Nach dem Sommerregen - Kristina Pfister - E-Book
NEUHEIT

Nach dem Sommerregen E-Book

Kristina Pfister

0,0
14,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Früher haben sie fast jedes Wochenende im alten Ferienhaus der Familie verbracht, heute treffen sie sich dort nur noch zu besonderen Anlässen: Cecilia, Jonas und Marika Ritter wohnen in alle Winde verstreut, leben ihre eigenen Leben, versuchen, ihre eigenen Krisen zu bewältigen. Als die Eltern sich trennen, das Haus verkaufen wollen und damit ihr sicherer Hafen wegzubrechen droht, wollen sie ein paar letzte Wochenenden gemeinsam dort verbringen. Zwischen Loslassen und Festhalten, im Versuch, sich als Familie neu zu finden, stellen sich die drei der Frage, wer sie eigentlich sind, ohne das Ferienhaus an der alten Mühle.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 376

Veröffentlichungsjahr: 2025

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Kristina Pfister

Nach dem Sommerregen

Roman

 

 

Über dieses Buch

 

 

Früher haben sie fast jedes Wochenende im alten Ferienhaus der Familie verbracht, heute treffen sie sich dort nur noch zu besonderen Anlässen: Cecilia, Jonas und Marika Ritter wohnen in alle Winde verstreut, leben ihre eigenen Leben, versuchen, ihre eigenen Krisen zu bewältigen.

Als die Eltern sich trennen, das Haus verkaufen wollen und damit ihr sicherer Hafen wegzubrechen droht, wollen sie ein paar letzte Wochenenden gemeinsam dort verbringen. Zwischen loslassen und festhalten, im Versuch, sich als Familie neu zu finden, stellen sich die drei der Frage, wer sie eigentlich sind, ohne das Ferienhaus an der alten Mühle.

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Kristina Pfister wurde 1987 in Bamberg geboren und verbrachte schon als Kind zahlreiche schöne Ferientage auf den Campingplätzen Europas. Der Sommer ist für sie am schönsten mit den Füßen im Wasser. Deshalb studierte sie am Bodensee, fährt wenn möglich jedes Jahr ans Meer, und freute sich sehr, als sie 2018 ein Aufenthaltsstipendium im »Baltic Centre for Writers and Translators« auf der Insel Gotland bekam. Wenn sie nicht gerade an einem Strand zeltet oder auf schwedischen Inseln schreibt, lebt und arbeitet sie in Nürnberg.

Impressum

 

 

Erschienen bei FISCHER E-Books

 

© 2025 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, 60596 Frankfurt am Main

 

Redaktion: Volker Jarck

Covergestaltung: Favoritbüro, München

Coverabbildung: Camila Pinheiro

ISBN 978-3-10-492078-8

 

Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.

 

Die Nutzung unserer Werke für Text- und Data-Mining im Sinne von § 44b UrhG behalten wir uns explizit vor.

Hinweise des Verlags

 

 

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

 

Im Text enthaltene externe Links begründen keine inhaltliche Verantwortung des Verlages, sondern sind allein von dem jeweiligen Dienstanbieter zu verantworten. Der Verlag hat die verlinkten externen Seiten zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung sorgfältig überprüft, mögliche Rechtsverstöße waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Auf spätere Veränderungen besteht keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

 

 

Dieses E-Book enthält möglicherweise Abbildungen. Der Verlag kann die korrekte Darstellung auf den unterschiedlichen E-Book-Readern nicht gewährleisten.

 

Wir empfehlen Ihnen, bei Bedarf das Format Ihres E-Book-Readers von Hoch- auf Querformat zu ändern. So werden insbesondere Abbildungen im Querformat optimal dargestellt.

Anleitungen finden sich i.d.R. auf den Hilfeseiten der Anbieter.

Inhalt

Sommer

Freitag

Keine Überraschungen

Anderswelt

Sommerhaus, wie immer

Samstag

Zwei rosa Streifen

Leichen im Keller

Ein alter Freund der Familie

Dadsplaining

Kirschkerne spucken

Sonntag

Blutige Blumen

Das kleine Marienkäferchen

Eisige Stimmung

Eine Scheißangst

Die Party

Donnerwetter

Herbst

Freitag

Dugong, futschikato

Ein Fundus ausgedienter Dinge

Samstag

Das laue Lüftchen der Familie

Eine Versammlung von Schlaflosen

Sonntag

Versteinert in der Friendzone

Speeddating

Offen für Neues

Das Gegenteil eines Dugongs

Herzensangelegenheiten

Wasserschlacht

Die Welt dreht sich

Ballast abwerfen

Winter

Freitag

Gas geben

Ein festgezurrter Knoten

Weih-neval

Kipferl-Katastrophe

Eine dysfunktionale Regenjacke

Müde Mütter

Samstag

The way to hell

Bombe

Das verdammte innere Kind

Eine Rettungsdecke für Jack Reacher

Sonntag

Zombieapokalypse

Urlaub an Österreichs schönster Küste

Rabenmutter

Klar kommen

Frühling

Neuanfang

Sommer

Freitag

Keine Überraschungen

Cecilia: Habt ihr die E-Mail von Mama gekriegt?

Jonas: Welche von den 3000?

Cecilia: Death Cleaning?

Jonas: Mama will nur aufräumen, die stirbt nicht. Wenn einer stirbt, dann Paps, er wird dicker und dicker.

Marika: Du kommst übrigens voll nach ihm, Herr Walterson, ich würde mal ganz still sein.

Jonas: Du brauchst reden, Marienkäfer.

Marika: Leck mich, Jonas. Ich glaube, ich verliere mal wieder mein Handy. Ciao.

Cecilia: Seid bitte pünktlich am Freitag, ihr wisst, wir müssen die Party vorbereiten.

Jonas: Welche Party?!

Cecilia: Sehr witzig.

Jonas: Freu mich auch auf euch, meine Lieblingsschwestern, Bussi!

Die Luft am Bahnsteig war warm und roch trocken, die Sonne stand tief, brannte aber noch immer auf Marikas blassen Schultern. Sie hätte nicht so viele dicke Pullis einpacken sollen. Das Wetter in Berlin war viel schlechter gewesen: Ein Juli, der für Februar durchgehen konnte, 15 Grad, Nieselregen, Pfützen auf den Gehsteigen und lange Gesichter, wohin man blickte. Hier dagegen schwitzte sie in ihrem Wollpullover, über den sie heute Morgen, beim Aufbruch in aller Herrgottsfrühe, froh gewesen war.

Seit Stunden war sie unterwegs, das letzte Stück war der Zug gemächlich durch ein langgezogenes Tal gebummelt, so langsam, dass Marika das Gefühl gehabt hatte, sie könnte einfach nebenher gehen und wäre noch nicht mal wirklich aus der Puste. Neben den Gleisen plätscherte ein kleiner, recht wild anmutender Bach. Dahinter Wiesen und Kiefernwälder, sandige Hügel, die nach Mittelmeer und Strandurlaub aussahen.

Marika zog den Pulli aus und band ihn sich um die Hüften, betrachtete kurz ihren Bauch, als das T-Shirt hochrutschte; der sah aus wie immer. Sie versuchte, ihren Koffer ein Stück in Richtung der Straße zu wuchten. Vom Schlingern des Bummelzugs war Marika ein wenig übel, und sie dachte an den Test, den sie am Bahnhof gekauft hatte und der in den Untiefen ihres Rucksacks lag. Neben ihr in einem Wartehäuschen rauchten ein paar Teenager. Marika versuchte, flach zu atmen, hielt Ausschau nach ihrem Vater, der für gewöhnlich pünktlich war. Früher hatte er sie sogar nachts um vier von Partys abgeholt, damit sie nicht mit irgendwelchen zwielichtigen Gestalten nach Hause fahren musste. Nun war Papas alter roter Wagen nirgends zu sehen.

