Ein unendlich kurzer Sommer - Kristina Pfister - E-Book
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Ein unendlich kurzer Sommer E-Book

Kristina Pfister

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Beschreibung

»Ein richtig, richtig schönes Sommerbuch.«  Mona Ameziane bei ZDF Volle Kanne Wo soll man eigentlich hin, wenn man vor sich selbst davonläuft? In irgendeinen Zug einsteigen und bis zur Endstation fahren? So jedenfalls landet Lale auf dem heruntergekommenen Campingplatz an diesem See, der fast zu schön ist. Sie hilft dem alten, grantigen Besitzer Gustav beim Renovieren der maroden Bäder, füttert die flauschigen Kaninchen, trägt jeden Tag die gleiche, alte Latzhose und schweigt. Bis Christophe diese vermeintliche Ruhe durcheinanderbringt. Christophe mit den dunklen Augen, angereist vom anderen Ende der Welt, auf der Suche nach seinen Wurzeln. Christophe, der zu spüren scheint, was Lale fühlt. Gemeinsam erleben sie den einen Sommer, der bleibt: Flirrende Hitze, glitzerndes Wasser, gemeinsame Floßfahrten, ausgeblichenes Haar. »Ein unendlich kurzer Sommer« von Kristina Pfister – ein Roman über zweite und dritte Chancen, über das Ankommen, Loslassen und Neubeginnen. Im August erscheint »Tage im warmen Licht« von Kristina Pfister: ein berührend kluger Roman über die Magie der Freundschaft.

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Seitenzahl: 465

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Kristina Pfister

Ein unendlich kurzer Sommer

Roman

 

 

Über dieses Buch

 

 

Wo soll man eigentlich hin, wenn man vor sich selbst davonläuft

In irgendeinen Zug einsteigen und bis zur Endstation fahren? So jedenfalls landet Lale auf dem heruntergekommenem Campingplatz an diesem See, der fast zu schön ist. Sie hilft dem alten, grantigen Besitzer Gustav beim Renovieren der maroden Bäder, füttert die flauschigen Kaninchen, trägt jeden Tag die gleiche, alte Latzhose und schweigt.

Bis Christophe diese vermeintliche Ruhe durcheinanderbringt. Christophe mit den dunklen Augen, angereist vom anderen Ende der Welt, auf der Suche nach seinen Wurzeln. Christophe, der zu spüren scheint, was Lale  fühlt.

Gemeinsam erleben sie den einen Sommer, der bleibt: Flirrende Hitze, glitzerndes Wasser, gemeinsame Floßfahrten, ausgeblichenes Haar. Ein Roman über zweite und dritte Chancen, über das Ankommen, Loslassen und Neubeginnen.

 

 

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Kristina Pfister wurde 1987 in Bamberg geboren und verbrachte schon als Kind zahlreiche schöne Ferientage auf den Campingplätzen Europas. Der Sommer ist für sie am schönsten mit den Füßen im Wasser. Deshalb studierte sie am Bodensee, fährt wenn möglich jedes Jahr ans Meer, und freute sich sehr, als sie 2018 ein Aufenthaltsstipendium im »Baltic Centre for Writers and Translators« auf der Insel Visby bekam. Wenn sie nicht gerade an einem Strand zeltet oder auf schwedischen Inseln schreibt, lebt und arbeitet sie in Nürnberg.

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Inhalt

PROLOG

EINS

ZWEI

DREI

VIER

FÜNF

SECHS

SIEBEN

ACHT

NEUN

ZEHN

ELF

ZWÖLF

DREIZEHN

VIERZEHN

FÜNFZEHN

SECHZEHN

SIEBZEHN

ACHTZEHN

NEUNZEHN

ZWANZIG

EINUNDZWANZIG

ZWEIUNDZWANZIG

DREIUNDZWANZIG

VIERUNDZWANZIG

FÜNFUNDZWANZIG

SECHSUNDZWANZIG

SIEBENUNDZWANZIG

ACHTUNDZWANZIG

NEUNUNDZWANZIG

DREISSIG

EPILOG

DANKE

Leseprobe

Ein bisschen Zauber

Kapitel 1

Kapitel 2

PROLOG

Wir waren unendlich, du und ich und der Sommer.

Das Floß schwankte unter deinem Gewicht, wackelte. So erinnere ich mich an dich: ausgebreitete Arme, breitbeinig, hin und her wippend auf diesem Floß. Deine langen, weißen Beine in zu kurzen, roten Shorts. Deine gebräunten Arme. Dein vom Sommer ausgeblichenes Haar. Die kleinen, hellen Fältchen neben deinen Augen. Und das grünbraune Wasser des Sees unter uns. Ich lag auf dem Floß, kreischte auf den schaukelnden Planken und hielt mir einen Arm vors Gesicht, wenn du mit einem Platschen ins Wasser sprangst.

»Du bist widerlich«, sagte ich, als du zum hundertsten Mal prustend aufgetaucht bist und mich angespuckt hast, ein ganzer Schwall von diesem grünen Seewasser direkt in mein Gesicht.

Zu viele Algen, sagten alle im Dorf, ein viel zu warmer Sommer.

Genau richtig für mich, sagte ich. Es kann gar nicht warm genug sein.

Genau richtig für uns, sagtest du.

Und die Algen waren uns völlig egal.

Ich öffnete eine Flasche Limonade, die an einer Schnur im Wasser unter uns trieb, trank, und als du dich zurück auf das Floß schobst, wurde ich pitschnass. Ich hatte das Gefühl, wir würden dampfen. Du hast dich auf die Seite gerollt, einen Arm aufgestützt und hast mich angesehen.

»Wusstest du, dass hier mal eine Hexe gehaust haben soll? Da im Wald…«

Du hast hinübergedeutet zu dem Wäldchen, in dem wir uns das erste Mal geküsst hatten.

»Uh, ernsthaft?«

Wir sprachen Französisch, das konntest du besser als ich Deutsch.

»Ja, und nachts, wenn der Nebel vom See heraufzieht…«, du hast ein unheilvolles Gesicht aufgesetzt, »… verwandelt sie sich in einen Hasen und fliegt zum Mond.«

Ich lachte.

»Aha. Und, hast du sie jemals gesehen?«

»Nein. Ich schätze, sie hat dieses öde Kaff verlassen«, hast du gesagt, bist auf- und zurück ins Wasser gesprungen. Eine weitere Arschbombe, ein weiterer Schauer von kaltem Seewasser auf meinem aufgeheizten Körper. Als du wieder hochkamst, rollte ich auf die Seite und sah dich an, wie du mich wenige Minuten zuvor angesehen hattest.

»Ich verstehe nicht, warum sie wegwollte«, habe ich gesagt. »Ich würde am liebsten für immer in diesem öden Kaff bleiben.«

»Hier? Hier gibt’s nichts, nicht mal Faxgeräte. Und der Zug fährt nur alle drei Stunden. Und eine erfundene Waldhexe ist das Abenteuerlichste hier.«

»Du bist das Abenteuerlichste hier…«

»Ach ja?«

Kichernde Küsse, nass vom Seewasser. Deine Finger, die glitschige Pflanzen aus meiner Haarspange zupfen. Du und dein Algenkescher. Ich drehte mich auf den Rücken und sah in den Himmel. Wolken zogen auf, Gewitterwolken, schwarz und geballt, was für ein Omen.

Der Wind frischte auf, es wurde dunkler und kühler, und als ein erster Blitz zuckte, schwammen wir zum Steg, zogen uns aus dem Wasser und rannten in den Hexenwald. Regen prasselte schlagartig auf uns herab. Der Wind, der Regen um unsere Gesichter. Und dein Lächeln.

»Ernsthaft«, hast du gesagt. »Lass uns weggehen. Nur du und ich und mein alter VW.«

Ich betrachtete die Finger meiner Hand, die hellere Stelle an meinem Ringfinger, die noch immer nicht weg war, trotz dreißig Tagen Sonne.

»Ich kann nicht«, sagte ich. »Das weißt du.«

»Du willst nicht.« Deine Stimme klang auf einmal anders. »Das ist ein Unterschied.«

Ich legte eine Hand auf deinen Arm. »Ich muss dir was sagen.«

EINS

Schwarze Sturmwellen hoben und senkten die kleine Segeljolle, und Christophe fühlte sich, als müsste er sterben. Er hatte den Großteil seines Lebens auf einer Insel verbracht, keiner besonders großen Insel, aber dafür mit besonders viel Meer außenrum. Er war bei flachem Seegang mit seinem Opa ein Stück bis hinaus zu den Muschelbänken gerudert, war vom Boot ins Wasser gesprungen, hatte tauchen und schwimmen gelernt. Er liebte das Meer. Aber sobald der Wind auffrischte und die Wellen wogten, wurde ihm übel.

Das Boot roch irgendwie leicht fischig, obwohl Chidi Stunden darauf verwendete, es zu schrubben, wenn er beim Angeln gewesen war. Fischgeruch war hartnäckig. Christophe schluckte. In weiter Ferne, viel zu weit weg, sah er die felsigen Klippen der Insel, Berge zwischen den Wolken. Dann schwappte eine weitere Welle über seine Füße, und er strauchelte.

