet einen hübschen Ausblick auf die Brücke.

Charlie war nicht wirklich darauf vorbereitet gewesen, dass er an diesem Morgen jemanden umbringen würde. Er wollte ein paar Zwanziger für die Ladenkasse holen, nach seinem Konto sehen und vielleicht etwas gelben Senf vom Laden an der Ecke holen. (Charlie war kein Freund von braunem Senf. Der war wie Fallschirmspringen: okay für Rennfahrer und Serienkiller. Ihm persönlich verschaffte ein Hauch von französischem Senf alle Würze, die er im Leben brauchte.) Nach der Beerdigung war ein ganzer Berg von Aufschnitt in Charlies Kühlschrank zurückgeblieben, so dass er seit zwei Wochen nichts anderes aß, aber jetzt war nur noch Schinken, dunkles Brot und Babybrei übrig, ungenießbar ohne gelben Senf. Er hatte die kleine Plastikflasche in der Tasche und fühlte sich schon erheblich besser, doch als der Bus den Mann überrollte, war an Senf nicht mehr zu denken.

Es war ein warmer Oktobertag, das Licht über der Stadt war weich und herbstlich, der Nebel walzte nicht mehr jeden Morgen gnadenlos im Schneckentempo aus der Bucht, und es wehte gerade so viel Wind, dass die paar Segelboote draußen auf der Bay aussahen, als posierten sie für einen impressionistischen Maler. In dem Sekundenbruchteil, in dem Charlies Opfer klar wurde, dass es unter die Räder kommen würde, wusste es dies vielleicht nicht zu schätzen, doch hätte es sich keinen besseren Tag aussuchen können.

Der Mann hieß William Creek. Er war zweiunddreißig Jahre alt und arbeitete als Marktanalyst im Bankenviertel, wohin er an diesem Morgen gerade wollte, als er beschloss, kurz am Geldautomaten anzuhalten. Er trug einen leichten Anzug und Sneakers, hatte seine Arbeitsschuhe in der Ledermappe unter seinem Arm. Der Griff eines kleinen Taschenschirms ragte aus seiner Mappe hervor und weckte Charlies Interesse, denn obwohl der Griff des Schirms aus Walnussimitat zu bestehen schien, glühte er doch, als sollte er geschmiedet werden.

Charlie stand in der Schlange und versuchte, nicht darauf zu achten, gab sich desinteressiert, aber er musste einfach hinsehen. Das Ding glühte! Sah das denn keiner?

William Creek wandte sich kurz um, als er seine Geldkarte in den Automaten schob, merkte, dass Charlie ihn anstarrte, und gab sich Mühe, sein Jackett wie Mantaflügel auszubreiten, damit Charlie nicht sehen konnte, wie er seine Geheimnummer eintippte. Creek nahm seine Karte und das Geld, machte kehrt und steuerte zielstrebig auf die Straßenecke zu.

Charlie hielt es nicht länger aus. Dieser Regenschirmgriff pulsierte wie ein pochendes Herz. Als Creek am Bordstein stand, sagte Charlie: »Entschuldigung! Entschuldigen Sie, Sir!«

Als Creek sich umdrehte, sagte Charlie: »Ihr Schirm...«

In diesem Moment überquerte der 41er-Bus die Kreuzung Columbus und Vallejo mit gut fünfzig Sachen und steuerte für seinen nächsten Halt den Bordstein an. Creek starrte auf die Mappe unter seinem Arm, weil Charlie darauf deutete, und blieb mit dem Absatz seines Schuhs am schrägen Bordstein hängen. Er verlor das Gleichgewicht, wie es jedem von uns tagtäglich passieren kann, wenn wir durch die Stadt laufen, über einen Riss im Gehweg stolpern und ein paar schnelle Schritte machen, um die Balance wiederzufinden, doch William Creek machte nur einen einzigen Schritt. Rückwärts. Vom Bordstein.

Da gibt es wohl nichts zu beschönigen, oder? Der 41er-Bus nahm ihn auf die Hörner. Creek flog fast fünfzehn Meter durch die Luft, bevor er wie ein fleischgefüllter Gabardinesack auf die Heckscheibe eines Saab schlug, dann wieder auf dem Gehweg landete und Körperflüssigkeiten von sich gab. Seine Habe – die Mappe, der Schirm, eine goldene Krawattennadel, eine TAGHeuer-Uhr – klapperte die Straße hinunter, prallte von Reifen, Schuhen, Gullydeckeln ab und blieb zum Teil erst an der nächsten Kreuzung liegen.