Der Geburtstag ihres Vaters im Sommerhaus. Jedes Jahr ein Familienwochenende am Arsch der Welt. Es war ein wohlbekannter Arsch, einer, von dem man jedes Pickelchen und jedes Muttermal kannte, von dem man wusste, wie er sich anfühlte: Nicht zu weich und nicht zu hart, ein hübsches Fleckchen, nichts Besonderes, aber gemütlich in seiner Vertrautheit, von Kindesbeinen an. Das Dorf mit dem Bächlein, das Tal, die Wiesen, die Felder, der Kiefernwald. Die gewundene Straße durch den Ort, die verlassenen Fachwerkhäuser. Weiter draußen hinter dem Wald nichts als Kühe, Solarpaneele und ein paar Windräder. Selbst die Luft roch vertraut nach einer Mischung aus Kuhdung und Staub und viel zu trockenen Nadelbäumen.

Das Auto ihres Vaters würde gleich um die Ecke biegen, und er würde gut aufgelegt sagen: »Na, wie war die Reise, Marienkäfer?«, und sie würde antworten: »Lang«, so wie jedes Jahr, und ihre Mutter würde im Sommerhaus bereits die Betten beziehen und über die Waschmaschine schimpfen, die immer noch tropfte, auch so wie jedes Jahr.

Und dann wären da ihre perfekten Geschwister mit ihren perfekten Leben und ihren perfekten Partnern, die perfekte Obstkuchen unter so etwas wie Tortenhauben mitbrachten, Gegenstände, die Marika nicht einmal besaß, geschweige denn besitzen wollte, und die anderen würden perfekte Klamotten tragen, ihre Schwester eine luftige Musselin-Culotte, die trotz Weite ihrer makellosen Figur schmeichelte, der zuliebe sie nur ein winziges Stückchen Kuchen essen würde, und ihr Bruder eines seiner Bandshirts von 2001, damit man sah, dass er zwar ein langweiliger Lehrer war (wie seine Eltern), aber einer von den coolen, einer, den die Schüler mochten und für den sie Spitznamen wie »El professore« erfanden. Marikas Neffe wäre größer, und würde dauernd brüllen, aber Cecilia und Per-Olov würden nur milde lächeln, »er ist ein High Need Baby«, weil dieses Kind alles tun und lassen durfte, was es wollte, nachdem es endlich, nach Jahren des Hoffens und Bangens, doch noch auf die Welt und in ihr aller Leben gekommen war, und alle würden sie nach Marikas Job fragen, der ihnen exotisch und wild vorkam, »wie konntest du einen Second-Hand-Laden kaufen, du bist ja verrückt.«

Sie sah alles vor sich, keinerlei Überraschungen.

 

Marika setzte sich auf ihren Koffer, nicht nur von der Fahrt erschöpft, sondern von einfach allem. Der Laden lief schlecht, ihre Miete wurde laufend erhöht, und nun gab es auch noch Kai, der ja ganz nett war, aber, du meine Güte, sie kannten sich gerade mal drei Monate, er war vier Jahre jünger als sie und glaubte, YouTuber sei ein ernsthafter Beruf, und das, obwohl auch er längst auf die 30 zuging. Der Test klapperte in ihrem Rucksack herum, gleich neben ein paar Büchern, die sie sowieso nur nervös machten, von weisen Frauen mit ihrem jahrhundertealten Wissen aus der Natur. Marika schloss die Augen. Sie freute sich auf das Sommerhaus, und darauf, zwei Tage ihr Gehirn abzuschalten. Denn das tat man hier: Man saß herum, dachte über nichts nach und aß Melonen. Aber der Rest, ihre Geschwister, ihre Familie – puh. Hinter ihren Lidern flimmerte die Abendsonne einen orangen Reigen an Flecken, die alle aussahen wie kleine Feuerkäfer. Dann hupte jemand neben ihr.

Anderswelt

»Ich kann es natürlich nicht nachfühlen, aber ich verliere ja auch jedes Mal ein Kind, ist ja nicht so, dass …«

»Genau, du kannst es nicht nachfühlen.«

»Also willst du es nicht noch mal versuchen?«

»Doch, natürlich will ich das!«

»Ich meine ja nur, wir haben Oskar, und ich weiß, wie schwierig für dich die Abgänge …«

»Du weißt gar nichts. Ich wollte immer eine große Familie, P-O!«

»Also gut, dann versuchen wir es.«

»Der Arzttermin ist am fünfzehnten, kannst du da mitkommen?«

»Da bin ich doch in Stockholm …«

»Ja, spar’s dir, ich geh allein.«

Cecilia winkte ihr aus einem riesigen SUV zu, der schwarz glänzte wie frisch geputzt.

Ihre schöne, ältere Schwester, schlank und groß und ätherisch mit ihrem schimmernden, mokkabraunen Haar und ihrer Leinenbluse. Trotz Klimaanlage, die kühl aus dem Auto herauswehte, hatte sie ein paar rote Hitzeflecken im Gesicht. Ansonsten war sie perfekt wie immer, Make-up, Lidstrich und Concealer dezent, ganz natürlich.

»Marika!«, rief Cecilia, die keine fünf Meter von ihr entfernt stand. »Wir nehmen dich mit!«

Marika rappelte sich hoch (Kreislauf, flackernde Punkte vor den Augen, kurzes Rauschen in den Ohren) und schleifte ihren Koffer zu Cecilias Auto. Sie öffnete die hintere Tür, aber dort war alles voll mit Oskar: Ein Kindersitz, aus dem heraus er sie mit dunklen Augen anstarrte, und um ihn herum Brösel von (ganz bestimmt) zuckerfreien, veganen Cookies, Stapel von Kinderbüchern und eine Toniebox mit etlichen Figuren dazu, Kuscheltiere, Decken, Kissen, Sandalen, ein Paar Matschhosen und eine zusammengeknüllte, dem Geruch nach volle Windel. Marika lugte in den Kofferraum, der auch völlig überquoll von Taschen und Bettdecken und Kopfkissen und Picknickkörben und riesigen Koffern, in denen man Babyelefanten verschiffen könnte. Ihre Schwester war der ordentlichste Mensch der Welt, immer adrett und sauber, aber in ihrem Auto schienen andere Gesetze zu gelten. Als wäre das Wageninnere eine chaotische Anderswelt, eine Zone, in der etwas verstecktes Wildes an Cecilia zum Vorschein kommen durfte.

»Hallo«, sagte Marika. »Wow, Ossi, bist du groß geworden!« Sie biss sich auf die Unterlippe; sie klang wie ihre fürchterlich klischeehafte Tante Margit. Oskar guckte finster drein und lutschte wortlos an etwas, das aussah wie eine gekochte Zucchini.

»Er fremdelt«, sagte ihre Schwester vom Fahrersitz aus. »Er sieht dich ja nie. Du musst den Koffer mit nach vorne nehmen. Wir sind ziemlich beladen.« Marika ging ums Auto rum, setzte sich auf den Beifahrersitz, hievte den Koffer auf ihren Schoß.