»Schau auf den Horizont«, rief Chidi über den Wind, Christophes Skipper und bester Freund, der völlig unbeeindruckt von Wind und Wellen mit einem Arm an der Ruderpinne hing und verdammt cool aussah. Sie hatten die Segel eingeholt, viel zu viel Wind, viel zu viel Seegang, fuhren mit dem tuckernden kleinen Motor und zogen grauen Rauch hinter sich her.

Nicht nach hinten sehen. Auf den Horizont schauen. Das war leichter gesagt als getan, denn der Horizont verschwand und tauchte wieder auf und war überhaupt sehr unzuverlässig. Christophe beugte sich über Bord und reiherte einen Schwall Spucke, Galle und Wasser in den aufgewühlten Ozean, mehr war nicht mehr übrig von seinem Frühstück. Er umklammerte die Urne. Das Schlimmste, was passieren konnte, war, dass seine Mutter, die das Meer noch mehr geliebt hatte als ihr einziger Sohn, in einer dunkelbraunen Tonbüchse eingeschlossen auf den Meeresgrund sinken würde, statt mit den Wellen dahinzutreiben. In ferne Länder, die sie nie gesehen hatte. In andere Gewässer als die rings um Réunion.

»Ein Pech, dass heute so beschissenes Wetter ist«, sagte Chidi.

Nachdem man sich übergeben hatte, war alles für einen winzigen Moment besser. Ein kurzer Moment, in dem man klar denken konnte. Sein durchweichtes T-Shirt zurechtzupfen, sich den Mund wischen, noch einmal ins Wasser spucken, im besten Fall einen Schluck aus der Thermosflasche nehmen. Chris fröstelte im Regen. Er hätte seinen Parka anziehen sollen. Aber irgendwie hatte er – trotz Regenzeit – geglaubt, sie würden das einfach schnell hinter sich bringen. In den Sonnenaufgang schippern, malerisch die Asche in einen azurblauen, morgenstillen Ozean werfen, und um halb neun zu einem zweiten Frühstück wieder zurück sein. Chidi allerdings war der Meinung gewesen, dass sie ein gutes Stück weiter rausfahren mussten, wenn Paulettes Asche wirklich davongetrieben und nicht als trauriger Matsch wieder an den Sandstrand unterhalb ihres eigenen Hauses angeschwemmt werden sollte.

Christophe zwinkerte Salzwasser aus seinen Augen.

»Weißt du ein Gebet?«, fragte er. »Bei Beerdigungen betet man, oder?«

Chidi überlegte kurz, bekreuzigte sich dann und fing an, das Ave Maria zu beten. Eine gute Wahl, recht traditionell und so einprägsam, dass sogar Christophe mitsprechen konnte, der sich immer geweigert hatte, mit in die Kirche zu gehen.

»Maria voll der Gnade, du bist gebenedeit unter den Frauen, und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes Jesu.«

Was auch immer das heißen mochte. Vielleicht hätte ihr etwas Freies, Persönlicheres besser gefallen. Aber Christophe sah sich außerstande, jetzt kreativ zu sein. Er war froh, wenn er das Ave Maria herausbekam. Das Boot schaukelte über eine weitere Welle, hob sich, krachte wieder hinunter. Er umklammerte mit feuchten Händen die Urne. Kalter Schweiß auf Christophes Stirn. Seine Finger zitterten. Als das Gebet gerade mal zur Hälfte vorbei war, fühlte er sich schon wieder hundeelend. Er klemmte sich die Urne zwischen die Knie und klammerte sich an der Reling fest, während Chidi das Gebet beendete.

Jetzt pladderte der Regen so dicht auf sie nieder, dass es sich anfühlte wie eine Dusche. Chris konnte kaum noch etwas erkennen, nicht mal Chidi, der irgendwo zwischen den Wassermassen von unten und oben das Boot lenkte. Nur seine Stimme drang fest und ruhig durch den Regen, wie in einer besonders rauen Moby-Dick-Verfilmung.

»Möge sie in Frieden ruhen«, schloss Chidi feierlich, während eine Welle das Boot hochhob, der Horizont sich zum tausendsten Mal an diesem Tag verschob und sie auf der anderen Seite der Gischt krachend wieder hinabstürzten.

»Amen«, sagte Christophe, der kein bisschen gläubig war, öffnete die Urne und kippte den Inhalt in den Wind, bevor er sich über die Reling beugte und hinterherkotzte.

 

Später, als sie endlich wieder festen Boden unter den Füßen hatten, tranken sie Ananassaft aus kleinen Packungen vor einer winzigen Bar am Hafen. Angeblich half das gegen Übelkeit. Sie saßen unter einer Markise mit dem Aufdruck einer Bierwerbung, die gefährlich durchhing. Ab und zu kam der Barkeeper heraus und stach mit einem Besenstiel in den ausgebeulten Stoff, und ein Schwall Wasser ergoss sich auf den dampfenden Gehsteig. Er hatte ihnen auch ein Handtuch gebracht, aber Christophes T-Shirt klebte dennoch an ihm, und seine Haare tropften kleine Pfützen auf den Tisch. Trotz der Schwüle fröstelte er. Der Regen strömte ohne Pause vom Himmel. Im Sommer war es hier heiß und feucht. Aufgeweichte Straßenränder, matschige Wege, Sturmböen, Zyklone, eine Luftfeuchtigkeit wie in einem Dampfbad. Im Hafenbecken schaukelten die festgemachten Boote, und die Wellen schlugen gegen die Kaimauer. Gischt spritzte. Ein paar Leute eilten in Regenmänteln vorbei, einer, sicherlich ein Tourist, kämpfte mit einem Regenschirm. In der Bar dudelte Popmusik aus einem rauschenden Radio. Der Barkeeper putzte von innen das Fenster, vor dem sie saßen. Ein rosa Lappen fuhr ständig hinter Chidi hin und her, wie eine große, labbrige Zunge. Ansonsten war nicht viel los. Es war eben noch sehr früh.

Christophe nuckelte an seinem Saft. Er fühlte sich, als hätte jemand sein Mittelohr herausgenommen, geschüttelt und falsch herum wieder eingesetzt. Die leere Urne, die er neben sich auf den Boden gestellt hatte, wurde von einem Windstoß erfasst und fiel klappernd um. Er zuckte zusammen, stellte sie wieder auf, klemmte sie zwischen seine Füße. Sie fühlte sich seltsam leicht an. Er rieb sich über sein nasses Gesicht.

Chidi hob seine Saftpackung.

»Auf Paulette!«, sagte er. »Auf ein Leben voller Liebe, Großherzigkeit, Güte und After Eight.«

Christophe stieß sein Ananaspäckchen gegen Chidis und murmelte: »Auf meine Maman. Die beste, die es gab…« Er saugte einen Schluck Saft aus dem Strohhalm.

Viel zu jung gestorben, hatten alle gesagt. Viel zu jung. Er hatte das schon einmal gehört, damals, als sein Vater gestorben war, einfach eines Tages umgekippt, als er draußen auf der Terrasse saß und eine rauchte, zack, weg, so schnell konnte es gehen. Ein Aneurysma der Aorta, hatten sie gesagt.

»Und jetzt?«, fragte Chidi, während Christophe mit dem Strohhalm spielte.

Das war eine gute Frage, eine, die er kein bisschen beantworten konnte. Er hatte keine Lust, nach Hause zu gehen, in dieses große, leere Haus, das ohne sie so viel größer und leerer wirkte. So still war und so voll von ihr. Ein Zettel mit Besorgungen, die sie machen wollte, vor Jahren hingekritzelt. Der Geruch nach Minze und Lavendel. Eine Packung ihres Lieblingskakaos. Überall stolperte er über sie, wenn er meinte, sich gerade gefangen zu haben. Wenn er kurz davor war, zu glauben, er könnte damit umgehen wie ein Erwachsener. Wie der Erwachsene, der er sein sollte. Aber wenn deine Maman stirbt, dachte Christophe wütend, ist niemand erwachsen. Da war es egal, ob man achtunddreißig Jahre alt war oder fünf.

Er merkte, wie sich seine Augen mit Tränen füllten, und schaute schnell wieder auf seinen Saft. Chidi tätschelte seinen Arm, Christophe wischte sich über die Nase. »Aufräumen«, sagte er. »Und ausmisten. Das ist das Erste, was ich tun werde. Hat ja keinen Zweck, es rauszuzögern.« Ordnung war immer etwas, was ihm Energie gab. Ruhe und Ordnung. Und im Haus seiner Mutter gab es viel aufzuräumen. Sehr viel.

***

Das Erste, was Lale auffiel, als sie am Bahnhof ausstieg, war das mit roter Farbe besprühte Wartehäuschen. Rot auf Plexiglas: World’s End. Der letzte Halt des erstbesten Regionalexpresses, Gleis 12 ab 8 Uhr 34. Der letzte Halt ihrer erstbesten Idee: einfach raus, einfach weg, egal wohin.