Charlie stand am Bordstein und versuchte zu atmen. Er hörte so einen Pfiff wie vom Schaffner einer Spielzeugeisenbahn, hörte nichts anderes, bis ihn jemand anrempelte und er merkte, dass es sein eigenes, rhythmisches Wimmern war. Dieser Mann – der Mann mit dem Regenschirm – lebte nicht mehr. Leute kamen angelaufen, ein gutes Dutzend bellte in die Handys, der Busfahrer rannte Charlie fast über den Haufen, als er den Bürgersteig entlang zu dem Blutbad lief. Charlie taumelte ihm nach.

»Ich wollte ihn gerade fragen...«

Niemand beachtete Charlie. Seine ganze Willenskraft und aufmunternde Worte seiner Schwester waren nötig gewesen, damit er überhaupt wieder vor die Tür ging, und dann das...

»Ich wollte ihm gerade erklären, dass sein Schirm brennt«, sagte Charlie, als müsste er sich rechtfertigen. Aber niemand machte ihm einen Vorwurf. Sie hetzten an ihm vorbei, manche hin zur Leiche, andere weg davon, rempelten ihn an und sahen sich um, als hätte sie ein kalter Windhauch angeweht, oder ein Gespenst.

»Der Schirm«, sagte Charlie, auf der Suche nach dem Beweisstück. Dann fand er ihn, fast unten an der nächsten Ecke, im Rinnstein, immer noch rot glühend, flackernd wie eine defekte Neonröhre. »Da! Seht doch!« Aber die Leute standen im weiten Halbkreis um den toten Mann, hielten ihre Hände vor die Münder. Niemand beachtete den dürren, verschreckten Kerl, der hinter ihnen Unsinn von sich gab.

Charlie ließ die Menge hinter sich, wollte den Regenschirm aus der Nähe betrachten. Er blickte auf, vergewisserte sich, dass kein Bus kam, bevor er auf die Straße trat. Eben sah er wieder hin, als eine kleine, schwarze Hand aus dem Gully kam und sich den Schirm schnappte.

Charlie wich zurück, drehte sich um, suchte jemanden, der gesehen hatte, was er gesehen hatte, fand aber keinen. Niemand suchte auch nur Blickkontakt. Ein Polizist trabte vorbei, und Charlie hielt ihn am Ärmel fest, doch als der Mann sich umwandte, sah ihn dieser erst erstaunt und dann entgeistert an. Charlie ließ ihn los. »Verzeihung«, sagte er. »Tut mir leid. Ich sehe, Sie haben zu tun... Entschuldigen Sie.«

Der Cop schüttelte sich, dann drängte er durch die gaffende Menge zum toten William Creek.

Charlie rannte los, über die Columbus Avenue, die Vallejo rauf, bis sein Keuchen und Herzrasen den Lärm der Straße übertönten. Als er noch etwa einen Block von seinem Laden entfernt war, zog ein gigantischer Schatten über ihn hinweg wie ein Tiefflieger oder ein riesiger Vogel, und Charlie spürte, wie es ihm kalt über den Rücken lief. Er ließ den Kopf sinken, pumpte mit den Armen und nahm die Ecke an der Mason Street, als eben ein Cable Car vorüberfuhr, randvoll mit seligen Touristen, die glatt durch ihn hindurch sahen. Er blickte auf, ganz kurz nur, und meinte, hoch oben über der Straße etwas wahrzunehmen, das hinter dem Dach des sechsstöckigen Altbaus auf der anderen Straßenseite verschwand. Dann spurtete er durch die Ladentür in sein Geschäft.

»Hey, Boss«, sagte Lily. Sie war sechzehn, blass und birnenförmig, die frauliche Figur irgendwo zwischen Babyspeck und Kinderkriegen. Heute war ihr Haar lavendelfarben: Fiftys-Hausfrauenfrisur, farblich wie die Folie an einem Präsentkorb.

Charlie lehnte an der Tür, halb über eine Kiste gebeugt, sog mit rasselndem Atem die muffige Luft seines Trödelladens in sich hinein. »Ich – glaub – ich – hab – eben – jemanden – ermordet«, keuchte er.

»Ausgezeichnet«, sagte Lily und ignorierte Botschaft und Verhalten gleichermaßen. »Wir brauchen Kleingeld für die Kasse.« »Mit einem Bus«, sagte Charlie.

»Ray hat angerufen«, sagte sie. Ray Macy war Charlies anderer Angestellter, ein neununddreißigjähriger Junggeselle, dem es in ungesundem Maß an klaren Grenzen zwischen Internet und Wirklichkeit mangelte. »Er ist in Manila, um die Liebe seines Lebens zu treffen. Eine Miss LoveYouLongTime. Ray ist überzeugt davon, dass sie Seelenverwandte sind.«

»Da war was im Gully«, sagte Charlie.

