Ein Vandale ist kein Hunne - Alois Brandstetter - E-Book

Ein Vandale ist kein Hunne E-Book

Alois Brandstetter

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Beschreibung

Alois Brandstetter ermittelt in der geheimnisvollen Welt der Sprayer. Ein Graffito namens "Korks" zieht sich durch die ganze Stadt. Ein wenig später erscheinen Schriftzüge mit "Süs". Was ist der Antrieb für diese seltsamen Markierungen? Vom Ursprayer und Stammvater aller Graffitikünstler Josef Kyselak ausgehend, der sogar das Stehpult des Kaisers Franz I. "bemalerte", erzählt Alois Brandstetter von seinem persönlichen Kampf gegen die Widrigkeiten des Lebens. Dabei sinniert er über Formen der Jugendkultur, des Widerstands oder einfach die Lust am Verbotenen. Und es gibt zahlreiche Ursachen des Ärgers: von der Einführung der Helmpflicht bis zur Erhöhung der Geschwindigkeitsbegrenzung, von sozialer Ungerechtigkeit zum behaupteten Recht auf individuelle Freiheit, von Günter Grass zu ... Im Zuge der "Jagd" nach Korks komponiert Brandstetter ein großes Sittenbild der heutigen Gesellschaft. Doch die Welt der Sprayer ist und bleibt voller Rätsel. Ein sprachgewaltiges, witziges und geistreiches Vademekum durch das Reich der "unbekannten Vandalen".

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Alois Brandstetter

Ein Vandale ist kein Hunne

Roman

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek:

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische

Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

www.residenzverlag.at

© 2007 Residenz Verlag

im Niederösterreichischen Pressehaus

Druck- und Verlagsgesellschaft mbH

St. Pölten – Salzburg – Wien

Alle Urheber- und Leistungsschutzrechte vorbehalten.

Keine unerlaubte Vervielfältigung!

ISBN ePub:

978-3-7017-4305-6

ISBN Printausgabe:

978-3-7017-1480-3

Wenn ich auf meinem Weg in die Klagenfurter Innenstadt aus der Ankershofen- in die Rosentaler Straße einbiege, sehe ich auf der Mauer des Eckhauses eine Inschrift, ein sogenanntes Graffito, ein »Tag«, das ich als KORKS lese. Eigentlich ist dieses »Style«, wie die Sprayer graphisch gestaltete Decknamen auch nennen, relativ leicht zu entziffern. Einige der folgenden KORKS sind freilich schlampiger hingefetzt und sehen wirklich wie verkorkst und wie MURKS aus. Dieses Buchstabengebilde begegnet einem also dann bis zur Villacher Straße und dem Rothauer Hochhaus mindestens 30 Mal. Was heißt »es begegnet einem«! Es springt einen an! Und es gibt einem Rätsel auf. Auf der gegenüberliegenden Seite, auf jener Mauer einer Messehalle, die die Stadt für Sprayer freigegeben hat, findet man KORKS nicht. Hier hat KORKS nicht zugeschlagen oder unterschrieben. Hier hat er kein Style hinterlassen. Das Verbot ist der Motor der Lust, erst an der Ablehnung durch »die Gesellschaft« spürt man die eigene Kraft und hat den anarchischen Genuß. Kyselak was not here. Ein Sprayer mit Charakter beteiligt sich nicht an einem solchen, vom Jugendamt des Magistrats inszenierten Unfug der albernen Eventkultur! Hall of Fame, wenn das ein wahrer Sprayer nur hört! Das ist etwas für Anfänger. Lächerliche Toys! Das ist Kindergarten! Widerstand auf Kommando gibt es nicht, Aversion wird nicht gespielt. Sie ist echt und muß einen Ernst haben. Ohne Frust und Power im Hinter- und Untergrund geht gar nichts. Bei aller Hetz. Vandalismus muß Vandalismus bleiben!

Ich verstehe KORKS wie das erwähnte Kyselak als einen Personennamen. Josef Kyselak war jener bekannte Ursprayer und Stammvater der Graffitikünstler, der in der Monarchie sein Unwesen trieb und sich mit seinem Namen an allen möglichen und unmöglichen Stellen verewigte. Kyselak lebte und »malerte« von 1799-1831. Er wollte berühmt werden, bis berüchtigt hat er es immerhin gebracht. Er wurde zur Kenntnis genommen! Sogar der Kaiser, Franz I., ist bekanntlich auf den Sonderling aufmerksam geworden. Kyselak wurde nach Schönbrunn »eingeladen«, eigentlich vorgeladen, und vom Kaiser höchstpersönlich gnädigst aufgefordert, seinen Unfug endgültig gefälligst aufzugeben. Majestät habe später aber zu Ihrer Verblüffung entdeckt, daß Ihr Kyselak das Stehpult während der kurzen Audienz unversehens mit seinem, Kyselaks, Namen verunziert hatte. Verunzieren hieß der ironische »Fachausdruck« für nicht bestellte Beschriftungen. Positiv, aber noch ironischer, also schon sarkastisch ausgedrückt, liest man heute oft in den Zeitungen, ein unbekannter Vandale habe in der Nacht auf Sonntag dieses oder jenes Gebäude mit obszönen Graffiti verziert …

