Ein unsichtbarer Feind - Werner Michelchen - E-Book

Ein unsichtbarer Feind E-Book

Werner Michelchen

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Beschreibung

Das Attentat auf den Kanzler in der Elbphilharmonie in Hamburg erschütterte die Republik und führte zum Sturz der Regierung. Aber stimmt es, daß der Täter ein Psychopath und Einzelgänger war, wie die Behörden behaupten? Der Journalist Otto Bergheim glaubt an eine Verschwörung. Er will die Wahrheit herausfinden. Als er mit seinen Recherchen der Wahrheit zu nahe kommt gerät er in tödliche Gefahr.

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Seitenzahl: 278

Veröffentlichungsjahr: 2020

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WERNER  MICHELCHEN

EIN UNSICHTBARER FEIND

INGRID

WERNER MICHELCHEN

Impressum

Copyright 2020 Werner Michelchen

Sarnowstraße 19a, 18435 Stralsund

[email protected]

Korrektorat: Evgenij Unker

Umschlagfoto: Andreas Michelchen

Umschlaggestaltung: Werner Michelchen

Im Selbstverlag: Werner Michelchen, Stralsund

1.Kapitel

Die Kugel traf den Kanzler mitten ins Herz. Er war auf der Stelle tot. Der Attentäter wurde sofort von den Sicherheitsbeamten erschossen.

Unter der Headline „Kanzlermord in der Elbphilharmonie“ beschrieb das Wochenblatt „Der Chronist“ den Tathergang später folgendermaßen: Die Tat geschah gestern am Karfreitag, als der Kanzler sich nach dem Konzertbesuch auf dem Weg zu seiner gepanzerten Limousine befand. Vielen Konzertbesuchern war der prominente Besucher nicht verborgen geblieben. So hatten die Sicherheitsbeamten erhebliche Mühe, die neugierigen Menschen auf Abstand zu halten, die dem Kanzler so nah wie möglich kommen wollten, um ein Foto zu machen. Einzig dem Attentäter war dies gelungen. In einem Rollstuhl, als Behinderter getarnt, konnte er die Sicherheitsleute für den entscheidenden Augenblick täuschen. Die Waffe, eine Glock G 17, hielt er auf dem Schoß unter einer Wolldecke versteckt. Als er dem Kanzler nahe genug gekommen war, schoss er.

Einzelheiten zum Täter wurden von der Polizei nicht genannt. Hierzu wurde auf eine Pressekonferenz am Ostermontag verwiesen.

Bericht: Otto Bergheim

Die Pressekonferenz am Ostermontag lieferte keine neuen Erkenntnisse. Man ermittle mit Hochdruck in alle Richtungen, verkündete die Staatsanwaltschaft. Aus ermittlungstaktischen Gründen könne man jedoch keine näheren Einzelheiten bekannt geben, lautete die Standardantwort auf die drängenden Fragen der zahlreich erschienenen Journalisten. Immerhin erfuhr die Presse, dass die Bundesanwaltschaft den Fall übernommen hatte. Allerdings änderte diese Tatsache nichts an der Informationspolitik. Auch in den folgenden Wochen blieben Polizei und Staatsanwaltschaft zugeknöpft und äußerten sich nur zurückhaltend bis unwillig. Fragen zum Täter, seinem Motiv oder Umfeld blieben unbeantwortet oder wurden mit dem Hinweis auf Sicherheitsgründe abgeblockt. Die Folgen in der Medienlandschaft waren gravierend. Längst hatten andere die Deutungshoheit übernommen, allen voran das Internet. Zu den Auswirkungen der desaströsen Informationspolitik der Behörden erschien ein paar Monate später im Wochenblatt „Der Chronist“ ein Artikel unter dem Titel „Wem gehört die Wahrheit?“, der die Ereignisse wie folgt zusammenfasste: 

Die Republik war schockiert. Die Welt hatte kondoliert.Kaum waren die Betroffenheitsrituale abgeklungen, begannen die Medien mit einem Trommelfeuer an Vorwürfen und Besserwisserei.

Nichtssagende Pressekonferenzen, Verschleierungstaktiken und Geheimniskrämerei vonseiten der Polizei, Staatsanwaltschaft und Politik hatten das Tor weit für Spekulationen geöffnet. Unter dem Motto „Wo nichts bekannt ist, wird unterstellt“ setzten die Medien die abenteuerlichsten Geschichten in die Welt. Mal wurde der Täter der Terrorszene zugerechnet, mal berief sich ein anderes Blatt auf eine zuverlässige Quelle, der zufolge der Täter ein Einzelgänger und Psychopath gewesen sei. Auch Verschwörungstheoretiker hatten Hochkonjunktur. Ein besonders kreativer Schreiberling stellte die Tat in eine Reihe mit den Attentaten auf Abraham Lincoln und Olof Palme. Beide waren ebenfalls bei einem Theaterbesuch ermordet worden. Lincoln wurde im Jahr 1865, auch am Karfreitag, in einer Theaterloge erschossen und Olof Palme im Jahr 1986 nach einem Kinobesuch. Besagter Autor schloss seinen Artikel mit der rhetorischen Frage „Sind Politiker bei Theaterbesuchen besonders gefährdet?“

