Ein verhängnisvoller Stopp , Vogelsberg , Hessen , Cosy Crime , Regionalkrimi - Cynthia Lotz - E-Book

Ein verhängnisvoller Stopp , Vogelsberg , Hessen , Cosy Crime , Regionalkrimi E-Book

Cynthia Lotz

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  • Herausgeber: tredition
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2022
Beschreibung

Das moderne Leben auf dem Land, weit entfernt von den Klischees der 50er Jahre, in einer der unbekanntesten Ferienregionen Deutschlands, dem Vogelsberg, wird hier im Rahmen eines Krimis den Lesern näher gebracht. Nora Nieberg, ihre Tante Ulla und ihre Freunde lösen gemeinsam Kriminalfälle in einem kleinen Ort namens Bergental. Spannung, Witz und reichlich gutes Essen kommen darin genauso vor wie die überraschende Lösung, die jedoch auch vom aufmerksamen Leser erraten werden kann.

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Seitenzahl: 302

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Cynthia Lotz

Ein verhängnisvoller Stopp

Nora Nieberg ermittelt

©2022 Cynthia Lotz

ISBN Softcover:

978-3-347-76378-4

ISBN Hardcover:

978-3-347-76379-1

ISBN E-Book:

978-3-347-76380-7

ISBN Großschrift:

978-3-347-76381-4

Druck und Distribution im Auftrag der Autorin:

tredition GmbH, An der Strusbek 10, 22926 Ahrensburg, Germany

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist die Autorin verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne ihre Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag der Autorin, zu erreichen unter: tradition GmbH, Abteilung 'Impressumservice', An der Strusbek 10, 22926 Ahrensburg, Deutschland.

Prolog

Die Sonne brannte erbarmungslos auf das Dach des Wagens.

Sie lag auf der Rückbank und krümmte sich vor Schmerzen.

Der Jeep fuhr schnell die holprige Straße entlang. Bei jedem Schlagloch befürchtete sie, das Bewusstsein zu verlieren. Da sie inzwischen jedes Zeitgefühl verloren hatte, wusste sie nicht, wie lange sie bereits unterwegs waren.

Sie ahnte, wenn der Tag vorüber war, würde nichts mehr so sein wie zuvor. Es gab kein Zurück mehr.

Als der Wagen abrupt stoppte, hörte sie mehrere Stimmen.

Das war das Letzte, was sie vernahm, bevor ein Schwall Blut das Leben aus ihr herausspülte und ihr das Bewusstsein schwand.

Mittwoch, 02. Juni

Der Sommer in Bergental war herrlich. Er hatte dieses Jahr schon mit aller Macht im Mai begonnen. Inzwischen blühten und gediehen die meisten Pflanzen. Das Gras hatte eine wunderschöne grüne Farbe und wuchs fleißig. Das würde zu einer sehr guten Heuernte führen. Immer wehte ein leichter Wind. Die Luft blieb ständig in Bewegung und staute sich nicht zwischen den Häusern.

Nora schwang sich auf ihr E-Bike und fuhr zum Bauernhof von Franka und Dirk.

Im Eingangsbereich des Hofes begegneten ihr mehrere Kinder. Diese interessierten sich für den neu gestalteten Streichelzoo von Franka.

In einem großzügigen Gehege befanden sich einige Kaninchen und Meerschweinchen. Ein paar Meter neben dem Kleintiergehege war der Auslauf der Shetlandponys Meiko und Poppy. Dort standen zwei Jugendliche, die Nora nicht kannte. Meiko und Poppy bemühten sich um deren Aufmerksamkeit, aber den Jungen reizte mehr der Traktor in der Scheune gegenüber und das Mädchen war in ihr Handy versunken. Die Ponys wandten sich ab und versuchten, das Interesse der anderen Kinder zu wecken, was ihnen schließlich auch gelang.

Franka und Dirk waren Noras Freunde, seit sie nach Bergental gezogen war. Franka war gebürtige Holländerin, lebte aber bereits 25 Jahre mit Dirk auf dem Hof, den er von seinen Eltern geerbt hatte.

Sie hatten ihn umgehaut und vermieteten nun Fremdenzimmer. Es kamen Wanderreiter, Radtouristen und Städter, die Urlaub auf dem Bauernhof machen wollten. Auch Übernachtungsgäste, die auf dem Weg zu oder von ihrem Urlaubsort nur einen kurzen Stopp einlegten, wurden herzlich willkommen geheißen.

Man konnte bei Ihnen ,Bed & Breakfast‘ buchen oder auch Übernachtung mit Frühstück und Abendessen. Franka war eine begnadete Köchin und eine leidenschaftliche Gast-geberin. Sie kümmerte sich um das Essen, die Gäste, die Gästezimmer sowie die Organisation der Reservierungen und die komplette Buchführung des Hofes. Dirk betrieb den Biohofladen, dessen Sortiment immer größer wurde, brachte das Heu, das Stroh und den Hafer für die Tiere ein und reparierte alles, was bei ihnen oder den Gästen, zu reparieren war.

Fremde auf dem Hof anzutreffen war nichts Besonderes, sondern der Normalfall.

Als Nora Frankas Küche betrat, saß diese mit Sina am Küchentisch. Sina war die Enkelin von Oma Pötschke, Noras Nachbarin, noch Schülerin und stand kurz vor dem Abitur. Sie half Franka oft und gern auf dem Hof bei den Tieren. Franka meinte, der eigentliche Engel des Hofes sei Sina. Das führte meist dazu, dass Sina errötete und sich schnell mit irgendetwas beschäftigte. Eine weitere Aufgabe von Sina bestand darin, sich um die jugendlichen Gäste zu kümmern, die niemanden auf dem Dorf kannten und sich deshalb langweilten.