Das Sprayen ist also bereits alt und damit ehrwürdig! Das heißt, das Bemalen oder »Beschmieren von dafür nicht vorgesehenen Flächen«, wie die verständnislose Justiz formuliert, ist alt, das Sprayen selbst »unter Zuhilfenahme einer Dose mit Treibgas« ist natürlich neu und modern. Kyselak hat sich schließlich ja auch nicht mit Rasierschaum aus der Dose rasiert – ausrasiert –, er war an sich ja Bartträger, sondern mit Rasierseife und Pinsel und Schermesser. Mit dem Pinsel konnte er umgehen! Ein verantwortungsbewußter Sprayer von heute wird als sogenannter Grüner übrigens darauf achten, daß in seiner Dose kein umweltschädigendes Gift auf Basis der Fluor-Chlor-Kohlenwasserstoffe, sondern nur harmlose Treibgase für den Farbnebel sorgen. Sogenannte Edelgase, ein Furz gewissermaßen. Keine chemischen Keulen und Bomben! Wir sind Pazifisten und Anhänger des stillen Wassers. Wir wollen nicht »verbrannte Erde«. Ein Vandale ist kein Hunne!

Was aber mag den Korks umtreiben, wann vor allem mag er seiner Arbeit nachgehen, damit ihn niemand dabei sieht oder die Polizei auf frischer Schrift ertappt? Sicher tätowiert er die Häuser, eins nach dem anderen, nicht am hellichten Tag, sondern erst lange nach Mitternacht, wenn die Straßenbeleuchtung ausgeschaltet ist, wenn die Bürger schlafen und die Bürgersteige hochgeklappt sind. Die Zeit des Tags ist die Nacht, paradoxerweise. Der Morgen, der Tag bringt es ans Licht, ans Tageslicht. Die Tagger sind »lichtscheues Gesindel« und »umnachtet«, hat einmal ein rabiater Kritiker der Jugend und der Jugendkultur verständnislos, uneinsichtig und unnachsichtig geschrieben. Sicher hatte der keine Kinder! So wie auch der kinderlos verstorbene Dichter Thomas Bernhard in einem Interview gesagt hat, mit der heutigen Jugend könne man nicht reden und nichts anfangen. Und keiner seiner großen Romane »Kalkwerk« und »Die Auslöschung« handelt von Jugendlichen oder Sprayern, wie es die Titel vermuten ließen …

Im Schutze der Dunkelheit also geht der Tagger die Häuser der Reihe nach durch. Ein Feigling ist der »Schädling« aber deshalb nicht. Ein Haus nach dem anderen? Nein, er ist wählerisch. Korks signiert vor allem jene Häuser, die ordentlich grundiert sind. An einer Stelle hat er sich sogar den Malgrund selbst bereitet und geweißt. Alles muß man selber machen! Es sind also die sogenannten besseren Häuser, die er unterschreibt, jene Gebäude, die ihm behagen. Damit verfährt er ganz anders als etwa ein Förster, der die vom Borkenkäfer befallenen Bäume mit seiner Blaukreide bezeichnet, die geschlägert werden müssen. Korks markiert eher jene Gebäude, die seiner Meinung nach stehen bleiben dürfen. Sein Tag, wie nun eben der englische Fachausdruck für diese besonderen »Pieces« und Markierungszeichen lautet, bedeutet nicht: Gehört geschleift! Häuser werden übrigens geschleift, nicht geschliffen, wie man oft liest oder hört. Bitte den Duden konsultieren! Aber mit Vorsicht: Was weißt Duden?, lautet ein Spontispruch. Ich bin nach der Rechtschreibreform aus der Duden-Konfession ausgetreten. Messer werden also geschliffen, Soldaten, vor allem Rekruten, die den Präsenzdienst leistenden jungen Männer, werden geschleift oder geschliffen. Diese Schleifanstalt heißt Militär oder auch »Schule der Nation«. Einem echten Tagger kann das egal sein, er ist ganz sicher ein Wehrdienstverweigerer, vermutlich auch ein Schulverweigerer, ein Schulabbrecher oder zumindest ein Schulschwänzer und Schulverächter. Schule ist eine Jugendstrafe! Schule macht Angst – Angst macht Schule! Schule macht Spaß, und ich hasse Spaß! In München sah ich einmal in der Nähe einer Schule an einer Wand die Parole: Seit es Lehrer gibt, sind die Schüler nicht mehr die Dümmsten. Und aus Berlin wird gemeldet: »Die Hauptursache aller schlechten Zensuren ist die Schule.« Und wo bleiben die Eltern?, fragt die besorgte Öffentlichkeit. Die aber definieren sich, wie es das Wort anzeigt, durch das Alter und sind voll mit ihren Altersleiden beschäftigt. Von den Freuden und Sorgen ihrer Sorgenkinder haben sie wenig Ahnung. Sie sitzen in den Wartezimmern der Ärzte und warten auf ihre Behandlung.