»Was ist mit Per-Olov?«, fragte Marika. »Hatte er keinen Platz mehr im Auto?«

»Der arbeitet.«

»Ah! Ganz was Neues.« Im Wagen war es kühl, die Klimaanlage voll aufgedreht, und nach dem überhitzten Zug und der warmen Luft draußen fröstelte Marika. »Hast du einen Schokoriegel, Sisi? Mir ist irgendwie komisch.«

»Im Handschuhfach. Und manche Leute haben eben anstrengende Jobs.«

Unter einem Stapel Kassenzettel fand Marika im Handschuhfach eine Tupperdose mit Keksen und schnupperte daran. Sie rochen süßlich nach Banane. »Gibt es nichts Gehaltvolleres?«

»Die sind mit Datteln, die haben enorm viel Fruchtzucker. Im Übrigen solltest du wirklich mal anfangen, mehr auf dich zu achten, weil wenn man erst mal über 30 ist …«

»Ich mach Yoga«, sagte Marika, die ein-, zweimal beim Kurs gewesen war und es stinklangweilig fand. Ihre verkürzte Beinmuskulatur hatte weh getan.

»Oh, gut. Guter Anfang.« Cecilia setzte zu einem Überholmanöver an, und Marika klammerte sich an den Haltegriff über ihrem Sitz. Wild, dachte sie. Chaos.

Cecilia sagte: »Wie geht’s dir und dem Laden? Läuft er wieder besser? Du weißt, wenn du Geld brauchst, P-O und ich können dir jederzeit …«

»Der Laden läuft okay.« Das war ein bisschen übertrieben, aber das musste die perfekte Sisi ja nicht wissen.

Die Kekse schmeckten erstaunlich lecker, waren vermutlich gut für die Verdauung und enthielten sicherlich viel Vitamin C und B und K und sonst was. Marika drehte sich zu Oskar um. »Ossi, sag mal: Tante Rika! Tante Rika!«

Das Kind sah sie ausdruckslos an.

»Spricht er immer noch so wenig?«

Cecilia atmete heftig durch die Nase ein; es klang wie ein Schniefen. »Wir sind schon beim Logopäden.«

»Tan-te Ri-ka!«, sagte Marika übertrieben heiter und kam sich blöd vor.

»Lass ihn, Marika, ich schreib dir doch auch nicht vor, was du zu sagen hast!« Cecilia hupte.

»Ist er mit der Zweisprachigkeit verwirrt? Ihr erzieht ihn doch zweisprachig, oder? Oder dreisprachig?«

Ihre Schwester antwortete nicht, sondern überholte wagemutig einen langsamen Trecker vor ihnen.

»Und ist er denn jetzt in der Kita?«, fragte Marika.

»Wir haben uns doch dagegen entschieden.«

»Wieso?«

»Ach, man muss da bei sich bleiben. Die bindungsorientierte Bubble zerfleischt Mütter, die ihre Kinder unter drei in eine Krippe geben, und andere machen sich darüber lustig, wie gluckig man ist, wenn man sein Kind nicht mit einem Jahr fremdbetreuen lässt und wieder arbeiten geht. Als Mutter kannst du nur verlieren.«

»Aha«, sagte Marika, die eigentlich nur höflichkeitshalber gefragt hatte.

»Ständig muss man sich wegen irgendwas rechtfertigen!«, fuhr ihre Schwester fort. »Man ist dauernd in der Zwickmühle zwischen Raben- und Helikopter-Mutter.«

Schon wieder überholte sie ein langsames Auto vor ihnen. Marika stemmte sich in ihren Sitz. »Boah, Sisi, du fährst wie ne gesengte Sau. Hast du nicht schon mal fast deinen Führerschein verloren, wegen …«

»Hab ich nicht. Ich fahre sehr verantwortungsbewusst.«

»Wie man’s nimmt. Und wie geht’s dir?«, fragte Marika, schon jetzt leicht angestrengt von ihrer großen Schwester. »Wie läuft es an der Babyfront?«

»Oskar ist kein Baby mehr.«

»Ja, ich meinte eher …« Marika machte eine pumpende Geste mit dem Arm wie pubertierende Jungs in amerikanischen Highschool-Filmen. »Arbeitet ihr nicht an Nummer zwei?«

»Tja, äh, Arbeit trifft es.«

»Wart ihr noch mal beim Arzt?«, fragte Marika.

»Kürzlich erst, ja. Himmelherrgott, kannst du noch langsamer fahren, du …« Cecilia hupte wieder, dann klingelte ihr Handy über die Freisprechanlage, und sie drückte einen Knopf an ihrem Lenkrad. Aus irgendeinem versteckten Lautsprecher dröhnte die Stimme ihres Vaters: »Hast du Käferchen abgeholt, Cecilia?«

Marika verdrehte die Augen; diesen Spitznamen hasste sie.

»Natürlich«, sagte ihre Schwester, dann rauschte es in der Leitung, denn der Handyempfang am Arsch der Welt war eben genau das, was man erwartete.

»Das Netz ist gleich weg, Papa, bis später!«, rief Cecilia ins Auto, in den leeren Raum, als könnte lautes Sprechen das Funkloch überwinden.

»Käferchen«, sagte Marika.

»Bist halt unsere Kleine.« Cecilia startete ein weiteres schrecklich waghalsiges Überholmanöver auf der kurvigen Landstraße, und Marika schaute auf die vorbeirauschenden Kiefernwälder, ließ sich die Klimaanlagenluft ins verschwitzte Gesicht wehen und umklammerte ihren Koffer. Waghalsig, so war in ihrer Familie nur Cecilia, und die auch nur beim Autofahren. Cecilia, die Große. Cecilia, die Bedachte. Bis auf ihre Fahrkünste.

Sommerhaus, wie immer

Hi Jonas, ich lass dir ne Sprachnachricht da, bin auf dem Sprung in ein Meeting. Weißt du, ich hab das gestern nicht so gemeint. Ich war einfach durch den Wind. Aber der Gedanke, dass das jetzt ewig so weitergeht – sicherer Job, verheiratet, Eigentumswohnung, alles gleich, bis zur Rente und darüber hinaus, ähm, nee. Da hab ich einfach nicht so Bock drauf. Auf ein Sabbatical hätte ich schon länger mal Lust. Ich wollte schon immer mal nach Island, zum Beispiel. Du, ich hab so ein Kratzen im Hals, ich hoffe, das wird keine Sommergrippe. Na ja, muss los. Bis später.

Es war ein bisschen übertrieben, das Sommerhaus der Familie Ritter Sommerhaus zu nennen. Das klang nach reichen New Yorkern, die in einer viktorianischen Villa hinter feinen Dünen am Meer die heißen Sommermonate verbrachten. Dabei war das Haus kein schniekes Ferienhaus, es hatte Marikas Großeltern gehört und davor deren Eltern und so weiter und so fort. Ein einfaches Wohnhaus in unmittelbarer Umgebung einer Mühle, die im Laufe der Jahre verschwunden war, das Mühlrad morsch und veralgt. Niemand aus der Verwandtschaft ihrer Mutter hatte in dem winzigen Ort wohnen wollen, aber wert war das Haus auch nichts gewesen, also hatte man es eben einfach behalten, als Sommerfrische, als Ferienhaus, als Zuflucht aus der Stadt an besonders heißen Julitagen (so gesehen doch ein bisschen New York in der deutschen Pampa).