Der Zug fuhr wieder zurück, und die Türen schlossen sich piepsend hinter ihr. Sie schulterte ihren Rucksack, hob ihre Reisetasche an und ging ein paar Schritte den Bahnsteig entlang, durch die Unterführung in Richtung »Stadtmitte«, wo auch immer diese Stadt sein sollte. Es nieselte leicht, und ein paar mürrische Teenager wurden auf dem Parkplatz vor dem Bahnhof von ihren Eltern abgeholt. Dann war sie allein. Es gab ein Museum für »Regionale Gebrauchsgegenstände im Laufe der Zeit« und eine Gaststätte. Ein Aufsteller mit Werbung für diverse Eissorten. Mittagstisch: Sauerbraten mit Blaukraut.

Ihr Magen knurrte. Sie ging einmal quer durchs Dorf und folgte dann der Straße in Richtung eines Supermarktschildes. Drückte im Aldi auf den Knopf für Kaisersemmeln und kaufte sich einen Kräuterfrischkäse dazu. Dann saß sie neben den Einkaufswagen auf einem unbequemen Fahrradständer und wusste nicht, wo sie hier eine Mitte finden sollte oder auch nur einen Platz zum Schlafen. Es war einfach gewesen, sich ein Ticket zu kaufen, sich in den Zug zu setzen, loszufahren.

 

Sie hatte sich selbst nicht geglaubt, als sie ihre Tasche packte, wahllos Klamotten hineinschmiss, eine Latzhose, ein paar T-Shirts, ein paar Sommerkleider, ihre Sandalen. Nur das Nötigste. Sah sich selbst zu, wie von außen, als sie, kaum dass Matthias aus der Tür war, auf ein Post-it schrieb: Ich muss mal raus. Such mich nicht. Ich komme wieder, wenn ich komme.

Als sei sie tatsächlich jemand, die so etwas tat. Wie eine misshandelte Ehefrau aus einer dramatischen Vorabendserie, die ihre Sachen packt und geht. Dabei war Matthias der wohl beste Ehemann der Welt, das sagten ihre Freundinnen, das sagten ihre Kollegen, das sagten alle (außer ihr Bruder). Er sah gut aus, er kochte, er putzte, er verstand ihre Launen, und sogar ihre Weinanfälle hatte er lange Zeit ertragen, die Panik, die sie überkam, wenn nur die S-Bahn in die Berge oder ein Krankenwagen vorbeifuhr. Und dann, dieser eine Streit, der einer zu viel war. Diese eine Hand auf ihrem Oberarm, der Griff, der ein bisschen zu fest war. »Ich mache mir Sorgen, du kannst nicht …«

Und sie hatte sich losgerissen und geschrien: »Ich kann, Mats, du hast ja keine Ahnung, wie ich kann.«

Und am nächsten Morgen war sie gegangen, einfach so.

 

Lale zerknüllte ihre Brötchentüte. Sie brauchte eine Übernachtungsmöglichkeit. Ein Hotel, eine Ferienwohnung, irgendwas.

»Hey! Hallo?«, rief sie einem älteren Mann zu, der gerade mit einem Wagen voller Klopapier und Konservendosen aus dem Supermarkt rollte. Ohne nachzudenken, eine weitere Übersprunghandlung. Sie war gut darin, anscheinend.

Er wirkte erstaunt und kniff die Augen zusammen. »Ja?«

Lale stand auf. »Gibt es hier ein Hotel in der Nähe?«

Der Mann musterte sie einen Moment lang, und dann sagte er: »Ich hab einen Campingplatz. Falls Sie so was mögen. Campen, meine ich. Ich kann Ihnen einen guten Preis machen, wenn Sie ein bisschen mit anpacken.«

Das war unerwartet und … ein bisschen seltsam, dachte Lale, und ihr fielen alle Dokumentationen ein, die sie jemals gesehen hatte, über Frauen, die mit nett wirkenden Männern ins Auto stiegen und nie wieder heimkamen.

»Und ich weiß, das klingt nach Aktenzeichen XY«, sagte der Mann, als hätte er ihre Gedanken gelesen. »Aber ich könnte wirklich ein bisschen Hilfe gebrauchen. Und ich bin echt harmlos.«

Genau das würde ein Serienmörder sagen, dachte Lale. Aber er war alt und sehr dünn und wirkte, als könnte sie ihn zur Not leicht überwältigen.

Außerdem war sie bis ans Ende der Welt gefahren, und sie hatte keine Ahnung, was sie sonst tun könnte, und er sah nett aus, auf eine Norweger-Pulli-tragende Art ungefährlich, mit seiner Hornbrille und seinen knochigen Händen und dem Wagen voller Klopapier und Bierschinken und gezuckerten Aprikosen in Scheiben.

»Okay«, sagte Lale.

 

Sie fuhren drei Dörfer weiter, über den Rand der Welt, dachte sie, während sie auf die Felder und die Bäume und die immer kurviger werdende Straße schaute, die Schläfe gegen die Scheibe gelehnt, plötzlich erschöpft. Der Mann stellte sich als Gustav vor, und als sie schließlich anhielten, vor einem flachen Häuschen und einem Zaun mit im Wind knatternden Flaggen und einem Wohnhaus gleich daneben, mit abblätternder Farbe, einem Riss im Mauerwerk, alles ein bisschen angegraut und düster, half sie ihm, das ganze Klopapier und alle Konservendosen und Fertigpizzas und Spülmittel ins Haus zu tragen. Seine Vordertür war direkt neben dem Eingang zum Campingplatz, aber nach hinten raus gab es einen weitläufigen Hof. Zwei Stockwerke, ein spitzes Dach.

»Danke«, sagte Gustav, als sie alle Taschen abgeladen hatte, nahm einen Schlüssel von einem Regal im Flur und drückte ihn ihr in die Hand. Es wirkte, als wollte er sie aus der Wohnung haben, als sei es ihm peinlich, dass alles ein bisschen schmuddelig war und nach altem Mann, Kölnisch Wasser und Kaninchen roch. Sie hoffte zumindest, dass er es auch roch. Und dass er wirklich so harmlos wie wortkarg war.

»Du kannst den Wohnwagen haben«, sagte Gustav und ging voran. »Es ist kaum jemand da, bloß ein paar Angler.« Sie merkte, dass er vor dem »Du« kurz zögerte, aber es gefiel ihr, dass er umgeschwenkt hatte. Sie mochte außerdem, dass er so wenig sprach. Nur das Nötigste.

Gustav führte sie herum, deutete auf das flache Gebäude am Eingang, eine ganzjährig geöffnete Kneipe, weil es im Ort sonst nichts gab, ein winziger Kiosk, der nur in der Saison geöffnet hatte, die Rezeption, alles in einem. Ein paar an der Wand aufgestapelte Plastikstühle und Sonnenschirme warteten auf die Sommerferien.

Gleich neben einem rostigen Maschendrahtzaun, an dem Löwenzahn entlangwucherte, stand ihr Wohnwagen. Felder dahinter, ein Stückchen weiter weg ein Wald, und in der anderen Richtung konnte man glitzerndes Wasser sehen.

Der Wohnwagen war ein angegrautes, hässliches Ungetüm mit zerkratzten Fenstern und Moos auf dem Dach. Es gab zwei davon, und wem auch immer sie gehört hatten, er hatte sie wohl einfach stehen lassen, für später, für irgendwann oder irgendwen.

Dieser Campingplatz war kein Ort für Wohnwagen oder Wohnmobile, dachte sie, hierher kamen wahrscheinlich Leute mit winzigen Kuppelzelten und selbstaufblasbaren Isomatten, Radfahrer mit Anhängern voller Kinderspielzeug, Familien mit Schüsseln voll Stockbrotteig im Gepäck, Angler. Wochenendausflügler, die ihrem Alltag kurz entfliehen wollten. Es gab keine Parzellen, keine Stellplätze, keine Platznummern, nur eine große, sanft hügelige Wiese, in der man sich nasse Füße holte, wenn man am Morgen zu den Toiletten stiefelte.

Alles hier war alt, der Weg ausgefranst, das Toilettenhäuschen marode, und man musste eindeutig die Türen neu streichen. Aber das Gras war von Klee durchsetzt und saftig, der Boden weich. Gänseblümchen blitzten weiß zwischen den Grashalmen hervor. Der Zaun rings um den Platz war zur Straße hin mit dicken, hohen Hecken begrünt. Das Birkenwäldchen, das das Kassenhäuschen und die Kneipe überschattete, war licht und hell, und in den Feuerstellen war frischer Kies aufgeschüttet. Schwalben segelten über das Feld, und ein Türchen in der Umzäunung ging direkt hinaus zum Trampelpfad am Rand des Feldes, der an einer Streuobstwiese vorbei in Richtung See führte.

Alles in allem der perfekte Ort, um sich zu verkriechen. Ein Zettel auf dem Küchentisch, eine Whatsapp-Nachricht, ein Schlussstrich oder eine Pause.

Ich komme wieder, wenn ich komme.

***

Christophe fand keine Zeit zum Aufräumen. Den ganzen Tag klopften Paulettes Freundinnen an die Tür, strichen ihm mit knorrigen Fingern über die Wange, drückten ihn an ihre weichen Omaherzen, bis ihm die Luft wegblieb. Weinten und prusteten in blütenweiße Taschentücher. Und die gesamte Nachbarschaft hatte für ihn gekocht, alle aus der Straße. Sie drückten ihm Boxen und Dosen und Schachteln und Tüten mit Auflauf, Eintopf, Kuchen in die Hand. Er würde ungefähr die nächsten dreieinhalb Jahre nicht mehr kochen, geschweige denn einkaufen müssen.