Ein wenig entmündigend heißen die Wehrdienstverweigerer nach heutiger Sprachregelung auch »Zivildiener«. Immer heißt es Dienst und Dienen, verständlich, daß die Jugend damit nichts anfangen kann. Wem sollten sie dienen? Diesen jämmerlichen und armseligen und windschiefen sogenannten Erwachsenen? »Non serviam«, hat schließlich schon der gute alte Luzifer seinen Dienst beim obersten Herrn aufgesagt. »Ich will nicht dienen!« Man muß aber kein Satanist sein, um eine solche Absage der Servilität als richtig zu empfinden und Bravo! zu rufen. »Krieg den Palästen, Friede den Hütten!« könnte Korks Devise sein, die ein anderer Jüngling, nämlich der 21jährige Georg Büchner in seinem »Hessischen Landboten« im Jahr 1834, den Herrschenden als Fanal an die Wand geknallt hat. Mit Korks verhält es sich freilich wieder anders. Seine Devise ist eben KORKS. Das Schwert des Korks, der den Dienst mit der Waffe verweigert, ist das Wort, das Einwort, das Schlag-Wort. Der Hessische Landbote hat viele Wörter und macht viele Worte, dem »unbekannten Vandalen« reicht auch manchmal ein lapidares KORKS oder KORK! Ist sein Tun eigentlich »politisch motiviert«, wie es immer in Prozessen von seiten der Verteidigung bei Fällen von »Gewalt gegen Personen oder Sachen« zugunsten der des Vandalismus beschuldigten Jugendlichen heißt? Wer ist er denn? Ach wie gut, daß niemand weiß, wie ich, Korks, tatsächlich heiß! Mich kriegt ihr nie! Im hessischen Frankfurt las ich einmal auf einer Mauer den Spontispruch: Krieg den Hütten, jedem seinen Palast! Der das erfunden hat, müßte wirklich auf einem »Wall of Fame« sprayen dürfen! Blockbuster. In Blockbuchstaben!

Er, Korks, könnte durchaus ein Architekturkritiker sein. Und viele schöne Häuser wie etwa das Palais Morzé gibt es in der Rosentaler Straße und im anschließenden Villacher Ring ja nun wirklich nicht! Ein Gesellschaftskritiker ist Korks ganz bestimmt. Er formuliert einen Protest gegen die sogenannte Unwirtlichkeit unserer Städte. Er macht sie freilich, wie seine Kritiker, also die Kritiker des Kritikers, und alle Hausbesitzer in jener Häuserzeile meinen, selbst nicht wirtlicher und einladender! Und er ist nicht konsequent. Das muß man ihm schon vorwerfen, bei aller Freundschaft! Er läßt wirklich lohnende und einladende Flächen aus, um zehn Meter weiter an einer unmöglichen und schwer erreichbaren Stelle seine Paraphe, sein Tag, anzubringen. Manchmal kommt es einem vor, als müßte er betrunken gewesen sein, als er sein Namensschnörkel an eine halb verborgene Stelle kritzelte. Hier sieht es doch niemand! Ist der Korks-Tagger vielleicht überhaupt ein Verrückter und längst in der Klapsmühle oder einer »Anstalt für abnorme Rechtsbrecher«? Dann müßte er freilich zu den Tags noch andere Straftaten auf sein Kerbholz geschnitzt haben. Es heißt freilich: Wenn jemand verrückt wird, gibt er ein Zeichen. Sind Tags solche Zeichen? Und natürlich heißt ein uraltes deutsches Sprichwort: Narrenhände beschmieren Tisch und Wände …

Einige Signaturen scheinen das Ergebnis einer Wette oder Mutprobe zu sein. Bist eh feig! Hais- und Beinbruch! Fassadenkletterer! Am glatten und spiegelnd polierten Marmor einer Versicherung ist er übrigens fast gescheitert. Das gehört doch längst wieder nachgezogen! Aber das Denkmalamt schläft wieder einmal! Es ist andauernd nur mit dem Renovieren von sogenannten Sakralbauten beschäftigt!

