Tage im warmen Licht - Kristina Pfister - E-Book

Tage im warmen Licht E-Book

Kristina Pfister

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Beschreibung

Nach ihrem ersten Roman »Ein unendlich kurzer Sommer« erzählt Kristina Pfister in ihrem neuen Roman »Tage im warmen Licht« von Freundschaft, Zusammenhalt und Neuanfängen. Gemeinsam mit ihrer Teenie-Tochter wagt Maria einen Neustart – in der alten Heimat, im Haus ihrer verstorbenen Großmutter, aber »nur vorübergehend, wirklich …« War sie in der Großstadt auf sich allein gestellt, findet sie auf dem Dorf nicht nur knarzende Fachwerk-Idylle und eine friedliche Landschaft unter gefallenem Laub, sondern auch eine scheinbar zeitlose Gemeinschaft. Doch welcher Schmerz, welche Erfahrungen haben die Frauen hier zusammengeschweißt? Maria möchte die letzten Sonnenstrahlen festhalten, möchte sich eine Scheibe abschneiden von der Kraft und Zuversicht der alten Nachbarin, für ihre Tochter stark sein und ihren Bedürfnissen Gehör verschaffen. Aber dazu muss die Maria von damals ihre Stimme wiederfinden und im Jetzt neuen Mut fassen ... »Seit ich hier bin, habe ich das Gefühl, die Vergangenheit ist hier dicker als woanders. Von wegen im Hier und Jetzt leben! Das Vergangene sitzt doch an jeder Ecke in diesem Kaff, du kannst doch nicht einfach so tun, als wäre es nicht so. Karma, dachte ich. Wiederkehr. Vielleicht wiederholte sich wirklich alles. Vielleicht bekamen am Ende alle das, was sie verdienten.« Lesen Sie auch von Kristina Pfister: Ein unendlich kurzer Sommer – eine atmosphärische Geschichte vom Ankommen und Neubeginnen: »Ein richtig, richtig schönes Sommerbuch.« Mona Ameziane

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Seitenzahl: 463

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Kristina Pfister

Tage im warmen Licht

Roman

 

 

Über dieses Buch

 

 

Vom Tanzen im Herbst und vom Zauber der Freundschaft

Nach jeder Krise kommt die Chance auf einen Neuanfang: Gemeinsam mit ihrer Teenie-Tochter wagt Maria einen Neustart – in der alten Heimat, im Haus ihrer verstorbenen Großmutter, aber »nur vorübergehend, wirklich …«

War sie in der Großstadt auf sich allein gestellt, findet sie auf dem Dorf nicht nur knarzende Fachwerk-Idylle und eine friedliche Landschaft unter gefallenem Laub, sondern auch eine scheinbar zeitlose Gemeinschaft. Doch welcher Schmerz, welche Erfahrungen haben die Frauen hier zusammengeschweißt?

Maria möchte die letzten Sonnenstrahlen festhalten, möchte sich eine Scheibe abschneiden von der Kraft und Zuversicht der alten Nachbarin, für ihre Tochter stark sein und ihren Bedürfnissen Gehör verschaffen. Aber dazu muss die Maria von damals ihre Stimme wiederfinden und im Jetzt neuen Mut fassen ...

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Kristina Pfister wurde 1987 in Bamberg geboren. Seit frühester Kindheit träumt sie sich gern in fremde Köpfe und denkt sich Geschichten aus, die sie meistens auch aufschreibt. Dabei findet sie Inspiration bei ganz normalen Menschen und blickt gern auf das Besondere im Alltäglichen. Sie mag Spätsommertage fast so gern wie laue Juni-Nächte und erträgt mit Wollsocken auch die kälteren Jahreszeiten. Kristina Pfister lebt mit ihrer Familie in der bayerischen Provinz. 

Sometimes I hear my voice

And it’s been here

Silent all these years

Tori Amos – Silent all these years

Ein bisschen Zauber

OMA HANNE TRÄGT ihr schönstes, zitronengelbes Kleid, auf dem passenderweise auch Zitronen abgedruckt sind, und sieht aus wie einer meiner tollsten Filzstifte, zweifarbig, gelb und orange, und sehr, sehr leuchtend. Alle gucken blöd, weil man bei Beerdigungen was Schwarzes anziehen muss, sagt Mama, aber meiner Oma ist das egal.

»Er mochte das Kleid sehr«, sagt sie und isst einen winzigen Bissen von den gerösteten Semmelknödeln, von denen meine Eltern sagen, das sei kein angemessener Leichenschmaus, aber es ist das Lieblingsessen von meinem Opa, sagt Oma. Leichenschmaus klingt eklig und ich habe keinen Hunger. Immerhin ist mein Opa gestorben, und obwohl ich erst sieben bin und noch nicht so ganz genau weiß, was das bedeutet, weiß ich doch, dass es heißt, dass er nicht mehr da ist.

Ich vermisse ihn, er war nett, still und nett.

»Ich hab auch keinen Hunger«, sagt Oma Hanne, »und ich will auch gar nicht hier sein.«

Von der Wirtschaft im Ort gehe ich mit meiner Oma zurück zu ihrem Haus am Stadtrand. Bei ihrer Freundin Martha gegenüber ist es gemütlicher, sagt Oma, also setzen wir uns dort zwischen Blumen- und Gemüsebeeten auf ein Steinbänkchen, obwohl Martha nicht da ist, weil sie gerade irgendwo auf einem Markt ihr gutes Apfelmus verkauft. Die Steine sind noch warm von der Sonne. Letztes, mildes Licht, dunkelrote, weiße und pinke Rosenblüten, die beinahe zu glühen scheinen. Bei Martha fühlt man sich wie in einem Hexenhaus, und es gibt immer was Leckeres zu essen, und ich brauche jetzt ein bisschen Zauber.

Meine Oma hat einen Schlüssel, und sie holt kalten Pudding aus dem Kühlschrank, »weil, was Süßes geht immer«, und gemeinsam sitzen wir in Marthas Garten unter der alten Eiche und löffeln Vanillepudding aus einer großen Schüssel, der viel zu flüssig ist, weil es eigentlich eine Vanillesoße ist, die auf einen Apfelauflauf drauf sollte, aber der ist schon aufgegessen und nur die Soße übrig. Meine Augen jucken vom vielen Weinen und Oma streicht mir mit großen Händen über den Rücken.

Mama hat gesagt, ich muss jetzt ganz stark sein, aber ich will weinen und hier mit Oma sitzen und traurig sein. Ich wische mir meine Nase mit meinem Ärmel ab und sage: »Ich will gar nicht stark sein.«

»Das ist total okay.« Oma schnipst einen Käfer von ihrem Knie, der sich dort auf die ganzen Zitronen setzen wollte. »Das stimmt nämlich gar nicht, dass man immer stark sein muss.«

»Nicht?«

»Nee. Manchmal ist das sogar hinderlich, wenn man stark ist.«

Das verstehe ich nicht, und nehme noch einen Löffel Pudding. »Aber du bist doch immer stark«, sage ich und denke an ihre riesigen Hände, die immer arbeiten und zupacken und anpacken. Außerdem habe ich Oma auch noch nie weinen sehen.

»Nee«, sagt sie. »Nicht immer. Und guck mal, wenn wir beide jetzt so tun würden, als wären wir stark, müssten wir da unten beim Wirt hocken und Semmelknödel essen und Schwarz tragen und schwitzen und dürften keine Miene verziehen. Und ich sitze viel lieber hier mit dir und esse Pudding und weine ein bisschen.«

»Du weinst doch gar nicht.«

»Doch, schon ein bisschen.«

Anscheinend weint Oma unsichtbare Tränen, aber das ist okay. Manche Tränen sind vielleicht unsichtbar besser als sichtbar.

Im Hof bremsen Fahrradreifen, schlittern über den staubigen Boden, und ich weiß, noch bevor seine Fahrradglocke klingelt, dass es Henners ist, der angefahren kommt, um mich zu trösten. Er lässt sein Fahrrad fallen und winkt, und dann sitzen wir zu dritt auf die kleine Bank gequetscht und essen Vanillesoße, die auf Omas Schoß in unserer Mitte steht, und schweigen, und Omas Hände streichen über unsere beiden Rücken, warm und schwer.

»Wieso sitzt ihr denn hier bei Martha?«, fragt Henning schließlich, »ich hab euch fast nicht gefunden.«

Oma Hanne und ich sehen uns an. »Weil es hier gemütlicher ist, natürlich«, sage ich, und Oma nickt. Ich denke an das Eierschalen-Haus gegenüber und meinen Opa, der dort gern am Fenster saß und rausguckte auf seine Apfelbäume.

»Ich find’s drüben aber auch gut«, sage ich entschieden, und Henning, der nicht ganz so überzeugt wirkt, sagt: »Habt ihr eigentlich immer da gewohnt, du und der Hermann?«

»Nee«, sagt Oma.

»Wieso nicht?«, fragt Henning. Er hat ein bisschen Vanillesoße über der Lippe kleben.

»Manchmal muss man mal raus«, sagt Oma.

»Echt?«, fragt Henning skeptisch.