Der ganze Tisch war voll, die Anrichte, der Herd. Paulettes Wohnküche, das Herzstück des Hauses, voll und belebt. Die älteren Damen, Chidis Mutter voran, wuselten in die Speisekammer, verstauten das Essen neben den eingemachten Litschis und Mangos seiner Mutter, riefen: »Ach, ihre Guavenmarmelade!« Stapelten die Blechdosen, in denen sie ihre Kuchen gelagert hatte: Bananenkuchen, Süßkartoffelkuchen, Maniokkuchen. Es wurde viel über Paulettes violette Lavendelmacarons gesprochen, Chris zeigte ihnen den zerfledderten Ordner, in den sie erst vor ein paar Tagen noch, in einem lichten Moment, das Rezept eingetragen hatte, mit zittrigen Fingern, aber ordentlicher Schrift, als ob sie gewusst hätte, was kam. Er verschenkte zwei Flaschen Rum und fast ihren ganzen Vorrat After Eight. Zu jeder Tages- und Nachtzeit hatte seine Mutter After Eight gegessen.

Die ganze Zeit umklammerte er die viel zu leichte Urne und stellte sie am Abend, als endlich die letzte der Freundinnen gegangen war, in die Speisekammer, denn falls noch irgendetwas, irgendein Spirit von Paulette da war, hätte sie sicher die Speisekammer als liebsten Ort zum Herumgeistern gewollt.

 

Die uralte Energiesparlampe funzelte ein klägliches Licht auf den Holztisch in der Mitte des Raumes und ließ alles andere im Finstern. Christophe aß eine Scheibe Bananenbrot aus einer mit Frischhaltefolie umwickelten Form, dann löffelte er ein bisschen Suppe aus einem orangefarbenen Topf, tunkte ein Stück frisch gebackenes Brot hinein. Er grub die nackten Zehen in den Perserteppich unter dem Tisch und starrte ins Zimmer, auf all den Kram seiner Mutter. Alles im Haus war bunt und voll.

Der einzige Raum im Haus, der nicht völlig vollgestellt war, war Christophes Zimmer. Sein Kinderzimmer, in dem er die ersten neunzehn Jahre seines Lebens und dann wieder die letzten fünf verbracht hatte, nachdem seine Mutter krank geworden war. Ein schlichtes Holzbett, das Chidi gebaut hatte, ein Schrank, ein weiß gerahmtes Foto von einem in der Sonne glitzernden See, das seine Mutter ihm geschenkt hatte.

Christophe, der einen Hang zum Minimalismus hatte, hatte jahrelang versucht, mit ihr auszumisten, aber Paulette hing an all ihrem Zeug. Ihr riesiger Palmfarn in der Ecke, den seit Jahren niemand umgetopft hatte und der wuchs und wuchs, ihre Holzschnitzereien: kopflose Körper, die sie selbst gemacht hatte, ihre Kissen und Schaffelle. Ihr Bücherregal voll mit Fotoalben und Hüten. Sie hatte nie einen davon getragen, aber fand sie alle so schön, dass sie sie einfach im Regal gesammelt hatte.

Er würde morgen damit anfangen, auszumisten.

Er räumte die restlichen Dosen und Töpfe mit Essen in die Speisekammer, nahm die letzte Schachtel After Eight aus dem Regal und setzte sich auf die Veranda in ihren alten, knarrenden Schaukelstuhl, legte ihre Decke über seine Knie und öffnete die Packung. Es roch nach ihr. So, wie sie in den letzten Monaten gerochen hatte, steril und alt zugleich, nach beißendem Desinfektionsmittel und sich selbst: Pfefferminzatem und viel zu süßes Veilchenparfüm. Er klopfte ihre Decke auf, die eine ganze Wolke von diesem Geruch freiließ, die ihn einhüllte. Dann zog er die Knie an, aß ein After Eight und schaute in die Dunkelheit. Ein Traumfänger-Mobile schwang an einem Balken der Veranda hin und her. Es hatte aufgehört zu regnen, aber es war noch immer ein stürmischer Tag. Der Wind wirbelte Blätter um die Veranda.

Die Beete gehörten neu angelegt, Unkraut musste gejätet werden, die Bäume zurückgeschnitten. Und dann musste er Dinge verschenken, verkaufen, zur Wohlfahrt geben, musste Stapel machen mit Sachen, die er behalten wollte.

Neben ihm das Tischchen seiner Mutter, auf dem sie ihre Kreuzworträtsel und Romane mit den schnulzigen Covern abgelegt hatte. Er aß noch ein After Eight.

Irgendwo im Haus klapperte ein Fenster. Ein Vogel kreischte. Der Schaukelstuhl knarrte.

 

Als Christophe aufwachte, fühlte sich sein Mund pelzig und trocken an, und sein Nacken schmerzte. Er lag noch immer auf der Veranda, verrenkt auf dem Schaukelstuhl, und blinzelte in den Garten, in das milchige Frühmorgenlicht. Drehte den Nacken hin und her, bis es knackte und er sich besser fühlte. Die Luft war dampfig und warm und so feucht, dass er fast das Gefühl hatte, in einem Nebel zu sitzen. Eine Nebeldusche. Die musste für heute Morgen reichen. Christophe stand auf, aß ein paar Löffel der süßeren Gerichte aus der Speisekammer und schaute die Nachrichten, bevor er sich den dritten Indiana Jones einschaltete.

Er mochte es, wenn der Fernseher lief: Es war, als wäre jemand bei ihm. Vertraute Gesichter, die man an- und ausschalten konnte, vertraute Dialoge, die er mitsprechen konnte, vertraute Geschichten, die er hundertmal gesehen hatte. Geschichten aus anderen Ländern. Nach seiner Ausbildung hatte er einen Job in Kanada angetreten, stolz und voller Vorfreude, hatte es geliebt, rauszukommen, weg zu sein von zu Hause. Hatte sogar das kühle Wetter gemocht, die rotverfärbten Blätter, den Herbst.

Dann vergaß seine Mutter mehr und mehr. Ein verlegter Schlüsselbund, ein Kartoffelschäler im Kühlschrank, unvollständige Sätze, wenn sie mit ihm telefonierte. Autofahren wurde zu einer Herausforderung. Irgendwann nahm Chidis Mutter ihr die Schlüssel weg. Paulette brauchte Hilfe, wenn sie zum Einkaufen gehen wollte, weil sie nicht mehr zurückfand. Chidis Mutter beglich ihre Rechnungen, weil sie nicht mehr wusste, wie man das machte.

»Chris, du musst heimkommen«, hatte sie gesagt. Er zögerte, zögerte lange. Fast ein halbes Jahr lang rief er oft an, erkundigte sich, kam schließlich zurück. Nach Hause. Die Insel, von der er nicht loskam. Wunderschön, ja, mit ihrem Geruch nach Vanille und Ananas, mit ihren felsigen Bergen, der Lava, den Stränden. Aber klein. Und mit einer kranken Mutter noch kleiner.

Es war langsam gegangen, aber grausam stetig abwärts. Sie vergaß Rezepte, konnte nicht mehr kochen, wurde wütend darüber, wurde ein anderer Mensch. Nicht mehr die lebensfrohe, fröhliche, herzliche Paulette. Sie erinnerte sich irgendwann nicht mehr an seinen Vater. Bekam Angst, wenn Chidis Mutter vorbeischaute. Sah nachts Gespenster ums Haus schleichen. Und er war da, er war immer da. Pflegte ihren Garten, damit sie es schön hatte, wenn sie auf dem Schaukelstuhl auf der Veranda saß. Kochte, machte den Haushalt. Räumte auf.

Er fand Besteck in den Ritzen des Sofas, bis oben hin hineingestopft. Sie zerfledderte Bücher, weil sie sie nicht mehr verstand. Ein einziges, unübersehbares und trauriges Mal pinkelte sie in den Papierkorb im Arbeitszimmer.

Der junge Indiana Jones fiel in einen Zirkuswaggon voller Schlangen, und Christophe beschloss, mit dem Bücherregal anzufangen.

Die Schmöker seiner Mutter wollte er sowieso nicht behalten, die konnte er einfach in eine Kiste packen und den alten Damen aus der Nachbarschaft überlassen, sie würden sich freuen.

Er nahm die Bände stapelweise aus dem Regal und legte sie vor sich auf den Couchtisch. Staubflusen wirbelten ihm entgegen, er nieste.

Chidi kam, als der Abspann lief, seine jüngste Tochter in einer Babytrage um den Bauch gebunden. Sogar mit einem drei Monate alten Baby und kaum Schlaf sah dieser Mann entspannt aus. Er nickte in Richtung Tür.

»Ich hab Umzugskartons dabei.«

»Danke«, sagte Chris.