Lily begutachtete einen Riss in ihrem schwarzen Nagellack. »Also hab ich die Schule geschwänzt, um einzuspringen. Das mach ich schon, seit du – äh – ausfällst. Ich werd ’ne Entschuldigung brauchen.«

Charlie richtete sich auf und trat an den Verkaufstresen. »Lily, hast du gehört, was ich eben gesagt habe?«

Er nahm sie bei den Schultern, aber sie machte sich von ihm los. »Autsch! Scheiße! Finger weg, Asher, du Sado-Freak, das ist mein neues Tattoo. « Sie boxte ihm an den Arm, wich zurück und rieb ihre Schulter. »Ich hab dich gehört. Komm wieder runter, s’il vous plait! « Seit Lily Baudelaires Die Blumen des Bösen im Hinterzimmer auf einem Stapel gebrauchter Bücher gefunden hatte, spickte sie ihre Sätze mit französischen Phrasen. »Im Französischen lässt sich die profunde Noirness meiner Existenz weit treffender zum Ausdruck bringen«, sagte sie.

Charlie legte beide Hände auf den Tresen, damit sie nicht so zitterten, dann sprach er langsam und bedächtig wie mit jemandem, für den Englisch eine Fremdsprache war. »Lily, ich habe einen echt beschissenen Monat und weiß es zu schätzen, dass du deine Zukunft wegwirfst, um herzukommen und es dir an meiner Stelle mit den Kunden zu verscherzen, aber wenn du dich jetzt nicht sofort hinsetzt und etwas Anstand und Menschlichkeit an den Tag legst, werde ich dich leider entlassen müssen.«

Lily setzte sich auf den Chrom-und-Plastik-Hocker hinter dem Tresen und schob sich die langen, lavendelfarbenen Strähnen aus den Augen. »Du möchtest also, dass ich gut zuhöre, weil du einen Mord gestehen willst? Soll ich mir Notizen machen oder einen alten Kassettenrekorder vom Regal holen und alles aufnehmen? Willst du mir etwa erzählen, ich wäre rücksichtslos, weil ich versuche, deine offensichtliche Anspannung zu ignorieren, die ich später der Polizei gegenüber werde erwähnen müssen, damit ich dann persönlich dafür verantwortlich bin, dass du in der Gaskammer landest?«

Charlie lief es eiskalt über den Rücken. »Himmelarsch, Lily! « Die Schnelligkeit und Präzision ihrer Gruseligkeit überraschte ihn immer wieder. Sie war wie ein Wunderkind der Gruseligkeit. Glücklicherweise führte ihm ihre extreme Schwarzseherei vor, dass er vermutlich doch nicht in der Gaskammer enden würde.

»So ein Mord war das nicht. Irgendwas hat mich verfolgt, und...«

»Schweig!« Lily hob die Hand. »Es wäre mir lieber, nicht meinen Arbeitseifer bekunden zu müssen, indem ich sämtliche Details deines grässlichen Verbrechens meinem fotografischen Gedächtnis anheim gebe, um es später vor Gericht aussagen zu können. Ich werde einfach behaupten, ich hätte dich gesehen und du hättest auf mich einen ganz normalen Eindruck gemacht – für jemanden der auch sonst von nichts ’ne Ahnung hat.«

»Du hast kein fotografisches Gedächtnis.«

»Hab ich wohl, und es ist ein Fluch. Nie werde ich vergessen, wie sinnlos...«

»Letzten Monat hast du mindestens achtmal vergessen, den Müll rauszubringen.«

»Hab ich nicht.«

Charlie atmete tief ein. Die vertraute Streiterei mit Lily beruhigte ihn ein wenig. »Okay, also, ohne hinzusehen: Welche Farbe hat dein Hemd?« Er zog die Augenbrauen hoch, als hätte er sie erwischt.

Lily grinste, und einen Moment lang sah er, dass sie noch ein Kind war, irgendwie süß und ein bisschen doof hinter ihrem dicken Make-up und der Pose. »Schwarz.«

»Du hast geraten.«

»Du weißt, dass ich nur schwarze Sachen habe.« Sie lächelte. »Ich bin froh, dass du nicht nach meiner Haarfarbe gefragt hast, denn die ist seit heute Morgen neu.«

»Das ist gar nicht gut für dich. In diesem Färbemittel sind Toxine.«

Lily hob ihre lavendelfarbene Perücke an und zeigte ihre kurzen, kastanienbraunen Locken, dann setzte sie das Ding wieder auf. »Ich bin Mutter Natur persönlich.« Sie kam hoch und klopfte auf den Barhocker. »Setz dich, Asher. Gestehe! Langweile mich!«

Lily stand an den Tresen gelehnt und neigte ihren Kopf, um aufmerksam zu wirken, doch mit ihren schwarz geschminkten Augen und den bunten Haaren sah sie eher aus wie eine Marionette, der ein Faden gerissen war. Charlie trat hinter den Tresen und setzte sich auf den Hocker. »Ich stand in der Schlange hinter diesem William Creek und hab gesehen, wie sein Regenschirm geglüht hat... «

Und Charlie ging mit ihr die ganze Geschichte durch, der Schirm, der Bus, die Hand, die aus dem Gully kam, der Sprint nach Hause mit dem großen Schatten über den Dächern, und als er fertig war, fragte Lily: »Und woher weißt du, wie er hieß?«

»Hä?«, sagte Charlie. Von allen schrecklichen, absonderlichen Fragen, die sie ihm hätte stellen können: Warum diese?

