Stummes Erbe - Cynthia Lotz - E-Book

Stummes Erbe E-Book

Cynthia Lotz

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  • Herausgeber: tredition
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2024
Beschreibung

Vor zwei Jahren wurde eine 90jährige, bettlägerige Dame ermordet. Die Geschichte spielt in einem historischen Hofgut. Die Polizei hatte sechs Verdächtige, konnte den Mord jedoch keiner einzelnen Person nachweisen. Jetzt ermitteln ein pensionierter Kommissar und eine Krimiautorin erneut und versuchen in den inneren Kreis dieser verschworenen Gruppe vorzudringen. Ausgehend von dem Gedanken, dass vermutlich die zu Unrecht Verdächtigten inzwischen ihre Unschuld beweisen wollen. Gelingt es ihnen oder wird vielleicht noch ein weiterer Mord geschehen um das Geheimnis zu bewahren?

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Seitenzahl: 417

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Cynthia Lotz

Viola Euler

Herbert Jost-Hof

Stummes Erbe

Ein Vogelsbergkrimi

© 2024

Cynthia Lotz, Viola Euler, Herbert Jost-Hof

Illustration: Herbert Jost-Hof

Druck und Distribution im Auftrag der Autoren:

tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland

ISBN

Softcover978-3-384-19438-1

Hardcover978-3-384-19439-8

E-Book978-3-384-19440-4

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte sind die Autoren verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne ihre Zustimmung unzulässig.

Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag der Autoren, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland.

Prolog

In Merschenrod geschieht nie etwas. So würde es jeder Außenstehende sehen. Aber hinter dicken Mauern herrscht das kalte Grauen. Wie überall anders auch.

Merschenrod hat 317 Einwohnern und ist ein Ortsteil von Bergental im Vogelsbergkreis. Die Umgebung ist eine malerische Mittelgebirgslandschaft mit grünen Hügeln, undurchdringlichen Wäldern, kristallklaren Seen und schneebedeckten Gipfeln im Winter.

Viele Bewohner pendeln täglich in die umliegenden Städte, um zu ihren Arbeitsplätzen zu gelangen. Hier jedoch, fernab der großen Metropolen, wo die Zeit langsamer zu vergehen scheint, verbergen sich Geschichten, die sich wie ein dunkler Schleier über das Dorf legen.

Das Leben ist geprägt durch eine rege Vereinstätigkeit. Diese decken in ihrer Angebotsvielfalt die Interessen aller Altersgruppen ab.

Weiterhin gibt es auch Präferenzen, die nicht der Struktur eines Vereins bedürfen und eher einem Club gleichen oder private Interessenverbände sind.

Oberflächlich gesehen ist Merschenrod der idyllischste Ort, den man sich vorstellen kann. Doch hinter der friedlichen Fassade verbirgt sich ein Geheimnis, das nur darauf wartet, enthüllt zu werden.

Kapitel 1

Tag 1 – Donnerstag

Es gab keinen Verein, den Rainer Werner interessant genug fand, um sich dort zu engagieren.

Er war Kommissar im Ruhestand und nach einem Schlaganfall körperlich nicht mehr so mobil wie zuvor, da er seitdem unter leichten Lähmungserscheinungen in seinem linken Bein zu leiden hatte. Sein Verstand funktionierte aber immer noch so scharfsinnig wie zu seinen besten Zeiten. Seine Frau hatte ihn schon vor vielen Jahren verlassen und sein einziger Sohn hatte eine Französin geheiratet und lebte mit ihr in der Bretagne. Er hatte als Kommissar unzählige Fälle gelöst und konnte auf ein erfolgreiches Berufsleben zurückblicken. Dieses war sehr abwechslungsreich gewesen und die Arbeitszeiten füllten seine Tage aus. Wenn er abends heimkam, blieb meistens nicht mehr genug Zeit für irgendwelche Aktivitäten. Mit der Reinigung seiner Wäsche und der Wohnung sowie dem Einkaufen und Kochen war er völlig ausgelastet und froh, wenn er danach seine Füße hochlegen konnte und der Fernseher ihm ein Programm bot, welches nicht zu anspruchsvoll war. Seit seiner Pensionierung hatte sich dies jedoch grundlegend geändert. Seine Arbeitskollegen fehlten ihm und auch die geistige Anregung. Nachdem er den Schlaganfall überlebt und sich soweit regeneriert hatte, dass ein normales Leben wieder möglich war, wurde er sich seiner Vereinsamung bewusst.