Der Name Ritterburg, der natürlich von ihrem Papa stammte, passte so gar nicht. Während Cecilia den SUV die Auffahrt hinauflenkte, betrachtete Marika das Häuschen: Ihr Vater hatte es letzten Herbst neu getüncht, und es strahlte weiß wie frisch gewaschene Bettwäsche. Jonas hatte ihr auf der staubigen Zufahrt zum Haus Fahrradfahren beigebracht, sie hatte sich dabei ihren rechten Schneidezahn ausgeschlagen. In der Einfahrt gab es einen Bereich, wo alle drei Kinderfußabdrücke in Beton eingeprägt waren. Im Badetümpel neben dem Haus, dort, wo sich der Bach am Mühlrad aufstaute, hatte sie erste Schwimmzüge gemacht, war dutzende Male vom Steg ins Wasser gehüpft, Sommer für Sommer. War bei Gartenpartys heimlich aus dem Bett gekrochen und hatte den Erwachsenen dabei zugesehen, wie sie betrunkener wurden. Hatte selbst ein erstes Bier beim Geräteschuppen hinter dem Haus in die Hecke gespuckt. Sich im Hof mit den Geschwistern gezankt.

Cecilia bremste und hupte, und Marika wartete darauf, ihre Eltern im Garten zu sehen, wie jedes Jahr. Mamas Blumenbeet am Haus – von der Familie hochtrabend »Cottage-Garten« genannt – unstrukturiert und vollgestopft mit pflegeleichten Pflanzen, die sich immer wieder selbst aussäten: Der Mohn blühte besonders schön rot, dazu eine Pracht an blauen, rosafarbenen und gelben Blumen, die Marika alle nicht kannte, bis auf den Rittersporn, den sie nur wegen des Namens gepflanzt hatten.

Aber heute wurden keine Köpfe aus den Beeten gereckt, stattdessen knatterte es plötzlich, ein Rasenmäher sprang an, und ein schlaksiger Junge fuhr ratternd damit über die Wiese. Marika atmete tief ein. Gras, Gänseblümchen, bienensurrende Efeu-Hecken.

Der fremde Teenager winkte ihnen zu.

»Wer ist das denn?« Cecilia grüßte höflich zurück, während Marika ihren Koffer von ihren Beinen und aus dem Auto wuchtete. Er landete mit einem »Pflomp« auf der staubigen Erde.

»Keine Ahnung.«

Sie würde wie immer das größte der vier winzigen Schlafzimmer im ersten Stock beziehen, das mit der Aussicht hin zum Bach und den Apfelbaumranken vor dem Fenster, die nachts im Wind leise an der Fensterscheibe kratzten und sie als Kind furchtbar gegruselt hatten.

»Hallo?«, rief Cecilia, während Oskar bereits zum Haus tapste. Marikas Blick folgte ihm. Vor ein paar Jahren hatten sie alle gemeinsam die Fensterläden gelb gestrichen, und obwohl die Farbe schon ein wenig abblätterte, sah das Häuschen aus wie ein wahrgewordener gemeinsamer Traum von Astrid Lindgren und Rosamunde Pilcher.

»Ooooh!«, schrie Oskar, und endlich tauchte das Gesicht ihres Vaters am Küchenfenster auf.

»Ossi! Du läufst ja wie eine Eins!«, rief er. »Was wollt ihr auf eure Pizza?«

Marika schleifte den Koffer ins Haus. Unten gab es nur eine Wohnküche (eine altbackene Küchenzeile im Landhausstil, bunt bemalt in verschiedenen Farben, weil sich niemand für eine entscheiden konnte: ein gelb-grün-blau-lila-pinker Regenbogen von Küche, zwei ausrangierte Sofas, und zu viele Stühle mit morschen Beinen) und ein winziges Zimmer, in dem sich nie jemand aufhielt und das wohl früher ausschließlich zum Fernsehen genutzt worden war. Zwei verkalkte Bäder, eins unten, eins oben, vier kleine Schlafzimmer, und ein vollgestopfter Keller. Das war das gesamte Haus.

Ihr Bruder und ihr Vater standen am Herd und kneteten beide an etwas herum, was aussah wie ein misslungener Pizzateig.

»Habt ihr den nicht gehen lassen?«, fragte Cecilia, während sie erst ihrem Vater, dann Jonas einen Kuss auf die Wange hauchte. »Wer ist denn dieser Typ im Garten?«

»Das ist bloß Otto«, sagte ihr Vater.

»Selbstgemachte Hefe«, sagte Jonas gleichzeitig. »Braucht bestimmt länger. Hi, Rika.«

Sie hob eine Hand. Ihr Bruder sah schlecht aus, mit struppigem Bart und hohlen Augen, als hätte er nächtelang nicht geschlafen. »Na, Burnout-Kandidat«,sagte sie immer spaßeshalber zu ihm, weil er so ziemlich das Gegenteil davon war. Das Gegenteil ihrer Mutter, die mittlerweile in Pension, aber früher die engagierteste Lehrerin überhaupt gewesen war. Und das Gegenteil von Cecilia, die sowieso immer und überall engagiert war, Job oder privat, egal.

»Marienkäfer, Mensch, hab ich dich lang nicht gesehen!«

Ihr Vater kam mit mehlverklebten Händen auf sie zu und drückte sie an sich. »Wie geht’s dir denn? Wie ist Berlin? Und der Laden?«

»Gut, gut, gut«, behauptete Marika. Papa roch nach Hefe und Head & Shoulders und irgendwie auch nach altem Mann. Er wurde 70, du meine Güte. Sie konnte sich noch erinnern, wie er sie auf den Schultern durch den Garten getragen hatte, sie hoch zu den Kirschen im Baum gehoben hatte. Streck dich, da kommst du ran, du bist die Größte!

Nun kam er ihr kleiner vor, wie geschrumpft. Sie drückte ihn noch einmal und wollte dann loslassen, aber er hielt sie einfach fest. »Mein kleines Mädchen«, sagte er.

Über die Schulter ihres Vaters hinweg sah Marika, wie Cecilia einen Finger über die bemehlte Arbeitsfläche fahren ließ und in das klumpige Teigknäuel piekte.

»Den müsst ihr neu machen.«

Ein Fall für Kai, dachte Marika, den YouTube-Bäcker und Pizza-Meister. Sie verscheuchte den Gedanken aus ihrem Gehirn und Jonas Cecilia mit einem Armwedeln.

»Wo ist denn Mama?«, fragte Marika, als sie sich aus der Umarmung ihres Vaters befreit hatte.

»Die kommt nach«, sagte der. »Sie … hat so viel um die Ohren.«

»Was? Ossi, stopp! Keine Kabel, mein Freund! Mama kommt später?« Cecilia schnipste nach ihrem Sohn, der nicht hörte, und schob dann Jonas von seinem Teigbatzen weg. Ihr Vater schnappte sich Oskar, der die Fingerchen schon fast in der Steckdose neben der Küchenzeile hatte. »Gott, dieses Haus!« Cecilia knetete den Teig und öffnete nacheinander allerlei Schränkchen, augenscheinlich auf der Suche nach etwas, um das Essen zu retten. »Ich hab euch schon vor Monaten gesagt, ihr müsst das sicher machen! Steckdosen, Türen, splitterndes Holz auf der Treppe, vom Garten will ich gar nicht erst anfangen …« Die Küchenschränke selbst waren alle fein säuberlich mit Etiketten beklebt, auf denen stand, was sich (vermeintlich) darin befand: Tupperschüsseln, Teller, Gewürze. Das war Cecilias Werk, die vermutlich schon ordentlich und diszipliniert auf die Welt gekommen war.

»Ich hab so ein Treppengitter bestellt«, sagte ihr Vater, ließ das protestierende Kind los und wandte sich wieder seinem Pizzateig zu. »Ist nur nicht mehr rechtzeitig angekommen.« Er versuchte, die Kugel durch Drehen in der Luft zu einem Fladen zu formen und damit Oskar zum Lachen zu bringen. Beides klappte nicht.