»Woher weißt du, wie der Mann hieß?«, wiederholte Lily. »Du hast doch kaum mit ihm gesprochen, bevor er unter die Räder kam. Hast du seine Quittung gesehen, oder was?«

»Nein, ich ... « Er hatte keine Ahnung, woher er den Namen wusste, aber plötzlich war ein Bild davon in seinem Kopf, in Blockbuchstaben. Er sprang vom Hocker. »Ich muss los, Lily.«

Er rannte durch die Tür zum Lagerraum und die Treppe hinauf.

»Ich brauch immer noch eine Entschuldigung für die Schule!«, rief Lily von unten, doch Charlie stürmte durch die Küche, vorbei an einer großen Russin, die sein Baby in den Armen wiegte, ins Schlafzimmer, griff sich den Notizblock, der immer auf seinem Nachtschrank neben seinem Telefon lag.

Dort stand in seiner eigenen Handschrift in Blockbuchstaben der Name »William Creek«, darunter die Zahl 12. Schwer sank er aufs Bett und hielt den Notizblock wie ein Sprengstofffläschchen in die Höhe.

Hinter sich hörte er Mrs. Korjews schwere Schritte, als sie ihm ins Schlafzimmer folgte. »Mr. Asher, was war los? Sie rennen wie brennender Bär.«

Und da Charlie ein Betamännchen war und sich im Laufe der Jahrmillionen eine gewisse Standardreaktion auf Unerklärliches herausgebildet hatte, sagte er: »Da will mich jemand verarschen. «

 

Lily war gerade dabei, ihren Nagellack mit schwarzem Filzstift auszubessern, als Stephan, der Postbote, in den Laden spaziert kam.

»Alles im Lack, Darque?«, sagte Stephan, während er einen Stapel Post aus seiner Tasche fischte. Er war vierzig, klein, muskulös und schwarz. Seine Wrap-Around-Sonnenbrille saß fast immer oben auf den festen Reihen schmaler Cornrows. Lily hatte ihm gegenüber gemischte Gefühle. Sie mochte ihn, weil er sie »Darque« nannte, die Kurzform von »Darquewillow Elventhing«, der Name, unter dem sie im Laden Post bekam, aber weil er fröhlich war und die Menschen zu mögen schien, traute sie ihm nicht.

»Du musst unterschreiben«, sagte Stephan und hielt ihr ein Gerät mit elektronischem Schreibfeld hin, auf dem sie mit elegantem Schwung Charles Baudelaire kritzelte, ohne auch nur hinzusehen.

Stephan knallte die Post auf den Tresen. »Schon wieder allein? Wo sind denn alle?«

»Ray ist auf den Philippinen, Charlie steht unter Schock.« Sie seufzte. »Die Last der Welt liegt auf meinen Schultern...«

»Armer Charlie«, sagte Stephan. »Man sagt, es ist das Schlimmste, was einem passieren kann, wenn man seinen Ehepartner verliert.«

»Ja, das auch. Heute steht er unter Schock, weil er gesehen hat, wie jemand oben an der Columbus Avenue vom Bus überfahren wurde.«

»Hab davon gehört. Kommt er damit klar?«

»Scheiße, nein, Stephan, er wurde vom Bus überfahren.« »Ich meinte Charlie.« Stephan zwinkerte trotz ihres harschen Tons.

»Ach, wie Charlie eben so ist.«

»Was macht das Baby?«

»Gibt offenbar ekelerregende Substanzen von sich.« Lily hielt sich den Filzstift unter die Nase, als könnte sie damit den Geruch eines müffelnden Babys übertünchen.

»Dann ist ja alles gut. « Stephan lächelte. »Das war’s für heute. Hast du was für mich?«

»Ich hab gestern ein paar rote Plateaustiefel reinbekommen. Plastik. Größe vierundvierzig.«

Stephan sammelte Ludenklamotten aus den Siebzigern. Lily sollte ein Auge darauf haben, was in den Laden kam.