Die Sicherheitsmaßnahmen seien unzureichend, die Kommunikation dilettantisch gewesen und es habe ein Verantwortungswirrwarr geherrscht, lauteten die Vorwürfe an die Behörden. Als Bauernopfer musste schließlich ein Einsatzleiter der Polizei herhalten. Er wurde suspendiert. Danach geriet die Politik ins Visier. Eine Lücke im Grundgesetz sorgte für Irritationen. So gab es theoretisch nach dem Tod des Kanzlers keine Regierung mehr. Die Nachfolge (§ 69 GG) war in der Verfassung nicht eindeutig geregelt. Schließlich wurden Neuwahlen angesetzt, deren Ergebnis zu einem Regierungswechsel führte. Nur der vorherige Koalitionspartner blieb der gleiche. Spätestens jetzt wäre es an der Zeit, über die Frage nachzudenken, wem die Wahrheit gehört:

Ist sie Bestandteil von Herrschaftswissen oder Allgemeingut?

von Otto Bergheim

Diese Ereignisse lagen inzwischen zwei Jahre zurück und waren längst aus dem kollektiven Gedächtnis verschwunden. Bis ein weiterer Mord geschah.

2. Kapitel

Mühsam versuchte Tanja, die Augen zu öffnen. Sie schienen wie mit Pattex verklebt. Sie richtete sich schwerfällig auf. „Ooh!“, stöhnte sie und ließ sich zurück in die Kissen fallen. In ihrem Schädel brummte es wie in einem Bienenstock. Sie lag im Bett, nackt. Nein, nicht ganz. Ein Slip bedeckte ihre Blöße. Mit geschlossenen Augen tastete sie vorsichtig die andere Seite ihres französischen Bettes ab. Alles frei, ihre Sorge war unbegründet. Kein Mann neben ihr. Langsam kam die Erinnerung zurück. Ihr dreißigster Geburtstag, das Ende ihres Volontariats, ihre Festanstellung beim „Chronisten“, die Feier mit den Kollegen.

Jeans, Bluse und Pulli lagen vor dem Bett verstreut. Bloß nicht bücken, erst einen schwarzen Kaffee, dann unter die Dusche, dachte sie, als sie sich von der Bettkante aufrichtete und schlaftrunken ins Wohnzimmer wankte.

„Huch!“, schrie sie auf und kreuzte die Arme vor dem nackten Busen. Auf der Couch lag ein Mann und schnarchte wie ein Walross. Ein zweiter lag schlafend, zusammengerollt wie ein Baby, auf dem Sessel. Sie rannte zurück ins Schlafzimmer, um sich etwas anzuziehen. Eigentlich hätte sie ihren Busen nicht verstecken müssen, die Männer schliefen ja. Es war mehr ein weiblicher Reflex.   

Auch wenn sie keine Schönheit war, wie sie wusste, ihr Busen war allemal ansehnlich. Auch das übrige Äußere konnte sich sehen lassen. Sie hatte eine sportliche Figur, ein freundliches, offenes Gesicht und beim Lachen nette Grübchen an den Wangen. Zweimal die Woche ging sie ins Fitnessstudio, damit ihr Körper auch so straff blieb. Und immer wenn es die Zeit erlaubte, ging sie im Stadtpark joggen. Nur dass sie eine Brille tragen musste, war ihr zuwider. Immer wenn sie sich aufregte, bekam sie einen Silberblick. Ihr rechtes Auge peilte dann ihre Nase an. Sie schielte. Deshalb trug sie zu Hause, im Büro und vor dem Computer eine Brille. Wenn sie unterwegs war, benutzte sie Kontaktlinsen.

An Duschen war im Moment nicht zu denken. Erst einmal musste sie die Männer loswerden. Aber wie? Bei Jochen Schmitt, dem Volontär, war das kein Problem. Er tat, was man ihm sagte. Bei Felix Kramer war das schon schwieriger. Er war nicht nur der exzellente Fotograf der Redaktion, sondern hatte auch einen gewissen Ruf als Weiberheld. Wenn man dem Büroklatsch glauben konnte, besaß er eine umfangreiche Privatgalerie an Aktfotos von sämtlichen weiblichen Angestellten der Redaktion. Und ob es dabei immer nur um das Modellstehen gegangen war, blieb sein Geheimnis. Tanja jedenfalls verspürte nicht das geringste Verlangen, in diese Sammlung aufgenommen zu werden. Nur wie sollte sie es anstellen, ihn loszuwerden? Endlich fiel ihr der Rat ihrer verstorbenen Mutter ein: Einem Mann nach einer durchzechten Nacht Vorwürfe zu machen, ist der falsche Weg. Gib der Bestie lieber etwas zu fressen - wenn sie satt ist, ist sie friedlich, hatte sie gesagt.

Tanja schlich zurück in die Küche, schlug sechs Eier in die Pfanne, gab Speck und Zwiebeln dazu und briet ein kräftiges Frühstück. Ihr selbst wurde schon vom Geruch übel. Verteilt auf zwei Teller mit Toast sowie mit einer Kanne schwarzem Kaffee ging sie ins Wohnzimmer zurück und staunte. Jochen Schmitt und Felix Kramer waren wach. Offensichtlich hatte sie der Bratenduft geweckt. Ihre Gesichter drückten Scham und Verlegenheit aus.