Franka hatte Sina gerade mitgeteilt, dass die zwei anwesenden Jugendlichen, die Nora bei den Ponys gesehen hatte, Markus und Nina hießen und aus Recklinghausen kamen. Markus war 16 Jahre alt und Nina zwei Jahre jünger als ihr Bruder. Sie waren mit ihren Eltern Elke und Harald Krauß angereist. Die Eltern hofften, ihren Kindern, mit einem Urlaub auf dem Bauernhof das ländliche Leben und die Natur näher bringen zu können, und ihnen damit ein alternatives Konzept zum Großstadtleben zu zeigen. Bisher war dies aber noch nicht gelungen. Nun sollte Sina den Teenagern die Jugendlichen des Dorfes vor-stellen und hoffen, dass die Sozialkontakte helfen würden, ein positiveres Bild vom Leben auf dem Land zu vermitteln.

Sina begrüßte Nora und fragte sie, ob sie heute schon ihre Oma gesehen hätte.

„Ja, aber ich habe nicht mit ihr gesprochen. Sie stand mit Ulla am Zaun und die beiden unterhielten sich.“

Das beruhigte Sina, die sich immer Sorgen um ihre Großmutter machte. Gleich darauf ging sie zu Markus und Nina.

„Hast du noch weitere Gäste?“, fragte Nora.

„Herbert und Sieglinde Schmitz aus Wuppertal sind noch hier. Sie sind ein sehr nettes, älteres Ehepaar. Sie haben ihre E-Bikes dabei und erkunden damit die Umgebung. Sie haben insgesamt zwei Wochen gebucht. Ausgesprochen angenehme Gäste. Im Laufe des heutigen Tages reisen zwei weitere Ehepaare an. Sie hatten zusammen Urlaub im Süden gemacht und werden hier ein paar Tage bleiben, um sich Alsfeld und Marburg anzusehen, und danach die Heimreise fortsetzen.“

„Ich wollte euch und eure Gäste am Samstag zu unserem Straßenfest einladen. Das Wetter soll herrlich werden.“

„Das ist eine großartige Idee. Ich kläre das ab und gebe dir Bescheid.“

Nora verabschiedete sich von Franka und ging zu Dirk in den Laden. Sie kaufte dort etwas zum Abendessen ein und machte sich dann auf den Weg nach Hause, als zwei Autos mit niederländischen Kennzeichen auf den Hof einhogen. Beide Wagen waren mit Fahrrad-trägem ausgestattet und darauf befanden sich todschicke Mountainbikes. Eines war sogar ein Fatbike. Die Räder waren voller Schlamm. Die neuen Gäste waren offensichtlich sehr sportlich.

Donnerstag, 03. Juni

Der Tag begann ruhig und angenehm.

Als Nora aufstand, strömte bereits Kaffeeduft durchs Haus. Es war ein echter Glücksfall für sie, ihre Tante Ulla bei sich zu haben. Diese hatte schon Kaffee gekocht, die Katzen Robin und Satchmo gefüttert und auch Woody, den mittelgroßen Mischlingshund, der inzwischen etwas über ein Jahr alt war und vor Energie sprühte. Oliver, Noras Freund, war Tierarzt und bereits zu einem kranken Tier unterwegs. Das Wetter würde heute herrlich werden und ihr Leben fühlte sich perfekt an.

Nachdem Nora mit ihrer Tante eine Tasse Kaffee getrunken hatte, zog Ulla Woody sein Geschirr an und brach zu ihrer Vormittagsrunde auf. Ihr blinder Freund Karli saß noch nicht auf seiner Bank, deshalb ging Ulla zuerst zu Dirk in den Hofladen und kaufte Brot und Gemüse. Beides würde Dirk nachmittags zu Nora bringen, wenn er vorbeikäme, um seine Stuten hinter Noras Haus zu versorgen. Dann ging sie zu Franka in die Küche.

„Ist alles in Ordnung mit dir? Du siehst so blass aus.“

Franka gab ein unechtes Lachen von sich und antwortete:

„Manchmal holt einen die Vergangenheit ein. Da verliert man schon mal die gesunde Gesichtsfarbe.“

Danach wandte sie sich ab und rührte in einem der Töpfe auf dem Herd.

Ulla wusste diese Antwort nicht einzuordnen und schwieg. Schweigen motiviert andere oft weiterzureden, aber in diesem Fall funktionierte diese Strategie nicht. Franka rührte weiterhin mit verbissenem Gesichtsausdruck in ihrem Topf herum und schwieg eisern. Ulla wollte sie nicht weiter bedrängen.

Sie stemmte sich mühsam von der Eckbank hoch, auf der sie sich niedergelassen hatte. Die Hitze setzte ihr zu. Sie streichelte Franka über den Arm.

„Pass auf dich auf, meine Liebe. Egal, was in deiner Vergangenheit geschah, es hat nichts mehr mit der Gegenwart zu tun.“

Da täuschst du dich gewaltig, dachte Franka. Trotzdem nickte sie Ulla zum Abschied zu.

Auf dem Heimweg traf Ulla dann doch noch Karli.

„Hallo, ihr zwei“, begrüßte Karli sie und tätschelte den freudig wedelnden Woody.

„Du bist heute aber spät dran. Was hat dich aufgehalten?“

„Das eine oder andere Schwätzchen am Gartenzaun“, lachte er.

„Hast du dabei bedeutende Neuigkeiten erfahren?“

„Weltbewegendes. Du wirst es nicht glauben. Der Georg hat es mit der Prostata. Der Wilhelm hat sich darüber beschwert, dass seine Kinder nur selten kommen und er keine Hilfe an ihnen hat. Jeder weiß, was für ein Ekel der Wilhelm ist und dass er beide Töchter schon vor Jahren aus dem Haus geworfen hat, weil ihm eine Kleinigkeit nicht gepasst hat. Die eine wollte sich damals einen Hund zulegen und die andere hatte einen Freund, der ihm nicht gefiel. Wer sich in seinen besten Zeiten so verhält, muss sich nicht wundern, wenn er im Alter dann allein ist. Eigentlich wollte ich dir die Information ersparen, dass die Gretel jetzt eine Blaseninkontinenz hat. Das hat mir ihr Mann erzählt, aber du willst ja immer alle Neuigkeiten wissen.“

Ulla musste lachen und es hätte sie nicht gewundert, wenn sich in diesem Moment auch ihre Blase dazu entschieden hätte, inkontinent zu werden.