»Wie hoch?«

»Zehn Zentimeter.«

»Tiefflug«, sagte Stephan, als erklärte das alles. »Mach’s gut, Darque. «

Lily winkte mit ihrem Filzstift, als er ging, und blätterte die Post durch. Das meiste waren Rechnungen, ein paar Werbezettel und ein dicker, schwarzer Umschlag, der sich wie ein Buch oder Katalog anfühlte. Adressiert war er an Charlie Asher c/o Asher’s Secondhand, mit einem Poststempel von Plutos Nächtger Sphär, was offenbar in irgendeinem Staat lag, der mit U anfing. (Lily fand Erdkunde nicht nur beklemmend langweilig, sondern im Zeitalter des Internets auch völlig überflüssig.)

War das Päckchen nicht an Asher’s Secondhand adressiert?, überlegte Lily. Und stand nicht sie, Lily Darquewillow Elventhing, dort hinter dem Tresen, die einzige Angestellte – nein – vielmehr de facto die Geschäftsführerin besagten Ladens? Und war es nicht ihr gutes Recht – nein – ihre Pflicht, diesen Umschlag zu öffnen, um Charlie dieser lästigen Aufgabe zu entledigen? Wohlan, Elventhing! Dein Schicksal sei besiegelt, und wenn es vielleicht doch nicht dein Schicksal ist, kannst du immer noch auf Unwissenheit plädieren, was sie in der Politik ja auch nicht anders machen.

Sie nahm einen diamantbesetzten Dolch unter dem Tresen hervor (die Steine waren über dreiundsiebzig Cent wert), schlitzte den Umschlag auf und zog ein Buch hervor. Es war Liebe auf den ersten Blick.

Der Einband glänzte wie ein Kinderbuch, mit der farbenfrohen Illustration eines grinsenden Skeletts, auf dessen spitzen Fingernägeln kleine Menschen steckten. Alle schienen sich bestens zu amüsieren wie auf einem Karussell, das ihnen ganz nebenbei ein klaffendes Loch in die Brust stanzte. Es sah festlich aus, mit grellen Blumen und Bonbons im Stil mexikanischer Folklorekunst. Es hieß Das Große Bunte Buch des Todes, was in lustigen Buchstaben aus menschlichen Oberschenkelknochen groß und breit oben auf dem Umschlag geschrieben stand.

Lily schlug die erste Seite auf, wo ein Zettel steckte.

 

Das dürfte alles erklären. Tut mir leid.

MF

 

Lilly nahm den Zettel heraus und schlug das erste Kapitel auf: Jetzt bist Du also der Tod: Folgendes musst Du wissen.

Mehr war nicht nötig. Das war mit allergrößter Wahrscheinlichkeit das coolste Buch, das sie je gesehen hatte. Damit konnte Charlie bestimmt überhaupt nichts anfangen, besonders in seinem momentan hyperneurotischen Zustand. Sie steckte das Buch in ihren Rucksack, dann zerriss sie den Zettel in kleine Fetzen und begrub sie ganz unten im Papierkorb.

 

 

 

 

»Jane«, sagte Charlie, »die Ereignisse der letzten Wochen haben mich zu der Überzeugung gebracht, dass ruchlose Mächte oder Menschen – unidentifiziert, aber dennoch real – das Leben, wie wir es kennen, bedrohen und es möglicherweise darauf abgesehen haben, den Faden unseres Daseins abzurippeln. «

»Und deshalb muss ich dieses gelbe Zeug essen?« Jane saß an Charlies Frühstückstresen und aß Cocktailwürstchen direkt aus der Packung, dippte sie in eine Schale mit französischem Senf. Die kleine Sophie saß in so einem Ding auf dem Tresen, das wie der Helm eines Star-Wars-Kriegers aussah.

Charlie lief in der Küche auf und ab, unterstrich seine naheliegenden Argumente und wedelte dabei mit seinem Würstchen herum. »Erstens war da dieser Mann in Rachels Zimmer, der auf mysteriöse Weise von den Videoaufnahmen verschwunden ist.«

»Weil er gar nicht da war. Guck mal, Sophie mag gelben Senf, genau wie du. «

»Zweitens«, fuhr Charlie fort, obwohl seine Schwester beharrlich Desinteresse zeigte, »diese Gegenstände im Laden haben geleuchtet, als wären sie radioaktiv. Steck ihr das nicht in den Mund.«

»O mein Gott, Charlie. Sophie ist hetero. Guck dir mal an, wie sie es auf dieses Würstchen abgesehen hat.«

»Und drittens dieser Creek, der gestern an der Columbus Avenue vom Bus überfahren wurde. Ich wusste, wie er hieß, und sein Regenschirm hat rot geglüht.«

»Jetzt bin ich aber enttäuscht«, sagte Jane. »Ich hatte mich schon so darauf gefreut, sie ins Mädchenteam zu holen, ihr alle Vorteile zu verschaffen, die ich nie hatte, aber sieh dir nur mal an, was sie da mit diesem Würstchen treibt. Die Kleine ist ein Naturtalent.«