„Du bist ein Schatz“!, sagte Felix und griff nach Messer und Gabel. Jochen nickte zustimmend und begann ebenfalls, zu essen. Mehr wurde nicht gesprochen. Als das Frühstück verputzt war, verabschiedeten sich die beiden artig. Tanja atmete auf, warf einen Blick zum Himmel und sagte: „Danke, Mama!“ Dann begann sie mit dem Aufräumen. Die Küche sah aus wie ein Schlachtfeld: Leere Bierflaschen, halb volle Schnapsflaschen, schmutzige Teller und Gläser, alles musste sortiert, gespült und an Ort und Stelle geräumt werden. Außerdem brauchten die Blumen frisches Wasser. Auf dem Sideboard entdeckte sie ein Handy. Einer der Kollegen musste es vergessen haben. Sie steckte es in ihre Handtasche, um es mit in die Redaktion zu nehmen und dem Eigentümer zurückzugeben. Völlig erschöpft gönnte sie sich eine Weile später eine Pause. Mit einer Tasse schwarzem Kaffee ging sie ins Wohnzimmer und ließ sich auf die Couch sinken. Im Schneidersitz am Kaffee nippend griff sie nach dem Stapel Glückwunschkarten, um sie näher zu betrachten. Nach ihrer Auffassung verrieten Texte und Motive eine Menge über den Absender und wie er zum Empfänger stand. Schließlich hatte sie Psychologie und Kriminologie studiert.  

Da gab es den Gleichgültigen, der nur vorgefertigte Texte unterschrieb. Den Romantischen, der den Text selbst verfasste oder sogar Verse auf die Person dichtete. Oder den Sentimentalen, der den Empfänger mit warmen Worten zu umarmen versuchte. Jede Karte nahm Tanja in die Hand und ordnete den Text gedanklich in die jeweilige Kategorie ein und der Person zu. Der Chefredakteur Lothar von Pinnau gehörte eindeutig zu den Gleichgültigen. Allerdings hatte er einen guten Draht zur Verlegerfamilie und das kam der ganzen Belegschaft zugute. Also nahm sie ihn gedanklich in Schutz. Immerhin verdankte sie ihm ihre Festanstellung. Das heißt, so fest war sie nun auch wieder nicht. Sie galt als “Feste Freie“ Mitarbeiterin. Übersetzt ins Arbeitsrecht, war sie eine Scheinselbstständige. Allerdings kam ihr das sehr entgegen. So konnte sie ihre Arbeitszeiten selbst bestimmen, sich um ihren kränkelnden alten Vater kümmern und musste nur zu wichtigen Terminen in die Redaktion fahren, die in Hamburgs Hafencity lag. Sie wohnte in der sogenannten „Jarrestadt“ im Stadtteil Hamburg-Winterhude. Die unter dem bekannten Baudirektor Fritz Schumacher im Jahr 1929 erbaute Backsteinsiedlung hatte zur damaligen Zeit als Vorbild für modernes Wohnen gegolten. Gedacht waren die Wohnungen für die dort lebende Arbeiterschaft. Nur hatte sich herausgestellt, dass die Mieten für die angedachte Klientel unerschwinglich waren, und so zogen die schon damals Besserverdienenden dort ein. Mit dem fußnah gelegenen Stadtpark und seiner Attraktion, dem berühmten Planetarium, war die Siedlung auch heute noch ein beliebtes Wohngebiet.

Als Tanja die Karte von Gisela Fromm in der Hand hielt, dachte sie sogleich an die Anfangszeit ihres Volontariats zurück. Gisela Fromm, 55 Jahre alt, ein mütterlicher Typ. Sie war gelernte Bibliothekarin und arbeitete seit vielen Jahren im Archiv. Über jeden und alles wusste sie Bescheid. Während der Einarbeitungszeit, der sogenannten Kaffeeholerphase, hatte sie Tanja an die Hand genommen und sie mit den Gepflogenheiten der Redaktion vertraut gemacht. Auch heute noch holte sie sich Rat bei ihr, wenn sie einmal nicht mehr weiterwusste.

Als Letztes las sie die Karte von Otto Bergheim, ihrem Mentor. Otto Bergheim war der heimliche Star des Redaktionsteams. Er war stellvertretender Chefredakteur und schrieb häufig die Leitartikel. Seine Stärke aber war der investigative Journalismus. Er verfügte über einzigartige Verbindungen sowohl in höchste politische Kreise als auch in die Wirtschaft. Und wenn es nicht anders ging, scheute er sich auch nicht davor, in der Unterwelt zu recherchieren. Er besaß einen geradezu unfehlbaren Riecher für krumme Geschäfte, Durchstechereien und Korruption.

Nachdem Tanja sich freigeschwommen hatte, bekam sie die Aufgabe, über interessante Kriminalfälle zu berichten. Das fiel ihr aufgrund ihrer Vorbildung als Kriminologin nicht allzu schwer. So recherchierte sie viel in Gerichtssälen, bei der Polizei und gelegentlich auch im Gefängnis. Otto Bergheim hatte sie bereits eine Weile beobachtet. Er hielt sie für außerordentlich talentiert und förderte sie. Sukzessive weihte er sie in die wichtigsten Grundsätze guten Journalismus ein. Absolut objektiv sein, die Informanten unbedingt schützen und Tatsachenbehauptungen mehrfach aus unabhängigen Quellen verifizieren, bevor man sie veröffentlicht, hatte er ihr eingetrichtert. Darüber hinaus war er ein Anhänger des Konfuzianismus und hatte stets einen Spruch oder eine Weisheit seines Idols parat.

Tanja las, was er auf die Karte geschrieben hatte:

„Laute Freunde sind oft leise Feinde! (Konfuzius)“ stand da.

3. Kapitel 

Die Sitzung war um 14.00 Uhr angesetzt. Es ging um die Schlussredaktion der nächsten Ausgabe: Was kommt rein ins Blatt, was bleibt draußen? Layout und Titelbild, Routine eben.