„Das sind wirklich weltbewegende Nachrichten. Blöd nur, dass ich weder den Georg, noch den Wilhelm und auch nicht die Gretel und ihren Mann kenne. Trotzdem ist es gut, es zu wissen. Man kann sich nie sicher sein, ob man diese wirklich wichtigen Informationen nicht irgendwann doch noch mal gebrauchen kann.“

Noch immer lachend erhob sich Ulla und wünschte Karli einen schönen Tag.

Auf dem Heimweg fragte sie sich, was sie über Franka und deren Vergangenheit wusste. Sie konnte sich nicht daran erinnern, jemals etwas von ihr oder den anderen darüber gehört zu haben, was Franka vor ihrer Zeit in Bergental gemacht hatte. Vielleicht wusste Oliver etwas. Als sie zu Hause ankam, hatte Nora schon den Tisch gedeckt und Oliver saß bereits am Tisch.

„Wie war das eigentlich, als Franka damals hier auftauchte? Hat sie da oder später etwas über ihr Vorleben erzählt?“, fragte Ulla Oliver.

„Sie erwähnte, dass sie von Amsterdam nach Südafrika geflogen ist. Dann reiste sie per Bus durch den ganzen Kontinent. Als sie in Tunesien ankam, begab sie sich zum Flughafen nach Tunis. Der erste Stand-by-Flug nach Europa, den sie angeboten bekam, ging nach Frankfurt am Main und sie bestieg das Flugzeug. Von da aus wollte sie sich auf den Heimweg machen und als sie Dirk kennenlernte, blieb sie einfach. Mir erschien es damals nicht wie die große Liebe von ihrer Seite aus. Ich weiß noch, dass ich mich darüber wunderte, dass sie dablieb, aber wie man sieht, die Beziehung hat gehalten und ich habe mich getäuscht.“

„Hat sie denn jemals von ihrer Zeit in Holland gesprochen? Ist es nicht komisch, dass sie nie mehr dorthin zurückgekehrt ist?“

„Sie erwähnte mal, dass ihre Eltern tot seien und sie keine weiteren Verwandten mehr hätte. Ich hatte immer das Gefühl, dass sie nicht über diese Phase ihres Lebens sprechen wollte. Das habe ich akzeptiert und sie nie danach gefragt.“

„Dann wissen wir also gar nichts von ihrer Zeit, bevor sie nach Bergental kam“, stellte Ulla fest.

„Was nicht so ungewöhnlich ist. Die meisten hier wissen auch nichts über mein Leben, bevor ich nach Bergental kam“, erwiderte Nora.

„Wir haben alle deinen Carlo kennengelernt“, sagte Oliver und verdrehte dabei die Augen. Oliver und alle ihre Freunde konnten ihren Exmann nicht leiden.

Nora lachte.

„Carlo war nur ein Wimpernschlag in meinem Leben. Über den Rest habe ich den Mantel des Schweigens gelegt.“

„Wird wohl auch besser so sein. Glaub mir Oliver, sie war ein ganz wilder Feger. Diese Gene hat sie von mir.“

Alle drei mussten lachen.

Ulla wusste aber noch immer nichts über Frankas Vergangenheit.

Auch Nora dachte darüber nach, dass sie nichts darüber wusste.

Nach dem Essen fuhr Ulla nach Alsfeld. Sie wollte malen. Die Galerie lief viel besser als erwartet. Ihre Bilder verkauften sich gut. Peter bot inzwischen fast alle seine Werke in Alsfeld an. Die Fahrten zu seinen Galeristen in Berlin und Frankfurt stellten die Ausnahme dar. Seit dem Coming-out seines Lebensgefährten zog er sogar in Erwägung, sein Berliner Appartement aufzugeben. Finanziell gesehen ergab es schon lange keinen Sinn mehr, es zu behalten. Die Nichte von Klaus Baldur, Kim Baldur, die mit Freunden das Atelier im ersten Stock über der Galerie betrieb, hatte durch den Austausch mit Gleichgesinnten einen ziemlichen Entwicklungsschub gemacht. Ihre Bilder waren viel besser geworden und wurden auch sehr gut verkauft. Dass die Galerie so gut lief, lag einerseits an den vielen Touristen, die nach Alsfeld kamen, andererseits an Frau Christiane Hesse. Sie war ursprünglich als Verkäuferin auf Stundenbasis eingestellt worden, aber inzwischen arbeitete sie Vollzeit und völlig eigenverantwortlich als Geschäftsführerin der Galerie. Sie hatte ein abgeschlossenes Kunstgeschichtsstudium und auch noch ein paar Semester Kunst studiert. Aus dieser Zeit verfügte sie über ein großes Netzwerk in der Kunstszene und hatte durch ihr Engagement die unterschiedlichsten ortsgebundenen Kontakte. Diese wusste sie geschickt miteinander zu verknüpfen. So gelang es ihr, an verschiedenen Orten in Alsfeld, zum Beispiel in Banken, Schulen, gastronomischen Betrieben und natürlich in der Galerie, wechselnde Ausstellungen zu etablieren und dafür Künstler aus ganz Deutschland zu gewinnen. Für die Galerie war Frau Hesse der absolute Glücksfall und für Frau Hesse war es die Galerie. Ihr Mann, der als Pilot öfter unterwegs als zu Hause war, hätte es lieber gesehen, wenn sie daheim auf ihn warten würde. Das viele Warten auf ihn, das Tennisspielen und die Besuche im Fitnessstudio konnten die Depressionen, denen sie immer öfter verfallen war, nicht mehr aufhalten. Die Galerie jedoch schaffte das. Sie blühte auf, konnte nach kürzester Zeit auf Antidepressiva verzichten und sagte die beantragte Kur in einer psychosomatischen Klinik ab. Es gefiel ihrem Mann nicht, nach Hause zu kommen und seine Frau dort nicht anzutreffen. Er würde sich daran gewöhnen müssen. Sie fand, es sei an der Zeit etwas zu tun, was ihr guttat.