»Nimm es ihr aus dem Mund!«

»Entspann dich, sie kann es nicht essen. Sie hat ja nicht mal Zähne. Und da sitzt ja auch kein stöhnender Tele-Tubby am anderen Ende. Meine Fresse, ich werde reichlich Tequila brauchen, wenn ich dieses Bild aus meinem Kopf kriegen will.«

»Sie soll kein Schweinefleisch essen, Jane. Sie ist jüdisch! Willst du meine Tochter etwa zur Schickse machen?«

Jane riss Sophie das Cocktailwürstchen aus dem Mund und sah es sich genauer an, obwohl noch ein Sabberfaden daran hing. »Ich glaube kaum, dass ich diese Dinger jemals wieder essen kann«, sagte Jane. »Bestimmt muss ich immer daran denken, wie meine Nichte ihrer Frotteepuppe einen bläst.«

»Jane!« Charlie nahm ihr das Würstchen weg und warf es in die Spüle.

»Was?!«

»Hörst du überhaupt zu?«

»Ja, ja. Du hast gesehen, wie jemand vom Bus überfahren wurde, und jetzt rippelt sich dein Faden ab. Und?«

»Und jemand will mich verarschen!«

»Was soll daran neu sein, Charlie? Seit deinem achten Lebensjahr denkst du, dass dich jemand verarschen will.«

»Stimmt ja auch. Wahrscheinlich. Aber diesmal ist es real. Es könnte real sein.«

»Hey, das sind Rindfleischwürstchen! Sophie ist gar keine Schreckse. «

»Schickse!«

»Egal.«

»Jane, du bist überhaupt keine Hilfe bei meinem Problem.« »Welches Problem? Hast du ein Problem?«

 

Charlies Problem bestand darin, dass sich die Auswüchse seiner Betamännchen-Phantasie wie Bambussplitter unter seine Fingernägel bohrten. Während Alphamännchen oft mit überlegenen physischen Attributen aufwarten können (Größe, Kraft, Schnelligkeit, Aussehen – im Laufe der Äonen durch das Überleben der jeweils Stärksten selektiert) und meist alle Mädchen abbekommen, überlebten die Gene des Betamännchens nicht deshalb, weil es sich Widrigkeiten entgegenstellte und überwand, sondern weil es sie voraussah und mied. Während also die Alphamännchen den Mastodons nachjagten, sah das Betamännchen voraus, dass es möglicherweise schief gehen konnte, wenn man etwas, das im Grunde nichts weiter als ein böser, behaarter Bulldozer war, mit einem spitzen Stock bedrohte, und deshalb blieb es im Lager zurück, um die trauernden Witwen zu trösten. Machten sich Alphamännchen auf den Weg, benachbarte Stämme zu unterwerfen, Beute zu machen und Köpfe zu sammeln, sahen die Betamännchen voraus, dass der Zustrom weiblicher Sklaven im Fall eines Sieges einen Überschuss an jungen, hübschen, unbemannten Frauen mit sich bringen würde, die nichts anderes zu tun hatten, als die Köpfe zu pökeln und die Beute zu sortieren. Manche von ihnen fanden Trost in den Armen eines Betamännchens, das schlau genug war, zu überleben. Im Fall einer Niederlage... nun, da kam wieder die Sache mit den Witwen zum Tragen. Das Betamännchen ist selten das Stärkste oder Schnellste, doch da es die Gefahr vorhersieht, ist es seinem Konkurrenten, dem Alphamännchen, zahlenmäßig weit überlegen. Die Welt wird von Alphamännchen regiert, doch drehen sich ihre Räder um die Achse des Betamännchens.

Das Problem (Charlies Problem) bestand darin, dass die Phantasie des Betamännchens angesichts der modernen Gesellschaft überflüssig geworden war. Es war wie mit den Reißzähnen des Säbeltigers oder dem Testosteron der Alphamännchen: Es gab einfach viel mehr Betamännchen-Phantasie, als man sinnvoll gebrauchen konnte. Entsprechend wurden viele Betamännchen Hypochonder, Neurotiker und Paranoiker oder gerieten in Abhängigkeit von Pornos oder Videospielen.