Der Sitzungsraum war spartanisch eingerichtet. Ein langer Tisch stand in der Mitte, Stühle drum herum. Von der Decke an der Stirnwand ließ sich eine Projektionsfläche herabziehen. In der einen Ecke stand eine Flipchart, in der anderen ein altmodisches Rednerpult, das bei Vorträgen benutzt wurde. Die Fensterfront ließ sich mit Jalousien verdunkeln. Die gegenüberliegende Längswand wurde von einem wandhohen Bücherregal beherrscht, das mit Auszeichnungen und Pokalen bestückt war.

Es war fünf vor zwei, als die Redaktionsmitglieder nach und nach hereinkamen. Sie setzten sich an ihren Platz, klappten den Laptop auf, blätterten in ihren Arbeitsmappen oder hielten Small Talk.

Tanja Sommer hatte ihren Platz auf dem vorletzten Stuhl. Sie war einen Platz noch vorn gerückt, seitdem sie eine „feste Freie“ geworden war. Ganz am Ende saß jetzt Jochen Schmitt, der neue Volontär. Punkt 14.00 Uhr trat Lothar von Pinnau, der Chefredakteur, ein. Wie alle anderen trug auch er Laptop und Arbeitsmappe unter dem Arm.

„Hallo allerseits“, sagte er und nahm am Kopf des Tisches Platz.

Lothar von Pinnau war 52 Jahre alt, verheiratet und hatte einen, Sohn der in Amerika alles Mögliche studierte und niemals fertig wurde. Er war circa 1,80 Meter groß und legte viel Wert auf ein gepflegtes Äußeres. Er erschien stets im dunklen Anzug, mit weißem Hemd und unterschiedlich gestreifter Krawatte. Um von seinem deutlich lichter werdenden Haupthaar abzulenken, ließ er sich neuerdings einen Dreitagebart wachsen. Das sollte zwar modern und sexy wirken, konnte aber nur bedingt über den gewachsenen Bauchumfang hinwegtäuschen. Sport war nicht seine Sache. Das hinderte ihn allerdings nicht daran, ein glühender Fan der Fußballer des Hamburger Sportvereins zu sein. Wollte man etwas bei ihm erreichen, war es klug, es nur dann zu versuchen, wenn der HSV ein Spiel gewonnen hatte.

Er warf einen kurzen Blick über die Anwesenden und stutzte, weil der Platz zu seiner Rechten noch frei war.

„Hat jemand Otto gesehen?“, fragte er in die Runde. Gemeint war Otto Bergheim, sein Vertreter. Allgemeines Kopfschütteln war die Antwort.

„Dann warten wir halt noch zehn Minuten. Vielleicht steckt er irgendwo im Stau“, bestimmte Lothar und blätterte in seiner Arbeitsmappe. Zehn Minuten Pause hätten früher für eine schnelle Zigarette gereicht. Das war jetzt aber Vergangenheit. Heutzutage galt Rauchen als Angriff auf die Gesundheit und war als Untat geächtet. Also wurde die Zeit mit allgemeinem Plausch überbrückt.

Bis die zehn Minuten vorbei waren.

„Na gut, dann fangen wir eben ohne Otto an“, sagte Lothar von Pinnau und schlug seine Arbeitsmappe auf. Er wollte gerade Luft holen, um etwas zu sagen, da öffnete sich die Tür. Karola Busch, Lothars Vorzimmerdame, trat ein, fuchtelte wild mit den Armen und verzog hilflos das Gesicht.

„Wir wollen nicht gestört werden, das wissen Sie doch, Karola“, herrschte Lothar sie an. Gleichzeitig wurde sie von zwei Männern, einem kleinen und einem großen, die hinter ihr eintraten, sanft beiseitegeschoben.

„Ich weiß, wir kommen immer ungelegen, aber das ist nun einmal unser Beruf“, sagte der Lange. Dabei wedelte er mit einem Ausweis. „Ich bin Martin Kurtz, Hauptkommissar von der Kripo Hamburg.“

Der Mann war mindestens 1,95 Meter groß, dürr wie eine Bohnenstange und hieß Kurtz. Diese Tatsache drückte mächtig auf die Lachmuskeln, aber niemand traute sich.

Hauptkommissar Kurtz zeigte auf den kleinen Mann und sagte:

„Das ist mein Kollege Kommissar Groß.“

Nun gab es kein Halten mehr, schallendes Gelächter brach aus. Hauptkommissar Kurtz verzog keine Miene. Nur ein feines Lächeln huschte über sein Gesicht. Anscheinend war er an diese Reaktion gewöhnt. Dann sagte er:

„Ihr Kollege Otto Bergheim wurde heute Vormittag tot aufgefunden.“ Schlagartig erstarb das Gelächter. Eisiges Schweigen trat ein. Die Gesichter erschienen wie schockgefroren. Tanja schlug entsetzt beide Hände vors Gesicht und begann, leise zu schluchzen.

„Es tut uns leid, dass wir eine so schlechte Nachricht überbringen müssen. Aber wir benötigen dringend Ihre Hilfe“, meldete sich Kommissar Groß mit ernstem Gesicht zu Wort.

„Was ist passiert?“, fragte Lothar von Pinnau mit bebender Stimme. „Das wissen wir noch nicht. Die kriminaltechnische Untersuchung ist noch nicht abgeschlossen“, erwiderte Hauptkommissar Kurtz.

„Und wie können wir Ihnen helfen?“, fragte Lothar von Pinnau.

„Nun, zunächst wüssten wir gern, ob Herr Bergheim Angehörige hat, die wir benachrichtigen können.“

„Soweit mir bekannt ist, lebte er allein. Er war verheiratet, aber seine Frau ist vor ein paar Jahren gestorben“, sagte Lothar.