Nora hatte den Vormittag im Büro und den Nachmittag im Garten verbracht. Als sie die Stuten hinter dem Haus wiehern hörte, ging sie zur Koppel. Franka brachte ihr die Einkäufe von Ulla mit. Nora half ihr, die Pferde zu versorgen.

„Meine Gäste würden auch gern zu dem Straßenfest kommen. Mit den zwei Jugendlichen sind es dann 10 Leute mehr auf dem Fest.“

„Das ist kein Problem.“

Nora trug die gefüllten Kraftfutterschüsseln zu den Stuten, die diese schon sehnsüchtig erwarteten.

Danach brachten beide das Heu in die Raufen. Nachdem sie den Stall gereinigt hatten, standen sie an den Koppelzaun gelehnt und streichelten die Pferde.

„Ich habe gestern gesehen, dass zwei Autos mit niederländischen Nummernschildern auf euren Hof fuhren. Sind das Bekannte von dir?“

Franka lachte:

„Es gibt über 17 Millionen Holländer. Die kann ich unmöglich alle kennen.“

Sie hat meine Frage nicht beantwortet, dachte Nora.

Sie wollte nicht neugierig sein, aber es gelang ihr nicht.

„Wir wissen beide nichts vom Leben der anderen, bevor wir nach Bergental kamen. Oliver hat mir einmal erzählt, dass du eine längere Reise durch Afrika gemacht hast, bevor du Dirk trafst.“

„Ich war 20, als ich Dirk kennenlernte. Das ist jetzt 25 Jahre her. Ein Jahr zuvor war ich nach Südafrika geflogen und das Jahr durch den Kontinent gereist. Als ich danach in Frankfurt landete, hatte ich das Gefühl, ich sei noch nicht soweit, wieder nach Amsterdam zurückzukehren. Deshalb ließ ich mir Zeit und trampte Richtung Nordwesten. Eigentlich hätte ich ab Gießen eine andere Richtung einschlagen müssen, aber ich war beim Trampen im Auto eingeschlafen und erst bei einem Stopp in Alsfeld wieder wach geworden. Es war Zufall, dass mich der nächste Autofahrer in Bergental rausließ. Ich wollte mir etwas zu essen kaufen und plötzlich stand ich vor Dirk. Das ist alles schon so lange her. Ich denke oft, die Zeit, bevor ich Dirk traf, war das Leben eines anderen Menschen.“

„Was war das für ein Leben?“

„Keines, an das man sich gern erinnert.“

Nora fragte nicht weiter nach. Irgendwann würde Franka vielleicht einmal darüber reden.

„Wie war dein Leben, bevor du nach Bergental kamst?“, fragte Franka, um das Thema zu wechseln.

Nora dachte kurz nach und antwortete:

„Oberflächlich.“

Nach intensiverem Nachdenken fügte sie hinzu:

„Mein Vater ist früh gestorben. Meine Mutter war eine hochgradige Narzisstin. Meine Schwester war ihr Lieblingskind und ich das schwarze Schaf der Familie. Meine Schwester und ich blicken auf dieselbe Welt und sehen beide etwas völlig anderes. Da meine Mutter und meine Schwester beide zielstrebig und nur an Geld und Macht interessiert waren, blieb für mich nur die Position der Rebellin oder der Träumerin übrig. Man kann problemlos beides sein. Eine verträumte Rebellin, die immer ans Gute im Menschen glaubt und am liebsten im Hier und Jetzt lebt. So vergingen die Jahre und nichts, was auch nur irgendeinen Fußabdruck von mir in der Welt hinterlassen würde, habe ich erschaffen. Das war auch nie mein Ziel. Wenn man in der Stadt lebt, ist die Natur etwas Abstraktes. Erst hier in Bergental bekam ich Bodenkontakt. Das hat mich geerdet und macht mich zutiefst zufrieden. Auch wenn es noch lange keine 25 Jahre sind, die ich hier lebe, fühlt es sich auch für mich so an, als wäre mein Leben, bevor ich nach Bergental kam, das Leben eines anderen Menschen.“

Franka nickte.

„Es wird Zeit. Ich muss los und Abendessen für meine Gäste vorbereiten.“ Sie verabschiedeten sich. Nora wandte sich ihrem Haus zu und sah Ulla am Gartentisch sitzen.

Nora setzte sich zu ihr und erzählte ihr von dem Gespräch mit Franka.

„Franka wird irgendwann mit dir reden. Sie weiß jetzt, dass es offene Fragen gibt.“

Nora nickte.

Ulla übernahm den Korb mit den Einkäufen und brachte ihn in die Küche.

Oma Pötschke tauchte am Zaun auf und winkte Nora.

„Hallo, Oma Pötschke, wie geht es dir?“

„Ach, wie immer, Hüfte tut weh, Knie auch und Rücken habe ich auch. Sag‘ mal, hast du durch Zufall die Trudi gesehen?“

Nora konnte sich nicht erinnern, jemals etwas von einer Trudi gehört zu haben.

„Nein. Ich kenne keine Trudi. Wer soll das sein?“

„Sie ist gerade zu Besuch bei mir. Ich bin nach dem Kaffeetrinken kurz eingenickt und danach war sie weg. Ich dachte, sie wäre vielleicht im Garten. Macht nichts. Sie kommt schon wieder.“

Nora nickte. Ulla rief aus der Küche nach ihr und Nora verabschiedete sich von Oma Pötschke.

