Zur Entlastung der Briefträger - Alois Brandstetter - E-Book

Zur Entlastung der Briefträger E-Book

Alois Brandstetter

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Beschreibung

Endlich! Die Fortsetzung des Erfolgsromans "Zu Lasten der Briefträger" Die drei Briefträger Ürdinger, Blumauer und Deuth sind in Pension gegangen. Sie treffen sich wöchentlich am Stammtisch beim Kirchenwirt, erinnern sich an ihre aktive Zeit und kommentieren den Wandel in der Welt. Sie reden über Gott und die Postpartner und es weitet sich der Blick manchmal ins Kriminalistische, öfter ins "Feministische" und immer wieder auch ins Folkloristische und ins Zoologische. Denn es muss ja alles besprochen werden: Sei es die Briefträgerin, die sich weigerte, im Nudistencamp die Post auszuliefern, oder die zwei Männer, die in Burka ein Postamt überfielen ... Die daraus abgeleiteten Gedankenkapriolen übertreffen alles bisher Gedachte. Der Postfuchs spricht, wie ihm der Schnabel gewachsen ist. Alois Brandstetter ist und bleibt ein Sprachvirtuose der Sonderklasse. Ein wahres Panoptikum, ein veritabler Rundumschlag!

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Alois Brandstetter

Zur Entlastungder Briefträger

Roman

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek:Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in derDeutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografischeDaten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

www.residenzverlag.at

© 2011 Residenz Verlagim Niederösterreichischen PressehausDruck- und Verlagsgesellschaft mbHSt. Pölten – Salzburg – Wien

Alle Urheber- und Leistungsschutzrechte vorbehalten.Keine unerlaubte Vervielfältigung!

ISBN ePub:978-3-7017-4301-8

ISBN Printausgabe:978-3-7017-1565-7

Postpartner

Stammtisch 1

Jetzt haben wir den Salat, sagte Ferdinand Ürdinger zu seinen ehemaligen Briefträgerkollegen Karl Deuth und Franz Blumauer am Stammtisch »Die Brieftrager« beim Kirchenwirt in Munderfing im oberösterreichischen Innviertel. Er sagte zwar: Jetzt haben wir den Salat, aß aber währenddessen nach allen Regeln der bayrischen Tischkultur zur Brotzeit oder, wie man im diesseitigen Innviertel sagt, zur Jause, eine gesottene Kessel- oder Weißwurst. Es gibt also, sagte Ürdinger, in vielen Ortschaften kein Postamt mehr, sondern nur noch einen sogenannten »Postpartner«, aber auch den nicht im Ort und an Ort und Stelle, sondern in der übernächsten Gemeinde. Jetzt muß man 10 Kilometer fahren, die Luft mit Abgasen verpesten und das Klima erwärmen und dann bei einem Metzger kaltblütig seine Briefmarke kaufen. Bei der Fleischhauerin, der neuen »Postpartnerin«, kannst du deinen Brief abgeben und einschreiben lassen und eine Leberkässemmel bestellen. Mit der Linken gibt sie dir den Imbiß und mit der Rechten die Einschreibbestätigung, und du kannst froh sein, wenn sie linkerhand einen Handschuh trägt und nur mit der Rechten dann die Euros und Cents herausgibt, an denen die Keime und die Bakterien kleben und der Schweiß vieler Vorbesitzer. Ein solcher Postpartnerbesuch ist doch heute ein Gesundheitsrisiko! Du holst dir beim »Postpartner« einen RSA-Brief und BSE, den Rinderwahnsinn oder die Schweinegrippe! Dafür bist du 10 Kilometer gefahren! Was sage ich 10 Kilometer, 15 Kilometer!, verbesserte er sich, ja, weit haben wir es gebracht. Für eine Sondermarke gehe ich extra meilenweit … Dann sagte er: Prost die Post! Blumauer erwiderte: Prost Mahlzeit!, und prostete den Kollegen zu.

Darauf sagte Deuth, der dritte der drei Briefträgerpensionisten: Ferdinand, es gibt eigentlich keine vollwertigen »Postpartner«, weil es keine »Post« mehr gibt. Aus unserer guten alten einheitlichen Österreichischen Post oder »Post und Telegraphenverwaltung« sind ja schon früher zwei separate Betriebe geworden, die »Post.at«, also die »Post. Austria«, und die sogenannte »Telekom Austria«. Und die alte »Kraftpost« hat sich auch selbständig gemacht. Die Autobusse gehen ihre eigenen Wege … Man hat also der Post das Telephon weggenommen und die Mobilität, den »fahrbaren Untersatz« … Eigentlich sollte es jetzt nicht »Post.at« heißen, sondern »Torso.at« … Die Postpartner sind Torso-Partner. Und was Telekom eigentlich ist und bedeutet, wissen und verstehen auch die wenigsten. Als »Postler« fühlen sich die »Telekom-Mitarbeiter« sicher nicht!

Du aber weißt sicher ganz genau, was Telekom heißt, sagte Ürdinger zu Deuth, wer sollte es denn wissen, wenn nicht du, unsere Intelligenzbestie. Du, der hyperschlaue Postfuchs!

Telekom ist eine Abkürzung für englisch Telecommunication, sagte die Intelligenzbestie.

Bravo, sagte Blumauer, sind wir jetzt vielleicht von England ferngesteuert? Sind wir besetzt und eine Kolonie? Oder wieder eine Besatzungszone? Statt »Österreichische Post« also jetzt »Post.at« und »Telekom Austria« … Von Österreich ist also auch keine Rede mehr …

»Ferngesteuert« ist richtig, sagte Deuth, denn tele heißt so viel wie »fern«, schließlich ist Fernsprech eine Übersetzung von Telephon. Genau genommen aber, sagte Deuth, sind wir mit der Telecommunication nicht von England oder Amerika, von London oder New York fremdbestimmt und ferngesteuert, sondern von Athen und Rom, weil tele griechisch und communicatio lateinisch ist. Da sind Hellas und Latium eine Komplexion eingegangen. Mit der Telecommunication ist es genauso wie mit dem Automobil oder dem Mobiltelephon. Alle diese Wörter sind römisch-katholisch, lateinisch-griechisch … Wir bleiben im Abendland! Heimat bist du großer Töne!

Bravo, super, mega!, sagte Blumauer, haben wir wieder etwas gelernt, und: Abendland Österreich … Für uns Rentner ist Austria oder Autriche jetzt auch das Lebensabend-Land! Wir sind die letzten österreichischen Mohikaner! Und angeblich sind wir Beamtenpensionisten mit unseren überhöhten Pensionen auch der Untergang des Abendlandes …

Brieftrager gibt es ja auch nicht mehr, sagte jetzt Ürdinger, pensionierte Brieftrager wie uns schon noch, wenn sie auch im Aussterben begriffen sind, aber diejenigen, die heute unser seinerzeitiges Geschäft erledigen, sind jetzt »Post.at-Mitarbeiter« und »Telekom-Mitarbeiter«. Oder heißt es »Telekomisten« oder »Telekomerer«, sagte Ürdinger, ich weiß es nicht.

»Telekümmerer!«, sagte Blumauer und: Super!, applaudierte er sich selbst zu seinem gelungenen Wortspiel.

Die Entmachtung der Brieftrager und ihre Entwürdigung hat eigentlich schon zu unserer Zeit im vorigen Jahrtausend begonnen, sagte Deuth. Was haben wir früher Renten und Pensionen und Geld zugestellt, habe ich nicht recht?, fragte er seine Kollegen in der Runde. Wir Brieftrager waren seinerzeit auch Prokuristen und Bevollmächtigte, Statthalter und Treuhänder unserer Kunden. Wir waren zeichnungsberechtigt und hatten das Pouvoir! Wir hatten die Finanzhoheit! Über 65 Rentner hatte ich damals zu Beginn in meinem Ausgehgebiet oder Rayon, wie wir, die österreichischen Brieftrager, gesagt haben, und keines von den alten Leutchen, den Väterchen und Mütterchen, hat ein Bankkonto gehabt, auf das die Pension oder Rente vom Vater Staat überwiesen hätte werden können. Niemand war auf eine Überweisung angewiesen. Wir waren die Überbringer und Wohltäter! Ein Füllhorn war unsere große Tasche! Die Rentengelder sind aus unserem Postsack direkt in die Sparstrümpfe, aus unserem Rucksack in die Brieftaschen und unter die Kopfpölster oder in die Küchenkredenzen gewandert. Die meisten der Pensionsempfänger haben uns gebeten, ihre Rente gleich an der bewußten Stelle zu deponieren! Du kennst eh den Hausbrauch, Karl, sagten die Alten … Der Herr Raiffeisen hat davon nichts gesehen. Ja, die Renten haben alle wir ausgetragen und ausbezahlt. Und die Trinkgelder sind an solchen Tagen vor dem Monatsersten reichlich geflossen. Postgebühr beim Empfänger einheben, hat es da bei uns immer frohgemut geheißen, Postgebühr sprich Trinkgeld, hat es gelautet …

Ja, und getrunken wurde von den Brieftragern, wenn sie ihre Tage, das heißt ihre Trinkgeldertage gehabt hatten, auch nicht wenig, sagte Deuth. Da ist Bier in Strömen geflossen. An jenem Tage gab’s Gelage, konnte sich Deuth nicht enthalten zu reimen. Hopfen und Malz, Gott erhalt’s! Das mußt du zugeben, sagte Deuth zu Ürdinger. Grad du, Ferdinand, hast von dem vielen Trinkgeld deiner besseren Hälfte Katharina kaum etwas heimgebracht, sicher nicht die Halbscheid. Du hast das Trinkgeld immer wörtlich und beim Namen genommen …

Ja, ja, sagte Ürdinger, warum heißt es »Trinkgeld«. Bei vielen Kunden hat es überhaupt weniger Trinkgeld als Getränke selbst gegeben. Mir war aber das Bare und die Geldwirtschaft sympathischer als diese Art Naturalwirtschaft! Lieber das Bare als Biere! Und wenn ich alle »Kurzen« und »Stamperl« und »Schnapserl« zu mir genommen hätte, die mir angeboten worden sind, wäre ich ja schon am Vormittag blau und fett gewesen, wie meine Uniform!