Be careful! Be cautious! Das gilt ganz besonders für alle Nachtarbeiter, also all jene »destruktiven« Personen, die recht verständnislos und uneinsichtig, auch unnachsichtig als Räuber, Diebe, Vandalen, Brandstifter, Friedhofsschänder, Müllcontaineranzünder, Reifenaufschlitzer, Verkehrszeichenumbieger, Baustellenverwüster oder eben auch als Sprayer bezeichnet und verleumdet werden. Nur nicht stürzen! Die Ordnung stürzen, ja, aber nicht selbst stürzen! Wer die Ordnung verletzt und dabei sich selbst verletzt, weil er den Halt verloren hat, und ins Unfallkrankenhaus muß, der ist verloren. Wer ins Spital eingeliefert werden muß, der ist geliefert! Die Ärzte sind ja verpflichtet, die Patienten zu fragen, wo und bei welcher Arbeit oder Tätigkeit sie sich eine Verletzung zugezogen haben und bei Verdacht den Patienten, also den Leidenden oder »Leidtragenden«, zur Anzeige zu bringen. Laß dich nur ja nicht von einem Polizeihund beißen! Auch von keinem Haushund! Bißwunden sprechen eine deutliche Sprache! Und alles glaubt das Krankenhauspersonal auch nicht, viele von den im Spital Beschäftigten sind alles andere als leichtgläubig, ja schon sehr mißtrauisch. Stellt sich aber ein Übeltäter besonders übel und albern an, dann kann er sich bei der jährlich stattfindenden Wahl zum »dümmsten Bankräuber«, »blödesten Brandstifter« »doofsten Dieb« oder auch »dämlichsten Sprayer« ein- oder wiederfinden. Und mancher, der sich als dümmer erwiesen hat als die Polizei erlaubt, hat, noch nicht gehfähig, gleich vom Operationstisch weg den Weg ins Gefängnis oder in die erwähnte »Anstalt für abnorme Rechtsbrecher« angetreten. Die sogenannten Ordnungshüter sind ja sehr stur. Aber ein Bankräuber, der die Hose verliert und über den Knäuel seiner Beinkleider stolpert und stürzt, hat wirklich die Hose heruntergelassen und sich geoutet. Da kann er, der Purzelbaumschlager, gleich auch eine Visitenkarte am Schauplatz zurücklassen. Die Überwachungskamera liefert ein sogenanntes »gestochen scharfes Bild«! Der arme Irre braucht sein Visier erst gar nicht mehr lüften oder den Strumpf vom Kopf ziehen, er ist nicht der erste, der von hinten oder unten, eben vom Arsch her, identifiziert wurde. Ein Sprayer, dem die Farbe ausgeht und der den leeren Farbtopf, die in der Branche sogenannte Kanne, mit einem Pickerl oder Etikett, auf dem der Name des Geschäftes steht, in dem er sie gekauft hat, am Tatort stehen und zurückläßt, ist wohl ein wenig zurückgeblieben, jedenfalls nicht ganz gescheit, so geistreich auch der Spontispruch sein mag, den er auf der Mauer angebracht hat. Auf diese Weise macht sich ein »unbekannter Vandale« selbst bekannt und zu einem bekannten Vandalen. Bitte Handschuhe verwenden und keine Fingerabdrücke hinterlassen! Sonst gilt auch keine Unschuldsvermutung mehr! Das lernt man doch aus den billigsten Krimis im Fernsehen! Wer dumm ist, braucht noch lange nicht blöd zu sein! Ein halbwegs heller Sprüher wird sowieso seine benötigten Utensilien und Waren auf einem anderen als dem sogenannten regulären Wege sich zu verschaffen wissen. Die Lager sind voll. Die Wirtschaft sitzt nicht nur auf einem Butterberg, auch Farbe gibt es im Überfluß. Oder wie die Mundart sagt: Zum Säuefüttern! Natürlich könnte auch kein sogenannter Allesfresser wie das Hausschwein das chemische Acrylzeug verdauen! Vielleicht ein Wildschwein? Es geht wie bei jeder Arbeit, auch bei jeder bürgerlichen und sogenannten angesehenen Arbeit darum, keine Spuren zu hinterlassen. Man darf schließlich ja auch an einem Möbelstück, das die Tischlerwerkstatt verläßt, keine Blutspuren finden, auch wenn sich der Tischler bei der Herstellung an der Kreissäge einen Finger abgeschnitten haben mag. Das geht die Kundschaft nichts an, das interessiert keinen Käufer. Der abgeschnittene oder verstümmelte Finger ist Sache des Tischlers. Der Kunde verlangt ganze Arbeit. Man schämt sich fast, das alles zu sagen, weil es doch selbstverständlich sein sollte, aber man muß es trotzdem sagen, weil immer wieder Unfälle passieren: Wer also nachts auf dem Friedhof arbeitet und schwere Marmorsteine umlegt, bitte, immer von dir wegdrücken, nie zu dir hin ziehen! Das ist ja geradezu hirnrissig! Du schaufelst dir selbst dein Grab! Es wurde nicht nur ein Friedhofsarbeiter von einem Steinblock oder einem Grabengel aus Marmor auf teuflische Weise erdrückt. Würgengel! Gefallener Engel! Der Teufel schläft nicht, auch nicht um drei Uhr nachts auf dem Friedhof! Manchmal ist es, als wäre kein Segen, ja geradezu ein Fluch auf dieser Tätigkeit!