Marika ließ sich auf das Sofa fallen, das schon jedes der Kinder einmal in Besitz gehabt hatte, seltsam robust, nur ein paar Holzlatten sprangen ab und zu aus dem Rahmen, so dass man nach unten durchsackte. Alte Möbel landeten zwangsläufig irgendwann in der Ritterburg, wenn sie nicht ausrangiert wurden. Die Wohnküche war zusammengeschustert aus lauter nicht mehr gebrauchten Teilen: zwei Sofas, der gläserne Couchtisch aus Jonas’ erster eigener Wohnung, den Julia so grässlich gefunden hatte, dass sie ihn sofort wegschmeißen wollte, als sie zusammenzogen, der von ihnen dreien als Kleinkinder mit Filzstiften bemalte Esstisch, Bürostühle aus dem Lehrerzimmer der Schule ihrer Mutter, ein Fernseher von ihren Großeltern, ein bunter Flickenteppich, den Marika mit 14 selbst aus Stoffresten gewebt hatte. Wandkalender aus diversen Jahren, die »viel zu schade zum Wegschmeißen waren«, wie ihr Vater stets sagte, pflasterten die Wand über dem Esstisch. Es sah alles katastrophal und wunderbar zugleich aus. Marika betrachtete einen verblassten Kalender über Meerestiere, auf dem der März aufgeschlagen war, der einen lilafarbenen Oktopus zeigte. Sie hatte mal gelesen, dass Krakenweibchen sich langsam und qualvoll zu Tode hungern, weil sie sich so hingebungsvoll um ihre noch nicht geschlüpften Jungen kümmern, dass zum Fressen keine Zeit bleibt.

Ihr Bruder bückte sich nach einem Bierkasten und öffnete eine Flasche. Marika fühlte wieder eine leichte Übelkeit in sich aufsteigen.

»Die sind für die Party«, sagte ihr Vater streng.

Jonas zuckte die Schultern und warf sich Marika gegenüber auf das zweite Sofa, eine braune Ledercouch von anno dazumal. Er legte die Füße auf den Tisch.

»Wo ist deine Frau, hat sie dir Auslauf gegeben, den du ausnutzen musst?«, fragte Marika.

Er streckte ihr die Zunge raus und trank einen Schluck. »Ich muss mich nicht rechtfertigen.«

Marika machte ein Ob-das-stimmt-Gesicht, aber eigentlich gefiel ihr dieser verpennte Jonas. Ihr Bruder wirkte zwar immer leicht schluffig, aber normalerweise versuchte er ein bisschen mehr, das zu verstecken.

»Wo ist Julia überhaupt?«, fragte Cecilia. »Papa, geh weg, ich knete den noch mal mit dem anderen zusammen, das wird doch nichts.« Ihre Teigkugel sah mittlerweile ganz ansehnlich aus.

Ihr Vater setzte sich zu Marika aufs Sofa.

»Sie hat Corona«, sagte Jonas.

»Oh, die Arme«, sagte Marika.

»Im Sommer?« Cecilia klang, als sei das völlig abwegig.

»Hoffentlich ist sie geimpft?«, fragte ihr Vater.

»Jeder ist mittlerweile geimpft, Paps«, sagte Jonas.

Ihr Vater angelte sich ein Bier aus dem Bierkasten, stellte es aber sofort wieder zurück.

»Habt ihr nicht bald Silberhochzeit?«, fragte er seinen Sohn.

»Was?« Jonas runzelte die Stirn.

»Na, seid ihr dieses Jahr nicht 25 Jahre zusammen?«

»Aber doch nicht verheiratet! Mann, Paps, wir waren Teenager. Und wieso weißt du sowas überhaupt?«

»Nach so langer Zeit, denkt ihr da nicht mal an Kinder? Jetzt werde ich schon 70 und hab erst ein einziges Enkelkind!« Ihr Vater sah alle drei leicht vorwurfsvoll an. »Wisst ihr eigentlich, wie schön es ist, Großvater zu werden?«

»Natürlich nicht, Paps.« Jonas nahm noch einen Schluck Bier, und dann gluckerte er die ganze Flasche in einem Zug leer.

»Sag mal, wo ist dein Enkelkind eigentlich?« Cecilia bekam rote Panikflecken in ihrem makellosen Gesicht. »Ossi? Schatz? Oskar!«

»Otto!«, rief Papa, stand auf und beugte sich aus dem offenen Fenster. »Otto!«

»Oskar!«, verbesserte Cecilia. »Du wirst doch wohl wissen, wie dein Enkelsohn heißt.«

Ihr Vater drehte sich zu ihr um. »Nein, nein, Otto mäht draußen den Rasen. Otto, hast du das Kind gesehen, was vorhin … Ah, ja! Danke. Alles klar. Er pinkelt gerade ans Baumhaus.«

»Wer jetzt?« Marika schaute aus dem Fenster.

»Der Zwerg natürlich. Super, Ossi! Wie ein Großer! Da brauchst du ja die Windeln gar nicht mehr, die dir die Mami …«

»Was, wo ist seine Windel? Wie kann die …? Der pieselt sich doch den ganzen Body voll!« Cecilia warf den Teigklumpen mit einem dumpfen Geräusch auf die Arbeitsfläche und verschwand nach draußen.

Marika lächelte. Ja, sie hatte keine wirkliche Lust gehabt auf ihre nervigen Geschwister. Aber nun war alles wie immer, es war, als wäre sie wieder zwölf, gleich würde sie rausgehen und die Füße in den Bach halten und ein bisschen in der Hollywoodschaukel sitzen und Kuchen essen oder Papierflieger basteln und vom Baumhaus aus in den Himmel werfen. Als gäbe es keinen Kai und kein Berlin und keinen Laden, der geführt werden wollte, keine unerledigte Steuererklärung, keinen ungemachten Test in ihrem Rucksack und überhaupt kein doofes Erwachsenenleben.

Samstag

Zwei rosa Streifen

Guten Tag Frau Park-Ritter, hier spricht die gynäkologische Praxis Doktor Reichel. Könnten Sie bitte zurückrufen, es geht um Ihren Befund. Wir werden wohl noch einige Tests machen müssen. Aber das erklärt Ihnen die Ärztin alles später. Frau Doktor ist zu den üblichen Sprechzeiten erreichbar. Auf Wiederhören.

Als Marika am nächsten Morgen aufwachte, atmete sie tief den typischen Ritterburg-Geruch ein: Staub, lange nicht bewohntes Zimmer, Hamster. Vor vielen, vielen Jahren hatte sie hier einen Sommer lang ein Hamsterpärchen unter ihrem Bett versteckt, in einem winzigen Käfig und auf weicher Streu. Leider hatten sich die Tiere irgendwann vermehrt, und als ihre Mutter sie gefunden hatte, musste Marika sie weggeben. Jonas und seine Allergien. Sie hatte Rotz und Wasser geheult und zum Geburtstag eine langweilige, gebrauchte Schildkröte bekommen, die schon so steinalt war, dass sie nur noch drei Jahre lebte. Aber in ihrem Zimmer roch es seither nach Nagetier, Jahr für Jahr, als habe sich das Geheimnis der versteckten Goldhamster in den Raum eingebrannt.

Draußen schien die Sonne, irgendwo rumpelte ein Rasenmäher, und aus der Küche drangen Geräusche: klapperndes Geschirr, laufendes Wasser, Gespräche.