„Eine tragische Geschichte war das damals“, erinnerte er sich.

„Seine Eltern sind auch schon lange tot und von Geschwistern ist mir nichts bekannt“, fuhr er fort.

„Nun, in diesem Fall würden wir gern jemanden von Ihnen bitten, uns bei der Identifizierung zu helfen“, sagte Hauptkommissar Kurtz.

„Darum sollten Sie Frau Sommer bitten. Sie hat die meiste Zeit mit ihm zusammengearbeitet.“ Er deutete in Tanjas Richtung, die sich gerade die Tränen aus dem Gesicht tupfte.

„Sie können dazu mit ihr in mein Büro gehen. Wenn Sie weiter keine Fragen haben, würden wir jetzt gern unter uns sein“, sagte Lothar von Pinnau in schroffem Ton und sah den beiden Polizisten frostig ins Gesicht.

„Sicher, das verstehen wir. Danke für Ihre Hilfe. Falls uns noch Fragen einfallen sollten, werden wir Sie ins Polizeipräsidium bitten“, erwiderte Hauptkommissar Kurtz trocken.

Tanja Sommer hatte sich inzwischen zu den beiden Polizisten begeben.

„Kommen Sie“, sagte sie und führte die beiden ins Büro des Chefredakteurs. Dort befand sich neben dem Schreibtisch und den üblichen Büroutensilien eine kleine Sitzecke für Besprechungen.

„Setzen Sie sich“, sagte Tanja. Sie wartete, bis die beiden Platz genommen hatten, und setzte sich dann dazu. Während Kommissar Groß seinen Notizblock zückte, sagte Hauptkommissar Kurtz mit sanfter Stimme: „Mir ist aufgefallen, dass Ihnen der Tod des Kollegen Bergheim besonders nahegegangen ist. In welchem Verhältnis standen Sie zu ihm?“ Tanja Sommer nickte.

„Ja, das stimmt. Er war mein Mentor und darüber hinaus ein väterlicher Freund.“

„Könnten Sie das ein wenig näher beschreiben?“ Tanja wollte eben antworten, als ihr Smartphone brummte.

„Entschuldigen Sie“, sagte sie und schaute aufs Display. Was sie sah, brachte sie für einen Moment aus der Fassung. Schnell drückte sie die Aus-Taste.

„Was hatten Sie noch gefragt?“

„Ihr Verhältnis zu Herrn Bergheim …“

„Ach ja …“ Tanja überlegte.

„Wie soll ich es beschreiben? Sie kennen das sicher aus der Schule. Da gab es Lehrer, die hat man gehasst. Dann gab es welche, die konnte man ertragen. Und es gab den Lehrer oder die Lehrerin, die hat man geliebt. Die waren einfach cool. Da machte Lernen richtig Spaß und man freute sich auf die Unterrichtsstunde. So einer war Otto Bergheim.“

„Hmm“, machte Hauptkommissar Kurtz nachdenklich und Kommissar Groß kritzelte in seinem Notizblock.

„Wieso fragen Sie das überhaupt? Ist das wichtig, um seinen Mörder zu finden?“, fragte Tanja Sommer. Ihre Stimme klang zunehmend genervt.

Ruckartig hoben die beiden Polizisten den Kopf.

„Wie kommen Sie darauf, dass er ermordet wurde? Das hatten wir bisher nicht erwähnt.“ Die beiden blickten Tanja an, als hätten sie den Täter auf frischer Tat ertappt.

Auch wenn es Tanja in diesem Augenblick schwerfiel, musste sie lächeln, als sie sagte:

„Ich glaube, Sie sind sich nicht bewusst, wo Sie sich hier befinden …“

„Was soll das heißen?“, unterbrach Hauptkommissar Kurtz sie misstrauisch.

„Sie befinden sich hier in den Redaktionsräumen einer Zeitung. Unser Geschäft ist die Verbreitung von Nachrichten. Schnelligkeit gehört dazu.“ Noch während sie sprach, schob sie den beiden Polizisten das Smartphone über den Tisch.

„Schauen Sie sich das an. Es beantwortet Ihre Frage.“ Sichtlich widerwillig beugten sich die beiden über das Smartphone. „Bekannter Journalist erschossen von Schulkindern aufgefunden“, lasen sie. Das Bild zeigte den Tatort im Stadtpark mit dem berühmten Planetarium im Hintergrund. Die beiden schauten sich betroffen an. Hauptkommissar Kurtz fand als Erster seine Fassung wieder.

„Also gut, der Punkt geht an Sie. Das führt mich allerdings gleich zur nächsten Frage. Wann haben Sie Otto Bergheim zuletzt gesehen?“

„Wir haben gestern Abend bis heute früh bei mir zu Hause meinen Geburtstag und meine Festanstellung gefeiert. Die meisten Kollegen, die Sie vorhin im Besprechungsraum gesehen haben, haben bis heute Morgen mitgefeiert. Ich erinnere mich, dass Otto sich etwa gegen Mitternacht von mir verabschiedet hat. Und mir fällt ein, dass er sagte, er habe noch eine Verabredung. Was mir ein wenig seltsam erschien.“

„Und alle anderen sind später gegangen?“, hakte Kommissar Groß nach.

„Nein, einige auch früher. Der Chefredakteur Lothar von Pinnau zum Beispiel ist nur kurz geblieben. Unser Fotograf Felix Kramer und Jochen Schmitt haben sogar bis heute früh bei mir geschlafen. Die beiden hatten mächtig getankt und waren nicht mehr fahrtüchtig. Ich selbst bin erst gegen 3.00 Uhr ins Bett gekommen“, schilderte Tanja Sommer die vergangene Nacht.