Sieht man es nüchterner und weniger theologisch, dann muß man sagen, daß leider sehr oft der Alkohol im Spiel ist. Mancher hat sich schon Mut – oder auch Wut – angetrunken, bevor er an die Arbeit, ans Malen oder Friedhofsheimsuchen ging! Zuerst den Friedhof und dann das Wirtshaus besuchen! Nach getaner Arbeit ist gut ruhn. Ora et labora! Zuerst die Arbeit, dann das Vergnügen! Andersherum kann nichts Gescheites dabei herauskommen. Für Autofahrer gilt heute die 0,8- oder neuerdings die 0,5-Promille-Grenze. Die müßte man auch für Bankräuber und Sprayer und alle anderen gesellschaftlichen Sondertätigkeiten einführen. Ein schwer Betrunkener kann keine schwere Axt mehr führen, da führt eher die Axt ihn … Nüchternheit ist eine Grundvoraussetzung allen Tuns und Schaffens! Und wenn du am Gartentor einen Hund abgebildet und »Hier wache ich« geschrieben stehen siehst, dann mache einen Bogen um dieses ungastliche Haus, diese Hundehütte! Notfalls hilft sich der Sprayer mit Pfefferspray. Zuerst den Hund unschädlich machen, dann in Ruhe Schaden spenden! Und entdeckst du auf einem Schild beim Eingang eine Tafel mit einem abgebildeten Hund und der Schrift CAVE CANEM, dann sei vorsichtig, denn es könnte sich hier um das Haus deines Lateinlehrers handeln. Und so verständlich es ist, daß du gerade ihm, der dich mit seinen Deklinationen und Konjugationen gequält und gepeinigt hat, eins auswischen oder deinen Tag »hinwischen«, einen Denkzettel verpassen möchtest, hältst du dich doch besser zurück, denn der Spruch heißt auf Deutsch nicht »Streichle den Hund«, sondern »Hüte dich vor dem Hund«! Und was vom Haushund gilt, könnte vielleicht noch mehr vom Hausherrn gelten! Cave magistrum! Halte dich lieber selbst für einen der vor Kaufhäusern abgebildeten kleinen armen Hunde, aus deren Mund eine Sprechblase kommt, in der steht: Hier darf ich nicht hinein!

Vorsicht vor allem beim Besteigen von Gerüsten oder beim Benützen von Leitern auf Baustellen! Oft ist es wie verhext und als hätte ein alter boshafter Polier in sein Gerüst eine Fallgrube eingebaut, in die der nächtliche jugendliche Besucher, der den alten Polier vielleicht einmal im Vorbeigehen als Opa oder auch Grufti, als Komposti, oder überhaupt als Zeitzeuge verspottet hat, prompt nachts hineintappt. Komm du nur in meinen Hof bellen! So ragt etwa einer der Bodenpfosten einen Meter oder mehr über den Auflagebaum hinaus, und derjenige, der dann diese Stelle überschreitet, schlittert mitsamt dem Bodenbrett in die Tiefe. Rutsch! Hautabschürfungen sind das mindeste. Ans Malen oder Malern ist jetzt nicht mehr zu denken, es hat sich ausgemalt und ausgemalert. Jetzt stehen die Rettung und das Unfallkrankenhaus auf dem Programm.