Marika fand ihr Badezeug in den Untiefen ihres Koffers und strampelte sich aus ihrem Nachthemd. Sie würde direkt schwimmen gehen. Bestimmt lag in der Küche noch ein Stück kalte Pizza zum Frühstück – der perfekte Start in diesen sommerlichen Samstag. Cecilia hatte am Abend noch alle Betten frisch bezogen, Marika war früh ins Bett gegangen, hatte den Test im Rucksack ignoriert und fühlte sich nun so ausgeschlafen wie schon lange nicht mehr.

Der Test. Sie sollte es hinter sich bringen.

 

»Dein Oberteil ist zu klein«, sagte ihre Schwester mit einem kritischen Blick auf Marikas Brüste, als sie aus dem Bad in die Küche kam. »Da ist ein Teenager im Garten.«

»Für den sind wir uralt. Und wenn er guckt, guckt er mir schon nichts weg.«

Das sagte ihre Mutter immer, die ungeniert selbst an den öffentlichsten italienischen Sandstränden im Stehen aus jeder noch so schlabbrigen Unterhose schlüpfen und ihren BH schwenken konnte.

Den Test hatte Marika im unteren Bad hinter den Heizkörper geklemmt. Zwei Minuten. Dann wüsste sie, ob sich ihr Leben für immer ändern würde.

»Kannst du mir heute ein bisschen helfen?«, fragte Cecilia. Marika bemerkte, dass ihre Schwester wieder diese hektischen Flecken im Gesicht hatte.

»Klar«, sagte Marika. »Aber erst muss ich ins Wasser!«

Sie küsste Cecilia auf die Wange und rannte dann nach draußen, über das weiche Gras der Wiese, zum Steg, wo das Wasser in der Sonne glitzerte und ein paar Enten vorbeizogen, und sie blieb nicht stehen, sie stürzte sich mit Anlauf ins Wasser, obwohl, nein, weil sie wusste, dass es kalt sein würde, und es einfacher war, schnell und schmerzlos in kaltes Wasser zu springen, das hatte sie gelernt, als sie von zuhause ausgezogen war, schnell und … Ah! Um sie herum wirbelten Blasen, ihre Haut prickelte, ihre Füße berührten den schlammigen Boden und als sie wieder nach oben kam, war alles erfrischt und hell und klar.

Marika drehte sich auf den Rücken und ließ sich ein Stück flussabwärts treiben; die Strömung war schwach, kaum vorhanden, aber doch spürbar, als sie wieder nach oben zum Steg schwamm. Über der Wiese flirrte die Mittagshitze, der Himmel war blau, der Geruch nach Rasenmäherbenzin und frisch gemähtem Gras verband sich mit dem Platschen ihrer Schwimmzüge und den kühlen Tropfen auf ihrer Nase zu einer Sommersymphonie aller Sinne. Vögel zwitscherten, Grillen zirpten, als sei sie in Süditalien und nicht in Süddeutschland.

Zwei Paar haarige, dünne Beine und ein Paar stämmige Babybeinchen tauchten am Ufer auf.

»Käferchen, mach Platz«, sagte ihr Vater. »Wir fliegenfischen.«

»Käferchen war zuerst hier!«, rief Marika augenrollend, aber ihr Magen knurrte, ihr fiel wieder das Ding hinter dem Heizkörper im Bad ein, und ihr wurde ein bisschen zu kalt, um weiter zu planschen.

»Er hat keine Schwimmflügel dran!«, schrie Cecilia vom Haus aus. »Und keine Sonnencreme!«

»Meint sie dich oder mich?«, fragte Jonas ihren Vater.

»Ich nehm ihn mit hoch.« Marika stieg aus dem Wasser, trocknete sich ab und nahm Oskars Hand. Er protestierte.

»Du kriegst ein Eis«, sagte sie. »Okay?« Sofort entspannte sich der kleine Fast-noch-Babykörper und Oskar nickte eifrig.

»Uh«, machte Jonas. »Versprich nichts, was du nicht halten kannst. Hey, wer zuletzt oben ist, muss Sisi helfen, okay?«

Und sofort spurtete er los, als wäre er neun und nicht Jahrzehnte älter. Selbst äußerlich hatte sich ihr Bruder kaum verändert; er trug immer noch Shorts und Turnschuhe und die Haare waren immer einen Tick zu lang. Den Bart, den er hegte und pflegte, hatte er auch schon, seit ihm Barthaare wuchsen.

»Wir wollten doch fischen!«, rief ihr Vater ihm nach, aber Jonas redete nur was davon, dass er bei den Vorbereitungen helfen müsste. Als ob Jonsi irgendwo auch nur einen Finger krümmen würde.

»Ei!«, schrie Oskar. »Ei-ei-ei!« Sein weiches Händchen fühlte sich gut an in ihrer, schwitzig und klebrig, aber gut. Sie nahm Oskar mit ins Bad, fummelte den Test hinter dem Heizkörper hervor, und da waren sie, fast wie erwartet, zwei rosa Streifen. Unwillkürlich tauchte das Bild eines winzigen Kais vor ihren Augen auf, mit seiner Vorliebe für Baseballkappen und seiner randlosen Brille. Ein winziger Kai, runzlig und rot und zerknautscht und voller Käseschmiere. Ihr wurde ein bisschen flau im Magen.

Von draußen hörte sie die Stimme ihrer Schwester näherkommen. »Ich übertreibe nicht, es ist tatsächlich so, dass ich …«, sagte die. »Natürlich hab ich die Ärztin angerufen, was denkst du denn, aber sie …« Schnell wickelte Marika den Test in Klopapier und steckte ihn in den Müll. »Nein, nein. Du willst mich nicht verstehen, ich muss …« Cecilia riss die Tür auf, ein Handy am Ohr, und verstummte schlagartig.

»Ich such die Sonnencreme«, sagte Marika.

»Hier gibt es nur abgelaufene, ich hab neue dabei.« Cecilia schlug die Tür wieder zu.

Mit ihrer freien Hand strich Marika sich über den nassen Badeanzug, der am Bauch in ein paar Röllchen steckte. Sie zupfte daran herum. Irgendwo da drin war schon ein ganzer Mensch angelegt, der bald Oberschenkelknochen und Patschehändchen und einen eigenen Willen und Kopf haben würde. Vielleicht war auch das Mutter-Sein bereits in ihr angelegt, und demnächst würde sie anfangen, in der dritten Person von sich selbst zu sprechen (»Noch ein Löffelchen für die Mama!«) und Gespräche über die Farbe und Konsistenz des Stuhlgangs ihres Nachwuchses völlig normal zu finden.

»Du kriegst einen Cousin«, sagte sie zu Oskar, der sie unbeeindruckt ansah. »Oder eine Cousine. Also, eventuell.«

Leichen im Keller

Ja, der Test war negativ, Fehlalarm. Ich bleib aber trotzdem zu Hause, und zwar nicht nur wegen des Halskratzens. Was? Nein, ich brauch einfach mal Abstand. Was du letztens gesagt hast, war so typisch für dich. Ist ja deine Sache, wenn du Island zu kalt und dunkel findest im Herbst, aber musst du immer alles abblocken, was ich vorschlage? Malediven, Malta, Maui. Alles. Ne Katze wolltest du auch nicht. Und einen Hund schon gar nicht. Selbst die Küche salbeigrün streichen war dir ja schon zu gewagt.

Der Keller der Ritterburg war ein verwinkeltes Gewirr von winzigen Räumen. Marika tapste barfuß durch das Gerümpel, das dort lagerte. Ihre Haare hinterließen eine Tropfenspur auf dem staubigen Kellerboden. Oskar drückte seinen kleinen Körper an ihren Badeanzug.