Freitag, 04. Juni

Der Tag würde arbeitsintensiv werden. Für Samstag war das Straßenfest geplant und es gab noch sehr viel zu erledigen, damit es ein Erfolg werden würde.

„Guten Morgen, meine Liebe“, begrüßte Ulla ihre Nichte.

„Ein Morgen, an dem der Duft von frisch gebrühtem Kaffee durchs Haus zieht, ist immer ein guter Morgen“, lachte Nora, „auch dir einen guten Morgen, liebe Tante.“

„Weißt du schon, wie viele Gäste morgen zum Straßenfest kommen werden?“

„Falls bei Franka keine weiteren Gäste anreisen, werden es 32 Erwachsene sein und zehn Kinder. Aber du weißt doch, dass man das hier nie genau sagen kann. Zum Schluss sind es doppelt so viele.“ Nora verdrehte die Augen und fuhr fort: „Wir haben Bierzeltgarnituren für 50 Leute. Wir alle bereiten unterschiedliche Salate oder etwas anderes fürs Büffet vor. Es gibt einen Grill für die Vegetarier und einen für alle anderen. Fleisch hat Dirk von seinem befreundeten Biobauern besorgt. Für vegetarische Grillsachen hat Peter gesorgt. Benny und Michael haben die Getränke organisiert. Franka backt heute verschiedene Brote und morgen frische Baguettes. Du und ich haben alles für die Dekoration gekauft und machen heute noch unseren Kartoffelsalat. Der schmeckt sowieso besser, wenn er einen Tag gezogen ist. Dazu kommt noch deine Vorspeisenplatte. Eigentlich dürften wir nichts vergessen haben.“

Nora runzelte nachdenklich die Stirn und Ulla beruhigte sie:

„Seit Monaten sitzen wir mit allen zusammen und planen dieses Fest. Wir haben nichts vergessen! Mach dir keine Sorgen. Selbst das Wetter meint es gut mit uns.“

Nora nickte. Sie wusste, dass in den langen Monaten der Vorbereitung an alles gedacht worden war. Ursprünglich sollte das Straßenfest das Abschlussfest des letzten Sommers werden, aber dann brach der Herbst zu früh herein und das Wetter bot keine Gelegenheit mehr, das Fest auszurichten. Deshalb planten die Anwohner, die Feier auf den Sommerbeginn zu verlegen.

Heute würden die Mitarbeiter des örtlichen Getränkemarktes einen kleinen Kühlanhänger vorbeibringen und mit einem langen Kabel an das Stromnetz anschließen. Darin befanden sich die Getränke sowie mehrere Kisten mit Leihgläsern. Bei zu erwartenden Temperaturen von um die 30 Grad, wollte keiner lauwarme Getränke zu sich nehmen. Die Bierzeltgarnituren hatten sie gestern Nachmittag schon vorbeigebracht und im Carport von Nora untergestellt. Dirk würde im Laufe des Tages seinen großen Grill bringen. Nachbar Benny stellte seinen Familiengrill zur Verfügung. Im Wintergarten von Nora standen große Kisten mit Dekorationsgegenständen, Tellern, Bestecken, Servietten und vielem mehr.

Im Laufe des Vormittags bereitete Ulla den Kartoffelsalat vor. Die Vorspeisenplatte würde sie erst vor dem Fest frisch zubereiten.

Nora kehrte mit ihrer Nachbarin Carmen die Straße und danach hängten sie Girlanden und Luftballons auf. Carmens Kinder Lilli, Lucius und Milena dekorierten die Straße, indem sie sie mit Straßenkreide bemalten. Die Kinder fanden das Ergebnis ,schön bunt‘.

Als Oliver mittags zum Essen nach Hause kam, fragte er, ob das Straßenfest morgen ausfallen und dafür ein Kindergeburtstag stattfinden würde.

Offensichtlich war ihm die Dekoration zu farbenfroh ausgefallen. Nora konnte ihn beruhigen und ihm versichern, dass die Anzahl der Erwachsenen die der Kinder um ein Vielfaches übersteigen würde. Oliver lachte und meinte, er wäre auch zum Kindergeburtstag erschienen, solange nur sie und seine Lieblingsköchin da seien.

Kaum hatten sie sich zum Essen hingesetzt, stürmte Lilli in die Küche:

„Oooooliver! Die Mama hat gesagt, dass der Bauer Manfred heute Nacht ein Kälbchen bekommen hat und dass du da nachmittags noch mal hinfährst, um danach zu gucken. Kann ich da mitkommen?“

Alle drei waren versucht, Lilli mitzuteilen, dass es besser wäre, immer einmal zwischendurch zu atmen. In Anbetracht der Sinnlosigkeit eines solchen Hinweises, der weder gehört noch befolgt werden würde, schwiegen sie.

„Hallo Lilli, ich habe heute Abend viel zu tun. Aber wegen dir werde ich beim Manfred mit meiner Runde anfangen. Ich hol dich ab, wenn ich zu ihm fahre und bringe dich danach gleich wieder nach Hause.“

„Aber nicht vergessen. Versprichst du das?“

„Versprochen! Ehrenwort! Aber sag deiner Mama Bescheid, ok?“

„Ok.“ Sie drehte sich um und rannte wieder raus.

Nachmittags kamen Franka und Dirk, um ihre beiden Stuten Habibi und Taiga zu versorgen, die auf der Koppel hinter Noras Haus grasten. Noras Jährling Nurabi und sein gleichaltriger Freund Fahd standen mit Frankas anderen Pferden Menes und Gitano auf einer großen Wiese hinter deren Bauernhof.

Während Dirk sich um die Pferde kümmerte, brachte Franka einen großen Korb voll frisch duftendem Brot zu Nora und stellte ihn im Wintergarten auf den Tisch. Nora telefonierte gerade und Franka winkte ihr nur kurz zu.

Oliver hatte seinem Freund Dirk bei den Pferden geholfen und kam durch den Garten ins Haus.