»Manche Leute schon«, sagt Oma. »Manchmal passiert was, dass man mal weg muss.«

»Was denn?«, frage ich.

»Das Leben«, sagt Oma, und weil ich wieder nichts kapiere, esse ich noch einen Löffel Pudding. Henning nickt langsam, als würde er genau wissen, was Oma meint. Die Schüssel ist fast leer und man muss schon kratzen, damit man noch einen ganzen Löffel zusammenkriegt.

»Gehst du jetzt weg?«, frage ich.

»Nö«, sagt Oma. »Jetzt nicht.«

Ich bin erleichtert. Henning schleckt mit dem Finger die Schüssel leer und Oma murrt irgendwas davon, dass sie ein Insektenmagnet ist in diesem Kleid, und das stimmt, um uns schwirrt und surrt es, und dauernd landet eine Fliege auf ihrem Schoß oder ihrem Busen oder ihren Armen.

»Das ist, weil du so gelb bist«, sagt Henning, »Käfer fliegen immer ins Licht.«

Oma lächelt und ich denke, dass Henning recht hat, meine Oma ist irgendwie ein bisschen wie Licht. Ich kuschle mich an ihren Zitronenbauch und lege den Kopf an ihre knochige Schulter.

»Ich glaube, ich will einen Hund«, sagt Oma.

Kapitel 1

WIR SCHLIEFEN ALLE schlecht in diesem September, Linni wegen ihrer Schulangst, ich wegen des Briefes in meiner Schublade und Bootsmann, weil er sein Frauchen vermisste.

Der Hund hatte die Angewohnheit, um Punkt zwanzig Uhr anzufangen zu jaulen und dann so ziemlich bis vier Uhr morgens nicht mehr damit aufzuhören.

Er trauert, sagte Linnea, und ich kaufte uns Ohropax und dem Hund Baldriantropfen, die ich unter sein Futter mischte, aber nichts half. Wir hatten ihn im letzten Juli zu uns genommen, gleich nachdem meine Oma beerdigt worden war und Martha mit dem Testament gewedelt hatte. Bootsmann und das Haus waren für mich, und weil ich das Haus nicht wollte und mich keine zehn Pferde zurück in dieses Kaff gebracht hätten, musste der stinkende, alte Hund zu uns nach München ziehen, ob er wollte oder nicht.

Und er wollte eher nicht. Das erste halbe Jahr verlief glimpflich, er wirkte verwirrt, schien aber anzunehmen, dass meine Oma Hanne doch noch irgendwann käme, um ihn abzuholen. Stundenlang harrte er vor der Wohnungstür aus, bellte, sobald ein Nachbar vorbeiging, und sah dabei aus wie ein zusammengerollter, verfilzter, aber sehr aufmerksamer Fußvorleger, eine dieser Würste, die man gegen Zugluft unter Türenschlitze klemmt. Ein Teppich, an den man ein paar dünne Äste als Beine montiert hatte, so hatte er schon immer ausgesehen, und er war vermutlich nicht gerade der Hellste. Man musste aufpassen, dass man nicht auf ihn trat oder über ihn stolperte. Meine Oma Hanne hatte ihn damals aus einem Wurf von Mischlingen von ihrem Nachbarn die Straße runter bekommen, weil er so hässlich war, dass niemand sonst ihn wollte. Oma hatte ihn abgöttisch geliebt, er war mit Fleischabfällen und Hundewurst zu einem riesigen Vieh herangefüttert worden, hatte ständig Probleme mit seinem Leberfett und Cholesterin und hörte erst bei uns auf zu fressen. Jetzt musste man ihn dazu zwingen, musste ihm seine Leckerli unter normales Futter mischen, die er sich dann herauspickte, und ab und an überlegte ich, ob ich wie bei einem Kleinkind ein Flugzeug mit einem Löffelchen Trockenfutter in sein müffelndes Maul fliegen lassen sollte.

Er war zu groß für unsere Dreizimmerwohnung, seine Krallen kratzten über den Parkettboden und er haarte unser Sofa voll. Wir gingen abwechselnd mehrmals am Tag mit ihm raus, hauptsächlich ich, während Linnea den Rest ihrer Ferien genoss und meine Augen viereckig geworden waren vom vielen Scrollen durch Jobportale und vom Schreiben von unzähligen, immer gleichen Bewerbungen: Ich bin sehr motiviert, engagiert, interessiert, ich freue mich darauf, Ihnen meine Fähigkeiten in einem persönlichen Gespräch …

Ich ging lange mit Bootsmann spazieren, wagte mich sogar ans Laufen, kaufte mir Joggingschuhe und jagte ihn eine Runde durch den Westpark. Und trotzdem schien nur ich erschöpft und der alte Hund fing spätestens nach der Tagesschau an zu jaulen. Linnea hörte ihre Hörspiele und Podcasts und schlief meistens dabei ein, nur um dann, gegen ein Uhr nachts, in mein Zimmer zu tapsen und zu mir ins Bett zu kriechen, wo sie in Schnappatmung verfiel, bis ich ihr den Rücken kraulte und ihr versicherte, ich würde noch mal mit ihrer Klassenlehrerin sprechen, und dieses Jahr würde bestimmt alles anders … Und ob sie nicht doch die Schule wechseln …? Oder eventuell doch noch mal den Autogenes-Training-Kurs in der VHS, der hätte so gut geholfen, jedenfalls sagte das meine Kollegin, äh, Ex-Kollegin …

Außerdem war da dieser Brief von unserem Vermieter, den ich schon über zwei Wochen ignoriert hatte – Eigenbedarf, Kündigung, drei Monate.

Und dann? Linnea und ich würden nichts finden – nicht in dieser Stadt, nicht mit meinen mickrigen Ersparnissen und nicht mit meiner Stirn, auf der, da war ich ganz sicher, groß und leuchtend »arbeitslos!« blinkte.

Und schon gar nicht mit diesem nie schlafenden, ständig jaulenden Teppich von einem Köter, der aus dem Maul stank und nur getrocknete Pansen fraß, obwohl er gerade die, das hatte Omas alte Freundin Martha mir eingebläut, auf keinen Fall kriegen sollte.

 

Ich schob Linnea, die endlich eingeschlafen war, von mir weg und wühlte mich aus dem Bett. Manchmal versuchte ich es mit Einschlaf-Meditationen, aber jedes Mal wachte ich am Ende auf, so wie man früher beim Vorlesen aufgewacht war, sobald die Stimme der Eltern verklang, nur um »weiter …« zu sagen, obwohl man schon vorher rein gar nichts mitbekommen hatte. Manchmal versuchte ich Progressive Muskelentspannung, manchmal langweilige Netflix-Serien. Und manchmal half eben gar nichts, außer Aufstehen.

Bootsmann saß traurig wie immer vor der Schlafzimmertür und stupste mich mit einer feuchten Schnauze an.

»Nee«, sagte ich. »Ich kann auch nicht schlafen. Weißt du doch.«

Draußen wurde es hell – ein milchiges Blau kündigte einen grauen Spätsommertag an, und auf dem Anrufbeantworter blinkten seit gestern Abend zwei ungehörte Nachrichten. Ich kochte mir einen Kaffee, setzte mich ans Fenster und drückte auf den Knopf. Die eine Nachricht war von meiner Mutter, ich solle mich endlich mal um mein Erbe kümmern (sie sagte das, als wäre sie sauer auf mich, dass es mein und nicht ihr Erbe war), Immobilien seien doch etwas wert, auch wenn sie in einem Kaff am Arsch der Welt standen, und verfallene Immobilien würden weit weniger Käufer finden als … bla bla bla. Die zweite Nachricht war von Linneas Vater, der die nächsten Wochenenden besprechen wollte. Im Hintergrund heulte das Baby und eigentlich wollte er nichts bereden, das wurde schnell deutlich, er wollte sich nur rausreden – keine Zeit, viel zu tun, der Job und das neue Kind und außerdem leide seine Frau an postnataler Depression und er könne jetzt wirklich nicht auch noch auf Linni …

Ich drückte seine Stimme weg.

Ich trank meinen Kaffee und blickte hinaus auf die verregnete Straße, die vorbeirollenden Autos, vereinzelt, um diese Uhrzeit, die Schlieren am Fenster. Es zog, immer zog es in dieser Wohnung.

 

Vier Nächte dachte ich darüber nach, sprach mit meiner Freundin Ariane, die nur die Schultern zuckte.

»Stadtflucht, Stadtflucht«, sagte sie. »Das macht doch jetzt jeder. Ist einfach zu teuer hier. Nur schade, dass es zu weit zum Pendeln ist.«

Wir tranken Kaffee in einem dieser Pop-up-Läden, die überall aus dem Boden sprossen, und ich fragte mich, ob ich das vermissen würde. Die Stadt, die Kultur, die Cafés. Bootsmann schnarchte unter dem Tisch zu meinen Füßen, holte seinen Schlaf nach, scheinbar ohne Probleme. Ich rieb meine müden Augen und bestellte mir noch einen Espresso Macchiato.