Aus irgendeinem Grund folgten ihr Jonas und Otto, der rasenmähende Teenager, die Treppe hinunter.

»Soll ich eigentlich außer Mähen noch was machen?«, fragte der Junge. »Walter meinte, ihr organisiert die Party.«

»Wer, wir?«, fragte Jonas.

»Ich hol nur Eis«, sagte Marika. »Frag Cecilia.«

»Genau. Ist sie nicht oben? Apropos Party …« Ihr Bruder zog einen Zettel aus seiner Hosentasche. »Hör mal …« Er fing an, etwas vorzulesen, was wohl eine Rede für das Geburtstagskind war.

»Gähn«, sagte Marika. »Mach ein paar Witze, niemand mag ernste Ansprachen.«

»Ich hab schon gegoogelt: ›Die Jahre sind spurlos an dir vorübergegangen, wahrscheinlich haben dich die Wochenenden gezeichnet.‹«

»Nicht googeln, Jonas, das ist lahm.«

Jonas streckte ihr die Zunge raus, steckte aber den Zettel weg.

Otto hob einen zerschlissenen Teppich hoch, der so löchrig war, dass man den Schmutz um die Löcher herum kaum wahrnahm.

»Wieso schmeißt ihr die Sachen nicht einfach weg?«

»Genau das fragt sich unsere Mutter auch gerade«, sagte Jonas.

Die Gefriertruhe thronte in der Mitte des ersten Raumes unter der Treppe. Marika setzte Oskar ab und öffnete sie. Kalte Luft stob ihr entgegen; sie fröstelte in ihrem nassen Badeanzug. »Manchmal bringt man es eben nicht übers Herz, etwas wegzuwerfen. Und unsere Eltern wohnen in einer Mietwohnung mit einem winzigen Kellerabteil und einem staubigen Dachboden für fünf Parteien. Also kommt das alles hierher. Man entdeckt häufig neue alte Schätze.«

»Du bist die mit dem Second-Hand-Store, oder?«, sagte der Junge. »In Berlin?«

Marika nickte. »Und wer bist du?«

»Ich bin Otis, hi. Ich helfe ein bisschen aus. Walter meinte, ich kann mir was dazuverdienen.«

»Ich dachte, du heißt Otto«, sagte Jonas.

»Walter denkt, ich heiße Otto.«

»Und wieso sagst du ihm nicht deinen richtigen Namen?«

»Hab ich schon. Zweimal …«

»Haha, Paps wieder«, sagte Jonas und knuffte Marika gegen den Oberarm. »Also kommt deine Leidenschaft für alten Kram aus unserem Keller?«

Sie zog eine Grimasse. Tatsächlich hatte sie schon als Kind mit ihren Freundinnen Schatzkarten gemalt und im Keller Schnitzeljagden veranstaltet. So manches Schokoladen-Osterei war hier verschollen und vermutlich zu Stein geworden. Wenn man etwas loswerden oder verstecken wollte, war hier genau der richtige Platz. Es gab so viele Kartons und Kisten und Tüten und Säcke, dass keiner mehr genau sagen konnte, was eigentlich alles da war. Ein Labyrinth aus Möbeln, selbstgemalten Bildern, Kuchenformen, zerkratzten Skiern, Gummitieren und Babyhochstühlen.

»Rika, dein Handy klingelt!«, schrie Cecilia von oben.

Jonas klopfte gegen die Gefriertruhe. »Falls du mal einen Mord begehst – hier passt alles rein.«

Marika schauderte. Kaum setzte man einen Fuß auf die Kellertreppe, wurde man wieder fünf und gruselte sich vor all den dunklen Ecken und toten Winkeln, aus denen sonst was hervorkriechen konnte. Sie beugte sich über die Truhe und kramte mit eisigen Fingern darin herum, zog ein paar Packungen Eis heraus, die sie Jonas in die Hand drückte.

»Das Ding ist die totale Klimasünde«, sagte Otis.

»Gott, Otto«, sagte Jonas. »Musst du so klischeehaft Gen Z sein?«

Der Klimawandel. Noch ein Grund, panisch wegen der zwei rosa Streifen zu sein. Vermutlich war es unverantwortlich, Kinder in diese dem Untergang geweihte Welt zu setzen. Andererseits … möglicherweise machte ihr Kind ja eine tolle Erfindung gegen die Erderwärmung oder den pazifischen Müllstrudel.

»Nehmen wir einfach alles mit«, sagte Jonas, stapelte Erdbeer-Zitrone-Vanille-Pistazie zu einem Turm und balancierte sie auf einer Hand.

»Warte …« Marika suchte nach Maple Walnut, dem Lieblingseis ihres Vaters, fand es aber nicht. Eigentlich mochte sie Nusseis nicht, gerade hatte sie richtig Lust darauf. Es musste das Kind sein. Das Kind! Du meine Güte. Das Wesen in ihrem Bauch, noch nicht viel mehr als ein kleiner Zellhaufen, hatte schon die Macht, ihren Eisgeschmack zu verändern. Mit steifen Fingern griff Marika stattdessen nach Chocolate Chip, und schlug die Truhe zu. Sie bemerkte, dass Oskar neben der Gefriertruhe saß und an einem Kabel herumkaute.

»Oh Gott«, sagte sie, und bückte sich, um ihren Neffen hochzuheben. Hinter der Gefriertruhe, eingeklemmt zwischen Truhe und Wand, noch ein Eiskarton, völlig verstaubt und angegraut. Auch das Motiv auf der Schachtel sah altmodisch aus. Marika griff danach, pustete Staub und Spinnweben herunter.

»Schaut mal«, sagte sie, aber Jonas und Otis, die bereits auf der Kellertreppe standen, lauschten nach oben. Jonas hielt sich einen Zeigefinger vor den Mund.

»Nein! Dir ist doch sowieso völlig egal, wie es mir geht, P-O!«, hörte man Cecilia, dann entfernte sich ihre Stimme wieder.

»Knatsch im Paradies?«

»Keine Ahnung.« Marika öffnete den Eisbehälter: ein Stapel Postkarten, ein zugeklebter, leicht vergilbter Umschlag, eine Kassette mit den Greatest Hits der Beatles und eine, die kein Etikett darauf hatte. Sie klappte die Box zu und nahm sie mit hoch.

 

Marikas Handy, das sie aus der Sofaritze hervorholte, zeigte zwei verpasste Anrufe von Kai, und klingelte schon wieder.

»Gehst du nicht ran?« Cecilia warf ihr eine Sonnencremetube an den Kopf. »Cremt jemand Ossi für mich ein? Und zieh dich um, Rika, du holst dir noch eine Blasenentzündung.« Marika fiel auf, dass in der ganzen Küche Essen herumlag, Zutaten für irgendwelche Gerichte, die es morgen oder heute Abend noch geben sollte. Im Ofen backte ein Kuchen vor sich hin, in einer Pfanne brutzelten Zwiebeln. Wann schaffte ihre Schwester eigentlich alles, was sie so schaffte? Sie suchten drei Minuten im Keller nach Eis, und es waren plötzlich diverse Speisen fertig. Wurde man so als Mutter? Effizient? Marika selbst schrieb als erstes To-Do-Listen, wenn sie etwas zu tun hatte, die sie dann an ihren Kühlschrank heftete, und vergaß. Ein nagendes Gefühl in ihrem Hinterkopf blieb, aber auch das verebbte, und wenn sie die Listen unter Werbebroschüren und Speisekarten vom Inder an der Ecke wiederfand, strich sie die veralteten To-Dos durch, was zwar nicht halb so befriedigend war, wie sie abzuhaken, aber nun ja. Für ihren Laden schickte ihr ihre große Schwester jedes Jahr eine E-Mail, die sie an ihren Abgabetermin beim Finanzamt erinnerte, und machte dann gemeinsam mit ihr die gesamte Steuererklärung, sonst säße sie längst wegen Steuerhinterziehung hinter Gittern.