Vom vielen Biere auf alle viere …, reimte Deuth. Ich habe mir für das zusätzliche Geld ja Bücher gekauft, sagte Deuth, in jedem Quartal einen dicken Wälzer von der Buchgemeinschaft Alpenland, später Donauland! Mit dem Trinkgeld habe ich meinen Wissensdurst gestillt! Das Trinkgeld war meine Bildungszulage …

Aber geh, Karli!, sagte der Nebenerwerbslandwirt Ferdinand Ürdinger, solchene Bücher bekommst du doch heute auf den Flohmärkten, 5 Kilo Bestseller um einen Euro. Du hast dein Trinkgeld schlecht angelegt!

Du hast das Trinkgeld »einkommensneutral« und »wertgesichert« versoffen, sagte Deuth zu Ürdinger. Du hast die Brauerei gesponsert!

Ich versilbert und vergoldet – du vergeudet …, sagte Ürdinger. Geraucht habe ich aber auch, das mußt du zugeben, lieber Karl, sagte Ürdinger.

Wie ein Schlot, sagte Deuth. Es hat früher einmal »Tabak trinken« geheißen, sagte Deuth, damit hast du dein Trinkgeld als Raucher und »Tabak-Trinker« letztlich auch »widmungsgemäß« verwendet – oder verschwendet.

Tabak-Trinker? Was du nicht sagst, sagte Ürdinger. Man lernt nie aus.

Deine elenden Virginier oder »Wedschina«, wie du sie genannt hast, sagte Deuth, wenn ich nur daran denke … wie die unser Amt verstunken und zur Rauchkuchl gemacht haben! Da wird mir heute noch schlecht! Wir, der Blumauer und ich, waren die aktivsten Passivraucher, die es geben kann. Nichts wie raus an die frische Luft! war die Devise nach dem Sortieren. Rette sich, wer kann!

Und der Herr Kollege Franz Blumauer, Leichtfuß und Schwerenöter, hat manchen Ausflug und manche Spritztour nach Passau unternommen und das überschüssige Geld, das überzählige Trinkgeld über die Grenze gebracht und »verschossen«, mit Charme verspritzt … Cum-shot, sagt der Anglist.

Einspruch, Euer Gnaden, sagte Blumauer, stimmt nicht, alles Gerücht und Verleumdung! Es kann keinen treueren Ehemann als mich gegeben haben, aber schauen wird man wohl noch dürfen.

Schau, schau, sagte Deuth. Schaubude Puff? Video, »ich sehe«. Voyeur, »der Schauer« … To peep heißt auf Deutsch »spechteln«. Und peep heißt soviel wie »verstohlen schauen« und »gucken«. Das brauche ich dir, lieber Franz, dem Mann einer Anglistin und selbst Anglophilen, eigentlich gar nicht übersetzen. Darin hast du selbst den klarsten Durchblick.

Schau, nicht Brautschau, du Oberschlauer, sagte Blumauer. Ich habe nie einer Frau etwas »weggeschaut«!

Deuth lachte und sagte: Plötzlich war aber eh und ohnehin Schluß mit Genuß! und Schluß mit lustig! und mit dem Geldzustellen in jenem fernen, vergangenen 20. Jahrhundert, und wir haben nur noch wertlose Drucksachen und Makulatur expediert.

Oder »torpediert« und weg- statt eingeworfen, sagte Ürdinger.

Saboteur!, rief Deuth. Du vielleicht, sagte er. Ich habe alles zugestellt, auch den anonymen »Schmutz und Schund« und die obszöne Parteipropaganda. Schließlich waren wir für das Einwerfen und nicht für das Auswerfen oder Wegwerfen bestellt und vereidigt.

Postwurf und Auswurf!, sagte Ürdinger. Massen- und Ausschußware … Wir haben die Post doch nur »bewertet« und »gewichtet« … Und manches halt für zu leicht befunden und der Mattig »anvertraut« … Ab ins Schwarze Meer mit der vielen Druckerschwärze … Die Zeitungen und Prospekte waren seinerzeit ja noch nicht so bunt und farbenfroh wie heute …

Red nicht so laut und so liederlich, sagte Deuth. Wenn uns wer hört! Dort drüben sitzen Beamte der Gemeindeaufsicht mit dem Bürgermeister. Sonst sehen wir uns statt beim Kirchenwirt im Gemeindekotter!

Ist doch alles verjährt und nicht mehr wahr, sagte Ürdinger. Ich zitiere doch nur aus »Zu Lasten der Briefträger«. Schöngeistige Literatur …

Leiser fuhr Deuth fort: Der Blumauer, unser lieber Franz, hat sich die delikate und anonyme, die »diskrete« Post ohne Absender immer vorgenommen und »bearbeitet«, »Einschau« gehalten. Sein Leitmotiv war: Diskretion! Natürlich ist das Unauffällige das Auffälligste. Schließlich ist die geheime Polizei auch nicht viel schwerer erkennbar als die uniformierte. Die verschlossene und stille Post schrie nach Entschlüsselung. Das Kryptische will entziffert werden. Auch unter den Empfängern solch suspekter »Emissionen« hat es, trinkgeldmäßig gesehen, spendable Persönlichkeiten gegeben. Ein solches Trinkgeld haben wir aber immer eher als ein Schmerzens- oder Schweigegeld betrachtet. Bitte nicht weitersagen, was du mir da bringst …

Einen so Verrückten freilich, der einem Briefträger für das Überbringen von Werbung oder Parteipropaganda ein Trinkgeld spendiert, müßte man erst suchen. Mir jedenfalls ist in den 40 Jahren Dienstzeit kein solches Exemplar untergekommen, sagte Deuth. Haushalte, die sich mit dem Aufkleber »KEINE WERBUNG!« solche Post überhaupt verbeten haben, hatte ich einige im Revier.

Wie auch immer, sagte Ürdinger, jedenfalls war das persönliche Zustellen und Überreichen und Aushändigen und Einhändigen und Übergeben und Auszahlen der Rente ein verantwortungsvoller und würdiger Dienst und immens kommunikativ und gemeinschaftsfördernd.

Und jetzt reden sie ständig von Kommunikation und nennen sich »Telekom«, und doch ist alles rein unpersönlich, technokratisch und anonym. Das Kom ist wirklich sehr tele! Komm, bleib mir fern mit dem tele! Telekom ist ein Widerspruch in sich, sagte Deuth. Telekom ist ein weißer Rappe. Telekom ist ein schwarzer Schimmel. Der Mensch ist weit weg und in die Ferne gerückt! Telekom ist ein Oxymoron, sagte der Hobbyphilologe Karl Deuth.

Und was machen sie jetzt für einen Wirbel um den Datenschutz! Als wüßten die Leute nicht, wie hoch oder wie niedrig die winzige Pension eines Versicherten der Allgemeinen Sozialversicherung oder eines Ausgleichsrentners ist, und wie viel demgegenüber eine Hofratswitwe oder ein pensionierter Staatssekretär kassiert. So eine hilf- und heillose Mindestpension macht auch der Hilflosenzuschuß nicht fett. So öffnet sich die Schere zwischen den Betuchten und den am Hungertuch Nagenden immer weiter. Um das zu sehen, braucht wirklich keiner eine Brille zu tragen – oder einen Brieftrager, der es vielleicht mit dem Datenschutz nicht so akkurat nimmt und einer Kundschaft, gefragt oder ungefragt, unter dem Siegel der Amtsverschwiegenheit hinter vorgehaltener Hand mitteilt, wieviel er dem Herrn Nachbarn gebracht und hingeblättert hat. Briefträger und Kundschaften waren eine Solidargemeinschaft. Wirklich Reiche oder große Firmen wie KTM hatten wir ja nicht zu versorgen, sagte Deuth. Die Reichen haben sich natürlich nicht von einem landläufigen und herkömmlichen Briefträger in die Karten schauen lassen, die haben ihre Postfächer im Amt gehabt und sich die Post selbst geholt oder von vertrauenswürdigen Personen holen, jedenfalls nicht vom »liederlichen Kleeblatt« Ürdinger, Deuth und Blumauer zustellen lassen. Natürlich mußte auch diese Post im Amt einer einsortieren, erinnerte Deuth seine Kollegen. An der Quelle saß der Knabe, sagte Blumauer vielsagend und augenzwinkernd …