Chidi angelte nach der Fernbedienung. »Es ist halb neun Uhr morgens. Du Filmjunkie.«

Chris legte die Romane vorsichtig auf einen Stapel, der immer höher wurde, während Chidi draußen die Kartons zusammenbaute. Er wackelte ziemlich und war furchtbar schief. Wie Jenga. Nur nicht zittern. Christophe legte noch drei obendrauf. Der Stapel krachte in sich zusammen, und die Bücher polterten auf den Teppich.

Sein Blick fiel auf ein Exemplar, das aufgeklappt mit dem Rücken nach oben gelandet war. Darunter sah er ein vergilbtes Papier, eindeutig beschrieben. In einer ordentlichen, schönen Schrift. Er beugte sich vor, angelte nach dem Blatt und zog es unter dem Buch hervor. Ein Umschlag. Eine Adresse. Die Schrift seiner Mutter. Hübsche Buchstaben, sehr rund. Keine Briefmarke, nicht zugeklebt, die Lasche steckte nur lose im Kuvert. Christophe zog das Papier heraus und faltete es auseinander. Er fuhr mit dem Daumen über die Datumsangabe auf der rechten Seite, runzelte die Stirn und las.

Was?

Er kaute an seinem Daumennagel, aber er merkte es kaum. Nur nicht zittern.

ZWEI

Gustav beobachtete die junge Frau, die über seinen Campingplatz strich, als sei sie nach vierzehn Tagen bereits hier zu Hause. Sie hatte so eine Art, Dinge zu erledigen, selbstverständlich und schnell. Sie war nicht so zerbrechlich, wie sie aussah, aber sie ging immer ein bisschen gebückt, als würde sie ein Gewicht mit sich herumschleppen.

Er hatte keine Ahnung, was ihn geritten hatte, sie einfach einzusammeln. Mitleid? Ein neu entwickelter Retterkomplex für Frauen mit traurigen Augen und blassem Teint? Mit anpacken, hatte er gesagt, dabei hatte er bei sich gedacht, dass sie nicht aussah wie jemand, die anpacken konnte. Ein Schneewittchen mit bemalten Armen, die Ärmel über die Hände gezogen. Aber was wusste er schon?

Tatsächlich packte sie mit an. Von Anfang an. Stand um halb sieben beim Toilettenhäuschen und hatte nichts dagegen, den ganzen Tag schweigend Fliesen zu schrubben und Spinnweben wegzusaugen. Schweigend, das fand er gut.

Aber trotzdem war sie da. Fragte, ob sie seine Küche benutzen dürfte. Briet Eier, von denen er eines abbekam. Nach Wochen, in denen er sich manchmal nur von Müsli mit Wasser ernährt hatte, weil nicht mal Milch im Haus war, geschweige denn irgendetwas anderes. Das war nett, aber seltsam, und er hatte es sich selbst eingebrockt.

Er fing an, sich an sie zu gewöhnen. Daran, dass sie mit in die Stadt fuhr, um einzukaufen, und dann irgendwie seinen Kühlschrank füllte, anstatt nur Reiswaffeln und löslichen Kaffee für sich selbst zu kaufen.

Auf einmal war sein Klo geputzt, und eine Duftkerze (eine Duftkerze!) brannte neben seinem Waschbecken. Auf einmal stand ein Strauß Blumen auf seinem Couchtisch. Und überall lagen Süßigkeiten herum, Gummischlangen, von anno 1993, die sie angeblich vergaß. Dem Haltbarkeitsdatum zufolge waren sie sicherlich aus der Kneipe, Reste, die nicht mal Gabriele, die Kneipenpächterin, noch essen mochte, aber Lale unermüdlich in sich hineinschob.

Und dann, eines Abends, sagte sie: »Gustav, ich lad dich heute mal zum Essen ein. Wegen … du weißt schon. Wegen allem. Dass ich hier sein darf, und so.«

Und er war überrumpelt, so wie sie ihn ständig überrumpelte (Duftkerzen und Gummischlangen), und er murmelte etwas von wegen: »Keine Ursache«, und sagte nicht nein. Und wieder war es nett, ungewöhnlich, aber nett. Sie brachte einen fetttriefenden Nachtisch mit, eine sahnige Mischung aus Tiramisu und Bananenpudding mit Löffelbiskuit und Kakao. Er würgte mühsam den Berg, den sie ihm davon auflud, hinunter und fror die Reste ein.

»Morgen wieder?«, fragte sie, als sie ging, und er nickte nur und fragte sich, ob sie nicht allein sein wollte oder er.

Sobald sie gegangen war, zog er den Kostenvoranschlag für die Sanierung der Toiletten hervor, aus dem letzten Jahr und viel zu teuer. Vielleicht konnte er es jetzt mit Lales Hilfe selbst machen: Ein paar Türen streichen, ein paar Klodeckel anschrauben, das sollten sie doch schaffen. Aber … lohnte sich das überhaupt noch?

Gustav merkte, wie seine Hände zitterten. Er rief Monika an, vielleicht nur, um seine Hände zu beschäftigen. Zeit für seine tägliche Dosis Immunabwehr. Oder den üblichen Anschiss, warum er immer noch hier war.

Warum, warum.

Morgen wieder, dachte er.

***

Seit zwanzig Minuten suchte Lale ihre SIM-Karte.

Ihr Handy war jetzt ein Wecker, mehr nicht, sechs Uhr dreißig vom ersten Tag an. Gustav trödelte nicht, und er arbeitete viel, das hatte sie gemerkt. Sie musste dann sofort raus in den taufrischen Morgen. Barfuß in Badelatschen über den feuchten Gehweg hinüber zum Toilettenhäuschen joggen, sich das Gesicht mit eisigem Wasser bespritzen, ihre Lieblingstoilette ganz hinten benutzen (die am wenigsten schäbig aussah, die sie eigenhändig mit Desinfektionsspray besprüht hatte und an deren Tür sie ein Poster von van Gogh aus Gustavs Haus gehängt hatte, weil es schöner war, beim Pinkeln auf Sonnenblumen zu schauen als auf eine beschmierte Klowand), Zähne putzen, ausspucken, zurückspurten, in ihre Latzhose springen, und los zu Gustav, zur Arbeit.

Aber jetzt war es sechs Uhr vierundfünfzig, und sie hatte doch nur kurz nachsehen wollen, schnell die Karte zurückstecken, und die immer gleichen zwölf neuen Anrufe abhören und dreiunddreißig Nachrichten auf verschiedensten Kanälen lesen. Du bist doch sonst nicht so. Ich weiß, du hast eine schwere Zeit, aber bitte komm nach Hause. Ich mache mir Sorgen!

Eine drahtlose Verbindung zu ihrem alten Leben, auch wenn Lale nur knapp antwortete. Oder gar nicht.

Trotzdem, die verdammte SIM-Karte war nicht im Rucksack und nicht in der Reisetasche und auch nicht in einem der Schränkchen im Wohnwagen. Sie fluchte, viel zu laut an diesem Morgen, wo nur Vögel zwitscherten und Nebel vom See heraufzog, wühlte in ihren Laken, tastete in einem Spalt unter der Bettkoje. Nichts.

»Scheiße«, sagte Lale, und dann noch einmal, lauter: »Scheiße!« Sie ballte die Fäuste.

Sie musste sich beruhigen, einen Kaffee trinken, oder wenigstens irgendetwas Warmes.

Noch vor zwei Wochen hatte sie gar keinen Kaffee gemocht. Hier brauchte sie das Zeug, um einigermaßen wach zu werden. Es war einfach viel zu früh. Noch bis vor zwei Wochen war sie auch nie um diese Uhrzeit aufgestanden, schon gar nicht am Wochenende. Nicht mal unter der Woche, wenn sie um acht im Büro sein musste. Bis kurz vor knapp schlafen, eine Tasse grünen Tee und in der U-Bahn eine Scheibe Toast. Am Schreibtisch viel gegähnt und sich hinter ihrer Bildschirmbrille versteckt, bis sie gegen halb elf einigermaßen wach war.

Sie goss sich eine widerliche Instantbrühe mit lauwarmem Wasser aus dem Wasserkocher in ihrem Wohnwagen auf. Das Licht über dem Feld war milchig und grau, die Sonne würde heute nicht wirklich hinter der dicken Wolkendecke hervorkommen, aber die Luft war frisch und feucht und schmeckte nach Sommer. Es war noch kühl, ihre Hände heiß an ihrer Kaffeetasse. Sie nahm einen tiefen Atemzug, spürte, wie sich die Rippen dehnten.

Eigentlich mochte sie es hier. Sie mochte diesen wirklich hübschen Fleck am Arsch der Welt, so wunderbar und abgelegen, dass sie tatsächlich geblieben war. Sie mochte die Abendessen mit Gustav, mochte es, Nachtische für ihn zu machen, die sie dann meistens selbst aß: Panna Cotta, Käsekuchen aus Keksen und Quark, Crème brûlée, Schokopudding mit Sahne. Sie hatte herausgefunden, dass sie es sogar mochte, früh wach zu sein (auch wenn sie den Kaffee wirklich nötig hatte). Sie mochte die Ruhe. Sie mochte, dass sie irgendwie genau hier gelandet war.

Weiter weg hörte man das Knattern eines Traktors.