»Es ist ja nicht nur die Stadt«, sagte ich. »Es fühlt sich so an, als wäre überall der Wurm drin, Ari.«

»Na, ganz so ist das ja nicht, du Pessimistin.« Ariane leckte sich ein wenig Milchschaum von der Oberlippe. »Du strugglest halt so ein bisschen, im Moment. Aber die Silke, weißt schon, meine Kollegin, die kennt jemanden, der arbeitet in so einer Steuerkanzlei gleich bei dir ums Eck, die bräuchten wohl ’ne Schwangerschaftsvertretung für ihre eine Sekretärin …«

»Hm«, machte ich und dachte über das Haus meiner Oma nach, ließ den Blick schweifen über die Straße und die geparkten Autos und eine alte Dame, die ein bisschen Hundekacke vom Asphalt in einen roten Beutel kratzte. »Und Linni«, sagte ich und blinzelte mich von der Dame los. »Linni kommt einfach nicht klar in dieser Schule.«

»Immer noch der fiese Englischlehrer?«

»Mathe«, sagte ich. »Und solche Leute sollte man nicht auf kleine Kinder loslassen. Oder auf Menschen im Allgemeinen.«

»Hast du mal überlegt, sie zu dieser Psychologin zu schicken, die ich dir …«

»Sie geht doch schon zu einer, eine Bekannte von Lars. Aber sie sagt da ja eh nix.«

»Ja, aber dann braucht sie halt ein paar Stunden mehr und dann …«

»Ich glaub, sie muss einfach aus diesem toxischen Umfeld raus.« Ich hasste dieses Wort, es war in etwa so schrecklich wie »proaktiv« oder »kontraproduktiv«, so nervige, hochtrabende Wörter, die man als Elternteil ständig hörte und dann in seinen Wortschatz aufnahm, ob man nun wollte, oder nicht.

»Vielleicht«, sagte Ariane. Einen Moment lang schwiegen wir. »Ach, weißt du, wenn ich ein Haus erben würde, wäre ich sofort weg hier. Egal, wo es ist.«

Das war bei mir ein bisschen anders. Der Ort war keiner, an den ich zurückkehren wollte. Ganz und gar nicht.

»Egal, wo? Selbst auf dem Kaff bei deinen Schwiegereltern?«

»Überall, nur nicht dort«, sagte sie entschieden.

Ich grinste. Sie grinste.

»Meine Güte, was werde ich dich vermissen, Mädel«, sagte sie. »Mit wem soll ich denn dann über Gott und die Welt lästern?«

»Mit deinen Yoga-Freundinnen?«, schlug ich vor.

»Die ruhen alle viel zu sehr in sich.«

Ich blies Luft in die Wangen. »Ich weiß ja noch gar nicht, was ich mache.«

Sie kniff ein Auge zu und legte den Kopf schief.

»Ach, du hast dich doch längst entschieden.«

Bootsmann stieß einen tiefen Seufzer im Schlaf aus und pustete mir heißen Hundeatem gegen das Schienbein.

Und dann, einfach so, traf ich die Entscheidung, die ich laut Ari längst getroffen hatte.

Kapitel 2

DU BIST TOTAL verrückt, Mama.«

Linnea saß auf der Rückbank und starrte missmutig aus dem Fenster. Ich betrachtete sie im Rückspiegel – wann war sie nur so groß geworden? Fragten sich das alle Eltern ständig? Ich konnte mich erinnern, wie schrecklich ich es als Kind gefunden hatte, wenn mir Erwachsene Sätze wie »Du bist ja so groß geworden!« und »Was bist du viel gewachsen!« entgegengerufen hatten, als wäre ich eine wandelnde Messlatte. Aber jetzt ertappte ich mich immer öfter dabei, wie ich selbst staunend vor meinem kleinen Mädchen stand, das früher in meiner Armbeuge gelegen hatte und mittlerweile größer war als ich, was zwar nicht viel heißen mochte, aber immerhin war sie erst dreizehn.

»Ich weiß«, sagte ich leichthin, viel leichter, als ich mich fühlte. »Deine Mutter spinnt. Als hättest du das nicht längst geahnt.«

»Ich wusste es schon immer«, sagte Linnea und rollte theatralisch die Augen. »Du bist völlig übergeschnappt.«

»Du könntest bei deinem Vater bleiben«, bluffte ich, denn nichts war unwahrscheinlicher als ein freudestrahlender Lars, der Linnea mit offenen Armen in seinem verdammt großen Reihenhaus willkommen hieß, »nur für ein paar Monate? Bis deine Mutter wieder auf die Beine kommt? Klar!«

Pah, und auf keinen Fall sollte er wissen, er mit seinem perfekten Leben, seinem perfekten Job und seiner perfekten Frau, dass ich arbeitslos und bald schon obdachlos sein würde.

Drei Monate, du meine Güte. Ich hatte mich an den Mieterschutzbund gewandt, aber die konnten wenig machen, auch wenn wir schon jahrelang in der kleinen Wohnung lebten.

Also hatte ich meine Mutter angerufen, kurz nach sieben, an diesem regnerischen Septembermorgen, an dem die Schlieren am Fenster hinabgelaufen waren: »Mama? Du hast recht, ich muss mich um mein Erbe kümmern. Nein, du musst niemanden hinschicken, nein, ich kann das selbst, nein, ich brauche keinen Hausverwalter … auch keinen Hausmeister, nein … wir ziehen da selbst hin. Ja. Wir. Linni und ich. Ja, noch dieses Jahr. Bald. Sehr bald. Sozusagen nächste Woche.«

Dann hatte ich mir gefühlte fünf Stunden lang anhören müssen, wie unvernünftig ich sei, das Kind und die Schule und Stabilität und Sicherheit und überhaupt, ob ich wüsste, in welchem Zustand das Haus …?

Aber ich klopfte nur Bootsmann auf den Rücken, hielt den Hörer von meinem Ohr weg und flüsterte ihm »Es geht nach Hause, alter Junge« in seine verzottelten Schlappohren.

 

Und hier waren wir, eine Woche später, mit meinem alten, klapprigen Golf, vollgepackt mit all unseren unmittelbaren Habseligkeiten, während sich unsere Möbel eingelagert hinter einer Tür mit einer sehr langen Nummer stapelten, nur für den Fall, dass … und weil ich mir eben doch nicht so ganz sicher war, … und weil mich ab und an ein dumpfes Bauchgrimmen überfiel, das vielleicht mit der Rückkehr ins Städtchen, vielleicht mit gewissen Personen, die ich dort eventuell treffen würde, zu tun hatte. Aber Linnea kannte weder Victoria Pozzi noch Henning Buchäcker noch Markus Siebert; sie kannte auch Martha kaum und ihre Uroma hatte sie auch nicht wirklich gekannt, so viele Jahre war ich nicht dort gewesen, und sie musste nichts davon wissen.

»Das wird super«, sagte ich deshalb mit einem breiten Lächeln in den Rückspiegel, aber sie strafte mich nur mit einem Blick, von dem ich sicher war, dass ich ihn erst in der tiefsten Pubertät, mit vierzehn oder so, gelernt hatte.

»Bootsmann ist schlecht«, sagte Linnea. »Er kotzt bestimmt gleich wieder.«

Sie kurbelte das Fenster herunter, Regen in winzigen Tröpfchen und kalte Herbstluft stoben herein. Der Hund hängte seinen Kopf aus dem Wagen, und seine Ohren schlackerten im Fahrtwind.

 

Meine Oma Hanne war im letzten Juli gestorben, einfach so, im Schlaf unter der alten Eiche im Garten ihrer Nachbarin und besten Freundin Martha. Die hatte sie gefunden, ein Buch auf dem Schoß, die Augen geschlossen, den Rücken gegen den Stamm gelehnt.

Bei der Beerdigung trug Martha ein rotkariertes Holzfällerhemd, meine Mutter regte sich auf, und viele Frauen aus dem Ort kamen seltsamerweise mit blaugefärbten Haaren oder blauen Perücken, was Martha mit einem Achselzucken abtat und meine Mutter mit Kommentaren wie »… meine Güte, dieses Kaff!« bedachte.

Nach der Scheidung von meinem Vater hatte meine Mutter noch drei Jahre in ihrem Heimatort ausgeharrt und war dann schleunigst in eine größere Stadt gezogen. Mittlerweile war sie ihrem neuen Freund Horst, der seinem Namen alle Ehre machte, an die Ostseeküste gefolgt, wo sie seither so tat, als käme sie nicht aus einem Provinznest im Süden Deutschlands, wo die meisten ihrer neuen Freunde vermutlich nicht mal in der Lage wären, ein Smalltalk-Gespräch über den Gartenzaun zu führen, weil sie den Dialekt gar nicht verstehen würden.