In Antiesenhofen, sagte Deuth, stellt euch vor, liebe Kollegen im Amte oder in Pensione, in Antiesenhofen hat sich ein Wirt der »Post.at« als Partner angeboten, ein Wirt! Genau genommen und historisch betrachtet ist es so, daß in der alten Zeit die Poststationen zugleich immer Herbergen und Wirtshäuser waren und die Wirte auch Postmeister. Und sie waren reiche Leute und erfolgreiche Unternehmer wie der Herr Plochl im Ausseerland, der Vater der Anna Plochl, die der Erzherzog Johann geheiratet und zur Gräfin von Meran gemacht hat. Darum gibt es ja heute noch in jeder zweiten Ortschaft ein Gasthaus »Zur Post« oder auch ein »Hotel Post«. Nicht bloß hunderte, nein tausende Gasthäuser heißen in Deutschland und Österreich und in der Schweiz »Post« oder »Zur Post«. Die vielleicht berühmteste »Post« gibt es wohl in Tirol in der Stadt Imst. Und wer die Mundart Tirols lernen will mit ihren merkwürdigen sch vor t für st, der lernt es heute noch am besten an dem berühmten Merksatz: »Z’Imscht af da Poscht gibt’s de beschte Koscht.« Dieser Merksatz und Spottspruch ist älter und einprägsamer als jener, mit dem Thomas Bernhard, der Ohlsdorfer Dichter, den Helden seines Romans »Kalkwerk« seine im Rollstuhl sitzende Frau in Hörübungen nach der sogenannten »Urbantschitschen Methode« traktieren und quälen läßt: »Im Innviertel habe ich nichts.« Als Innviertler habe ich an diesem Beispielsatz eines Hausruckviertlers aus Ottnang oder eines Traunviertlers aus Ohlsdorf natürlich keine Freude. Ja, ich halte dagegen und erwidere: »Dieser spitze Witz des Dichters ist ein Witz!«

Zurück zu den Wirtshäusern »Zur Post« und »Zum Postillion«: Jetzt gibt es bald in keiner Ortschaft mehr ein Postamt, aber immer noch ein Wirtshaus »Zur Post«. Und einige dieser Wirte werden nun vielleicht wie der Wirt in Antiesenhofen zu Postpartnern. Und die Wirtshäuser, die bisher noch nicht »Zur Post« geheißen haben, werden nun auch Wirtshäuser »Zur Post«, vielleicht »Zur neuen Post« oder überhaupt »Zum Postpartner« heißen. Schade eigentlich, daß wir in Munderfing kein Wirtshaus »Zur Post« haben. In ein solches Wirtshaus würde unser Brieftrager-Stammtisch ja weit besser passen als zum Kirchenwirt, wie wenn wir Theologen oder Geistliche wären. Einem eingefleischten Sozialdemokraten widerstrebt ein solch frommes Wirtshaus wahrscheinlich. Aber uns geht es ja nur ums Essen, ums Trinken und vor allem ums Reden …

Du hast recht, Karl, sagte Ürdinger. Ich gehe dorthin, wo es das beste Bier gibt. Und der Blumauer geht dorthin, wo die netteste Bedienung ist. Und das ist in unserem Fall das Riedkerdinger Bier und die Resi, die es uns bringt. Darum sind wir in Gottsnam beim Kirchenwirt eingekehrt …

Der Wirt in Antiesenhofen, der neue »Postpartner«, sagte Deuth, wird das Extrazimmer als »Post.at und Telekom-Center« adaptieren, wenn nicht sowieso ein Tisch im Gastzimmer und eine Ecke als so genannter »Post- und Telekom-Corner« reichen sollte.

Mir gefällt das, sagte Ürdinger, der Wirt als Postmeister, der Schankwirt und Leitgeb als Posthalter, der Hausl als Postillion und die Kellnerin und das Serviermädchen als Post- oder Telekom-Fräulein … Das Letztere oder die Letztere gefällt sicher auch dir, Franz?

Kommt auf das Fräulein an, sagte Blumauer, der Mädchenversteher.

Daß es in der Gaststube schwer sein wird, auf Diskretion zu achten, steht auf einem anderen Blatt, sagte Deuth. Das Post-Bank-Geschäft wird sich da nicht gut abwickeln lassen … Die Gaststube des Postpartners in Antiesenhofen ist meines Wissens, weil ich dort einmal bei einer »Zehrung« war, ja nicht besonders groß. Da wird es nicht leicht sein, Abstand zu halten und Diskretionsbarrieren oder Linien als Abstandhalter und Distanzmarkierungen einzutragen. Denn einen Schalter im eigentlichen Sinn gibt es ja nicht. Und sollte es einmal zu einer der ortsüblichen, ja schon zum Volksbrauchtum und zur Folklore gehörenden Schlägereien von sogenannten »Zechen« kommen, dann könnte es leicht sein, daß auch der »Post- und Telekom-Corner« mit dem Regal und dem Uhu, dem Tixo, den Radiergummis, den Bleistiften und den Kuverts, den Büroklammern und Stempelkissen in Mitleidenschaft gezogen wird und Kleinteile der »Papeterie« durch den Raum fliegen und daß die Post am Rande einen groben Kollateral-, ja, Totalschaden erdulden muß. Briefe und Karten aus der Postsektion wirbeln wie Luftpost durch den Äther des Schankraums! »CHAOS IM TELEKOMCENTER«, steht dann als Headline in der Lokalpresse, ja in der überregionalen Boulevardpresse. Schüsse und Querschläger aus dem Out könnten im Corner einschlagen! Oft, sagte Deuth, werden im Zuge solcher Auseinandersetzungen und Kampfhandlungen ja auch Krüge und Gläser eingesetzt, sei es, daß deren Inhalt, Gerstensaft oder Hefeweizenbier oder sogenannte »Kracherl«, von Kombattanten und Kontrahenten über Mitstreiter, Feind und Freund, geschüttet wird oder daß überhaupt der Krug selbst oder dessen Henkel wie ein Schlagring mißbräuchliche Verwendung findet. Als besonders brisante Waffen haben sich auch die sogenannten »Schartner Bomben« erwiesen … Die haben ja schon die Form einer Handgranate! Wen es trifft, den haut es um. Trifft’s nicht, ist die moralische Wirkung eine ungeheure. In jedem Fall aber ist da für die Post »Gefahr in Verzug«. Da ist natürlich der Wirt, der Gastgeber nicht nur seiner Gäste, sondern auch des einquartierten Untermieters »Telekom« und der »Post.at«, als Hausherr, Haus- und Postmeister gefragt und gefordert. Er ist hier der »Propst« … Sonst heißt es »Post.ade« statt »Post.at«! Auskehr im unwirtlichen Einkehrwirtshaus … Dem Hausherrn unterliegt die Friedenspflicht! Er muß sich als Schutz- und Schirmherr, als Patron der Post bewähren und der Gewalt gegen Personen und Sachen Grenzen setzen und Einhalt gebieten. Er ist der Sheriff in »Saloon« und »Corner« unserer schönen neuen amerikanischen Warenwelt. Als einen John Wayne, sagte Deuth, habe ich den Wirt in Antiesenhofen aber nicht gerade in Erinnerung. Rein staturmäßig machte er auf mich auch nicht den Eindruck eines Arnold Schwarzenegger.

Ein Wirtshaus als Poststation stellt für willensschwache Charaktere auch insofern eine Gefahr dar, als sie versucht sein könnten, vor oder nach oder gar statt ihrer Postagende einen zu heben und hinter die Binde zu gießen, daß sie also das Geld, statt es in der Offizine aufzugeben, in der Spelunke ausgeben, sagte Ürdinger. Versuchung und Durst sind groß. Und manche kommen auch wegen der Eva oder der Theresia!

Du sagst es, Ferdinand, sagte Deuth. Und wenn du, Sachverständiger in allen Gastwirtschaftsfragen, es sagst, hat es Gewicht. Hektolitergewicht!