Ganz besondere Gefahren warten übrigens auf jene, die im Bereich der Bahnhöfe und der Gleisanlagen von Verschiebebahnhöfen oder in den Abstell- und Stauräumen der Bahn für Personen- oder Güterzüge unterwegs und zu Gange sind. Höchste Vorsicht ist beim Rangieren geboten! Wie oft muß man hören oder von Kindern oder Jugendlichen lesen, die in den Stromkreis von Oberleitungen geraten sind. Natürlich ist es aufregend und verführerisch und von einem betörenden Reiz und prickelnden Nervenkitzel, in der Nähe von Hochspannungs- oder Oberleitungen zu hantieren, in denen gewaltige Spannungen von hunderten, wenn nicht tausenden Volt fließen, was man als das bekannte elektrische Sausen hörbar wahrnimmt, als würde der Wind eine Äolsharfe zum Klingen bringen – aber wie schnell rutscht auf dem Dach eines Waggons einer aus, und sucht er dann Halt, indem er nach der Oberleitung greift, so wird er ihn dort insofern finden, als ihn der Strom an die Leitung schweißt und er nicht mehr loskommt. Der Kamerad und Mitstreiter, der ihn da herunterziehen möchte, wird aber seinerseits hineingezogen und verschmort. Es gibt so viele bessere und gefahrlosere Arbeitsplätze für Sprayer, Vandalen und Graffitikünstler, wenn auch die langen bemalten und besprayten Euro- und Intercityzüge, die man in Italien sehen kann und die nach Ausweis der Fahrpläne nach bedeutenden Malern und Bildhauern und Musikern benannt sind: Raffaello Santi, Benvenuto Cellini, Giuseppe Verdi, für jeden Normalbürger das Erstaunlichste und Verblüffendste und Auffälligste sind, was man sich denken kann. Wie hat man derartige Flächen von zig Quadratmetern, Fenster inklusive, »beschmieren« können, wie die unfreundliche Presse schreibt, ohne entdeckt und gefaßt und belangt zu werden? Solche Werke »end to end« kriegt einer allein nicht mehr hin, da müssen Teams ans Werk gehen, und das nicht bloß eine Nacht, Tag und Nacht, nein, Nacht um Nacht und viele Nächte … »Völkerscharen« sozusagen, Vandalen, Hunnen und Etrusker! Viele Nachtschichten stecken hier drin. Andererseits muß bei Zügen zügig gemalt werden und es muß schnell gehen, sonst fährt den Graffitimalern womöglich ja der Zug davon. Dann müssen die »Vandalen« von Turin, wie sie die Zeitung nennt, das Werk der Römer vollenden. Das aber bedingt wieder eine stilistische Uneinheitlichkeit. Jede Szene hat ihr eigenes malerisches Vokabular, und es gibt zwischen den diversen Milieus erhebliche Inkompatibilitäten. Die neapolitanische Malweise ist den Mailändern fremd. Der Stil à la Milanese ist ein grundlegend anderer als der sizilianische! Das sind ja keine schnell und flink gekritzelten bloßen Tags mehr wie KORKS. Das sind Riesengemälde wie die Fresken in der Sixtinischen Kapelle, übelwollende Kritiker sagen auch gern: monströse Gemälde. Die italienischen Sprayer werden wohl vor ihrer gigantischen Arbeit die Fahrpläne der Bahn studiert, also auch Vorarbeiten und Recherchen geleistet haben. Außerdem muß man auch das italienische Gewerkschaftswesen in Rechnung stellen, das mit den vielen Streiks den Sprayern natürlich sehr entgegenkommt. Manchmal hat es ja fast den Anschein, als würden die Züge im Land, wo die Zitronen und die Gewerkschaften blühen, mehr stehen als fahren. So können sich die Sprayer auch Zeit lassen, was sicher der Qualität ihrer Arbeit dienlich ist. Als ich jedenfalls derart perfekt und total »verarbeitete« Züge vor einigen Jahren auf dem Weg nach Rom das erste Mal sah, diese imposanten Ergebnisse von sogenannten »Train-Bombing-Tours«, wie der Fachausdruck für massenhaftes Besprayen von Zügen oder Bahnanlagen lautet – da wußte ich, daß ich mich im Lande Michelangelos befinde! Oder auch Tiepolos. Das größte Werk hat Tiepolo ja, wie du, lieber unbekannter Vandale Korks, sicher weißt, in der Würzburger Bischöflichen Residenz geschaffen. Quadratmetermäßig, also rein quantitativ betrachtet, stellt ein solcher bemalter Reisezug mit 45 Waggons aber die Würzburger Residenz in den Schatten. Dagegen würde Tiepolo blaß aussehen. Da kann sich Michelangelo Buonarroti verstecken. Diese Herren und Malerfürsten haben auf Bestellung und Einladung, auf Befehl der Obrigkeit, des Papstes eben oder des Würzburger Erzbischofs, gearbeitet, die Sprayer aber müssen ihr gigantisches Werk »bei Nacht und Nebel« und im Freien, in der ungeschützten Natur vollbringen, Wind und Wetter ausgesetzt! In einer ihnen feindlich gesinnten Umgebung und Umwelt, nicht selten von berittener Polizei verfolgt, gehetzt von den Hunden der Exekutive. Und sie müssen weitgehend in der Finsternis und Dunkelheit arbeiten, im Verborgenen eben. Aus gutem Grund scheuen sie das Licht. Von den Kosten ganz zu schweigen. Das geht in die Knochen und ins Geld. Unter widrigen Umständen und unter erschwerten sogenannten Rahmenbedingungen müssen solche Arbeiten ausgeführt werden. Wenn eine Schweizer Garde – wie sie der Auftraggeber der Sixtinischen Kapelle, Papst Julius II., auch gegründet hat, wofür ihm Michelangelo die Uniformen entworfen hat – Gewehr bei Fuß oder Hellebarde bei Fuß steht, die Polizei im Rücken, da ist das Malen keine Kunst mehr … Mit der Polizei im Nacken ist das etwas anderes … Niemand hat sich Michelangelo in den Weg gestellt. Er konnte unbehelligt drauflos malen!