Es war heiß an diesem Julitag und ich schwitzte in meinen schwarzen Jeans, meinem schwarzen T-Shirt und meinen schwarzen Vans, die meiner Mutter für eine Beerdigung zu leger waren, wie sie mich mehrmals am Tag wissen ließ. Ich hatte zu wenig getrunken und ein dumpfes Surren im Ohr, das etwas mit dem Kreislauf zu tun hatte oder darauf hinwies, dass mir, ganz plötzlich, mit einem »Zitsch!« irgendein Kurzschluss im Hirn den Garaus machen würde, als brannte eine Glühbirne durch, wovon ich so felsenfest überzeugt war, dass das Surren noch schlimmer wurde und mir schwindelig, und ich mich vorzeitig aus der kleinen Trauergesellschaft absetzte. Diese leichte Ahnung, dieser Spleen, einfach irgendwann umzukippen, überfiel mich auf Friedhöfen und auch in Krankenhäusern oder Altenheimen häufiger, wie ein siebter Sinn, eine Vorahnung.

Ich zog Linnea hinter mir her in die Wirtschaft eine Straße weiter, wo der Leichenschmaus abgehalten werden sollte, und bestellte uns, wie früher, jeweils eine große, trübe Apfelsaftschorle, die nicht mit Wasser, sondern mit Limo gemischt war, und eiskalt im Glas zischte, so kalt, dass es an den Zähnen weh tat.

»Wieso haben die alle blaue Haare?«, fragte Linnea über ihrem Saft, und ich zuckte die Schultern, schob ihr über den Tresen ein Schälchen Erdnüsse hin und ging pinkeln. Die Toiletten befanden sich einmal über den Hof, und als ich draußen vor der Tür stand, hatte ich das komische Gefühl, beobachtet zu werden. Das hatte dieser Ort so an sich: Todesgedanken (»Zitsch!«) und Blicke im Nacken, von Leuten, die gar nicht da waren. Dabei war der Ort eigentlich viel zu groß, um sich beobachtet zu fühlen: Kein Dorf, sondern eine Stadt, wenn auch eine sehr kleine: 12.000 Einwohner, vermutlich mittlerweile ein paar mehr. Es gab zwei Dorfwirtschaften, eine kleine Bibliothek, eine Mittelschule und ein Gymnasium, und sogar ein Schwimmbad. Eine Autobahnanbindung, und mittlerweile sogar diverse Neubausiedlungen mit schmalen Reihenhäusern mit hübschen Vorgärten voller Laufräder und Fahrradanhänger und Trampoline. Man kannte nicht jeden, jedenfalls nicht wirklich, und wenn, nur vom Sehen.

Ich drehte mich um, kniff die Augen zusammen gegen die Sonne. Über den Parkplatz schien mich tatsächlich jemand zu mustern, und ich ließ meine Sonnenbrille, die ich in die Stirn geschoben hatte, zurück auf meine Nase rutschen. Eigentlich glaubte ich nicht, dass mich hier jemand erkennen würde, dem ich mich nicht persönlich vorstellte, wenigstens nicht aus dreißig Metern Entfernung: Ich war zwanzig Jahre älter, fünfzehn Kilo schwerer und meine Haare waren nicht mehr blondgesträhnt und glattgeföhnt, sondern dunkelbraun mit einem raspelkurzen Pony, der das Einzige war, was ich jetzt an ihnen glättete. Ich zuckte zusammen, als etwas um meine Beine strich, bemerkte eine schwarze Katze, dachte: Schwarze Katze von links …, bückte mich und streichelte ihr struppiges Fell. Als ich aufblickte, war die Person vom Parkplatz verschwunden.

Stattdessen winkte mir Martha zu, rotkariert, auch zwanzig Jahre älter, aber jetzt ohne beste Freundin, und hakte sich bei mir unter, wollte wissen, wie es mir ging, und Linnea, Mensch, war die groß geworden, »die hat dich ja fast schon überholt«.

 

Ich bekam Linni nicht dazu, sich mit mir meine alte Autofahr-Playlist anzuhören, und sie weigerte sich auch, mit zu albernen Popsongs im Radio zu singen, verdrehte nur wieder die Augen, als ich es tat. Um die Stimmung aufzulockern, schaltete ich schließlich einen der weniger blutrünstigen True Crime-Podcasts ein, die sie so sehr liebte und wir verbrachten die nächsten eineinhalb Stunden damit, uns mit den düsteren Machenschaften eines Berliner Großfamilienclans zu beschäftigen, was das Kind von seiner schlechten Laune ablenkte.

Und dann – der Regen pladderte mittlerweile so stark auf die Windschutzscheibe, dass ich nur noch dreißig fahren konnte – bogen wir in Oma Hannes Straße ein, rumpelten über die matschige Auffahrt zum Haus, das spitz und düster dem Regen trotzte, und waren da.

Kapitel 3

FEHLT NUR NOCH ein Blitz«, sagte ich, während wir beide nach draußen auf das Gebäude schauten.

Genau wie die meisten anderen Häuser der Siedlung (Marthas ausgenommen) war Oma Hannes Haus ein typischer 50er-Jahre-Bau, mit einem spitzen Dach, einem ersten Stock mit schmalen Zimmern und einem dunklen Dachboden, mit kleinen Fenstern und vier breiten Treppenstufen, die zur Haustür hinaufführten, die sich unter einen milchigen Glas-Windfang duckte. Der ordentliche Jägerzaun rings um das Grundstück war jetzt ein wenig verwittert und an einigen Stellen windschief. Der Kies in der Auffahrt mit Blättern übersät und von Unkraut durchsetzt. Am Nussbaum, der gleich am Übergang vom Hof zum Garten stand, hing noch immer die uralte Schaukel, die mein Opa für mich dort angebracht hatte. Sie war aus rotem, mittlerweile blassrosa ausgebleichtem Plastik und schwankte jetzt unheilvoll im Gewitterwind. Tatsächlich zuckte gleich darauf ein Blitz über dem Haus.

»Ha!«, machte ich. »Kra-wumm!« Meine Hände imitierten flackerndes Blitzlicht. »… wie in Psycho oder bei Agatha Christie oder so was.« Ich klang heiter, ich nannte diese Stimme insgeheim die lustige Mama-Stimme, wo mir so gar nicht nach Witzen zumute war. Ich fühlte mich eher, als sei alles eine ganz, ganz blöde Idee gewesen, aber das musste Linni ja nicht wissen.

»Ich hab noch nie Psycho anschauen dürfen«, sagte sie vom Rücksitz. Ich drehte mich zu ihr um und zeigte mit dem Zeigefinger auf sie. »Ganz genau! Zu Recht! Aber du weißt, was ich meine.« Schwere Tropfen trommeln auf dem Autodach.

»Ja«, sagte sie. »Böses Omen.«

Wir blickten weiterhin nach draußen. Ich drehte mich um und schielte durch die Heckscheibe nach drüben über die Straße, zu Marthas Häuschen, wo ein warmer Lichtschein aus einem der blau umrahmten Fenster nach draußen in die Dunkelheit fiel. Martha. Und wir vorm dunklen Haus meiner Oma.

»Haben wir einen Regenschirm dabei, Linni?«

Hatten wir nicht, also zogen wir uns unsere Jacken über die Schultern, hielten Reisetaschen über unsere Köpfe und rannten. Auf halben Weg kam der Hund an mir vorbeigeschossen und bellte jauchzend. Ich fummelte lange mit dem Schlüssel am Schloss herum, und als wir endlich drinnen standen, waren wir alle drei völlig durchgeweicht.

»Kalt«, stellte Linnea fest. »Und dunkel.«

Der Hund tropfte und schüttelte schmutziges Wasser aus seinem Fell. Ich drückte Regen aus meinen Haaren und sah mich im Halbdunkel des Flures um.

Es roch staubig und irgendwie … alt, nach Tapeten und Hühnerbrühe und Feuerholz, das im Ofen verbrennt. Meine Oma Hanne, die die Augenbrauen hebt, den Hund schimpft, weil er alles dreckig macht, und mich, weil ich meine Gummistiefel noch anhabe und schlammige Fußspuren auf dem gewienerten Linoleum hinterlasse.

»Mama, das Licht geht nicht!«

Linnea drückte mehrmals den schweren Schalter neben der Haustür, aber nichts tat sich.

»Scheiße«, murmelte ich, während der Hund nass und filzig an mir vorbei in die Küche strich, freudig mit dem Schwanz wedelnd, als würde er sie dort gleich wiedersehen, in ihrer Schürze und ihren beigen Wollhosen, am Herd, wo sie uns ein paar warme Apfelküchel ausbrät und …

»Mama, kein einziges Licht geht!«, quietschte Linnea vom Lichtschalter neben der Küchentür und schmiegte sich dann an mich.

Ich probierte selbst noch ein paar Schalter, als würde es etwas ändern, wenn ein Erwachsener drauf drückte, aber nichts tat sich. »Scheiße«, murmelte ich wieder und wartete darauf, dass sich meine Augen an die Dunkelheit in den Räumen gewöhnten, aber ich erkannte nur Schemen und Schatten und dunkle Ecken, in denen noch weniger zu sehen war.

»Und außerdem ist es eiskalt«, stellte Linnea fest, die in ihrem Rucksack kramte, »und ich finde meinen Schlafanzug nicht und meine Zahnbürste auch nicht.«

»Ist doch alles im Auto. Warte kurz …« Ich drehte mich zur Tür, aber Linnea klammerte sich an meinen Arm. »Ich bleib hier nicht allein!«, rief sie.