Die Frau, sagte Ürdinger, hat den Mann vielleicht mit einem Erlagschein und einer Spende für das Rote Kreuz oder die Caritas zur Post geschickt, der willensschwache Mann ist aber der Versuchung erlegen, statt der Verbuchung zu obliegen. Er hat nicht der Menschheit Gutes, sondern sich selbst gütlich getan und etwas Gutes gegönnt und den Herrgott einen guten Mann sein lassen. Und während der Tierschutzverein leer ausgeht, ist der Göttergatte voll und hat einen Affen, wie man hierzulande einen Rausch nennt. Jawohl, er war »auf der Post«, kann er später getrost und wahrheitsgetreu seiner Frau Rechenschaft geben, ohne zu lügen oder doch nur eine leichte Notlüge zu begehen. Eigentlich war er beim Postpartner oder genaugenommen beim Partner des Postpartners, beim Wirt nämlich. Den Rückschein kann er freilich nicht vorweisen, der dürfte ihm in die Antiesen, die Mattig oder Raab gefallen sein. Aber auch früher schon haben die Herren der Schöpfung, wenn sie »auf die Post« geschickt worden sind und »im Amt zu tun« gehabt haben, immer auch einen Abstecher zum Wirt gemacht, sozusagen ehrenamtlich und privat. So wie ja auch jeder Kirchenbesuch am Sonntag mit einem Kirchenwirtsbesuch verbunden gewesen ist! Bis dann überhaupt nur noch der Wirt übriggeblieben ist und der Kirchenwirt auch die Kirche ersetzen hat müssen. Das sogenannte »letzte Evangelium« haben die Männer in den hinteren Bänken meistens in der Kirche gar nicht mehr gehört, weil sie den Tumult bei der Kommunion genützt haben, um unauffällig durch das Westportal zu verschwinden … Der Wirt ist ursprünglich aber immer nur der Abstecher gewesen, der Seitensprung gewissermaßen, die Nebensache und das Zusatzprogramm. Bis aus der Nebensache die Hauptsache geworden ist …

So ist es, Ferdinand, sagte Deuth, früher war die »Mensa«, der Altar in der Kirche, der Mittelpunkt der Gemeinde, heute ist es der Stammtisch beim Kachelofen beim Kirchenwirt. Das ist heute »der Tisch des Herrn« … Für die Alten jedenfalls. Wo die Jugend ist und wo die Jungen hingekommen sind, entzieht sich meiner Kenntnis.

Mach dir um die einmal keine Sorgen!, sagte Blumauer. Die finden sich schon zurecht. Jedenfalls kommen sie auf ihre Rechnung, was das »FUN« betrifft. Sie definieren sich ja geradezu als »Fun Generation« … Da sind wir Alten mit unseren biederen spießbürgerlichen Vorstellungen von Stammtisch und »gemütlichem Beisammensein« die reinsten Waisenknaben …

Eigentlich paßt da vieles nicht zusammen, sagte Deuth. Wenn in Schärding einer in der Nähe einer Schule ein Etablissement errichten oder in einem Abbruchhaus einrichten und die rote Laterne hinaushängen möchte, bricht wegen der sittlich gefährdeten Schüler und Schülerinnen ein Proteststurm an Leserbriefen los, obwohl die Lehrer und ihre Schüler doch wohl eher am Tag und jene Häuser der Volkswohlfahrt, wie sie sich sehen, größtenteils bei Nacht arbeiten und ihre Pforten offen halten. Wenn aber die Post ins Wirtshaus flieht, bricht kein Proteststurm los. Schließlich könnte sich die Lobby der Trinker ja auch beschweren, daß sie beim Trinken immer vom donnernden Abstempeln der Post vom Telekom-Corner her erschreckt werden.

Vielleicht gibt es dazu einmal ein kleines Leserbriefchen vom pensionierten Zusteller und Briefträger Karl Deuth aus Munderfing?, sagte Ürdinger. Hier spricht der »Leserbriefträger« …

Ein »Leserbriefchen« gibt es in Postangelegenheiten immer, sagte Deuth. Ich gehe ja mit der Zeit und schreibe mit. Ich schreibe gegen den Zeitgeist … Und ich schreibe den Zeitgeist auf … Leider stehen mir keine anderen Publikationsmöglichkeiten zur Verfügung als die »Schärdinger Rundschau« und vielleicht die Kirchenzeitung oder der »Postbote«. Beim Suhrkamp-Verlag werde ich mit meiner »Literatur« wohl nichts reißen und keinen Stich machen … Das Posten, Chatten, Twittern und Skypen und all das neumodische Zeug im Internet muß ich leider erst noch erlernen. Die entsprechende »Hardware« habe ich schon.

Schreib doch einmal, sagte jetzt Franz Blumauer zu Karl Deuth, in einem Leserbrief im »Kummerkasten«, daß sich die »Post und Telekom.at« auf der Suche nach neuen Postpartnern bei den heute so genannten »Laufhäusern«, früher unfein »Bordelle« genannt und von dir vorhin »Puff« nominiert, umschauen soll. Grad am Tag gibt es doch dort viel freie, ungenützte und brachliegende Kapazität! Überschrift: »Post im Freudenhaus«. »Freudenpostmädchen als Post- und Telekom-Partnerinnen«, oder so ähnlich …

»Why not«, sagte darauf Deuth. Dann hätten die dort tätigen Mädchen tagsüber eine erfüllende und sinnvolle Ausgleichsbeschäftigung bei Postdiensten. Als »Postituierte« …

Und wenn die Mädchen vielleicht in einem Dirndl mit einem Leibchen mit üppigem Dekolletee am Schalter sitzen, wird sich die »Post und Telekom Austria« vor Zulauf von Kunden im Laufhaus kaum retten können, das verspreche ich dir, sagte Blumauer. Das wird den Verkehr beleben und die Quote in die Höhe schnellen lassen. Die erfolgreichsten Wirtshäuser sind ja auch nicht die mit dem besten Wein oder Bier, sondern die mit der hübschesten Kellnerin. Das belebt Verzehr und Verkehr … Stimmt’s, Resi?, sagte er Richtung Schank, wo sich die Kellnerin Theresia zu schaffen machte.

Du mußt es wissen, sagte Deuth. Über die sittliche Gefährdung der Jugend, sagte er, wollte ich eigentlich noch etwas sagen – und fragen, aber das wird mir jetzt leider zu spät. Das geht sich heute nicht mehr aus. Das verschieben wir auf das nächste Mal. Ich muß jetzt leider zahlen und gehen.

Du warst mein Gast, sagte der Nebenerwerbslandwirt Ürdinger zu Deuth. Wir hatten heuer eine gute Ernte.

Danke, sagte Deuth und: Das nächste Mal zahl aber ich.

Servus Franz! Servus Karl! Servus Ferdinand!

Grüß dich Gott, alte Hütten!

Stammtisch 2

Schaut, sagte Deuth am Stammtisch in der Woche darauf, was ich da im Internet gefunden habe. Ich habe es euch ausgedruckt. Munderfing, höre! »Im Laufe des heurigen Jahres werden in ganz Österreich knapp 300 kleine, defizitäre Postfilialen durch moderne Postpartnerstellen ersetzt. Dazu sieht die österreichische Post-AG in weiteren rund 150 Gemeinden, in denen sie bisher nicht mit eigenen Filialen vertreten war, das Potenzial für Postpartner. In der kommenden Woche werden in gleich drei dieser Potenzialgemeinden neue Postpartner eröffnet.« Und irgendwo habe ich gelesen, sagte Deuth, daß nach einer Umfrage eines Meinungsforschungsinstituts die Leute zu 70 Prozent mit den neuen Postpartnern zufrieden sind. Vor allem begrüßen die Menschen die längeren Öffnungszeiten der Postpartner gegenüber den alten zugesperrten Filialen. Das sind freilich Propagandaaussendungen der neuen Post.at mit wahrscheinlich bestellten und bezahlten, sicher aber geschönten Gutachten, sage ich, Karl Deuth. Denn so groß ist die Begeisterung in den Gemeinden mit den neuen Postpartnern natürlich nicht. Und in den Ortschaften, wo die Postämter aufgegeben worden sind, sind die Bürgermeister mit den neuen Postpartnern und dem Ersatz der alten Ämter auch nicht gar so glücklich. Vielleicht muß man von einem Ende mit Schrecken reden, von einem »Happy End« aber sicher nicht. Ein raffinierter Schachzug des Pressedienstes der neuen Post-AG ist die Beschwichtigung mit dem Hinweis auf jene wenigen, das heißt drei Gemeinden, in denen sich zur alteingesessenen Postfiliale noch ein weiterer Postpartner etabliert hat, was den Eindruck erweckt, als wäre die Post den Kunden sogar noch weiter entgegengekommen, als sich von ihm zu entfernen. Die beste Verteidigung ist der Angriff … Davon abgesehen aber, daß die zwei oder drei Fälle von zusätzlichen Standorten nicht ins Gewicht fallen, besteht der dringende Verdacht, daß mehr über kurz als lang die alte Vollpost später mit der Ausrede auf den Postpartner auch und doch noch zugesperrt wird, weil ja die billigere Amateurpost allein genügt und den Bedarf deckt. Da wird dann auf dem Umweg über eine Postpartnerstelle die alte Postamtsstelle aufgegeben. So schaun wir aus, sagte Deuth. Traurig schaun wir aus, sagte Ürdinger.

Übrigens, Franz, sagte Deuth zu Blumauer, es wird dich, hellhörig wie du bist, vielleicht interessieren und es wird dir aufgefallen sein, daß die Post-AG jene Hoffnungsgebiete für zusätzliche Postpartner »Potenz«- oder »Potenzialgemeinden« nennt, wenn du daraus auch wahrscheinlich die falschen Schlüsse ziehst. Potenzialgemeinden sind nämlich nicht solche, in denen viele potente Menschen oder Männer wohnen. Es handelt sich vielmehr um »Hoffnungsgebiete«, »Zukunftsregionen«, die »vielversprechend« sind, sogenannte prosperierende und florierende Ortschaften, die gute Geschäfte, auch oder gerade auf dem Postsektor erwarten lassen.