Korks, der Kapitalismus-Kritiker, der hartherzige Hausherren ärgert? Dem Markt und dem Brutalkapitalismus entkommt sicher auch er nicht. Auch er muß investieren. Farben, vor allem gute, wie er sie offenbar verwendet, die tief ins Mauerwerk eindringen und sich unauslöschlich einprägen und namhaften Schaden anrichten sollen, kosten eine Menge Geld, wenn man sie bezahlen will. Und er treibt es bunt, polychrom! Vom Treibstoff Alkohol, womöglich gar Koks für Korks ganz zu schweigen. Aber ein Trinker bist du, glaube ich, nicht. Da habe ich Hinweise. Du behältst immer klaren Kopf und den Überblick.

Des Hausherrn Leid, des Malermeisters Freud! Manchmal meine ich, wenn ich die Via KORKS entlanggehe, er, Korks, ist vielleicht überhaupt ein Handlanger der Bauwirtschaft, ein Arbeitsbeschaffer für Malerei- und Anstreichbetriebe, die hinter ihm buchstäblich kaum nachkommen … Oder ist er selbst ein Maler, der auch in seiner Freizeit vom Anstreichen nicht lassen kann? Ich verbiete und verbitte mir aber, ihn in seinem Streben mit jenen irregeleiteten jungen Feuerwehrmännern zu vergleichen, die zündeln und Brände stiften, um beim Löschen und Aufräumen groß herauszukommen, und sich eben durch ihren Übereifer oft selbst verraten! Leicht hat Korks es ja nicht, um sich bemerkbar zu machen, die Konkurrenz auf diesem Gebiet ist nämlich groß, um nicht zu sagen riesig!