„Ich werde jetzt mal Lilli abholen und mit ihr zu Manfred und seinem Kälbchen fahren“, verabschiedete er sich von Ulla. Er winkte der noch immer telefonierenden Nora zu und begab sich zum Nachbarhaus. Lilli hatte bereits auf ihn gewartet und kletterte stolz auf den Beifahrersitz seines Jeeps.

Nora ging nach dem Telefonat, mit einem ihrer Kunden, wieder auf die Straße und überlegte, ob sie heute noch etwas vorbereiten könnte. Denselben Gedanken hatte auch Carmen gehabt. Da es aber nichts zu tun gab, setzten sie sich auf die Stufen von Noras Vorgarten und plauderten miteinander. Die Bierzeltgarnituren befanden sich noch im Carport und würden erst morgen aufgebaut werden.

Als Oliver Lilli später wieder vor dem Haus absetzte, strahlte diese über das ganze Gesicht und erzählte Nora und ihrer Mutter, wie toll das Kälbchen sei und dass sie es streicheln und ihm die Flasche geben durfte. Nora verkniff sich den Kommentar, dass es dem Kälbchen sicher besser gefallen hätte, an den Zitzen seiner Mutter zu trinken. Spätestens in der Pubertät würde Lilli ihrer Familie mitteilen, dass sie ab heute niemals wieder in ihrem Leben etwas essen würde, was ein Gesicht hätte. Die Eltern würden das als einen vorübergehenden Zustand ansehen, vermutlich nach zwei Wochen genervt reagieren und es spätestens nach vier Wochen resigniert akzeptieren. Ob Lilli dabeibleiben würde oder nicht, hing von vielen Faktoren ab. Nora fand es spannend, solche Entwicklungen zu beobachten.

Oliver kam von seiner Abendrunde heim und sprang gleich unter die Dusche.

Als er die Treppe herunterkam, betrat Ulla die Küche mit frisch geschnittenen Kräutern.

„Was gibt es zu essen, Herrscherin über die Kochkünste?“, neckte Oliver sie und Ulla erwiderte:

„Wasser und trockenes Brot, garniert mit frischer Petersilie und Schnittlauch.“

Lachend trugen sie Salat, Olivenciabatta und gekühlten Weißwein in den Garten, um den tropischen Sommerabend zu gemeßen.

Samstag, 05. Juni

Im Laufe des Vormittages wurden die Bierzeltgarnituren aufgebaut. Die beiden Grills wurden in Position gebracht und der Tisch für die Getränkeausgabe neben den Kühlanhänger gestellt. Nora und Ulla dekorierten die Tische. Auch Carmen und ihre drei Kinder halfen dabei mit. Ihr Baby Marlon beobachtete das mit viel Interesse vom Kinderwagen aus. Weitere Tische wurden für das Geschirr aufgestellt und abends sollten dort auch die Vorspeisen, Salate, Dips, Brote und Desserts stehen.

Nachdem sie fertig waren, fand Nora das Ergebnis wunderschön und einladend. Oma Pötschke begutachtete alles und nickte zustimmend.

„Ist deine Bekannte vorgestern wieder aufgetaucht?“, fragte Nora.

„Welche Bekannte?“, überlegte Oma Pötschke.

„Du sagtest, sie heißt Trudi.“

„Woher kennst du Trudi?“

„Ich kenne Trudi gar nicht.“

„Warum fragst du dann nach ihr?“

„Weil du sie vermisst hast und mich nach ihr gefragt hast.“

„Sie wird nicht vermisst.“

Nora verlor die Lust, über Trudi zu reden, und fragte stattdessen:

„Ist deine Vorspeisenplatte schon fertig?“

„Ich habe keine Vorspeisenplatte gemacht, sondern einen Salat.“

Verärgert wandte sich Oma Pötschke ab.

Nora verstand plötzlich gar nichts mehr. Laut Absprache hätte Oma Pötschke eine Vorspeisenplatte machen sollen. Aber sie war schon immer eigensinnig gewesen. Vermutlich hat sie eine wichtige Zutat nicht bekommen und deshalb kurzfristig umgeplant. Damit werden wir leben können, dachte Nora.

Vor dem Fest mussten noch alle Tiere versorgt werden. Ulla übernahm die Katzen und Woody. Nora half Dirk bei den Pferden. Oliver führ auf Praxis und würde, wie immer, erst später zu der Feier stoßen. Glücklicherweise hatte er heute nicht so viel zu tun.

Das Fest sollte um 17 Uhr beginnen.

Kurz vorher trafen die ersten Gäste ein.

Wie es sich für ein Straßenfest gehört, waren die Bewohner der drei Häuser dieser Sackgasse schon anwesend. Oma Pötschke saß mit ihrer Freundin Erika und Tante Ulla bereits an einem der Tische. Nora stand mit Carmen am Getränketisch und beide überreichten jedem der ankommenden Gäste einen Willkommensdrink. Carmens Kinder liefen aufgeregt durch die Gegend. Ihr Ehemann Benny und Olivers Schwiegersohn Michael feuerten beide Grills an, während sich Michaels Frau Olivia um alle anwesenden Kinder kümmerte.

Peter Harms, Noras bester Freund in Bergental, und sein Lebensgefährte Paul Lederer kamen und brachten das vegetarische Grillgut mit.

Karli kam gemeinsam mit Kommissar Klaus Baldur. Dieser überreichte Nora einen Salat, nicht ohne darauf hinzuweisen, dass er diesen mit extra viel Liebe zubereitet hätte. Dabei strahlte er Nora an.

Im Laufe der nächsten halben Stunde trafen die restlichen geladenen Gäste ein.

Zu diesen zählten:

Carola Weber, die Schwester von Carmen Stuber mit ihren beiden Söhnen, Ullas Freundin Margot Nagel,

Claudia Schmidt, die maßgeblich zur Aufklärung des Todes von Hermann Nagel beigetragen hatte,

Olivers Cousin Klaus Loth und dessen Frau Petra,

Noras Freundin, die Blumenhändlerin Rosi, sowie die Tierschutzaktivisten Ina und Luca.