Die größte Gefahr, liebe Kolleginnen und Kollegen, sagte Karl Deuth zu Ferdinand Ürdinger und Franz Blumauer am Stammtisch »Die Brieftrager« beim Kirchenwirt in Munderfing, obwohl wieder einmal keine Frauen am Tisch saßen, die gefährlichste Gefahr droht unserer Post durch die sogenannte »Privatisierung«. Zu unserer Zeit war die Post die POST, sie hatte vom Staat das Monopol, die Post war der Staat und der Staat war die Post, im Wesentlichen … So wie der Staat in seiner Polizei das Gewaltmonopol hatte und keine privaten »Sicherheitsdienste« mit sogenannten Bodyguards mit Pokerfacevisagen neben ihr duldete, so hatte die Post das Zustellmonopol. Neben ihr hatte niemand etwas zu bestellen oder zuzustellen! Jetzt ist alles privat oder – wie Ürdinger sagt – prifat. Die Prifaten sind aber nur auf die Gewinnmaximierung aus, und darum suchen sie sich den besten Teil vom Kuchen, nur die lukrativsten und saftigsten Filetstücke. Den Rest lassen sie der alten Post. Den Rest werfen sie der alten Post hin, einem ausgehungerten Hund einen abgenagten Knochen! Die Post als Resteverwerter! So steht die Sache und so ist die Lage, meine Damen und Herren, sagte Deuth. Und darum siehst du heute in den Ballungszentren und in den dichtverbauten Gebieten die »prifaten« Zusteller mit ihren glänzenden Paketwagen unterwegs. Die alte Post aber ist auf den verlorenen Posten. Denn draußen auf dem Land und im unwegsamen Gelände siehst du natürlich keinen Prifaten. Das Niemandsland ist der Rayon der alten Post. Das Geschäft auf dem Land ist uninteressant und kein Geschäft sagen sie, die Prifaten, das kann sich die alte Post behalten, sagen sie. Viel Glück! Gute Reise, Herr Brieftrager! Vielleicht nennen sie den Briefträger auch »Landzusteller«, denn diesen Ehrentitel haben die Briefträger von der Politik im Zuge der Postamtsschließungen jetzt verliehen bekommen, wobei ich, Karl Deuth, nicht weiß, wo die Ehre bei diesem neuen Ehrentitel liegen soll. Es soll dieser Titel für den Briefträger auf eine »Kompetenzerweiterung« hindeuten, weil er nämlich nun nicht mehr nur Post aufs Land bringen, sondern auch vermehrt abholen und mitnehmen soll, weil die Post oder Telekom Austria die meisten gelben Postkästen abmontiert hat, in die man früher seinen Brief einwerfen konnte. In der Stadt muß heute einer seine Post vermehrt aufs Amt bringen und auf dem Land dem Briefträger oder »Landzusteller« mitgeben. Briefkasten? Fehlanzeige! Wo einmal die gelben Briefkästen waren, ist jetzt ein Zigaretten- oder Zuckerlautomat. Vielleicht auch ein Präservativautomat? Dafür hat sich der Betonsockel nach dem Abmontieren des Briefkastens ja geradezu angeboten. Jedenfalls ist »Landzusteller« ein »Titel ohne Mittel« und deshalb vielleicht wirklich ehrenhaft und ehrenhalber verliehen. Geschenkt! Grüß mir die Einschichtbauern, sagt der Prifate mit dem »Schnellen Paket« lachend und spottend zum »Landzusteller«, und einen speziellen Gruß auch den Aussiedlern in der Einöde, wenn du sie triffst. Hast du wohl gutes Schuhwerk auch für die unasphaltierten Schotterstraßen und Bergschuhe und genagelte Goiserer, damit du auch die Bergbauern erreichen und heimsuchen und ihnen den »Landboten« oder die Bauernzeitung und den Reimmichl-Kalender bringen kannst? Und grüß uns die Köhler im Weilhartsforst und die Förster und die Forstadjunkten in den Forsthäusern im tiefen, verwunschenen Kobernaußerwald, wo sich die Füchse und die Hasen gute Nacht sagen und die Wildschweine toben, und die Hüttenwirte im »Hochgebirge« des Hausruck! Und grüße mir auch deine Kunden in den Sumpfgebieten, die Schilfschneider im Ibmer Moor, die du sicher in Fischerstiefeln angehen wirst? Und während der prifate Zusteller im städtischen Bereich mit Salonschuhen unterwegs ist und in Sport- und Freizeitkleidern, stecken wir in unseren schweren Stiefeln, eingewickelt und eingezwängt in Wetterflecke und Schladminger. Steckten, muß ich sagen, fast hätte ich vergessen, daß wir in Pension sind. Wenn wir auch im wohlverdienten Ruhestand sind, liebe Freunde, so lege ich für meine Person jedenfalls Wert darauf, daß ich ein pensionierter Briefträger und kein Landzusteller in Ruhe bin. Ich fühle mich ganz als emeritierter Briefträger, auch nicht als Postbote, wie unsere deutschen Freunde jenseits des Inns oder nördlich der Mainlinie gern sagen. Genau genommen bin ich Brieftrager – gewesen … Die richtigen Berufsbezeichnungen werden heute ja in Brüssel, dem Zentrum der EU, normiert und vorgeschrieben. Und den Österreichern ist der Briefträger amtlich konzediert und den Deutschen auch der Postbote zugestanden. Eigentlich hätte sich Österreich ja den BrieftrAger patentieren lassen sollen, die unumgelautete Form, denn in Österreich sagt ja kein Mensch BrieftrÄger! Schließlich steht auf der Tafel über unserem Stammtisch hier in Munderfing auch »Hier tagen die BrieftrAger« und nicht die BrieftrÄger! Ob sie dort in Belgien den Landzusteller schon registriert und in ihr Verzeichnis aufgenommen haben, weiß ich nicht, ist mir auch ziemlich egal, weil ich ein erklärter Freund des Föderalismus bin und mit dem Zentralismus keine besondere Freude habe. Die zentralistischen Imperialisten habe ich aufgeschrieben! Sie sind mir powidel. Es wird ja auch unseren Rauchfangkehrern ziemlich blunzen, das heißt auf Deutsch wurst, das heißt auf Französisch egal sein, ob sie in Brüssel als Rauchfangkehrer oder als Schornsteinfeger geführt werden, wie es sicher auch den Fleischhakkern blutwenig ausmacht, ob sie die »Kommission« als Metzger, Fleischhauer, Schlachter oder Beinhauer oder wie immer tituliert. Brüssel ist eine eigene Geschichte. Unsere Zentrale ist Braunau. Unsere Hauptstadt heißt Linz und nicht Bruxelles. Unser Straßburg liegt in Kärnten an der Gurk und nicht im Elsaß am Rhein. Und, genau genommen, leben wir in Österreich und nicht in Austria … Post.Ö. müßte es heißen und nicht Post.at.

Karl, Karl!, rief Franz Blumauer dazwischen. Du redest heute aber viel und du redest dich ja richtig in Eifer, gesund ist das für einen Pensionisten nicht. Denk an deinen Blutdruck! Vor allem redest du wie die EU-Skeptiker von der Kronenzeitung. Und ich habe immer gemeint, der Ürdinger vertritt an diesem Stammtisch die KRONE und du deine Salzburger Nachrichten. Jetzt kenn ich mich bald nicht mehr aus …

Da meldete sich Ürdinger: Ich vertrete hier gar nichts und schon gar keine Zeitung. Ich habe keine veröffentlichte, sondern meine eigene Meinung und einen gesunden Hausverstand. Zufällig deckt sich bei diesem Thema meine Meinung mit der vom Karl. Ich könnte mich aber nie so aufregen wie der Karli. Dazu bin ich viel zu sehr Fatalist. Ein Landwirt wird schon durch das Wetter zum Geduldmenschen erzogen.

Und Bierist, sagte Blumauer, und: Das Bier hat bekanntlich eine sedative Wirkung, es macht dick und träge. Einer, der so gern sein Riedkerdinger trinkt wie der Ferdinand, wird bestimmt keine Revolution, nicht einmal eine Revolte anzetteln. Auf die Barrikaden steigt der Biertrinker nur, wenn der Bierpreis steigt …

Deuth ließ sich aber durch dieses Zwischenspiel mit Ürdinger und Blumauer nicht abhalten, seine invektive Attacke fortzusetzen, wenn er auch im Folgenden weniger die EU, sondern den Kapitalismus ins Visier nahm, der ihm auch für die Übel des Niedergangs der alten Post verantwortlich schien. Er sagte: Den neuen »Privatisierern« und »Globalisierern« und den Turbokapitalisten, die sich im »Rationalisieren« und das heißt auch im Entlassen oder »Freisetzen von Mitarbeitern« bewähren und hervortun und auszeichnen und dafür mit sogenannten Boni und Gratifikationen ausgezeichnet und belohnt werden, die sich an der neuen Armut bereichern, die nichts im Sinn haben als Fusionen, Insidergeschäfte und feindliche Übernahmen, muß man den Kampf ansagen. Diesen Raubrittern, sagte Deuth, die sich auch noch scheinheilig als »Schwarze« und »Christlichsoziale« geben, würde ich als Bischof oder Pfarrer nicht nur den Segen, sondern auch die Absolution verweigern. Denen würde ich auch beim Begräbnis noch eher einen Fluch als ein Trostwort nachsagen und hinüberschicken … Die gehören exkommuniziert, sagte Deuth. Nicht die Kommunisten, die der Papst seinerzeit exkommuniziert hat, wo doch jeder weiß, daß der Kommunismus zumindest theoretisch und sozialpolitisch dem Christentum, jedenfalls dem Ur- und Frühchristentum, recht nahe verwandt ist. Sicher, wenn ein Kommunist ein rabiater Materialist und militanter Atheist ist, dann hat er sich eh schon selbst von der Kirche absentiert.