Und dann fiel es ihr ein, sie schob eine Hand in die Hosentasche ihrer Latzhose, und da war sie, die SIM-Karte, winzig zwischen ihren Fingern. Sie hatte sie neulich eingesetzt und dann rausgenommen und vergessen. Lales Hände zitterten. Vierzehn neue Nachrichten, ein paar Anrufe auf der Mailbox. Sie sollte ihn anrufen, ihm sagen, wo sie war, was sie machte.

Du würdest es hier hassen. Die schäbigen Klos, die milchigen Spiegel, die absolute Abwesenheit von hippen Menschen. Du und deine blöden weißen Turnschuhe zu Anzughosen und Bomberjacken, deinem akkuraten Haarschnitt und der albernen Schiebermütze mit Fischgratmuster.

Sie tippte Matthias’ Nummer in ihr Telefon, es klingelte. Na, du?, würde sie sagen, ganz locker, als rufe sie nur mal eben an, wie man eben so anruft.

Es war kurz nach sieben, natürlich schlief er noch. Sie legte auf, stopfte das Telefon in ihre Hosentasche, setzte sich auf die Stufen in der geöffneten Tür des Wohnwagens und zerrupfte Löwenzahn, den sie gestern mit Gustav ausgestochen hatte. Am Feldrand gleich hinter dem Zaun saß ein Kaninchen. Es mümmelte sie furchtlos an.

»Na, du?«, sagte sie. Es sah nicht aus, als gehörte es hierher, es war viel zu auffällig, viel zu hübsch und viel zu flauschig. Weiß-braun gescheckt, mit einem dunklen Fleck zwischen den braunen Augen. Als sie klein war, hatte sie so eines gehabt. Ihr Bruder hatte es Vlad, der Pfähler genannt, wegen eines Vorfalls mit Lales Unterlippe (die Narbe hatte sie immer noch).

»Killerkaninchen …«, murmelte Lale und hielt ein paar Löwenzahnblätter in seine Richtung.

Das Kaninchen spitzte die Ohren, blickte sich um und verschwand im Feld. Sie hätte am liebsten dasselbe getan. Verschwinden. Als hätte sie damit nicht genug Erfahrung in letzter Zeit.

Lale nippte an ihrem Kaffee, holte ihr Handy raus, schrieb: Es geht mir gut, bitte gib mir Zeit.

Dabei wusste sie nicht mal, ob es das war, was sie brauchte. Zeit. Und ob gut der Wahrheit nahekam.

Sie schaltete das Telefon aus und verstaute es im Wohnwagen.

Die Zeit hatte nichts geheilt, gar nichts. Deshalb war sie gegangen. Und hier angekommen, wo alles anders war und sie arbeitete, körperlich arbeitete, um nicht nachdenken zu müssen. Weder über Matthias, der selten alles verstand, noch über … das, was sie selbst kaum begreifen konnte, immer noch nicht, und das sich nicht ausreißen ließ wie Unkraut.

Nicht denken, nicht fühlen, nur ihre Hände, die Schwielen bekommen hatten in diesen zwei Wochen, und Arbeitshandschuhe und Gummistiefel.

 

Gustav hatte ein Faible für irische Volksmusik, so dass auf den Toiletten ständig Fideln und Flöten um die Wette dudelten und man meinte, gleich würde die gesamte Truppe von Lord of the Dance aus einer der Kabinen brechen und zwischen den siffigen Waschbecken herumhopsen. Selbst um sieben Uhr morgens. Und obwohl außer diesen paar Anglern, die am See saßen und stundenlang aufs Wasser starrten, Gustav und ihr niemand auf dem Campingplatz war.

Lale fidelte »Star of the County Down« entgegen, als sie die grüne Schwingtür aufstieß wie ein Cowboy im Saloon.

Ein verlassenes Schwalbennest in einer Ecke unter dem Dach. Spinnwebenflusen. Mückenleichen in den grellen Neonröhrenlampen. Braune Fliesen mit Rissen, abblätternde Wandfarbe. Rote Toilettentüren, schwarze Toilettensitze. Angegraute Waschbecken und zerkratzte Spiegel.

Und jeden Tag: Reparaturen mit Gustav. Verstopfte Rohre, vom Winter aufgefrorene Leitungen, tropfende Wasserhähne. Heute: Dichtungen.

Gustav war bereits da und inspizierte eine weiße Silikonspritze, die in einem Eimer neben den Waschbecken stand. Er hob sie an, als er Lale sah. Sie tat, als würde er ein unsichtbares Monster über ihrem Kopf abschießen.

»Who you’re gonna call?!«, rief sie.

Gustav schenkte ihr eines seiner seltenen Lächeln. Ein kurzes Nach-oben-Kräuseln der Mundwinkel, mehr nicht.

Er sah aus, als hätte er zwei linke Hände. Ein schlaksiger Mann mit einer hohen Stirn und tiefen Geheimratsecken in seinem grau-blonden, dünnen Haar, das er nach hinten kämmte wie ein pensionierter Geschichtsprofessor. Cordjacketts und ausgebeulte Stoffhosen und Norwegerpullover, dieser Mann besaß nichts als Norwegerpullover. Tatsächlich hatte Gustav unterrichtet, Französisch und Deutsch, und das überall auf der Welt, soweit sie das aus ihm herausbekommen hatte. Nur kein Beamter sein, nur nicht fest angestellt. Nur kein langweiliges, bürgerliches Leben, auch wenn seine Outfits genau danach aussahen.

Und jetzt war er hier in diesem 300-Seelen-Kaff. Vielleicht war ja ein geerbtes Haus inklusive Campingplatz Welt genug.

 

Sie arbeiteten schweigend. Lale summte eine der irischen Melodien mit, während sie in den spröden Dichtungen stocherte. Mit Gustav – das wusste sie, obwohl sie erst seit zwei Wochen hier war – konnte man sich sehr gut unterhalten, wenn er Lust dazu hatte. Wenn sie beide Lust dazu hatten. Das war das Schöne an Gustav: Man musste nichts. Man konnte auch einfach schweigend und summend nebeneinander herarbeiten und den ganzen Vormittag kein Wort wechseln. Und wenn man wollte, sprach man über schlechte Filme, über die er sich dann furchtbar aufregte, über das Wetter infolge des Klimawandels, über das er sich dann furchtbar aufregte, über die Ansichten des Ortsvorstands, über die er sich dann furchtbar aufregte.

Gustav war gut im Aufregen. Lale war gut darin, ihn zu besänftigen.

»Oh, darling dear, you look so queer…«, sang sie, während sie mit einer Hand altes, graues Silikon aus den Fugen kratzte.

»Scheiße, ich kann es nicht mehr hören«, grummelte Gustav.

»Nicht? Ich dachte, bei dir ist jeder Tag ein Tag für irische Volksmusik.« Lale grinste.

Gustav brummte. Von weitem hörte man Traktoren dröhnen und aufgeregtes Rufen.

»Die verlegen heute das WLAN«, sagte Gustav.

»Hä?«

»Breitband-WLAN für das ganze Dorf. Ganz wichtig. Rainer wollte direkt durch meinen Platz. Aber wenn die auch nur einen Kratzer in meinen Campingplatz pflügen, können die mich kennenlernen.«

Lale wusste nicht, ob sie sich davon abschrecken lassen würden, aber Gustav konnte schon recht einschüchternd sein. Er hatte diese Art brummelige Strenge, wie sie vielleicht nur Lehrer im Ruhestand ausstrahlten.

Ihr Messer schabte über die Fugen. Die Geigen fidelten. Rufe von draußen, nicht für sie bestimmt.

»Niemand hier braucht Breitband-WLAN«, sagte Gustav. »Gäste kommen nicht her, um im Internet zu surfen.«

»Glaubst du«, sagte Lale. »Jeder will doch Anschluss an die weite Welt und so.«

Man konnte zum Beispiel seinem sehr verständnisvollen Chef eine Mail schreiben, dass man vier Wochen unbezahlten Urlaub nahm, aus persönlichen Gründen. Man konnte Freunden Bescheid geben, dass man eine Weile »offline« war und ihre besorgten Nachrichten ignorieren.

Gib mir Zeit, such mich nicht.

»Ha, hier ist auch mit Breitband ungefähr so viel weite Welt wie…« Gustav schien kein Vergleich einzufallen. »Äh … wie in einer Handtasche. Und nicht mal einer großen.«

Lale zerrte an einem besonders hartnäckigen Stück Dichtung und stocherte mit einem Messer nach. »Oh, ich habe manchmal richtig viel Welt in meiner Handtasche«, sagte sie. »Die sammelt sich da drin an, Eintrittskarten, Taschentücher von einer Erkältung letzten Winter, ein halbes Kit Kat von 2015, Kassenzettel …«

Eine geteilte Rechnung von IKEA über ein Sofa und diese hässlichen Regale, die Matthias unbedingt haben wollte, Sand aus einem Marokkourlaub, ein Handy mit fünfzehn unbeantworteten Anrufen, ein Bahnticket. Ein Bild von Matthias und ihr, ein schlecht ausgeleuchtetes Selfie, das sie mit der Polaroidkamera ihres Bruders gemacht hatte. Ihr vorgeschobener Schmollmund, sein breites Grinsen, sein dämlicher Undercut und seine fast grünen Augen. Der blöde Schnauzer, den er damals gehabt hatte. »Du Hipster«, hatte sie ihn genannt und ihn auf die Wange geküsst für ein zweites Polaroid, das er bekommen hatte.