Denn während sich die Phantasie des Betamännchens entwickelte, um Gefahren zu meiden, ermöglichte sie ihm heutzutage einen imaginären Zugang zu Macht, Geld und langbeinigen Modelweibchen, die ihm in Wahrheit nicht mal in die Nieren treten würden, wenn sie ein Krabbeltier von ihrem Schuh abstreifen wollten. Die reichhaltige Phantasie des Betamännchens mag oft in die Wirklichkeit hinüberlappen und sich in geradezu genialischem Maß in Wahnvorstellungen manifestieren. Tatsächlich halten sich zahlreiche Betamännchen – im Widerspruch zu empirischen Erkenntnissen – für Alphamännchen und wurden von ihrem Schöpfer mit ausgeprägtem Charisma und einiger Verschlagenheit beschenkt, was zwar von der Idee her der Knaller sein mag, für Frauen aus Fleisch und Blut jedoch absolut nicht zu erkennen war. Jedesmal, wenn sich ein Supermodel von seinem Rockstar-Gatten scheiden lässt, freut sich das Betamännchen im Stillen (oder genauer gesagt: spürt es eine Woge ungerechtfertigter Hoffnung aufsteigen), und jedesmal, wenn ein hübscher Filmstar heiratet, hat das Betamännchen das Gefühl, eine weitere Chance verpasst zu haben. Ganz Las Vegas – mit seinem Plastikprunk, dem Reichtum zum Mitnehmen, seinen vulgären Türmen und Kellnerinnen mit utopischen Brüsten – basiert auf den Wahnvorstellungen des Betamännchens.

Die Selbsttäuschung des Betamännchens hatte auch eine nicht unerhebliche Rolle gespielt, als Charlie seine Rachel zum ersten Mal ansprach, an jenem regnerischen Februartag vor fünf Jahren, als er – um dem Wetter zu entkommen – einen Laden betrat, der Ein hübscher, heller Ort für Bücher hieß, und Rachel ihm ein scheues Lächeln schenkte, über einen Stapel von Carson McCullers hinweg, die sie gerade einsortierte. Sie schien zu lächeln, weil er vor jungenhaftem Charme nur so triefte, während es in Wahrheit daran lag, dass er einfach nur triefte.

»Sie tropfen«, sagte sie. Sie hatte blaue Augen, helle Haut und dunkle Locken, die ihr Gesicht umrahmten. Sie betrachtete ihn aus dem Augenwinkel, was sein Betamännchen-Ego anspornte.

»Ja, gern«, sagte Charlie und trat einen Schritt näher. »Soll ich Ihnen ein Handtuch holen oder so?«

»Ach was, das bin ich gewohnt.«

»Sie tropfen auf Cormac McCarthy.«

»’Tschuldigung.« Charlie wischte All die schönen Pferde mit dem Ärmel ab, während er zu erkennen versuchte, ob sie unter dem labberigen Pulli und den Cargo-Hosen eine hübsche Figur hatte. »Kommen Sie oft hierher?«

Rachel brauchte einen Moment, bis sie reagierte. Sie trug ein Namensschild, räumte Bücher in Regale und war ziemlich sicher, dass sie diesen Typen schon mal im Laden gesehen hatte. Also konnte er nicht ganz blöd sein, sondern eher schlau. Mehr oder weniger. Unwillkürlich lachte sie.

Charlie zuckte mit den feuchten Schultern und lächelte. »Ich bin Charlie Asher. «

»Rachel«, sagte Rachel. Sie gaben sich die Hand.

»Rachel, würden Sie irgendwann mal mit mir einen Kaffee oder irgendwas trinken?«

»Das kommt ganz darauf an, Charlie. Vorher müssen Sie mir ein paar Fragen beantworten.«

»Selbstverständlich«, sagte Charlie. »Wenn es Ihnen nichts ausmacht, hätte ich da auch ein paar Fragen.« Er dachte »Wie siehst du nackt aus?« und »Wann kann ich es mir ansehen?«

»Also gut.« Rachel legte Die Ballade vom Traurigen Café beiseite und zählte ihre Finger ab.

»Haben Sie einen Job, ein Auto und eine Wohnung? Und sind die letzten beiden dasselbe?« Sie war fünfundzwanzig und schon eine Weile Single. Sie hatte gelernt, ihre Bewerber auszusortieren.

»Äh – ja, ja, ja und nein.«

»Ausgezeichnet. Sind Sie schwul?« Sie war schon eine ganze Weile Single in San Francisco.

»Habe ich Sie auf einen Kaffee eingeladen oder nicht?«

»Das hat nichts zu bedeuten. Ich kenne Typen, die erst gemerkt haben, dass sie schwul sind, nachdem wir schon ein paar Mal ausgegangen waren. Scheint meine Spezialität zu sein.«

»Wow. Sie machen wohl Witze.« Er musterte sie von oben bis unten und kam zu dem Schluss, dass sie wahrscheinlich eine tolle Figur unter ihren weiten Sachen hatte. »Ich hab schon mal daran gedacht, aber das ist nichts für mich...«