„Vielen Dank für den ausführlichen Bericht“, sagte Hauptkommissar Kurtz.

„Da fällt mir noch etwas ein. Wissen Sie, ob Herr Bergheim Feinde hatte?“

Tanja blickte ihn entgeistert an. „Das muss er wohl. Oder was glauben Sie, weshalb er umgebracht wurde?“, fuhr sie auf. Hauptkommissar Kurtz war über ihre wütende Reaktion erschrocken, merkte dann aber, wie unsinnig seine Frage war.

„Entschuldigen Sie, die Frage war blöd gestellt. Ich meinte, ob Sie von Spannungen in seinem persönlichem Umfeld wissen?“

Immer noch verärgert antwortete Tanja schroff:

„Ich kenne das persönliche Umfeld von Herrn Bergheim nicht.“

Den beiden Polizisten war klar, dass jede weitere Frage nur Trotz hervorrufen würde. Also versuchten sie, mit einer Charmeoffensive die Stimmung aufzuhellen. In fürsorglichem Ton sagte Hauptkommissar Kurtz:

„Ich hoffe, Sie fühlen sich trotz der traurigen Umstände in der Lage, morgen zur Identifizierung zu erscheinen. Sagen wir, um 11.00 Uhr?“

„Hören Sie, ich habe Psychologie und Kriminologie studiert und war während meiner Ausbildung mehr als einmal in der Rechtsmedizin. Sie können sich Ihr Mitgefühl also sparen.“

„Ohh, dann sind wir ja fast Kollegen!“ Kommissar Groß versuchte, ihr zu schmeicheln.

„Da irren Sie sich gewaltig. Als Journalistin bin ich eher das Gegenteil.“

„Na gut, wie Sie meinen. Wir sehen uns dann morgen um 11.00 Uhr in den Räumen der Rechtsmedizin“, sagte Hauptkommissar Kurtz. Die beiden Polizisten standen auf und verabschiedeten sich freundlich per Handschlag. In der Tür drehte sich Kommissar Groß noch einmal zu ihr um und fragte:

„Sagen Sie, haben Sie einen Schlüssel zur Wohnung von Herrn Bergheim?“

Tanja Sommer blickte ihn verdutzt an.

„Einen Schlüssel zu Ottos Wohnung? Nein, natürlich nicht. Wie kommen Sie denn darauf?“

„Auch wenn wir keine Kollegen sind, ich verrate es Ihnen trotzdem. Die Wohnung wurde durchwühlt. Man hat etwas gesucht. Ob man es gefunden hat, wissen wir leider nicht. Dann also bis morgen“, sagte Kommissar Groß, lächelte und ging.

Das Gespräch mit den beiden Polizisten hatte Tanja erschöpft. Auch wenn sie es auf die durchzechte Nacht und Schlafmangel schob, in Wahrheit kämpfte sie gegen eine tiefe Trauer an. Natürlich stimmte es, dass sie während ihrer Ausbildung mehrmals in der Rechtsmedizin gewesen war. Doch angenehme Besuche waren es nie gewesen. Und der Gedanke, morgen ihren väterlichen Freund und Mentor auf der kalten Blechwanne liegen und mit einem Pappschild an der großen Zehe zu sehen, ließ sie erschaudern. Wie in Trance ging sie in Richtung des Besprechungszimmers zurück. Sie wollte eben eintreten, als Lothar von Pinnau, der Chefredakteur, durch die Tür kam.

„Wir sind gerade fertig. Wir haben beschlossen, dass ich einen kurzen Nachruf schreibe. Und für die nächste Ausgabe sollen Sie ein Porträt über Otto Bergheim verfassen“, sagte er. „Wenn Sie nichts dagegen haben“, fügte er trocken hinzu. Für einen Moment war Tanja sprachlos. Ein Porträt schreiben, das kam einem Ritterschlag gleich, war es doch eine der Königsdisziplinen im Journalismus. In ihren Augen glitzerten Tränen. Tränen der Freude. Vor Aufregung peilte ihr rechtes Auge die Nase an. 

„Gibt es damit ein Problem?“, fragte Lothar, der das Zögern und Schielen von Tanja bemerkt hatte.

„Nein, nein“, versicherte Tanja schnell. „Ich freue mich, dass Sie mir das zutrauen. Mir ist nur eben durch den Kopf gegangen, woran Otto wohl gearbeitet hat?“

„Ich habe keine Ahnung. An einer heißen Story, hat er gesagt. Es sei aber noch zu früh, um darüber zu reden. Ehrlich gesagt dachte ich, Sie wüssten mehr darüber. Schließlich waren Sie viel näher dran als ich.“

Tanja schüttelte den Kopf.

„Nein, die Sache sei zu gefährlich. Er wolle mich nicht in Gefahr bringen, hat er gesagt.“

Ein wenig ratlos sahen sich die beiden an. Nach einer Weile meinte Lothar von Pinnau:

„Da kann man halt nichts machen. Wenn Sie Stoff für das Porträt benötigen, gehen Sie ins Archiv zu Frau Fromm, sie hat jede Menge Material über Ottos Arbeit. Okay?“

„Danke“, sagte Tanja. Voller Elan machte sie sich auf den Weg in den Keller zu Gisela Fromm ins Archiv. Der Auftrag, über Otto Bergheim ein Porträt zu schreiben, verlieh ihr neuen Schwung, auch wenn der Anlass traurig war.