Die Weltanschauung des Korks ist mir trotz intensiven Nachgrübelns ein Rätsel geblieben. Ideologisch ist er schwer einzuordnen. Sicher ist freilich, daß alle Häuser, die er bezeichnet, einen Besitzer haben, einen sogenannten Hausherrn, die größeren Wohnblöcke haben aber auch einen Hausmeister. Und gehören tun die großen Wohnblocks meist einer anonymen Wohnbaugesellschaft. Das heißt, so anonym sind die Gesellschaften gar nicht, sie heißen »Neue Heimat« oder »Österreichische Siedlungsgenossenschaft«. Ich habe selbst einmal nahe der Rosentaler Straße in der Maximilianstraße in einem großen Haus der »Siedlungsgenossenschaft« gewohnt. Wen also möchte Korks ärgern, wenn Ärgernwollen überhaupt in seinem Sinne ist, was durchaus noch nicht als ausgemacht gelten kann? In einigen der Häuser wohnen freilich auch Stadt-, ja landesweit bekannte Persönlichkeiten, auch schöne Frauen wie die Schauspielerin im Palais. In diesem Fall könnte das Tag also durchaus eine verschlüsselte Botschaft und somit eine Liebeserklärung sein. Ist der Tagger, also der Tagschreiber, zugleich auch ein Stalker, will er, wenn schon nicht persönlich, so doch mit seiner Paraphe einer bewunderten oder geliebten Person nahe sein? Was haben schließlich die vielen tausenden Verliebten, die ihre Namen und Herzen etwa in die Rinde von Bäumen oder in die Lehnen von Bänken geritzt oder geschnitzt haben, anderes im Sinn gehabt? »Ich schnitt in seine Rinde so manches liebe Wort«, heißt es im Schubertlied … »Wes das Herz voll ist, des geht der Mund über.« Bei Korks und den Herzzeichnern ist es aber eben nicht der Mund, sondern die Hand, die über den Grund geht, die Rinde oder den Malgrund, das heißt die Hauswand. Amantes amentes, haben die Römer gesagt, auf gut Deutsch: Die Liebe raubt den Verstand. Da ist man wieder bei den »Narrenhänden«, die Wände beschmieren … Sobald man aber bei einer plausiblen Erklärung oder Vermutung ist, fallen einem leider auch gleich wieder Gegenargumente ein, und am Schluß landet man mit seinen Konjekturen, das heißt Vermutungen, leider oft wieder beim primitiven Vandalismus und Anarchismus. Denn wenn die Tags Liebeszeichen und so etwas wie ein Ständchen wären, wie man sie früher vor den Fenstern der Angebeteten dargebracht hat, dann spricht doch ihre Häufigkeit in der Rosentaler Straße und neuerdings auch in angrenzenden und von der Rosentaler Straße abzweigenden Gassen und Straßen bis zum See hinaus gegen diese Theorie. So viele schöne Frauen hat Klagenfurt nicht. Und so üppig wird man sich das Liebesleben des Taggers ja auch nicht vorstellen können. Auch wenn er vielleicht nach der Devise handelt: Kannst du zwischen zwei Frauen wählen, dann wähle immer beide. Er hat, vor allem in den Nächten, sicher viel zu tun. Und er hat etwas anderes und in seinen Augen vielleicht Besseres zu tun als mehr oder auch minder schönen Frauen schöne Augen und Komplimente zu machen, um von Intimerem wie dem im Volksmund so bezeichneten Kindermachen zu schweigen. Ein Vandale ist kein Etrusker! Er scheint doch mehr dem Mars als der Venus verpflichtet zu sein. He makes war not love. Obwohl ich ihn für einen Wehrdienstverweigerer halte. Er scheint kein Blumenkind zu sein, wenn sein Tag auch ein wenig dem Bild einer Rose gleichen könnte. Da das Zentrum seiner Tätigkeit und der Hauptmittelpunkt seiner Aktivitäten die Rosentaler Straße ist, liegt die Rosen-Vermutung ja wohl nahe. Es kann kein Zufall sein, daß er von einer Straße mit einem schönen Namen, der freilich mit der Realität stellenweise in Streit oder, wie man heute sagt, im Clinch liegt, seinen Anfang und Ausgang genommen hat, um von hier aus die Stadt »aufzurollen«. Er arbeitet im Namen der Rose. Daß das Wort Rosen im Straßennamen Rosental und Rosentaler Straße gar nicht von der schönen Blume, die sich Rose nennt, kommt, wird er vermutlich gar nicht wissen. Daß der Korks in der Schule aufgepaßt hat, ist eher unwahrscheinlich. Das wissen viele nicht, auch Lehrer und Menschen, die dort wohnen. Von den Lokalpolitikern abgesehen, die noch viel mehr nicht wissen. Ich, ein der Pension entgegengehender Deutschlehrer, bilde mir gar nichts darauf ein, daß ich weiß, daß Rosen in Rosental von Rasen kommt, und daß dieses Rasen, wenn es von einem Fluß wie der das Rosental durchfließenden Drau gesagt wird, keinen pathologischen Sinn hat, sondern weiter nichts als »schnell rinnend« bedeutet. Das Rasen in Rasental deutet somit auf einen munter fließenden Fluß hin, nicht auf einen Amokläufer. Damit ist Rasen ein dem Wort Gail in Gailtal entsprechendes Verbum oder Zeitwort, rasend und gail bzw. geil sind Synonyme oder jedenfalls vergleichbare Wörter, geil bedeutet bekanntlich »lustig«. Es ist also ein eigentlich unschuldiges Wort, das erst später ausschließlich auf die Geschlechtslust und die Lüsternheit eingeschränkt wurde, entsprechend einer menschlichen, vielleicht eher männlichen Obsession und Beschränktheit. Männer, heißt es, vielleicht nicht ganz zu Unrecht, denken immer nur an das eine. Männer rasen, Männer sind geil, Männer sind notgeil. Sehen sie ein Mädchen, schauen sie ihm nicht in die Augen, sondern automatisch auf den Busen. Daß geil ein ursprünglich unschuldiges Wort ist, ersieht man auch am Ortsnamen Maria Gail. Dem Namen des lieblichen oder wie man früher mit gutem Recht gesagt hat: liebreizenden Wallfahrtsortes bei Villach nahe der Einmündung der Gail in die Drau des Rosentals. Der Ortsname Maria Gail ist also alles andere als eine Beleidigung der Gottesmutter, er ist ein marianischer Ehrentitel, ein freilich überraschender der »Schmerzensmutter« … An der Drau des Rosentals liegt bekanntlich ein anderer Marienwallfahrtsort, nämlich Maria Elend …