Lale schluckte und vertrieb die Erinnerung aus ihrem Gedächtnis, indem sie sich auf ein besonders hartnäckiges Stück Silikon konzentrierte.

»Wack fall the daddy-o, wack fall the daddy-o, there’s whiskey in the jar«, sang die Band, und Lale sagte: »Was in aller Welt soll das eigentlich heißen?«

»Ich habe keinen blassen Schimmer«, sagte Gustav.

***

In der Mittagspause saß Gustav auf einem Stuhl vor den Toiletten und fühlte sich kaputt. Mürbe Knochen, dachte er. Die Sonne war durch die Wolken gekommen, und das grelle Licht machte ihm Kopfschmerzen. Etwas tat ihm immer weh, so sehr er auch versuchte, es zu ignorieren. Er war alt, wieso musste man ihn ständig daran erinnern? Er wusste es doch auch so.

Er beobachtete das rege Treiben unten am Feld. Das halbe Dorf war da. Sogar Bauer Gehrich. Und die ganze Nachbarsfamilie: Rainer, Monika und Florian. Flo half seiner Mutter, Thermoskannen auf einen Klapptisch zu stellen, und Tupperdosen voller Schnittchen für alle. Monika mit ihrem wippenden Pferdeschwanz und ihren pinken Laufschuhen und ihrem überschwänglichen Versorgungsdrang. Rainer, der Ortsvorstand, mit rotem Gesicht und oranger Warnweste, tat wichtig. Alle standen um einen Bulldog mit Pfluganhänger herum und schienen zu diskutieren.

»Sie sind zu nah am Platz«, murmelte Gustav Lale zu. »Viel zu nah.«

Lale, die den Pulli sonst immer weit über die Finger gezogen hatte, schob ihren Ärmel zurück. Diese Arme, vom Handgelenk bis zur Schulter über und über voll mit einem Getümmel aus kleinen schwarzen Tieren. Ein Delfin, eine Katze, die einen Vogel fing, ein Elefant in zarten Linien, ein Gepard, der nur aus einem einzigen Strich gezeichnet zu sein schien. Außerdem gab es welche, die mehr nach Trollen oder Fabelwesen aussahen als nach echten Tieren.

Gustav verstand nicht, wieso eine junge Frau Anfang dreißig ihre Zeit damit verbrachte, auf einem Campingplatz im Nirgendwo kaputte Silikondichtungen zu reparieren. Sie schwieg beharrlich dazu, und er hatte den Eindruck, irgendwann hatten sie eine stillschweigende Übereinkunft getroffen, dass das ein Thema war, über das sie nicht sprachen. Wahrscheinlich, dachte er, wird ihr Wohnwagen eines Morgens leer sein, einfach so.

»Oh«, machte sie und deutete zu der Menschenmenge am Feldrand.

Der Traktor sprang ratternd wieder an, und Gustav sagte: »Was in aller …?«, und dann machte das Ding auch schon einen Satz und rumpelte direkt durch den Zaun. Gustavs Zaun. Mitten in den Campingplatz hinein. Es knirschte, Monika kreischte, jemand brüllte etwas.

»Halt!«, schrie Gustav, stand von seinem Plastikstuhl auf und hastete, so schnell er konnte, hinunter zum Traktor. Heiliger Strohsack. Sein Zaun. Gustav versuchte, schneller zu gehen, aber sein Rücken machte nicht wirklich mit.

»Hey!«, brüllte er. »Hey!«

Rainer brüllte auch. Der Traktor rumpelte noch ein Stück nach vorne und blieb dann stehen. Eine ganze Mannschaft von Dorfbewohnern tummelte sich direkt an dem kleinen Tor im Zaun, das jetzt nicht mehr nötig war, weil der restliche Zaun rechts davon, bis zum nächsten Pfeiler, völlig eingedrückt war. Der Traktor stand schon im Campingplatz. Hintendran hatte der Pflug eine Schneise bis fast an den Zaun heran gegraben. Nur noch Dreckklumpen dort, wo der Feldweg gewesen war.

»Um Himmels willen!«, rief Gustav und fand, dass dieser Ausruf kein bisschen ausdrückte, was er empfand. »Himmelarsch«, fügte er deshalb noch hinzu.

»Ups«, sagte Flo, der aus unerfindlichen Gründen den Traktor fuhr, und kletterte mühsam vom Fahrersitz.

»Ups?«, polterte Gustav. »Ups?! Du hast noch nicht mal einen Führerschein!«

»Gustav…«, setzte Rainer an, aber Gustav spürte, wie sein Kiefer sich verspannte. Er fühlte sich wie ein Comicmännchen, dem gleich Dampf aus den Ohren blasen würde.

»Ihr verschwindet jetzt augenblicklich von meinem Grundstück, und zwar alle miteinander!«

Seine Hände zitterten. Das schnelle Laufen über den Platz hatte ihn angestrengt, seine Lunge schmerzte. Er fühlte seine Wut wie eine Welle über sich rauschen, eine Welle, die verebbte und ihn schwach zurückließ.

»Ach, dieses Malheur kann ja auch zu was gut sein …«, sagte Rainer und legte seinen feisten roten Kopf schief, als würde ein Hundeblick bei Gustav irgendetwas nützen. Aus den Augenwinkeln sah er Lale vom Klohäuschen herunterrennen, wehendes, fast schwarzes Haar und weißer Schutzanzug.

»Der Tempomat war eingestellt, und ich hab nur das Fahrpedal … also, ich hab’s kaum berührt, aber … das ging einfach zack, durch den Zaun«, sagte Flo.

Gustav versuchte wirklich, nicht allzu sichtbar mit den Zähnen zu knirschen. Er mochte den Jungen ja, er mochte auch Monika, Flos Mutter, die jetzt herbeigeeilt kam und ihren Sohn an sich drückte, als müsste sie ihn vor ihm beschützen.

»Er hat es ja nicht mit Absicht gemacht, Gustav«, sagte Monika und strich Flo übers Haar, der zu seinem Vater schielte und zu den Leuten, die an den kläglichen Resten des Zauns standen, und sich unbehaglich aus den Armen seiner Mutter wand.

»Ach nein?«

Gustav musterte Rainer, der so tat, als wäre er furchtbar zerknirscht, aber so wirkte, als würde er sich jeden Moment die Hände reiben. Wie ein Rumpelstilzchen, dessen Plan aufgegangen war. Sofort flackerte die Wut in Gustav wieder auf. Er zwinkerte ein paarmal, um neblige Schlieren, die vor seinen Augen aufgetaucht waren, zu vertreiben. Verdammter Kreislauf.

Rainer räusperte sich und sagte: »Aber jetzt, wo der Zaun schon kaputt ist, könnten wir doch …«

»Gar nichts könnt ihr!«, brüllte Gustav. »Ihr könnt abhauen, das könnt ihr. Und den Zaun bezahlt ihr mir auch!«

Rainer kletterte auf den Traktorsitz, murmelte was von einer neuen Kabelrolle, die sie nun besorgen mussten, und Gustav sagte: »Nicht mein Problem.« Ihm wurde wieder leicht schwindelig. Er spürte eine kühle Hand auf seinem Unterarm. Lale. Er funkelte sie an. Er wollte jetzt nicht bemitleidet werden. »Hört auf, hier Kurven zu fahren, ihr Idioten! Ihr macht den ganzen Platz platt!« Er wedelte mit ausgebreiteten Armen vor dem Traktor herum. »Nicht dahin! Nicht an mir vorbei!« Er sah, dass Lales Mundwinkel zuckten und schnauzte: »Was?«

»Kennst du die Szene aus Herr der Ringe, wo Gandalf den Balrog …«

»Nein!«, rief Gustav, der sich mittlerweile über alle ärgerte, über jeden hier, und auch über Lale, die von nichts eine Ahnung hatte und ihn nicht ernst nahm.

»Jetzt hau ab da«, rief Rainer vom Trecker herunter, »wir fahren dich noch um!«

»Haut ihr ab!«, brüllte Gustav.

Zu viele Leute, viel zu viele Leute. Gustav wollte nichts als seine Ruhe. Er drehte sich um und ging, ging einfach weg. Sollten sie machen, was sie wollen, sollten sie den Platz zerstören, sollten sie alles niedertrampeln, es war egal. Er würde so oder so nicht mehr viel davon mitkriegen.

 

Am Abend saß er auf der Terrasse hinter dem Haus und spielte Solitär. Er hatte nach der Aufregung am Vormittag zwei Schmerztabletten genommen, die ihn müde machten, müde und benebelt.

»Wie viele Schmerztabletten kann man nehmen, bevor es gefährlich wird?«, hatte er den Arzt gefragt, der sie ihm verschrieben hatte.