»Es ist nur ein Haus ohne Strom«, sagte ich.

»Nur!«, rief Linnea und drehte sich nach dem Hund um. »Die Ersten, die in Horrorfilmen sterben, sind Haustiere«, erklärte sie ihm, und wir rannten gemeinsam, Hand in Hand, durch den strömenden Regen zum Auto, Kies spritzte unter unseren Füßen, gefolgt vom Hund, der anscheinend auch nicht allein im Haus bleiben wollte.

»Und als Nächstes Leute, die unehelichen Sex haben«, sagte Linnea, während wir uns irgendwelche Taschen schnappten.

»Wieso weißt du so was?«, schimpfte ich, um mich nicht mit meinen eigenen Gedanken zu gruseln, »du bist dreizehn!«

»Eben.«

Ich griff mir den großen Überseekoffer meiner Mutter, in dem ich die meisten unserer Schlafutensilien vermutete, und wuchtete ihn durch den Matsch zurück zum Haus. Linnea kramte noch in ein paar Kisten nach Handtüchern oder so.

»Wir müssen also bloß auf Bootsmann aufpassen. Und der gehört ja eigentlich deiner Uroma.«

Linni grummelte etwas Unverständliches.

»Jetzt komm!«, rief ich. »Wir schlafen oben, da riecht es nicht so nach … da ist es nicht so … äh … dunkel.«

Gruselig, war das richtige Wort, aber wozu war man erwachsen und ein rationaler Mensch?

Auf keinen Fall wollte ich unten in Omas Zimmer schlafen, wo bestimmt noch ihre Wanduhr tickte und alles nach ihrem Parfüm roch, Veilchenduft und Mottenkugeln, und im Schrank noch ihr alter Pelzmantel hing, den sie niemals getragen hatte. Als wäre sie immer noch da …

Wir tasteten uns die knarrende Treppe hoch in den ersten Stock, vorbei am Treppenlift, die linke Hand an der Wand, mit der rechten schleifte ich den Koffer hinter mir her.

Etwas huschte in einem Augenwinkel an uns vorbei, Linnea hatte es wohl nicht bemerkt. Vielleicht gab es hier Geister verstorbener Mäuse. Die wären mir lieber als lebendige.

»Hier oben war nur ein Kinderzimmer und ein Gästezimmer und das Arbeitszimmer von meinem Opa, da hat er immer rumgewerkelt«, erklärte ich Linnea. »Die Zimmer hat sie eine Zeitlang vermietet.«

Ein paar Jahre lang hatte hier ein nörgeliger Mieter gelebt, ein hutzeliges altes Männlein namens Herr Moser, das sich irgendwann mal in einen nur geringfügig weniger hutzeligen und nörgeligen Herrn Fäustle verwandelt hatte, mir aber immer wie derselbe Mann vorgekommen war. Daher der leicht antiquiert wirkende Treppenlift. Danach hatte Oma Hanne alle drei Zimmer zu Gästezimmern ummöbliert und ich hatte eines davon bekommen. Aber auch später waren die Betten in mindestens einem gerade nicht vermieteten Zimmer immer mit frischen Laken bezogen worden. Für meine Mutter, wenn die mal vorbeikam, oder für mich. Nicht, dass ich in den letzten zwanzig Jahren mal vorbeigekommen wäre.

Ein Gefühl von schlechtem Gewissen überfiel mich, und ich stieß schnell die Tür oben auf. Meine Mutter, oder irgendwer, hatte die Möbel hier oben mit steifen Plastikplanen abgedeckt, was mich an Geisterhäuser in diversen Horrorfilmen denken ließ.

»Hier ist es genauso gruselig«, maulte Linnea.

Ich schob sie vorwärts und erzählte ihr nicht, wie der Dachboden aussah, wo wir damals mit blutroter Farbe ein Pentagramm auf die rauen Dielen gepinselt hatten. Wir, der Hexenzirkel: Maria, Vicky, Henning.

Auch hier im ersten Stock funktionierte der Strom nicht, aber in einer Kommode fand ich eine Taschenlampe, die noch ging. Wir schlichen den Flur entlang, zitternder Taschenlampenfinger vor uns, »wie bei den drei Fragezeichen, hm?«, sagte ich und konnte Linneas Augenrollen beinahe spüren. Und dann waren wir im größten Schlafzimmer, wo, genau wie früher, das Bett immer frisch bezogen war, jedenfalls mit Wäsche, die nach Weichspüler roch, aber nicht ganz so nach Oma Hanne, nach Kindheit und Erinnerungen.

»Hier hängt ein Foto von dir an der Wand«, sagte Linnea, und ich leuchtete mit der Handytaschenlampe auf einen kleinen Bilderrahmen über dem Bett.

»Oder? Das bist doch du?«

Das Bild einer jungen Maria, mit weißen Sonnencremestreifen neben der Nase, nassen Haaren und einem irren Lachen auf dem Gesicht. Sie späht in eine dem Anschein nach gleißende Sonne und ich wusste gar nicht, wer dieses Mädchen eigentlich war.

»Früher mal«, murmelte ich. »Komm.«

Im Koffer fand ich ein paar Jogginghosen und weite T-Shirts, wenn schon nicht unsere Pyjamas, und Linnea warf mir ein Handtuch zu, mit dem wir notdürftig unsere Haare abtrocknen konnten. Ohne nasse Füße und in warmen, trockenen Klamotten fühlte sich schon gleich alles besser an.

»Ich hab neulich so einen Podcast gehört …«, fing meine Tochter an und ich stöhnte.

»Linni, jetzt bitte keine Gruselgeschichten. Du weißt, ich bin nicht so taff wie du.«

Sie schob die Unterlippe vor. »Jedenfalls ging es da um so einen Typen, der hat ein kleines Nachbarsmädchen auf seinen Dachboden gelockt und ermordet und danach dann erst …«

»Meine Güte, Linnea, muss das sein?«

»Und die Leiche lag da dann vier Jahre lang und keiner hat es gemerkt. Und er ist immer wieder …«

»Ich will nicht, dass du dir so was anhörst, Linnea Zeitler!« Sie ignorierte mich und drehte den Kopf zu mir her.

»Und dann wurde der auch noch freigesprochen!«

»Wieso das denn?«

»Zu wenige Beweise.«

»Ach du Scheiße«, sagte ich. Eine Leitung oder ein Rohr knackte, und ich zuckte zusammen. Ich dachte an den staubigen Dachboden über uns, und dass auch niemand merken würde, wenn dort ein paar Leichen herumliegen würden. Draußen zuckte theatralisch ein Blitz. Donner grollte.

»Hast du nicht eine nettere Geschichte auf Lager?«

Sie zuckte die Achseln. »Ich höre nur die schlimmen. Die sind interessanter.«

»Aha.« Und dann schläfst du nicht, fügte ich in Gedanken hinzu, sagte aber nichts.

»Wollen wir jetzt einen hören?«, fragte sie. »Zeit Verbrechen hat was Neues …«

»Nein!«

»Aber ich hab mein Buch nicht mitgenommen. Es ist noch in irgendeiner Kiste.«

»Und was liest du?«

»Sag ich wohl besser nicht.«

»Ja, besser ist das wohl.«

»Friedhof der Kuscheltiere!« Sie strahlte. »Hat mir Papa gegeben. Er meint, man kann sich nicht früh genug abhärten.«

»Ach, meint er das?« Der muss ja dann auch keine schlaflosen Nächte mit dir verbringen, dachte die kleine Stimme in meinem Kopf, aber wieder schwieg ich.

»Und da geht es um was? Um Zombietiere!«

»Nicht nur. Alles, was auf diesem Indianerfriedhof begraben wird, wird wieder lebendig. Und dann stirbt das Kind von denen …«

»Ah!«, machte ich, steckte mir die Finger in die Ohren und machte: »La-la-la-la! Kein Stephen King bei Gewitter und Stromausfall.«

»Das ist kein Ausfall, der geht hier einfach nicht.«

»Stimmt.« Ich seufzte. »Meinst du, du kannst schlafen?«

»Auf keinen Fall«, sagte sie. »Ich stelle mir vor, dass Uri hier auftaucht, in einem weißen Nachthemd und …«

»Deine Uroma würde uns nie erschrecken«, behauptete ich und schielte in eine der dunkleren Zimmerecken. Kleiderständergeister, Schatten in Spiegeln. »Sie wäre einer der netten Geister und würde uns ’ne heiße Suppe kochen oder so.«

»So was können Gespenster gar nicht.«

»Oder einen Kaba machen.«

»Die haben ja keinen, ähm, richtigen Körper.«

»Aber die greifen doch immer an, in so Filmen. Da könnten die doch auch Milch warm machen. Wieso müssen Geister eigentlich immer böse sein?«

»Na, weil sie sonst keine Geister wären. Die haben in ihrem Leben irgendetwas falsch gemacht oder vergessen oder noch eine Rechnung offen, deshalb bleiben sie in der Zwischenwelt stecken.«

»Ach, so ist das? Ungelöstes aus einem früheren Leben?« Ich dachte an das Pentagramm auf Omas Dachboden, an Staubschichten und ungeklärte Situationen. Stellte mir vor, wie ich zur Spukgestalt werden würde, hier, in diesem Haus, in diesem Ort, aus dem ich nicht nur geflohen war, weil Metropolen cooler waren als Kleinstädte. Blass am Fenster, ein winkender Schemen …

»Ja!«, sagte Linnea. »Und wenn die dann, äh, Erlösung finden, können sie weiterziehen.«

»In den Himmel oder was?«

»Ja, oder halt irgendwie so was.«

Weiterziehen. Erlösung. »Romantisch. Weißt du, welche Gespenster ich mag?«

»Nein.«

»Casper, zum Beispiel. Oder den Fast-kopflosen-Nick.«

»Die langweiligen also«, sagte sie.