Nimm’s nicht so schwer, Karl, sagte Blumauer begütigend. Denk an den Onkel Dagobert und lach dich krank oder gesund über das lächerliche Geldscheffeln. Gold kann man nicht fressen, hat Konrad Lorenz gesagt. Nimm es von der heiteren Seite!

Ich will es aber schwer nehmen und mich dadurch erleichtern, sagte Deuth, und dann: Haben wir noch ein bisserl Zeit?

Zeit en masse, sagte Blumauer, ich habe mir gerade noch Debreziner in Saft bestellt. Wir gehören nicht zu jenen Pensionisten, die immer keine Zeit nicht haben …

Das ist gut, sagte Deuth, dann würde ich mich gern noch einmal stark machen und das Argument der Privatisierer entkräften, daß Konkurrenz die Wirtschaft stärkt und belebt und dem Konsumenten zugute kommt. Geht’s der Wirtschaft gut, geht’s uns allen gut! Welche Konsumenten sollen denn da gemeint sein? Doch nur die reichen, die übrigbleiben, denn die Freigesetzten und Wegrationalisierten fallen dann ja wohl als Konsumenten auch flach. Um die soll sich dann wohl das Sozialamt oder die Caritas oder die Diakonie oder »Licht ins Dunkel« annehmen. Die materialistische Wirtschaft, diese moralisch verkommene Mißwirtschaft kennt keine Menschen, sondern nur Konsumenten. Der Markt wartet auf Kunden, und da kommen dummerweise Menschen daher … Der Konsumentenmensch ist so viel wert, wie er Geld im Portemonnaie hat. Wenn der Mensch keine materiellen Werte und keine Wertsachen besitzt, ist er wertlos. Ein Muster ohne Wert und Wertkarte.

Rührend, sagte Deuth, ja wirklich rührend finde ich das Argument der Bundeswirtschaftskammer, das da lautet, mit der Postpartnerschaft würden zwei Fliegen auf einen Schlag erledigt, die Post würde rationalisiert, und die Postpartner, vor allem die Greißler, bekommen durch das Zusatzeinkommen ein neues Standbein und werden dadurch gestützt und stabilisiert. Ja, sagte Deuth, da wird ja das Postfilialensterben gegen das Greißlersterben als Medikament eingesetzt. Das neue Standbein ist aber aus Holz und eine Prothese. Denn wenn die Landposten wirklich so marod wären, wie die »Sanierer«, wie sie sich nennen, behaupten, dann führt wohl bei der neuen Konstellation ein Lahmer einen Blinden oder ein Blinder einen Lahmen, je nachdem, wie man es nimmt und den Vergleich anlegt. Leider Gottes, sagte Deuth, sterben ja nicht nur die Landposten und die Greißler, sondern auch das Land selbst stirbt aus. Zwei Drittel der Österreicher, steht in der Zeitung, leben in Städten und die Landflucht hält unvermindert an. Die Gendarmerie verschwindet und die Pfarreien verschwinden und die Post verschwindet und die Greißler verschwinden. Das Land hat die Schwindsucht. Schwindelerregend! Hand in Hand, sagte Deuth, untergehakt und eingehängt ziehen der Gendarm und der Pfarrer und der Postmeister und die Gemischtwarenhändlerin die Dorfstraße hinaus.

Oh, Ferdinand, oh, Franz, wie haben wir in unserer Jugend bei der Landjugend oder vielleicht auch bei den »Roten Falken« oder bei den Pfadfindern das Lied »Aus grauer Städte Mauern ziehn wir durch Wald und Feld« oder auch »Wem Gott will rechte Gunst erweisen, den schickt er in die weite Welt …« gesungen, ja geschmettert! Ein Lied, das der Gendarm und der Pfarrer und der Postmeister auf ihrem Abschieds- und Trauermarsch aus dem Dorf hinaus singen könnten, fällt mir aber nicht ein. Vielleicht »Muaß i denn, muaß i denn zum Städtele hinaus?«, oder »zum Ländle hinaus?« Ich glaube, daß man bei Nikolaus Lenau oder Joseph von Eichendorff oder Ludwig Uhland etwas Passendes finden könnte … Da würde ja eigentlich nur ein Requiem passen und eine todtraurige Musik. Die Kärntner mit ihrem Thomas-Koschat-Lied »Verlossn, verlossn, verlossen bin i« hätten da vielleicht das stimmige Gsangl! Ja, ist denn das Land überhaupt nur noch das Gebiet vor der Vorstadt, wo die Städter ihre Land-, Ferien- und Wochenendhäuser haben? Ein Mensch, der auf sich hält, hat auf dem Land einen Zweitwohnsitz, seinen Hauptwohnsitz und Lebensmittelpunkt in der City und seine Datscha oder sein Chalet oder mindestens sein Schrebergartenhäuschen im Grünen auf dem Lande.

Erinnert ihr euch eigentlich noch an die vielen sogenannten Nachsendeaufträge, die wir damals bedienen haben müssen, Kollegen? Nicht nur die Zeitungen, sondern auch die private Post haben sich die Zweitwohnsitzer nachschicken lassen, und das nicht nur zur Weihnachtszeit, wenn sie sich wie im Sommer oder in den Semesterferien länger bei uns aufgehalten haben, sondern oft auch nur fürs Wochenende. Und in ihre luxuriösen Villen haben die Herrschaften auch oft noch ihre Verwandtschaft eingeladen und einquartiert. Die haben auch noch Post mit dem C/O-Vermerk auf der Adressenangabe auf dem Kuvert gekriegt, nachgesendet und umgeleitet und dreimal abgestempelt und mit Dienstvermerken auf der Vorder- und Rückseite. Und unterfrankiert oft auch noch!

Ich, sagte Ürdinger, habe solche Briefe mit dem C/O und zwei Familiennamen meistens mit dem »Adressat hierorts nicht bekannt« oder »Adressat verzogen« an die Absender zurückgeschickt. Ich habe mich als Briefträger, aber nicht als Detektiv verstanden und gefühlt.

Ja, sagte Deuth, ich weiß, eine von deinen Eigenarten, nein, eigentlich Eigenmächtigkeiten, lieber Brieftrager und Nebenerwerbslandwirt.

»Uneigennützigkeiten«, korrigierte Ürdinger. Ich habe ja gar nicht gewußt, was das C/O bedeutet, wie hätte ich da entsprechend amtshandeln sollen? Maier C/O Müller C/O Schulz. Ja, bitte an wen nun, habe ich dann gern gesagt und »Adressat hierorts nicht bekannt« gestempelt. Ich habe ja schon auf die vielen Doppelnamen, die damals aufgekommen und in Mode gekommen sind, eine Wut gehabt. Plötzlich haben alle Doppelnamen gehabt, vor allem natürlich die Frauen. Keine wollte mehr den Namen ihres Mannes annehmen, bis überhaupt die Männer den Namen der Frau angenommen oder jeder und jede ihren oder seinen Namen behalten hat. Verkehrte Welt! Die Geschichtswissenschaft wird es bei diesem Tohuwabohu einmal schwer haben, wenn sie sich in unseren Verhältnissen auskennen möchte, was sie aber vielleicht eh nicht besonders interessieren wird. C/O, was soll denn das, Müller-Maier-Schulz! …

Ja, sagte Deuth, das hättest du aber nur die liebe Blumauerin, die Gattin des Franz und unsere »Anglistin« fragen müssen, und die hätte dir die Abkürzung als care of aufgeschlüsselt und ins Deutsche oder auch ins ürdingerische Bayrisch-Österreichische übersetzt.

Ach, sagte Ürdinger, hat das etwas mit den Care-Paketen zu tun gehabt? Vom Wort her schon, sagte Deuth, der Sache nach aber nicht. Hättest du dein Trinkgeld statt in Bier in einen Duden und in ein Fremdwörterbuch investiert, dann hättest du unter care of etwa die Bedeutung »wohnhaft bei« gefunden, mit der ich selbst als Amateursprachwissenschaftler freilich nicht einverstanden bin, weil sie mir zu frei ist. Ich würde care of mit »entsorgen bei« übersetzen, oder »einwerfen bei«, briefträgerisch gesprochen. Damit meine ich also nicht deine Art Entsorgung, lieber Ferdinand, im Papierkorbe im Amte! Oder gar in die Fluten der Mattig, was Gott verhüten möge! Du hast halt eher gehandelt, als heiße es »care off«, off also mit ff. Du hast die fragwürdige Post ins »Off« und ins »Out« befördert. Und was off und out bedeuten, das, glaube ich, weiß jeder Mensch, ganz sicher aber ein Anhänger des FC Mattighofen wie du, Ferdinand. Schließlich weißt du ja auch, was Foul und was Corner bedeutet, wahrscheinlich sogar Penalty und Goal.