»Korrekte Antwort. Okay, ich gehe mit Ihnen einen Kaffee trinken.«

»Nicht so hastig. Was ist mit meinen Fragen?«

Rachel stemmte ihre Fäuste in die Hüften, seufzte und verdrehte die Augen. »Okay. Schießen Sie los.«

»Ich habe eigentlich keine Fragen. Sie sollten nur nicht denken, ich wäre leicht zu haben.«

»Und deshalb haben Sie mich schon nach dreißig Sekunden gefragt, ob ich mit Ihnen ausgehen möchte?«

»Kann man es mir zum Vorwurf machen? Da standen Sie vor mir: dieser Blick, dieses Lächeln, dieses Haar, so trocken... und umgeben von guten Büchern...«

»Fragen Sie!«

»Glauben Sie, es könnte sein... also, wenn wir uns besser kennen, dass Sie mich vielleicht irgendwann mögen? Ich meine, halten Sie das für möglich?«

Es machte nichts, dass er sie bedrängte, egal, ob er nun schlau oder tollpatschig war. Sie konnte sich seines charmelosen Betamännchen-Charmes einfach nicht erwehren und wusste, was sie antworten würde. »Keine Chance«, log sie.

»Sie fehlt mir«, sagte Charlie und wandte sich von seiner Schwester ab, als müsste er sich dort in der Spüle ganz dringend etwas ansehen. Seine Schultern bebten, und Jane ging zu ihm und nahm ihn in die Arme, als er auf die Knie sank.

»Sie fehlt mir schrecklich.«

»Das weiß ich doch.«

»Ich hasse diese Küche.«

»Ganz deiner Meinung, Kleiner.«

Die Gute.

»Wenn ich diese Küche sehe, sehe ich ihr Gesicht, und damit komm ich einfach nicht zurecht.«

»Doch, kommst du. Bestimmt. Es wird besser werden.« »Vielleicht sollte ich umziehen.«

»Du solltest tun, was du für richtig hältst, aber der Schmerz reist immer mit.« Jane knetete ihm Nacken und Schultern, als wäre seine Trauer ein Knoten, der sich mit etwas Druck lösen ließe.

Nach ein paar Minuten war er wieder bei sich, funktionstüchtig, saß am Tresen zwischen Sophie und Jane und trank eine Tasse Kaffee. »Meinst du denn, dass ich mir das alles einbilde?«

Jane seufzte. »Charlie, Rachel war das Zentrum deines Universums. Das war jedem klar, der euch gesehen hat. Dein Leben kreiste nur um sie. Seit Rachel nicht mehr da ist, hast du auch keine Mitte mehr, nichts, was dich erdet, du bist ganz eierig und instabil, so dass dir manches unwirklich vorkommt. Aber du hast eine Mitte.«

»Hab ich?«

»Dich selbst. Ich habe doch auch keine Rachel, und jemand wie sie ist auch nicht in Sicht, aber trotzdem komme ich nicht ins Rotieren.«

»Du willst mir also sagen, ich soll mich nur noch um mich selbst drehen, so wie du?«

»Das tue ich. Bin ich deshalb ein schlechter Mensch?« »Interessiert es dich?«

»Gutes Argument. Meinst du, du kommst zurecht? Ich muss noch ein paar Yoga-DVDs kaufen. Der Kurs fängt morgen an.«

»Wozu brauchst du DVDs, wenn du einen Kurs belegst?«

»Es muss aussehen, als hätte ich Ahnung, sonst will doch keiner mit mir ausgehen. Kommst du klar?«

»Wird schon. Ich kann nur die Küche nicht betreten. Oder mich in der Wohnung umsehen oder Musik hören oder fernsehen.«

»Na, gut. Dann viel Spaß«, sagte Jane und kniff dem Baby auf dem Weg hinaus kurz in die Nase.

Als sie weg war, saß Charlie eine Weile am Tresen und betrachtete die kleine Sophie. Seltsamerweise war sie das Einzige in der Wohnung, was ihn nicht an Rachel erinnerte. Sie war ihm fremd. Sie sah ihn an – diese großen, blauen Augen – mit so einem seltsamen, glasigen Blick. Nicht mit Bewunderung oder Staunen, was man vielleicht erwarten würde, eher als hätte sie getrunken und wollte los, sobald sie ihre Autoschlüssel gefunden hatte.

»Entschuldige«, sagte Charlie und wandte seinen Blick dem Stapel unbezahlter Rechnungen neben dem Telefon zu. Er spürte, dass das Kind ihn beobachtete, sich – wie er glaubte – fragte, wie vielen Frotteepuppen sie wohl noch einen blasen musste, bis sie in dieser Welt einen vernünftigen Vater bekam. Trotzdem prüfte er, ob sie auch sicher in ihrem Sitz festgeschnallt war, und machte sich an die Wäsche, denn er wollte ein wirklich guter Vater werden.