Ich lehnte mich aus dem Bett und kramte in einer Tasche.

»Ta-Daa!«, machte ich und zog mein Tablet aus dem Koffer. »Hat sogar noch dreißig Prozent!«

Linnea seufzte.

Wir kuschelten uns nebeneinander in das Gästebett. Die Bettdecken waren schwer, die Kissen dick, die Bezüge blumig und gestärkt, und ich dachte an meine Oma, die Königin der Kirschkernkissen, aufgewärmt in einem Ungetüm von Mikrowelle, fast größer als die ganze Speisekammer. Die Bettwäsche hier oben roch nach Weichspüler und Staub.

Wir sahen uns einen Teil von Harry Potter und der Stein der Weisen auf meinem Tablet an, bis der Akku uns verließ.

»Weißt du, dass du spinnst, Mama?«, sagte das Kind dann schläfrig. »Wieso sind wir überhaupt hier?«

Ich hatte gehofft, sie würde beim Film einschlafen, und strich ihr über den Kopf.

»Man erbt ja nicht ständig Häuser.« Ich lenkte ab, aber glücklicherweise ging sie darauf ein.

»Warum hast du das Haus denn überhaupt geerbt, normalerweise kriegen doch zuerst die Kinder was, nicht die Enkel.«

»Meine Oma mochte mich lieber als deine Oma«, sagte ich.

»Hä?«

»Ich war einfach ständig bei ihr, jedenfalls früher. Und sie wusste ja, dass Mama versorgt ist. Deshalb wahrscheinlich.«

»Wieso warst du ständig bei ihr?«

»Weil ich damals der Kummerkasten für beide meiner Elternteile war«, sagte ich. »Und das war grässlich. Ich war immer zwischen den Fronten.« Im Scheidungskrieg meiner Eltern wurde ich jahrelang mal auf diese, mal auf jene Seite gezogen und hörte mir von beiden Gejammer und Geschimpfe an, worauf ich spätestens als Teenager keinerlei Lust mehr hatte. Also packte ich mit fünfzehn einen großen Überseekoffer und lebte für die meiste Zeit der nächsten zwei Jahre am anderen Ende der Stadt bei Oma Hanne, die sich, genau wie ich, am liebsten raushielt.

»Und deshalb hast du lieber bei deiner Oma gewohnt als zu Hause?«, fragte Linnea.

»Zeitweise, exactamento.«

Eine Weile schwiegen wir. Das Trommeln des Regens gegen die Scheiben ließ langsam nach.

»Ich würde ja nicht gern bei Oma wohnen«, sagte Linnea schließlich schläfrig.

Ich konnte sie in gewissem Sinne verstehen.

»Ach, Oma Hanne, die war anders. Die war ’ne tolle Frau. Da war ich gern.«

»Wieso waren wir dann später nie hier?«

Wieder schwieg ich. Dann tätschelte ich meiner Tochter den Rücken.

»Das wird schon«, sagte ich, zu ihr oder zu mir selbst, ich war mir nicht sicher.

»Aber ich kenne niemanden in der Schule. Nie-man-den.«

»Das ist doch unter Umständen was Gutes? Du kannst ganz neu anfangen! Keine blöde Laura, kein fieser Herr Fischer …«

»Aber ich bin viel zu spät, es ist mitten im Schuljahr …«

»… eine Woche. Vor einer Woche waren die Ferien zu Ende.«

»Trotzdem. Ich falle da total auf …«

Auffallen. Das war immer Linnis größte Angst. Sie war jetzt schon größer als die meisten ihrer Schulkameraden (die Jungs eingeschlossen), hatte leuchtend rote Haare und jetzt war sie auch noch zu spät und ganz neu. Das war wirklich blöd. Ich verstand es.

»Die haben sich spätestens in zwei Wochen an dich gewöhnt«, sagte ich zuversichtlich. »Allerallerspätestens. Wallah!«

Linnea stöhnte. »Sag nicht wallah, Mama, das ist so peinlich.«

Trotzdem lehnte sie den Kopf an meine Schulter, und ich lächelte in ihr Haar. Draußen schuhute ein Käuzchen, und Mondlicht fiel ins Zimmer.

»Schau«, sagte ich. »Es hat sogar schon aufgehört zu regnen.«

»Und?«

»Gutes Omen?«

Bootsmann sprang plötzlich aufs Bett und legte sich quer über unsere Füße. Linnea schimpfte, und ich schob ihn mit den Füßen von mir weg. Er wusste ganz genau, dass er das nicht durfte, aber heute war alles egal – immerhin hatten wir auch keine Zähne geputzt, wie mir eben erst einfiel, und was Linnea, die normalerweise sehr streng bei so was war, anscheinend auch vergessen hatte.

»Nacht, Kürbisnase«, sagte ich, und sie protestierte nur ganz leise gegen den Spitznamen.

Und dann passierte etwas Wunderbares: Alle außer mir schliefen ein. Der Hund schnarchte ruhig an unseren Füßen, wärmte uns mit seinem heißen, stinkenden Hundeatem, Linnea pennte einfach weg und wachte auch nicht um eins noch mal auf. Der Regen setzte wieder ein und ließ dann endgültig nach, während es draußen heller wurde, mir war warm, Linneas Atem kitzelte mich an der Wange, und kurz, ganz kurz nur, dachte ich, dass es vielleicht doch richtig war, hier zu sein.

Damals

Ich bin aufgewacht, weil Oma Hanne unten herumpoltert. Es ist der 31. Oktober, es ist kurz nach zehn, und die Luft ist klar und kalt.

Von meinem Fenster im Gästezimmer aus kann ich bis zum Wald sehen, über die Apfelbäume im Garten und über Martha hinweg, die wie immer schon im Garten herumwerkelt. Das Klappern von Geschirr in der Küche, Martha im Garten, der Geruch nach frisch gebrühtem Kaffee. Das ist besser als streitende Eltern, die sich auf den Tod nicht ausstehen können, wie meine Mutter immer sagt, und die sich schon um zehn Uhr morgens ankeifen. Das Gästezimmer meiner Großmutter sieht mittlerweile aus wie meines, ein Zweitwohnsitz, bald vermutlich ein dritter, wenn meine Eltern getrennte Wege gehen.

Ich ziehe mir einen von Hennings Hoodies über, die er ständig hier vergisst, drei Nummern zu groß, so dass ich herrlich warm darin versinke, und gehe nach unten in die Küche, wo zwei große Bäckertüten auf dem Tisch liegen.

»Morgen.« Ich gähne, schenke mir eine Tasse Kaffee ein und setze mich an den Tisch. Der Kaffee bei meiner Großmutter ist dünn und bitter und ich trinke ihn schwarz und schnell. Meine Oma riecht an einem Laib Brot. Roggen aus dem Holzofen, mit dunkler Kruste. So wie es riecht, sehr frisch und sehr warm.

»Oh Mann«, sagt sie.

»Untersteh dich«, sage ich und säble mir selbst eine dicke Scheibe davon ab. Sie öffnet eine Tüte mit Weißbrötchen und Martha kommt herein: »Wir müssen heute unbedingt das Fallobst aufsammeln. Maria, kannst du nicht Henners anrufen, ob er …«

»Wir müssen heute unsere Outfits planen«, sage ich. »Und Henning muss sicher seiner Mom helfen, wegen der Party.«

»Die Party!«, sagt Martha und wirft theatralisch die Arme in die Luft. »Wie konnte ich die nur vergessen.«

Meine Oma grinst erst ihr, dann mir zu, und dann sagt sie »Ach, was soll’s«, nimmt sich eine Scheibe Brot, beschmiert sie dick mit Butter und beißt beherzt zu.

»Nicht!«, rufen Martha und ich gleichzeitig aus, als wäre das Roggenbrot der rotleuchtende Zünder einer Bombe, den Oma Hanne versehentlich gedrückt hat. Oma zuckt die Achseln und grinst noch breiter.