Ich bin so libero, sagte Ürdinger. Für heute ist das Match geschlagen. Finish! Theresia, rief er der Kellnerin, wir wollen zahlen!

Wollen nicht, sagte Blumauer, müssen!

Stammtisch 3

Grau ist alle Theorie, doch grün des Lebens gold’ner Baum, sagte Franz Blumauer eine Woche später beim Stammtisch beim Kirchenwirt in Munderfing. Du, lieber Karl, hast uns vorige Woche aber tief in die Theorie eingetunkt. Darf heute einmal ich zur Abwechslung die Themenhoheit in Anspruch nehmen und etwas wirklich Grünes und Lebendiges und Spritziges aus dem reichen Schatz der Erotik zu Gehör bringen?, fragte Blumauer.

Schieß los, Franz, sagte Ürdinger.

Langsam!, sagte Blumauer. Geschossen wird erst am Schluß. Aber kriminell geht es bei meiner Geschichte, die euch mitzuteilen ich die Ehre habe, auch zu. Das kann ich euch versprechen. Eigentlich wollte ich euch die Geschichte ja mit meinen eigenen Worten erzählen, nacherzählen und ein wenig ausschmücken. Ich bin aber mit dem Umschreiben noch nicht so weit. Der Schlüsselroman, den ich schreiben und dann unter einem Pseudonym veröffentlichen werde und mit dem ich endlich reich zu werden hoffe, ist für heute noch nicht fertig geworden.

Interessant, sagte Deuth, das ist ja spannend, und: Es handelt sich also um ein delikates Thema?

Äußerst heikel, sagte Blumauer, aber auch bildungsmäßig niveau- und anspruchsvoll. Die Geschichte soll ja nicht gleich ins Ordinäre, Obszöne oder gar ins Pornographische abgleiten. Sie spielt schließlich im Akademikermilieu. Ja, Franz, fragte Deuth, schreibst du, pensionierter Briefträger, da nicht ein wenig über deine Verhältnisse? Wo ist die Oberschicht und wo sind wir? Die da oben, wir hier unten!

Und von der Macht der Phantasie hast du, Charles, noch nie etwas gehört? Außerdem rechne ich mit deiner Unterstützung! Ich will, sagte Blumauer, nicht wie der Felix Salten eine »Josephine Mutzenbacher« schreiben, obwohl es handlungsmäßig gewisse Parallelen geben wird. Und weil es sich beim Helden meiner Erzählung um einen Nachhilfelehrer und Lateinprofessor handelt, würde ich mich auch gern ein wenig deiner Hilfe bedienen, lieber Latinist Karl Deuth. Bist du zu dieser »Nachhilfe« bereit?

Ja, wenn es nicht gegen die guten Sitten und den Anstand verstößt, schon, sagte Deuth.

Die erotische Kompetenz liegt bei mir, sagte Blumauer, der Frauenversteher. Da kenn ich mich aus. Bei dem, was ich von dir erfahren und profitieren möchte, geht es eher um Latein und Griechisch und um deine Dienste als Linguist und Philologe.

Hobbylinguist, Amateurphilologe, verbesserte ihn Deuth mit einem Bescheidenheitstopos. Ich muß natürlich vorsichtig sein, lieber Franz, denn wenn du Griechisch oder Französisch sagst, kann man ja nie sicher sein, ob du wirklich nur die Sprachen meinst und nicht etwas Anzügliches ansprichst …

Karl, sagte Blumauer heftig und spaßhaft-beleidigt, für wen hältst du mich? Hast du je aus meinem Munde etwas Unseriöses oder gar Obszönes gehört?, fragte Blumauer. Mach’s nicht so spannend, sagte jetzt Ürdinger ungeduldig. Um was geht es denn?

Da zog Blumauer aus seiner alten, umfunktionierten Briefträgertasche, in der er seit seiner Pensionierung seine privaten Papiere, aber auch Einkäufe herum- und nachhause trug und die ihm sein Arbeitgeber sozusagen zum Andenken an seine aktive Zeit in den Ruhestand mitgegeben hat, da zog er also aus diesem abgewetzten Stück Schweinsleder nach Öffnen des Schnappverschlusses einen Zeitungsartikel einer Wiener Zeitung vom Donnerstag, dem 29. Oktober 2009, heraus und begann vorzulesen:

Latein-Nachhilfe in der Badewanne!

Oberstudienrat vergriff sich an 17-jähriger Tochter eines Freundes: sechs Monate bedingt, Berufung Von Ricardo Peyerl

Ob sie ihn »da unten« berührt habe, will der Richter wissen. »Ach«, seufzt der Beschuldigte wehmütig. Und ob ihr das nicht unangenehm gewesen sei? »Aber woher, bitte schön, die hat ja ihre Freude dabei gehabt.«

Nun muß man dazu wissen: Er ist 58 und Oberstudienrat, Gymnasialprofessor für Latein, und gab ihr Nachhilfe; sie war zum Zeitpunkt der Vorkommnisse im heurigen Sommer 17 und ist die Tochter seines alten Freundes. Mißbrauch des Autoritätsverhältnisses, sagt der Staatsanwalt dazu.

Beim Tarockspiel ersuchte der Freund den Lehrer, dem Mädchen Nachhilfe in Latein zu geben, damit sie dem »Nachzipf« gewachsen sei. Der Angesprochene wollte sich »nicht die Ferien versauen lassen«. Er geht gern auf die Donauinsel zum FKK-Baden, das Mädchen könne ja mitkommen. Nikki (Name geändert) war zwar nicht begeistert, aber der Vater bestand darauf. Immerhin war die Nachhilfe fast gratis, man brauchte den Freund nur auf ein Abendessen einladen.

Richter Roland Weber: »Und daß nackt Nachhilfe erteilt wird, da fanden Sie nichts dabei?«

Der Vater: »Ich wußte, daß er keine Badehose hat.« Auch eine Erklärung.

Der Oberstudienrat fühlte sich in der Rolle des Mädchen-Verstehers. Nikki habe es am FKK-Strand cool gefunden, man habe über die »Beschaffenheit männlicher Glieder« und über Intimrasur gesprochen, »wie das halt so ist«. Eines Tages war Regenwetter, deshalb wurde die Nachhilfe in seine Wohnung verlegt (seine Ehefrau war gerade arbeiten), wo man schließlich in der Badewanne landete. »Jeder hat ein Buch in der Hand, mehr braucht man nicht«, sagte er. Oder vielleicht doch: Einen Martini für ihn, »an dem sie nur genippt« habe. Dann soll sie auf einmal verlangt haben, ihr »das mit der Erektion« zu zeigen. Er habe gesagt, na, dann solle sie es doch ausprobieren »und da ist es halt passiert«. Hinterher forderte er sie auf: »Hände waschen«, denn Ordnung muß sein.

Im Nachhinein ist das ein bisserl »unangenehm, man geniert sich halt«, aber nicht sehr: Reue empfindet der Oberstudienrat nicht, »ich hab sie ja nicht berührt um Gottes willen«.

Nikkis Vater reichte es, nach 40 Jahren die Freundschaft zu beenden. Die Tochter habe daheim geweint und ihm alles erzählt. Dem Stadtschulrat reichte es für Suspendierung und ein Disziplinarverfahren, eine Beamtin schrieb im Prozeß eifrig mit. Dem Richter reichte es für sechs Monate Haft auf Bewährung, die dem Ankläger nicht reichen, er will mehr Strafe. Der Beschuldigte geht in Berufung.

Die Nachprüfung hat Nikki übrigens bestanden.

Nun, Karl und Ferdinand, fragte Blumauer, wie beurteilt ihr den Fall?