Die Antwort war: drei. Drei Stück. Das war gar nichts. Meistens brachte eine so wenig, dass er nach spätestens einer halben Stunde die zweite einwarf und die dritte schon gegen Mittag. Das hieß, er musste den gesamten Nachmittag und Abend damit auskommen. Dieses Mal hatte er am Mittag zwei genommen, also insgesamt vier, und hatte den Nachmittag damit verbracht, auf dem weichen, grünen Samtsofa seiner Tante vor sich hinzudösen. Er schlief nachts schlecht und quälte sich auf der weichen Matratze, hörte das Haus knarzen und seinen Körper gleich mit. Aufwachen war besonders schwer. Es war, als hätte sein Körper gar keine Lust mehr, wach zu sein. Alles tat weh, alles knackte und klapperte und rasselte. Seine Knochen, seine Lunge, alles ein einziges altes Chaos. Ein langsamer Verfall. Im Grunde war er baufällig und marode.

Er legte eine weitere Karte ab und schaute hinüber zu den Kaninchenställen. Jemand hatte im Lauf des Nachmittags Salatblätter und Karotten hineingelegt, und das Wasser sah auch frisch aus. Florian vermutlich. Bevor er beschlossen hatte, den Zaun kaputtzufahren. Aber der Zaun war nur ein weiterer Schaden, den es zu beheben galt, etwas, das Gustav einen Sinn im Leben gab, wenn er ehrlich war. Das war jetzt sein Lebensinhalt: nicht nachdenken und Dinge reparieren. Und davon gab es einige. Sobald der Campingplatz einigermaßen auf Vordermann gebracht war, würde er sich dem Haus widmen. Vielleicht konnte er auch Lale darauf ansetzen. Sie hatte mehrmals betont, dass das Haus schön war. Oder: schön sein könnte. Die alten Tapeten rausreißen, die Wände neu streichen, schlicht, weiß. Den Schimmel in den Griff bekommen. Die morsche Stufe auf der Treppe ersetzen. Die alten Möbel raus, die Dielen abschleifen. Der Teppichboden auf der Treppe nach oben und im ersten Stock: weg. Vielleicht neue Fenster und ein paar Wände durchbrechen, größere Zimmer. Sie hatte ihm einen Plan auf ein altes Stück Zeitung gemalt, hingekritzelt mit Kuli.

»Ich habe einen Blick für so was«, hatte sie ungewohnt selbstbewusst verkündet, und er hatte sie daran erinnert, dass es erst mal nicht um Schönheitsmakel ging, sondern um ganz profunde, grundlegende Dinge: ein tropfender Wasserhahn hier, eine pochende Heizung, die entlüftet werden musste, dort. Undichte Rohre. Im Keller war es feucht, und ein ekelhafter, gelblicher Schimmelpilz kroch vom Boden herauf auf alles, was dort stand.

Aber kein Wunder, dass sie das Haus verschönern wollte. Sie hatte so etwas an sich. Etwas, das nach Veränderung schrie. Niemand passte weniger an diesen Ort als Lale. Allein dieser Name, Lale.

»Es ist türkisch oder persisch oder so«, hatte sie achselzuckend gesagt, als er sie danach gefragt hatte, als hätte sie keine Lust auf Erklärungen.

Man wusste doch, was sein Name bedeutete, oder? Gustav war ein schwedischer Vorname und bedeutete der Gote oder der Stab. Ziemlich prosaisch. Und trotzdem wusste er das. Er hatte ihren Namen gegoogelt, viel poetischer: Tulpe.

Er hörte Schritte. Es klopfte an der Terrassentür, und er blickte auf. Lale lächelte, einen Schüssel in der Hand. Das war noch so etwas: Sie aßen zusammen. Nicht immer, aber immer öfter, und er merkte, dass er sich darauf freute. Er konnte es Lale nicht verübeln, dass sie versuchte, ihn zu füttern (denn das machte sie, oder?), er war schrecklich dünn geworden. Am Morgen trank er Tee und aß ein Stück Knäckebrot, mehr brachte er so früh nicht herunter. Mehr brachte er überhaupt nicht herunter. Er merkte es an seinen Klamotten: Den Gürtel musste er enger machen, seine Hemden schlackerten an den Armen, und selbst seine Pullis hingen an ihm wie weite, wollene Säcke. In ein paar Wochen würde er aussehen wie ein Skelett mit ein bisschen fahler Haut außen herum.

Früher hatte er es geliebt zu kochen, früher, als er noch Appetit hatte. In jedem Land, in dem er gewesen war, hatte er dazugelernt. Sämige Currys und Dal aus Indien, Pad Thai mit viel Öl kurz in einem Wok geschwenkt in Thailand, eine echte Puttanesca aus Apulien, eine Lamm-Tajine mit Datteln aus Marokko. Jetzt kochte er manchmal für Lale, oder mit Lale, aber meistens war sie es, die sich den Bauch vollschlug, er stocherte nur im Essen und sah ihr dabei zu.

Jetzt stand Gustav mühsam auf und sagte: »Ich dachte, du kommst morgen.«

»Ein außerplanmäßiges Essen«, sagte sie. »Ich dachte, nach dem Chaos heute Morgen kannst du was Gescheites vertragen.« Sie hob die Schüssel und zeigte ihm den Inhalt: Hefeteig.

»Pizza?«, fragte er.

Sie nickte.

»Der Ofen geht doch nicht richtig«, sagte er und schob sich ins Haus. Es war ein trüber Tag, und die Lampe im Wohnzimmer machte kaum hell.

»Wird schon«, sagte sie und kam hinter ihm her.

 

Sie sprachen nicht viel, jedenfalls nicht heute. Manchmal über die Arbeiten auf dem Campingplatz, die getan werden mussten. Oder über das Haus. Manchmal fragte sie nach seinen Reisen, nach den Fotos an der Wand, die er über den Fernseher geklebt hatte: Kambodscha, Nigeria, Neuseeland, all die Länder, all die Bilder von Landschaften, nur Landschaften, keine Leute, niemand war lange genug geblieben, um es wert zu sein, ihn an eine Wand zu hängen. Manchmal legte sie eine seiner Platten auf, blies den Staub von den Hüllen und setzte vorsichtig die Nadel auf die Scheibe, lauschte mit geschlossenen Augen dem Kratzen und Rauschen, bis das Lied losging.

Einmal sahen sie zusammen einen Film, den sie aus seiner DVD-Sammlung gezogen hatte, The Big Lebowski, »damit kann man nichts falsch machen«. Er spielte dabei Solitär und warf vom Tisch aus ab und zu einen Blick auf den Fernseher und die hübsche, junge Frau, die da in ihrer Latzhose auf seinem Sofa saß und lachte und trotzdem so traurig aussah.

Sie erzählte ihm nichts aus ihrem Leben, und er fragte nicht.

Die Pizza war gerade fertig, als Florian an der Terrassentür klopfte.

»Was will der denn hier?« Gustav runzelte die Stirn.

»Hallo«, sagte Flo. »Meine Mama schickt Kekse, als Entschuldigung.«

»Deine Mama muss sich nicht bei mir entschuldigen«, sagte Gustav, während Lale Flo die Tupperdose abnahm, öffnete und »hmm« machte.

»Trotzdem nett«, sagte sie und lächelte dem Jungen zu.

Gustav war müde. Er hatte keine Lust, gegen irgendetwas anzukämpfen. »Gut. Dann nehme ich die Entschuldigung an, und du kannst dich wieder vom Acker machen, Kleiner.« Er wedelte auffordernd in Richtung Tür. »Du weißt ja, wo’s rausgeht.«

»Warte mal«, sagte Lale, als Flo sich umdrehte.

»Ja?«

»Du vermisst nicht zufällig ein Kaninchen?«

»Nö«, sagte Flo.

»Da ist eins im Feld«, sagte sie. »Es sieht aus wie ein weggelaufenes.«

»Nicht von mir.« Der Junge schielte auf das dampfende Pizzablech, das Lale hereintrug.

»Die Frage ist ja, wovor es weggelaufen ist«, sagte Gustav, während er beobachtete, wie Lale die Pizza in Stücke schnitt. »Also, warum es nicht mehr im Rudel sein wollte.«

Sie warf ihm einen unergründlichen Blick zu.

»Vielleicht musste es einfach mal weg«, sagte sie.

Gustavs Mundwinkel zuckten. »Ja, ja, so ein Rudel kann ziemlich anstrengend sein.«

»Der Fachausdruck ist Kolonie«, sagte Flo.

»Schön«, sagte Gustav. »Da haben wir doch alle was gelernt. Und du gehst jetzt.«

»Tut mir wirklich leid wegen …«

»Sollte es auch! Ich bin wirklich stinkig, Kleiner.«

Gustav sah, dass die beiden einen Blick tauschten, den er nicht richtig deuten konnte. Mitleidig, vielleicht. Belustigt. Das war aus ihm geworden. Eine Witzfigur, um die man sich bestenfalls noch Sorgen machen konnte. Er seufzte.

»Er könnte ja helfen, die Klos zu schrubben«, sagte Lale mit einer furchtbar fröhlichen Stimme, die Gustav in den Ohren schmerzte. »Als Wiedergutmachung, mein ich. Und ich wette, du hast noch hundert andere Aufgaben, bei denen er helfen kann.«