»Kann nicht anders«, sagt sie mit vollem Mund. »Es ist frisch und es ist vom Bäcker Fröhlich, das ist erwiesenermaßen das leckerste Brot Deutschlands.«

»Also dann, raus«, sagt Martha ernst. »Schnell.«

Sie scheucht uns beide in den Garten, Oma mit ihrem Butterbrot und mich mit meinem, das ich mit Honig bestrichen habe, denn es sind Ferien, und in den Ferien gönne ich mir was Süßes. Ich murre ein bisschen, aber Oma Hanne macht ein Spiel draus, wie seit Jahren, als wäre ich immer noch zehn, und nicht siebzehn, Fallobst aufzusammeln und in die großen Plastikbottiche zu werfen. Fauler Apfel in weiße Tonne, aus drei Metern Entfernung, dann fünf, dann bis zum hinteren Birnbaum und dann noch weiter, so weit, dass nur noch Oma trifft. Ich versage schon bei fünf Metern, gleich hinter dem ersten Gemüsebeet, und stolpere in Omas alten Gummistiefeln, die mir viel zu groß sind, ebenfalls wie als Kind, wo sie mir ständig Klamotten »auf Vorrat« gekauft hat und ich aussah wie ein winziger Landstreicher, alles an den Ärmeln und den Knöcheln umgekrempelt, und Oma immer behauptete: »Da wächst sie schon noch rein.«

Ich bin nicht wirklich reingewachsen, ich bin immer noch viel kleiner als meine große, schöne Oma, die ihre graugesträhnten, roten Haare mit einer Spange hochgesteckt hat, die weiche, beige Wollhosen und eine dunkle Wachsjacke trägt und gerade so tut, als würde sie mit einem faulen Apfel Boule spielen: tief in die Knie gehen, den Arm seitlich schlenkern lassen, und dann von unten …, »Allez hop!«, ruft sie und trifft. Meine Oma trifft immer. Sie macht einen kleinen Siegestanz.

Ich werfe und mein Apfel zermatscht neben dem Fass.

»Ach, Maria«, ruft Martha quer durch den Garten.

»Ich bin einfach zu klein«, behaupte ich, weil man nichts für seine Größe kann und das eine gute Ausrede ist.

»Man braucht eh nur innere Größe«, sagt meine Oma, »dann spielt die äußere keine Rolle.«

»Ja, ja«, sage ich. »Und jetzt ab mit dir nach hinten, du mit deiner Roggenallergie, das hält ja niemand aus.«

»Ich treffe auch von da hinten«, sagt meine Oma und stolziert davon, »das ist gar kein Problem.«

»Weg von mir!«, ruft Martha, als Hanne in ihre Nähe kommt und macht ein Kreuz mit den Zeigefingern, als sei Oma ein Vampir. Ein stinkender Vampir. Ich lache, und ein fauler Apfel zischt an meinem Ohr vorbei, Oma trifft den Eimer trotzdem, auch von ganz hinten im Garten, wo sie in gebührendem Abstand zu uns Fallobst aufsammelt, weil ihre Roggenbrot-Fürze still und tödlich sind, so nennt sie das selbst, »still und tödlich«.

Kapitel 4

IN DER SPEISEKAMMER fand ich am nächsten Morgen ein ganzes Regal voller eingemachter saurer Gurken. Die hatten wir nach dem Tod meiner Oma einfach stehen lassen, weil niemand sie wollte und sie doch zu schade zum Wegschmeißen waren.

Ich öffnete ein Glas, und die eingelegten Gurken waren kein bisschen sauer, sondern erstaunlich süß, zuckrige Essiggurken, knackig, aber innen überraschend weich, mit weißen Perlzwiebeln und Senfkörnern und Dill garniert. Weil Sonntag war und wir ansonsten rein gar nichts zu essen hatten, außer einem halben Glas Mayonnaise, einer Flasche Ketchup und ein paar Gewürzen, Salz, Pfeffer, Curry, die ich von zu Hause mitgebracht hatte, fuhren Linnea, Bootsmann und ich, Gurken lutschend, durch den noch immer strömenden Regen in die Innenstadt, wo ich in der einzigen geöffneten Bäckerei gefühlte Stunden anstand, um eine große Tüte mit Salami belegte Brötchen, Butterbrezen und süße Teilchen zu kaufen. Der September war bisher grau in grau gewesen, und auch jetzt glänzte das Kopfsteinpflaster nass. Wir rannten zurück zum Auto, duckten uns unter unsere dünnen Regenjacken, die wir über unsere Köpfe hielten.

Vor kurzem, Ende August, zu Hause, war noch Sommer gewesen, Spätsommer zwar, aber mit weichem Licht und lauen Abenden, an denen man mit einer dünnen Strickjacke auf dem Balkon sitzen und bei einem Glas Weißwein Fledermäuse beobachten konnte. Jetzt hatte es abgekühlt und nach ein paar Tagen Dauerregen hatte es zwar tagsüber noch achtzehn Grad, aber am Abend wurde es schon so frisch, dass man sich nach dicken Wollsocken und einer Daunenjacke sehnte.

Und so saßen wir dann da, in unserem neuen Zuhause, das noch keines war, beide in Leggins und weite, weiche Fleece-Pullis gehüllt, weil es immer noch schweinekalt in der Wohnung war, in unserer neuen Küche, der alten meiner Oma, vor ihrem Holzofen, kauten Gurkenbrötchen und Salzbrezen und zum Nachtisch Nussschnecken mit viel Zuckerguss, bis wir uns einigermaßen wohlfühlten.

»Also, Mama: Wieso waren wir nie hier?«, fragte Linnea mit vollem Mund und betrachtete die Anrichte, auf der sich Staub abgelagert hatte. »Mochtest du sie nicht?«

Ich antwortete nicht, fütterte stattdessen den Hund mit Stückchen der süßen Gurken, was ihn offenbar an sein Frauchen erinnerte, denn er konnte nicht genug davon kriegen und leckte sogar meine essignassen Finger ab.

Geliebt hatte ich Oma Hanne. Ihre knochigen Arme, die mich an sich drückten, ihre harsche Art, ihre absolute Bodenständigkeit. Wie sie mir Apfelschnitze schnitt und Grießbrei anrührte und immer da war, wenn man sie brauchte, ohne großes Theater oder Tamtam.

»Doch, Linni«, sagte ich also schließlich. »Aber … irgendwie …« Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Die anderen nicht? Den Ort? Die Erinnerungen? »Weiß nicht. War irgendwie zu viel los.«

Linnea hob die Augenbrauen und sah ihr dabei so ähnlich. Sie hatte überhaupt gar nichts von mir geerbt, so rein äußerlich, und von Lars auch nicht, und auch nichts von ihren eigenen Großeltern, weder väterlicher- noch mütterlicherseits. Sie hatte einfach zwei Generationen übersprungen und sah voll und ganz aus wie Oma Hannelore: großgewachsen und dünn, schlaksig fast, mit dem ganzen Gesicht voller Sommersprossen und karottenroten Haaren, glatt und seidig und uferlos lang. Natürlich hatte Oma Hanne ihr Haar immer hochgesteckt, und es war von grauen Strähnen durchzogen gewesen, aber ja, es gab Bilder von ihr, aus ihrer Jugend, wo sie und Linni Schwestern hätten sein können. Zwillingsschwestern. Ich blinzelte den Gedanken weg, klatschte in die Hände (der Hund zuckte zusammen) und stand auf.

»Packen wir aus?«

Linnea zupfte an einer Nussschnecke herum. »Müssen wir wirklich?«

Sie hatte recht. Noch könnten wir heimfahren. Einfach diese ganze Nacht als Episode abtun, später drüber lachen, in unserem normalen Münchner Leben, in einer kleineren, aber lauschigen Wohnung am Rande des U-Bahn-Netzes, letzte Haltestelle, aber immer noch Großstadt, immer noch zentral. Sie würde zurück in ihre Schule gehen und ich würde einen Job finden, von denen es in Großstädten weitaus mehr gab als hier, in einer Kleinstadt am Arsch der Welt, und alles würde weitergehen wie bisher.

Bootsmanns nasse Zunge leckte einmal quer über meinen Handrücken und ich sah erst ihn, dann Linnea an.

»Weißt du was? Wir ziehen oben ein. Da ist es gemütlicher als hier unten, oder?«

Auf dem Weg in den ersten Stock, beladen mit zwei großen, aber merkwürdig leichten Umzugskartons, meinte ich in der Diele, im großen, goldumfassten Spiegel neben der Schlafzimmertür die lange, dünne Gestalt meiner Großmutter einzufangen, die gleichen gehobenen Augenbrauen wie Linnea. »Meinst du wirklich?«, schien sie zu sagen.

Ich stolperte über eine Stufe, hinter mir jaulte der Hund, und der Spiegel war nur ein Spiegel.