„Hallo Tanja, schön, dass du mich wieder einmal in den Katakomben besuchen kommst“, sagte Gisela Fromm. Sie nahm die Brille von der Nase, zog die Ohrstöpsel heraus und quälte sich hinter dem Schreibtisch hervor, was bei ihrer Leibesfülle nicht ganz leicht war. Die beiden Frauen nahmen sich in den Arm und begrüßten sich mit Küsschen rechts und Küsschen links.

„Ist das nicht schrecklich, das mit Otto? Wer tut so etwas bloß? Dabei war Otto ein so feiner Mann. So liebenswürdig und immer korrekt. Ich kann es gar nicht fassen. Hoffentlich erwischt die Polizei den Täter schnell. Solche Menschen gehören für immer weggesperrt. Unser Justizsystem ist viel zu human.“ Sie unterbrach sich, um Luft zu holen. Tanja nickte nur.

„Ach, du liebe Güte! Ich schwatze und schwatze und vergesse völlig, dich zu fragen, was dich zu mir führt.“

„Ich soll über Otto ein Porträt schreiben und dazu benötige ich Material. Artikel, Essays und Reportagen. Mehr oder weniger alles, was Otto verfasst hat, damit ich mich in ihn hineindenken kann“, antwortete Tanja.

„Das ist überhaupt kein Problem. Nur im Moment ist es schlecht. Ich muss das da“, Gisela zeigte mit dem Finger auf ihren Schreibtisch, „erst fertigmachen. Bis wann brauchst du es denn?“

„Wie immer, so schnell wie möglich“, sagte Tanja und lachte.

„Also, bis übermorgen müsste es gehen.“

„Gut, das sollte reichen. Ach, da fällt mir noch etwas ein. Hast du eine Ahnung, woran Otto zuletzt gearbeitet hat?“

Gisela Fromm blickte Tanja irritiert an:

„Woher soll ich das wissen?“

„Er kam doch auch zu dir, um Unterlagen zu sichten“, meinte Tanja.

„Na ja, das stimmt schon. Aber Otto kannte das Archiv fast genauso gut wie ich und er nahm niemals Akten mit und machte auch keine Kopien, da war er altmodisch. Er notierte, was er wissen wollte, und verschwand. So musste ich auch keinen Vermerk machen.“

Tanja nickte und wollte sich eben verabschieden, als Gisela plötzlich fragte:

„Du, sag mal, stimmt es, dass die Polizei uns zur Vernehmung aufs Präsidium laden will?“

„Das ist gut möglich“, erwiderte Tanja und wunderte sich über den ängstlichen Klang in Giselas Stimme.

„Dann bis übermorgen“, sagte Tanja zum Abschied und ging. 

4. Kapitel

Tanja Sommer hatte es sich gemütlich gemacht. Sie saß im Wohnzimmer in ihrem Lieblingssessel. Einem ledernen Ohrensessel, bequem wie ein Himmelbett. Er hatte einst ihrer Mutter gehört.

Nach dem Tod ihrer Mutter hatte ihr Vater ihn ihr überlassen.

„Immer wenn ich auf den leeren Sessel schaue, erinnert er mich daran, dass Mutter nicht mehr da ist, und dann werde ich sehr traurig“, hatte er gesagt. Tanja hatte ihn gern genommen. Für sie war er eine schöne Erinnerung. Als sie klein war, hatte sie darauf oft auf Mutters Schoß gesessen, während sie ihr Geschichten erzählte.

Auf dem Couchtisch stand ein Glas Wein ihrer Lieblingssorte, spanischer Rioja,ein Schälchen mit Oliven und eins mit gerösteten Mandeln. Daneben lagen Schreibblock und Bleistift. Sie hatte sich vorgenommen, das Porträt über Otto Bergheim vorzubereiten: Stichwörter sammeln, Ideen strukturieren und so weiter.

Plötzlich klingelte das Telefon. Den Bleistift in der Hand, eine Olive im Mund griff sie zu ihrem Smartphone, das ebenfalls auf dem Tisch lag. Verdutzt schaute sie aufs Display. Es blieb schwarz. Auch der Klingelton kam ihr unbekannt vor und hörte sich merkwürdig dumpf an. Dann fiel der Groschen. Es musste das Smartphone sein, das jemand nach der Feier auf dem Sideboard hatte liegen lassen. Es befand sich noch immer in ihrer Handtasche, weil sie vergessen hatte, es zurückzugeben. Sehr peinlich, dachte Tanja, sprang auf und rannte in den Flur, wo ihre Handtasche an der Garderobe hing. Es klingelte erneut und Tanja kramte hastig in der Handtasche. Endlich hatte sie es in der Hand, drückte die grüne Taste und sagte völlig außer Atem:

„Hallo, mit wem spreche ich?“

„Es ist besser für Sie, es nicht zu wissen. Bevor wir weitersprechen, drücken Sie bitte das Icon für die Verschlüsselung“, sagte eine männliche Stimme. Natürlich wusste Tanja, dass es Verschlüsselungssysteme für Gespräche mit dem Handy gab. Aber wer benutzte sie schon? Sie waren lästig, machten das Telefonieren unbequem und sie hatten einen Nachteil. Sie funktionierten nur, wenn auch der andere Gesprächsteilnehmer eines installiert hatte. Und wer hatte das schon? Mit dieser Meinung befand sie sich in prominenter Gesellschaft. Mit der Folge, dass immer wieder Gespräche von Politikern, Wirtschaftsbossen und sogenannten Promis in die Öffentlichkeit gerieten, weil sie unverschlüsselt geführt und abgehört wurden.