Nora überschlug schnell im Kopf die Anzahl der Gäste und rechnete aus, ob das Essen reichen würde. Jeder der geladenen Besucher hatte etwas zum Büffet beigesteuert. Die vielen großen Salate, Vorspeisenplatten, Kuchen, Muffins, Desserts, das Brot, die Baguettes, sowie das Fleisch und das vegetarische Grillgut würden mehr als ausreichend sein für die zweiunddreißig eingeladenen Erwachsenen und die zehn Kinder. Es würde auch noch für all die anderen Überraschungsgäste reichen. Nora war beruhigt. Nichts regte sie mehr auf als der Gedanke, dass einer der Anwesenden nicht satt werden könnte.

Dirk erschien gemeinsam mit Sina und Gästen aus seiner Pension.

Er stellte Herbert und Sieglinde Schmitz aus Wuppertal vor. Beide waren mit ihren E-Bikes angereist und machten damit Ausflüge in die nähere Umgebung. Nora rief Peter hinzu und teilte ihnen zwinkernd mit, dass er der Tourenspezialist des Abends sei und ihnen ganz sicher viele gute Tipps geben könnte. Sie freuten sich sehr darüber und Peter war als begeisterter Radfahrer gerne bereit, diese Aufgabe zu übernehmen. Danach stellte Dirk den Anwesenden Elke und Harald Krauß aus Recklinghausen, mit ihren Kindern Markus und Nina, vor. Die Kinder machten noch immer einen gelangweilten Eindruck, aber Sina gab Nora zwinkernd zu verstehen, dass es ihr bereits gelungen sei, die beiden mit der Dorf jugend in engeren Kontakt zu bringen.

Nora fragte Sina nach Franka und diese meinte, Franka müsste erst noch die Tiere versorgen und käme später nach.

In diesem Augenblick bogen zwei Paare in die Straße ein und Dirk nahm seine restlichen Übernachtungsgäste herzlich in Empfang.

Er stellte sie als Stijn und Isa Bakker aus Amsterdam vor. Beide Mitte 40, sportlich-schlank und sehr gutaussehend. Das andere Paar wurde als Luuk und Agnes de Vries vorgestellt. Sie waren vermutlich im selben Alter wie ihre Freunde und genauso attraktiv. Leider sprachen alle vier nur sehr schlecht Deutsch, aber mithilfe einer Mischung aus Holländisch, Deutsch und Englisch funktionierte die Verständigung einigermaßen.

Dann erschien Oliver. Er trug eine schwarze Jeans und ein schwarzes Muskelshirt. Frisch geduscht, braun gebrannt, mit schwarzen, lockigen Haaren, Dreitagebart und dem Sex-Appeal eines Latin Lovers verschlug es Nora bei seinem Anblick die Sprache. Es gab keinen Tag, an dem sie nicht froh war, ihm begegnet zu sein.

Das Thermometer zeigte 29 Grad an und alles wies auf einen langen und heißen Sommer hin. Nora trug ein rotes, ärmelloses kurzes Sommerkleid und ein paar hochhackige rote Schuhe. Normalerweise bevorzugte sie flache Schuhe, das war einfach praktischer, aber heute stand ihr der Sinn nach einem schickeren Outfit. Ihre langen, schwarzen Haare trug sie offen und als Oliver sie zur Begrüßung in die Arme nahm, flüsterte er ihr ins Ohr:

„Können wir sofort die Party verlassen oder müssen wir damit noch fünf Minuten warten?“

Lachend kniff sie ihm zärtlich in den Oberarm und erwiderte leise:

„Unter gar keinen Umständen vor dem Dessert. Ich hole Eis, das kühlt dich erst einmal ein bisschen ab.“

Bevor sie ihr Spiel weiter fortsetzen konnten, erschien Dirk und entführte Oliver in Richtung Grill. Während Oliver den Abend genoss und sich mit allen nett unterhielt, verfolgten Klaus Baldurs bewundernde Blicke Nora den ganzen Abend, wohin sie auch ging.

Es dauerte nicht lange und dann kam auch Franka. Sie hatte dezentes Makeup aufgelegt, ein schickes Kleid an und sah ausgesprochen gut aus. Sie kam gut gelaunt auf Nora zu.

„Gut siehst du aus“, begrüßte Nora sie.

„Du aber auch. Ihr habt das alles hier sehr schön gestaltet. Das Wetter ist herrlich. Das Fest kann nur wunderbar werden.“

Nora fand auch, dass der Abend perfekt verlief. Alle schienen gut gelaunt und zufrieden zu sein. Lediglich der Getränkestand und die Grills mussten betreut werden, am Essensstand herrschte Selbstbedienung.

Carmens Kinder spielten mit Woody, dem dies ausgesprochen gut gefiel. Satchmo und Robin blickten von ihrer erhöhten Position im Vorgarten auf das Geschehen herunter, befanden den Trubel als zu viel und beobachteten das alles lieber aus der Feme. Milena wollte ihnen kurz ,Hallo‘ sagen, was bei beiden zu einem blitzartigen Rückzug führte. Milena wandte sich wieder Woody zu, der weniger abweisend war und sich wedelnd auf sie stürzte, was sie witzig fand und zum Lachen brachte.

Im Laufe des Abends kamen noch einige Dorfbewohner vorbei, blieben auf ein oder zwei Bier, bewunderten das Büffet und ließen sich gern einladen, davon zu probieren. Sie bedankten sich danach und gingen wieder. Auch die Eltern von Benny Stuber und die Eltern seiner Frau Carmen kamen vorbei. Da sie aber noch gemeinsam kegeln gehen wollten, verließen beide Ehepaare gleich nach dem Essen das Fest.