 

Wir bezogen also die Zimmer im ersten Stock und ließen den Geist meiner Oma vorerst unten in ihrem Schlafzimmer hausen, dessen Türen wir verschlossen. Die Küche gab es nur im Erdgeschoss, die mussten wir in Beschlag nehmen, und auch das Bad und die Speisekammer hier unten waren natürlich praktisch. Ich rief erst den Strom-, dann den Gasversorger-Notdienst an, und mir wurde versprochen, dass sich gleich am Montag jemand um die Anschlüsse kümmern werde. Während ich in der Warteschleife hing, putzte ich beide Bäder, die leicht modrig rochen, sprühte ein vermutlich jahrzehntealtes Schimmelspray auf besonders schwarze Ecken neben der Badewanne und trug Linnea auf, in den anderen Zimmern und auf der Treppe Staub zu wischen. Wir schüttelten alle Planen von den Möbeln, wickelten die Folie zusammen und verstauten sie im Keller. Ich zog das Bett ab, lüftete Matratze und Decken, tat das Gleiche mit dem kleineren Bett im Zimmer nebenan, das Linneas werden sollte, ließ sowieso das ganze Haus durchpusten – offene Fenster, offene Türen, die dann und wann knallten, Nieselregen, der hereinwehte, und flatternde Vorhänge, bis ich auch die abhängte und auf einen großen Wäscheberg in der Waschküche im Keller warf.

Es sollte so aussehen, als könnten wir uns hier wohlfühlen.

Hanne war zum Glück keine große Verfechterin von Tapeten gewesen, und so waren die meisten Zimmer einfach weiß gestrichen. Die Ausstattung verströmte 60er-Jahre-Charme und die Linoleum-Fußböden quietschten, wenn man darüber ging. Wir verschoben ein paar Möbel, hängten Bilder mit Motiven, die wirklich zum Fürchten waren, ab (Stillleben mit frisch geschossenen Hasen, Früchten und Tellern, oder Landschaftsgemälde mit Hirschen und anderem Wild, was meinem Opa, Herrn Moser und wohl auch dem letzten Herrn Fäustle gefallen hatte) und unsere eigenen, mitgebrachten Bilder auf: Leinwände mit bunten, abstrakten Gemälden von Linnea, und einige Illustrationen von mir, unseren Kalender mit Kunstwerken aus dem Expressionismus. Betten wurden vor Fenster geschoben, Möbelstücke in den Keller gehievt, Schränke vollgestopft mit unseren nach Zuhause riechenden Klamotten, auf einen Heizkörper kam unsere Duftlampe, ein Nachtlicht mit Bewegungsmelder neben die Badezimmertür, eine Lichterkette um die Anrichte in der Küche und unser Sisal-Teppich ins Wohnzimmer.

»Et voilà!«, sagte ich schließlich, als alle Kisten leer waren und das Haus zumindest teilweise aussah wie ein Ort, an dem wir möglicherweise für länger bleiben könnten. Linnea räumte unser gepunktetes Lieblingsgeschirr in den weißen Küchenschrank und schloss ihn dann.

»Omas Zimmer ist immer noch gruselig. Und da müssen wir immer dran vorbei.«

»Dann dekorieren wir da halt auch noch um«, sagte ich. »Das machen wir aber morgen. Jetzt müssen wir uns erst mal Essen organisieren.«

»Hier gibt’s ja nicht mal Internetanschluss«, maulte Linnea.

»Mobile Daten, du Schlauberger.« Ich googelte bereits nach einem Lieferservice. »Auf was hast du Lust? Thai? Pizza? Oder …« Ich senkte bedeutungsvoll die Stimme. »Mäckes?«

»Du musst ja sehr verzweifelt sein«, sagte Linnea und dann zuckten wir beide zusammen, als es an der Haustür klingelte.

Bootsmann schoss unter dem Küchentisch hervor und rannte bellend aus dem Raum.

Linnea und ich sahen uns an. »Weiß jemand, dass wir hier sind?«, fragte sie. Ich hob die Schultern.

Es klingelte wieder. Bootsmann bellte noch immer.

Ich folgte langsam dem Hund in den Flur und tat, als wäre ich sehr ruhig und gelassen. Linnea schlich hinter mir her, drückte sich an meinen Arm, und ich hatte das Gefühl, ich sollte mir irgendetwas zum Zuschlagen greifen, eine alte Stehlampe vielleicht oder einen ausrangierten Baseballschläger, wie in einem Horrorfilm aus den USA.

Der Hund sprang jauchzend an der Haustür auf und ab und stürzte hinaus, sobald ich sie aufriss.

Draußen stand Martha und kämpfte mit einem zerfledderten Regenschirm. Einfach nur Martha. Ich atmete auf.

»Gott«, sagte ich. »Hast du uns erschreckt.«

»Wieso?« Die alte Frau trat ins Haus und scheuchte auch den Hund wieder zurück in den Flur. »Kann eine Nachbarin nicht mal die lange verschollene Enkelin ihrer Freundin besuchen? Und Urenkelin, du meine Güte!«

Sie musterte Linnea, die immer noch halb versteckt hinter mir stand. »Mensch. Wie Hanne. Haargenau.«

Linnea sagte nichts.

»Komm rein«, sagte ich und Martha schob sich in Omas Küche, wie eh und je. Martha wohnte einmal über die Straße, in einem niedlichen kleinen Häuschen, das von Kletterrosen und Blauregen ganz eingewachsen war und dessen Garten voll war mit allerlei Gemüse, Kräutern und Heilpflanzen. Die Hexe, hatten meine Schulkameradinnen sie früher genannt, aber für mich war sie schon immer nur Martha, die alte Martha Paplinski, seit jeher die dickste Freundin meiner Oma, mit etwas ruppigem Charme, aber unter der rauen Schale sehr, sehr nett.

»Wir haben uns eigentlich eher im ersten Stock eingerichtet.« Ich stand noch immer neben der Haustür und deutete die Treppenstufen nach oben.

»Wieso das denn?«, fragte Martha und wehrte den stürmischen Hund ab, der an ihrem Bein hinaufsprang. »Hannelore ist nicht mehr da. Die wird nicht ihr Reich zurückfordern.« Sie zwinkerte Linnea zu, die sich bei diesen Worten skeptisch im Raum umgesehen hatte. »Spuken wäre nicht so ihr Ding«, sagte Martha lächelnd. Ich dachte an die Schemen im Spiegel und sagte nichts, setzte stattdessen Wasser für Tee auf.

»Lass mal«, sagte Martha. »Ich wollte euch eigentlich zu mir zum Essen einladen. Ihr habt doch sicher nichts im Haus und es ist Sonntag …«

Ich warf Linnea einen Blick zu, überprüfte, ob sie sich schon sehr auf Mäckes gefreut hatte. »Martha kocht ausgezeichnet«, sagte ich und die nickte.

»Ich mache ganz wunderbare Kürbisnudeln, da ist dir drei Tage lang nicht mehr kalt.«

 

Während wir zu ihr hinüberstiefelten, hörte es kurz auf zu regnen, Martha schimpfte über ihren kaputten Schirm, und Linnea sprang über Wasserpfützen, die sich in der Auffahrt gebildet hatten, klingelte an der Glocke des Lastenfahrrads, das am Kastanienbaum lehnte, rostig und schwer. Ich bückte mich nach einer Kastanie, pulte sie aus ihrer stacheligen Hülle und steckte sie als Handschmeichler in meine Jackentasche. Um den Baum herum machten die Beeren Platz für eine von Hühnern ausgekratzte Wiese, an die rechts daneben Marthas Scheune anschloss. An Vormittagen hatte sie die immer geöffnet und in einem Straßenverkauf Selbstgemachtes verkauft, das wusste ich noch.

»Demnächst mache ich daraus einen richtigen Hofladen«, sagte Martha, die meinen Blick bemerkt hatte, und winkte uns dann weiter in Richtung Haustür. Marthas Haus war mehr eine Hütte mit nur einem Erdgeschoss und einem Spitzboden, auf dem sie ihr Schlafzimmer untergebracht hatte. Sie kam mir kleiner vor als früher, was daran liegen konnte, dass ich seit Jahren nicht hier gewesen war. Seit ich denken konnte, hatte Martha dort allein gewohnt, hatte Rosen und Brombeeren, Himbeeren und Johannisbeeren um ihren niedrigen Holzzaun gepflanzt, die die weiß verputzte Fassade einwucherten, als lebte dort Dornröschen höchstpersönlich. Jetzt drückte sich eine dürre Katze durch ein nur angelehntes Fenster; hellblaue Fensterläden, mit wildem Wein und Ramblerrosen überwachsen, die sich an der Dachrinne entlang hangelten und bis unters Dach krochen.

»Filou, du Mistvieh!«, rief Martha. »Kscht! Der macht mir drinnen wieder alles nass!« Das stimmte garantiert; der Regen tropfte von den schon fast verblühten Rosensträuchern und rot verwelkten Weinblättern. Ich bog eine dornige Ranke aus dem Weg, während ich Martha folgte, und erinnerte mich an die vornehmen Namen der Rosen: Munstead Wood, Gräfin Diana, Rhapsody in Blue.

Nicht nur ihre Hütte, auch Martha selbst schien ein wenig geschrumpft zu sein. Sie trug Jeans und ihre obligatorischen Wanderschuhe, an die ich mich noch erinnern konnte, dazu einen dicken Wollpulli, der für das milde Nieselregenwetter eigentlich viel zu warm wirkte, und eine goldene Haarspange in ihren kinnkurzen Haaren, die ihr ein beinahe mädchenhaftes Aussehen verlieh.