Marika setzte sich mit der staubigen Packung aufs Sofa.

Otis verteilte Eis auf fünf Schüsseln, während Jonas Oskar ein Cremegesicht auf den nackten Bauch tupfte, es einschmierte und das T-Shirt wieder darüber zog.

»Bäh«, sagte Oskar.

»Für mich nicht.« Cecilias Wangen waren wieder gerötet, aber ansonsten sah sie nicht so aus, als habe sie sich eben mit ihrem Mann am Telefon gestritten. »Und für Oskar nur einen Löffel. Er ist so viel Zucker nicht gewohnt, am Ende dreht er noch völlig am Rad. Geh doch bitte endlich ans Telefon.«

Marika schielte zu ihrem Handy, das vehement nach Antwort verlangte. »Ich würde auch am Rad drehen, wenn ich nur einen einzigen Löffel Eis kriegen würde. Und wenn ich ihn wegdrücke, weiß er, dass ich ihn wegdrücke.« Sie war nicht da, war noch untergetaucht, mit den Füßen im Matsch.

»Nimm auch Creme, Rika, deine Nase ist schon ganz rot. Wer ist es denn? Lass das, Ossi!« Oskar wischte sich die Sonnencreme mit seinem T-Shirt wieder vom Bauch.

»Mein Freund. Also, ein Freund. Und meine Nase ist immer rot, das ist erblich, Papa hat das auch.«

»Was denn nun, deiner oder einer? Und Papa ist kein Argument. Findet ihr nicht, dass er schlecht aussieht?«

Marika betrachtete den vibrierenden Namen, der wieder und wieder auf ihrem Telefon aufblinkte, und atmete auf, als er endlich aufgab.

Oskar stürzte sich freudig auf sein Schüsselchen Eis.

»Papa sieht schon immer schlecht aus«, sagte Jonas.

Das stimmte; ihr Vater hatte schon immer dürre Beine und einen mal mehr, mal weniger stattlichen Bauch gehabt, einen richtigen Wanst, wie man ihn sich von einem mittelalterlichen Mönch vorstellte, einem wie Bruder Tuck aus Robin Hood. Besonders sportlich hatte er nie ausgesehen.

»Seit neuestem ist er irgendwie so speckig und glänzend.« Cecilia pustete die Backen auf, um es zu demonstrieren.

Marika nahm einen Löffel Eis und öffnete wieder die verstaubte Schachtel. »Wusstet ihr, dass kein Maple Walnut da ist? Das ist eine Premiere!«

»Und das an Paps’ Geburtstag«, sagte Jonas. »Skandal!«

»Oh, Mist. Ich hab nicht dran gedacht.« Cecilia schüttelte heftig den Kopf. »Ich werde …«

»Beruhig dich«, sagte Jonas. »Er hat ungefähr tausend andere Sorten zur Auswahl.«

Cecilia lugte in den Backofen. Sie wirkte leicht neben der Spur. Auf dem Couchtisch lag ein Knäuel Lichterketten, das es zu entwirren galt, wie jedes Jahr. »Könnt ihr mir damit helfen? Ich glaub, ich komme nicht mehr dazu …«

»Geht’s dir gut, Sisi?«, fragte Marika, die plötzlich fand, dass ihre Schwester diejenige war, die schlecht aussah. Cecilia fuhr sich durchs Haar.

»Ja, ja«, sagte sie. »Was wollt ihr zum Abendbrot?«

»Pomms!«, rief Oskar, der eine Schokoladenschnute hatte und sein Tellerchen ausleckte. »Mamam!«

»Ist das sein erstes Wort?«, fragte Jonas.

»Es gibt keine Pommes, Oskar.« Cecilia blinzelte und wirkte wieder wie immer.

»Wird er davon auch gaga? Wie von Eis?« Jonas tätschelte Ossi mitleidig den Kopf.

»Zu viel Fett«, sagte Cecilia.

»Und darf man ihn nass machen?«, fragte Jonas.

»Hä?«

»Ich finde, er ist wie so ein Gremlin.« Jonas klang eher fasziniert als belustigt. »Man läuft immer Gefahr, dass er zu einem Monster mutiert.«

»Tatsächlich hasst er baden«, sagte Cecilia, und Jonas lachte.

Marika blätterte durch die Postkarten, die alle aus Südfrankreich zu stammen schienen. »Waren die Eltern mal in Marseille?«

Zwischen den Karten fiel ein zerfleddertes Foto heraus, das Jonas und Cecilia zeigte – Cecilia mit schiefen Grundschüler-Zähnen und süßen Ponyfransen, Jonas mit Pausbäckchen – die links und rechts neben ihrer Mutter auf einem Krankenhausbett saßen. Alle drei betrachteten ein kleines, rosafarbenes Bündel. Das musste direkt nach ihrer Geburt gewesen sein.

»Schaut mal, da bin ich, ganz frisch!«, sagte Marika. Das Foto war in der Mitte gefaltet worden, als habe es lange Zeit in einem Geldbeutel gesteckt. Sie hatte es noch nie gesehen.

»Ossi, sag mal Ketchup! Oder: Ge-schmacks-ver-stärker!« Jonas lachte immer noch.

»Wir können Ofenkartoffeln machen«, sagte Cecilia mit einem vernichtenden Blick zu ihrem Bruder. »Ich schäl schon mal welche. Ich würde sagen, wir essen um halb sechs, damit Oskar zeitig ins Bett kommt. Morgen wird er lange genug wach sein dürfen, da sollten wir heute die Bettzeiten einhalten.«

Marika war bei der letzten Postkarte angelangt, die aus Aix-en-Provence stammte, gelbe Fassaden, blühende Lavendelfelder, grüne Zypressen, und auf der hintendrauf mit Bleistift sehr dünn etwas geschrieben war. Sie kniff die Augen zusammen, konnte es aber nicht entziffern.

Ihr Handy klingelte wieder.

»Geh endlich ran«, sagte Cecilia.

Marika nahm die Box mit den Kassetten und Karten, legte den Kopf in den Nacken und zupfte an ihrem Badeanzug. Dann griff sie nach ihrem Telefon und ging nach draußen.

»Hi«, sagte sie. Schon bevor er sprach, wusste sie, wie die Begrüßung sein würde, und tatsächlich: »Hallo Marika, hier spricht Kai.« Immer klang Kai, als melde er sich von einem Festnetztelefon aus den neunziger Jahren.

»Ich dachte, ich ruf mal an«, sagte er. »Wie geht’s dir? Ist es schön in der Heimat?«

»Joah, schon.« Du Vater meines Kindes!, plärrte ihr Gehirn. Sie trommelte auf der Eisschachtel herum. Es war Vanille, langweilige, beige, eingestaubte Vanille.

»Du, ich hab beim Gießen deinen Mitbewohner getroffen«, sagte Kai. »Er meinte, er hätte spontan einen Job in Dänemark bekommen und zieht zu seiner Freundin.«

Mist. Marika drückte zwei Finger gegen die Nasenwurzel, klemmte den Eiskarton unter einen Arm. Die Mieterhöhung, und kein Mitbewohner. Aber immerhin hätte sie dann ein freies Kinderzimmer, haha.

»Okay«, sagte sie. »Danke für den Hinweis.«