Lieber Franz, sagte Deuth, da stellt sich die Frage, wie man den Casus als Jurist, oder als ein an der Gerechtigkeit Interessierter, oder wie man ihn als Psychologe, oder wie man ihn als »Lateiner« vom römischen Recht her beurteilt. Ja und die Leistung des Journalisten und Reporters, des Gerichtssaalreporters müßte man vielleicht auch berücksichtigen. Man muß einen solchen Bericht also in vielerlei Hinsicht »erforschen«, nicht nur das Urteil »würdigen«. Die wichtigste Frage ist sicher, was die »Urteilswürdigung« betrifft, die juristische. Und da würde ich sagen, wenn du mich fragst, ein glattes Fehlurteil. Wie kann denn ein Mensch und Mann und älteres Semester in der Weise an einem anderen Menschen, einem 17-jährigen Mädchen, das immerhin bereits wählen gehen und in jedem Geschäft einkaufen und am Abend, wie es ihm gefällt, ausgehen darf, das sogar jetzt auch den Führerschein »machen« kann, in dieser Zeit und in unseren Breiten so schuldig werden, daß er ein halbes Jahr dafür aufgebrummt bekommen kann, wenn auch auf Bewährung. Der Richter hat sich nicht bewährt und es gibt berechtigte Kritik an seiner Urteilskraft! Gewalt war ja offenbar nicht im Spiel. Von Vergewaltigung ist doch keine Rede. Der Oberstudienrat hat sich dem Mädchen höchstens »unschicklich«, vielleicht auch »unsittlich genähert«. Überfallen und überwältigt hat er es nicht. Daß das Mädchen, das naiver – oder aber raffinierter – gewesen ist, als die Polizei erlaubt, am Schluß geweint und sich beim Vater, der ja nun eine mehr als merkwürdige Rolle spielt und sich schon fast wie ein Kuppler verhält, ausgeweint hat, ist noch kein Beweis für eine schwer- und hochkriminelle Handlung. Am Schluß weinen kann bald wer! Show me, erklär mir Liebe …, das können doch heute eher die Alten, also wir, die Jungen fragen. Nicht nur in der Handhabung des Computers sind die Jungen heute den Alten haushoch überlegen, auch beim Thema Nummer 1 können die Jungen eher die Alten als umgekehrt aufklären. Lieber Franz, natürlich muß man sich entrüsten und regt man sich wohl nicht nur künstlich, sondern ehrlich über Übergriffe und Vergewaltigungen auf, bei manchen Gerichtsreportagen von der Art dieser Geschichte aber, mit der du uns da bekannt gemacht hast, sind gewisse Zweifel angebracht. Und es darf auch gelacht werden. Ist das nicht eine erotische Komödie der besonderen Art? Wer könnte so etwas anhören oder lesen, ohne leise durch die Zähne zu pfeifen … Ich muß aber, um mich verständlich zu machen, ein wenig weiter ausholen. Darf ich?

Hol aus!, sagte Blumauer.

Da holte Deuth aus: Papst Pius II., Enea Silvio Piccolomini, hat in seiner Frühzeit eine Liebesgeschichte mit dem Titel »Euryalus und Lucretia« nach der Art antiker Novellen geschrieben, in klassischem Latein natürlich, eine unchristliche oder vielmehr eine »vorchristliche« Geschichte. Und weil es eine Ehebruchsgeschichte ist, stellt sich am Rande natürlich die moralische Frage nach der Schuld, die Enea Silvio aber ganz nach der alten, von Ovid her bestimmten Weise recht milde beurteilt. Wenn nämlich, sagt er sinngemäß, die Versuchung und der Lustgewinn, die im Fehltritt oder im Seitensprung gegeben sind und gewährt werden, wenn man ihnen erliegt, so groß sind, kann die Schuld des Fehltretenden und des Seitenspringers nicht so groß sein. Die Überwindung, der Versuchung nicht nachzugeben, kann man dem schwachen Menschen nicht zumuten. Das hieße, das Unmögliche von ihm verlangen! Man kann kein Märtyrertum verlangen und erwarten, daß sich der arme Mensch martern läßt!

Wie, fragte Blumauer, das hat ein Heiliger Vater gesagt oder geschrieben?

Ja, sagte Deuth, ich kann’s nicht ändern. Und er schreibt auch, wie es dem großen Liebesdichter, dem erwähnten Ovid, entspricht, daß die Götter und vor allem der oberste Gottvater Jupiter den Casus sicher sehr nachsichtig und milde beurteilen wird, weil er sich ja selbst immer wieder der Versuchung ausgesetzt hat, wie es die Mythologie berichtet, und wiederholt schwach geworden ist und gesündigt hat, wenn man das Wort »Sünde« hier überhaupt verwenden kann. Unseren »Beichtspiegel« hat Jupiter offenbar nicht gekannt … Er hat seine angetraute Hera nicht nur einmal betrogen … Eine der Buhlschaften ihres untreuen Göttergatten hat die eifersüchtige Hera aus Rache sogar in eine Kuh verwandelt. Ich sage euch, Ferdinand und Franz, da geht’s zu wie in Sodom und Gomorrha. »Eidbrüche Verliebter übersieht Jupiter lächelnd«, heißt es bei Enea Silvio, wenn ich mich recht erinnere.

Ja, lieber Franz, sagte Deuth, und damit sind wir nach dem eigentlich Juristischen auch schon beim Klassischen und vielleicht bei der Situation deines Lateinlehrers, dessen Geschichte du uns aus der Zeitung vorgelesen hast. Dieser Mensch, dieser »Adjutor«, wie die Lateiner einen Nachhilfelehrer nennen würden, hat sich durch seine ständige Beschäftigung mit dem Altertum und seine »Studien« ein wenig in die Vergangenheit verrannt und verirrt. Hat er sich »verstudiert«? Sein eigentlicher Fehler war vielleicht, daß er zu viel Ovid gelesen hat, die »Liebeslieder« und die »Liebeskunst« … Und da hat er sich Sachen herausgenommen, die in der Antike geläufig waren, aber mit der Zeit abgekommen und aus der Mode gekommen sind. Ich will ja gar nicht von der »Knabenliebe« der Griechen reden, weil das Erotische, das Homoerotische oder gar Pädophile im Falle des Nachhilfelehrers, der sich »vergriffen« hat, wie es in deiner Geschichte, lieber Franz, recht zweideutig heißt, gar keine Rolle spielt.Von diesen »Verirrungen« der Pädagogen und Erzieher, die gerade jetzt das beherrschende Thema in Welt und Kirche geworden sind, ist hier nicht die Rede. Der Oberstudienrat hat sich in seiner »Verwirrung« aber Sachen erlaubt, die ihm als heute anstößig und unanständig nicht zugestanden sind. Die Alten, sagte Deuth zu seinen beiden Stammtischbrüdern und Pensionistenkollegen, hatten ein Sprichwort, das ich euch der Einfachheit halber und aus Rücksichtnahme gleich ins Deutsche übersetze, obwohl es im Lateinischen viel schöner klingt, weil es dort ein Wortspiel ist: Was dem Jupiter erlaubt ist, darf ein Ochs noch lange nicht. Manche übersetzen auch »Stier« statt »Ochs«. Denn ein Ochs könnte ja gar nicht, was ein Stier nicht dürfen soll … Ganz Schlaue ziehen sich mit der Übersetzung »Rind« aus der Affäre. Vielleicht hat der Nachhilfelehrer, der ja eigentlich Latein und nicht Sexualkunde unterrichten hat sollen, sich halt auch einmal in seinem Fach und im Stundenplan geirrt … Vielleicht hat er als Klassenvorstand auch einmal eine Maturareise nach Italien führen müssen und hat mit den Schülern und Schülerinnen auch Pompeji besichtigt und dort die Freudenhäuser besucht, die man von der Asche und der Lava des Vesuvs nach dem Ausbruch im Jahre 79 nach Christus befreit und freigelegt hat und mit den Maturanten, die dem Wort nach auf jeden Fall »reif« sind, weil maturus ja »reif« bedeutet, die Inschriften an den Wänden, die die Freier dort hinterlassen haben, angesehen, studiert und übersetzt. Eigentlich sind diese Inscriptiones, das heißt Inschriften, ihr Lieben, Jugendverbot. Schulklassen dürfte man dort gar nicht hinbringen, nur Pensionistenvereine. Diese Inschriften aus Pompeji füllen Bände und lassen an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Natürlich sind sie lateinisch, das macht die Sache erträglich. Und lateinisch redet ja heute auch der Arzt, meinetwegen der Urologe, wenn er etwa die Geschlechtswerkzeuge benennen muß, seien es die des Mannes oder die der Frau. Leider verschweigt dein Gerichtsreporter, lieber Franz, anhand welcher Literatur der »Nachhelfer« und seine Schülerin in der Badewanne, weil es geregnet hat und der Betrieb im freizügigen Freibad des Gänsehäufel nicht stattfinden hat können, mit Hilfe welcher Texte die beiden, sich in der Wanne gegenübersitzend, Latein gelernt haben. Haben sie Ovid gelesen? Oder gar »Decius war hier«, eine berüchtigte Sammlung von Closett- und Bordellsprüchen? Da das Mädchen nach bestandener Nachprüfung – »Nachzipf« in deiner Geschichte, Franz, klingt auch nicht ganz unobszön – ja in die Maturaklasse aufsteigen wird oder inzwischen nach bestandener Prüfung sicher aufgestiegen ist, könnte es schon Ovid gewesen sein. Aber auch bei Livius, selbst beim langweiligen Livius gibt es entsprechende »Stellen«. Den Namen Lucretia habt ihr sicher auch schon gehört?, fragte Deuth seine Stammtischbrüder.

Mein Name ist Hase, sagte Ürdinger.

Mir kommt er bekannt vor, sagte Blumauer.

Was, liebe Kollegen, zwischendurch gefragt, haltet ihr eigentlich von der heutigen Art der Maturareisen?, fragte Deuth.

Wie, was, was soll damit sein?, fragte Blumauer, und Ürdinger: Lieber Karl, du wirst uns schon sagen, was davon zu halten ist. Ich weiß von nichts.

Ja, habt ihr denn noch nie gelesen oder gehört, wie sich heute solche sogenannte Maturareisen abspielen?

Nein, wie denn?, fragte Ürdinger.