Tanja hatte das Smartphone von Otto Bergheim nie in der Hand gehabt, deshalb dauerte es eine Weile, bis sie das Symbol für die Verschlüsselung auf dem Display fand und drückte. Auf einmal erinnerte sie sich an den Grundsatz, den Otto ihr immer eingebläut hatte: absoluter Schutz der Informationsquelle.

Mit zittriger Hand gab sie den Code durch, der auf dem Display aufleuchtete.

„In Ordnung. Jetzt können wir sprechen“, sagte die Stimme am anderen Ende.

„Was wollen Sie? Warum rufen Sie an? Sie wissen doch sicher, dass Otto Bergheim tot ist“, sagte Tanja verstört.

„Wir müssen uns treffen. Ich habe Informationsmaterial, das für Otto Bergheim bestimmt war.“

„Und was soll das jetzt noch nützen?“, fragte Tanja.

„Ich weiß, ich bin zu spät gekommen. Das ist traurig. Aber vielleicht war es mein Glück, sonst wäre ich jetzt wahrscheinlich auch tot. Jetzt müssen Sie die Arbeit von Otto Bergheim zu Ende führen.“ Er hielt kurz inne. Tanja lief es kalt den Rücken herunter. Ihre Stimme zitterte, als sie fragte:

„Was soll ich zu Ende führen? Ich habe nicht die geringste Ahnung, worum es bei Otto Bergheims Recherche ging.“

„Es ging um den Mord am Kanzler und um den Regierungswechsel. Alles muss ans Licht“, sagte der Anrufer. Er klang entschlossen, kämpferisch, beinahe fanatisch, hatte Tanja den Eindruck.

„Otto hat mir nichts darüber erzählt“, wandte sie ein.

„Otto Bergheim hat mir gesagt, Sie seien eine gute Journalistin. Also beweisen Sie es. Otto Bergheim hat vor Kurzem einen Datensatz von mir bekommen und in dem Material, das ich Ihnen geben werde, steckt der Schlüssel zur Lösung. Sie müssen nur den Fakten auf den Grund gehen.“

In Tanja tobte ein innerer Kampf. Einerseits war es eine Chance, sich als gute Journalistin zu profilieren. Andererseits hatte sie Angst, in etwas hineinzugeraten, dem sie nicht gewachsen war.

„Was ist nun?“, fragte der Anrufer. Seine Stimme klang ungeduldig, als Tanja nicht antwortete.

„Wo und wann wollen wir uns treffen?“, sagte Tanja schließlich und erschrak augenblicklich über sich selbst. Es hörte sich an, als hätte jemand anderes für sie geantwortet. So viel Mut hätte sie sich gar nicht zugetraut. Doch nun war es raus. Jetzt wollte sie es wissen.

„Besuchen Sie übermorgen um 11.30 Uhr den Vortrag von Dr. Wagner im Planetarium. Begeben Sie sich dazu in den Sternensaal und setzen Sie sich in die vorletzte Reihe nahe dem Ausgang. Kommen Sie allein und bringen Sie auf keinen Fall ein Handy mit. Haben Sie alles verstanden?“

„Ja“, antwortete Tanja, „und wie erreiche ich Sie, wenn etwas dazwischenkommt?“

„Überhaupt nicht. Sorgen Sie nur dafür, dass Otto Bergheims Handy betriebsbereit bleibt. Ich melde mich, falls es etwas Wichtiges geben sollte.“

Tanja wollte noch etwas sagen, aber er hatte aufgelegt. Ihr schwirrte der Schädel. Tausend Gedanken verstopften ihr Hirn und sie kämpfte wieder mit der Angst. Was hatte sie sich da bloß eingebrockt? Hastig trank sie einen Schluck Wein, verschluckte sich prompt und fing an zu husten. Mit der Ruhe und Gemütlichkeit war es für heute Abend endgültig vorbei.   

5. Kapitel

Kaiserwetter. Die Sonne schien vom blassblauen Himmel, das junge Maigrün duftete frisch nach Frühling. Tanja Sommer hatte sich sportlich gekleidet: Jeans, Pulli, Joggingschuhe. Den Kopf bedeckte ein blaues Basecap, von dessen Hinterseite ihr blonder Haarschopf wippte. Die Sonnenbrille klemmte mit dem Bügel im Ausschnitt. Von ihrer Wohnung in der Jarrestadt bis zum Planetarium im Stadtpark waren es knapp fünfzehn Minuten Fußweg. Auf der großen Liegewiese, an deren Ende das Planetarium stand, hatten sich bereits zahlreiche Menschen eingefunden. Familien mit Kindern, Ball spielende Jugendliche und Touristengruppen, denen Fotoapparate um den Hals baumelten. Alle nutzten das schöne Wetter, um an der frischen Luft zu sein oder befanden sich auf dem Weg zum Planetarium. Der klotzartige Backsteinbau mit der riesigen Kuppel war einst unter dem Baudirektor Fritz Schumacher als Wasserturm gebaut und im Jahr 1915 in Betrieb genommen worden. Erst als der Wasserdruck nicht mehr ausreichte, wurde er zum Planetarium umgebaut. Inzwischen waren das Gebäude und die technische Ausstattung mehrmals modernisiert worden. Die letzte und aufwendigste Modernisierung hatte fast zwei Jahre gedauert. Erst im Jahr 2017 wurde es wieder eröffnet und gilt mit seinen Vorträgen und Multimediashows als Besuchermagnet.