Selbstverständlich ließen es sich auch Bürgermeister Andreas Köhler und dessen Ehefrau Doris nicht nehmen, vorbeizukommen und die Anwesenden zu begrüßen. Während er kurz an jedem der Tische stehen blieb und sich nach dem Befinden seiner potenziellen Wähler erkundigte, setzte sich seine Frau Doris zu Elisabeth Loth. Beide Frauen fuhren gemeinsam einmal in der Woche zum AquaRückenfit-Kurs ins Alsfelder Schwimmbad und waren sich darin einig, dass der Kurs ihre Rückenschmerzen verbesserte. Jedoch leider nie länger als einen Tag. Sie vermuteten inzwischen, dass eher das warme Wasser der Grund dafür war als die Übungen im Bewegungsbecken.

Auch der Bruder von Paul Lederer, Jens Lederer kam mit seiner Frau Miriam vorbei. Sie brachten ihre Kinder Emma und Ben mit. Sehr zur Freude von Milena, Lucius und Lilli. Die Kinder waren zusammen im Kindergarten und in der Grundschule. Während Jens am Getränketisch stehen blieb und sich einen Überblick verschaffte, unterhielt sich seine Frau Miriam zunächst mit Rosi. Beide verband ihre gemeinsame Schulzeit. Miriam, die gelernte Kosmetikerin war und es verstand, die durch ihren Ehemann entstandenen blauen Flecken geschickt zu kaschieren, ahnte, dass Rosi hierüber Bescheid wusste. Sie hatten nie darüber gesprochen und dafür war sie Rosi dankbar.

Das Erscheinen von Jens Lederer weckte gemischte Gefühle bei den Anwesenden. Er war dafür bekannt, dass er mit zunehmendem Alkoholgenuss schon mal der Auslöser einer deftigen Kneipenschlägerei wurde. Allerdings lag die Letzte bereits ein paar Jahre zurück. Er war in verschiedenen Vereinen aktiv und dort wegen seines Engagements sehr beliebt. Nicht zuletzt war er auch der Sohn des größten Arbeitgebers im Gebiet und somit fast unantastbar.

Der Vater hatte immer alle seine Verfehlungen mit Geld aus der Welt geschafft und nur ihm war es zu verdanken, dass sein Sohn noch nicht vorbestraft war. Jens war ein Mann, der die Gesellschaft polarisierte: das engagierte Vereinsmitglied, der aggressive Dorf-Nazi, der Frauengrapscher und der unangreifbare Junior-Chef. Ein Mann, der dachte, dass Gesetze nur für andere gelten und nicht für ihn.

In der Stadt wäre Nora ihm aus dem Weg gegangen, aber auf dem Dorf ging so etwas nicht. Also grüßte man sich notgedrungen, wenn man sich sah, aber man lud ihn privat nicht ein.

Weshalb er auf dem Straßenfest erschien, war Nora nicht klar. Sein Bruder Paul, der sich inzwischen als homosexuell geoutet hat, hatte ihn sicher nicht eingeladen, denn zwischen beiden herrschte eher ein Waffenstillstand als ein Friedensvertrag. Vielleicht reichte es, der Sohn des mächtigsten Mannes im Dorf zu sein, um sich selbst einzuladen oder mit so einem übermächtigen Ego ausgestattet zu sein, was einen glauben ließ, man sei überall willkommen.

Trotzdem verlief das Fest ausgesprochen angenehm.

Die meisten blieben den ganzen Abend an ihren Tischen mit denselben Leuten sitzen. Wenn man jedoch aufstand, um Essen oder Getränke zu holen, ergab sich die Gelegenheit, um mit den Leuten, am Büfett oder an den anderen Tischen, zu plaudern. Dies wurde ausgiebig genutzt, da sich die meisten Gäste der Feier untereinander kannten.

Nora ging von Tisch zu Tisch und erkundigte sich nach dem Wohlbefinden der Gäste.

Am ersten Tisch fragte sie Oma Pötschke, warum sie ihre Bekannte Trudi nicht mitgebracht hatte.

Oma Pötschkes Freundin Erika wandte sich sofort an Oma Pötschke und fragte:

„Wieso fragt sie nach Trudi?“

Diese winkte ab und meinte:

„Lass uns später darüber reden, Erika.“

Nora bekam keine Antwort.

An den anderen Tischen wurden ihre Fragen wenigstens beantwortet.

Gegen 20 Uhr wollte Sina mit Markus und Nina in den Jugendraum gehen, um dort Billard zu spielen. Die Eltern waren zunächst etwas zögerlich, konnten aber dahingehend beruhigt werden, dass auf dem Dorf nichts passiert und sich im Jugendraum am Wochenende die gesamte Dorfjugend traf. Daraufhin willigten die Eltern ein und Sina versprach, Markus und Nina spätestens um 24 Uhr zu Dirks Bauernhof zu bringen.

Einige Zeit danach brachte Carmen ihre Kinder zu Bett und Carolas Kinder durften bei Carmen noch etwas fernsehen und dann bei ihr übernachten.

Miriam Lederer bedankte sich für das schmackhafte Essen und die Gastfreundschaft. Sie verabschiedete sich, um auch ihre Kinder ins Bett zu bringen.

Jens Lederer blieb. Er hatte den ganzen Abend bereits heftig geflirtet und Nora ging davon aus, dass Miriam keine Lust mehr hatte, sich das länger mitanzusehen. Bei Nora versuchte er es erst gar nicht, sie konnte ihre Abneigung gegen ihn nicht verbergen und bemühte sich auch nicht, dies zu tun. Carola arbeitete in seinem Betrieb und musste sich ihm gegenüber deshalb diplomatischer verhalten, setzte ihm jedoch durch ihre Bemühungen, sich intensiv, um die anwesenden Kinder zu kümmern, Grenzen, die er offensichtlich als unerotisch empfand. Dann wandte er sich Claudia Schmidt zu.