Er überlegte, ob er nicht ein paar Menschen zu regelmäßigen Treffen einladen sollte. Der Zweck könnte sein, Cold-Case-Fälle neu durchzusehen und eventuell zu lösen. Dies würde nicht nur seinen Geist anregen, sondern auch seine Einsamkeit mildern. Das Problem dabei war, dass er während seiner Berufstätigkeit so wenig Sozialkontakte außerhalb des Kommissariats hatte, dass er nun nicht wusste, wen er zu sich einladen sollte. Er war nach seiner Scheidung nach Merschenrod gezogen, weil es nur ein paar Kilometer von seinem Arbeitsplatz entfernt lag und die Miete für seine Wohnung sehr günstig war. Als Zugereister mit inzwischen 60 Jahren schloss man nicht so leicht Freundschaften. Seine ehemaligen Kollegen hatten tagsüber genug Fälle zu lösen und würden sich sicherlich nicht dazu bereit erklären, sich auch noch nach Feierabend damit auseinanderzusetzen. Privat kannte er nicht viele Menschen. Die Bäckerin und der Metzger, mit denen er gelegentlich über das Wetter sprach, hätten vermutlich kein Interesse daran. Auch nicht seine Nachbarn, die er höchstens traf, wenn sie gemeinsam Mülltonnen rausstellten oder wieder hereinholten. Die einzige Person, die ihm nach langem Nachdenken in den Sinn kam, war eine Autorin, die Krimis schrieb, welche in Bergental und Umgebung spielten. Leider war er ihr noch nie begegnet. Er überlegte, wie er sie von seiner Idee überzeugen könnte. Nach zwei Tagen war ihm noch immer nichts eingefallen. Völlig frustriert entschied er sich für einen Spaziergang durch den Ort. Er hoffte dabei auf eine Eingebung, wie er dieses Problem lösen sollte.

Vor dem örtlichen Supermarkt gab es eine alte, frisch gestrichene Telefonzelle. Diese diente als Bücherzelle. Wer mochte, konnte dort Bücher hineinstellen oder sich welche mitnehmen. Direkt daneben stand eine Sitzbank aus Holz. Der Schriftzug an der Rückenlehne erklärte diese zur ‚Schwätzerbank‘. Er fragte sich, ob man sich auch daraufsetzen durfte, wenn man nicht mit jedem schwätzen, sondern nur ausruhen wollte. Die Schmerzen im Bein entschieden darüber, dass er sich die Frage mit ‚ja‘ beantwortete. Während seine Beschwerden langsam abklangen, kam eine Frau mit einem Bollerwagen voller Bücher vorbei und füllte die Bücherzelle auf. Als sie damit fertig war, setzte sie sich zu ihm, davon ausgehend, dass er ein Gespräch suchte. Sie stellte sich als diejenige vor, die die Bücherzelle betreute. Da er nicht unhöflich sein wollte, stellte auch er sich vor. Als er erwähnte, dass er Ex-Kommissar sei, strahlte die Frau über das ganze Gesicht.

„Das ist ja fantastisch, dass ich Sie endlich einmal kennenlerne. Das habe ich schon länger vorgehabt. Mein Name ist Dajana Borowska, aber sicher kennen Sie mich besser als Jana Jackson, das ist mein Pseudonym, unter dem ich Regionalkrimis schreibe. Dürfte ich Sie vielleicht hin und wieder um fachmännischen Rat fragen, wenn ich für eines meiner Bücher ein Verbrechen plane und dafür Hintergrundinformationen benötige?“ Dabei strahlte sie ihn mit einer Offenheit und Herzlichkeit an, die keinen Zweifel daran ließen, dass sie es auch so meinte.

Das war der Zufall, mit dem man nie rechnete und der trotzdem gelegentlich eintrat. Rainer Werner freute sich sehr. Auch er strahlte Dajana Borowska an und erwiderte:

„Das beruht auf Gegenseitigkeit. Seit Tagen denke ich darüber nach, wie ich mit Ihnen Kontakt aufnehmen könnte. Und nun haben uns glückliche Umstände hier zusammengeführt. Ich überlege, alte Cold-Case-Fälle neu zu recherchieren, und suche deshalb noch einige kriminalistisch interessierte Menschen, die sich beteiligen wollen. Hätten Sie Interesse und kennen vielleicht noch ein paar Personen, die sich dafür auch begeistern ließen?“

„Ich wäre daran sogar sehr interessiert. Spontan fällt mir gerade niemand ein, der hierfür infrage käme, aber ich denke darüber nach. Haben Sie denn einen speziellen Fall im Visier, den sie zu bearbeiten gedenken?“

„Es kam vor einiger Zeit hier im Ort zu einem Todesfall, der nie gelöst werden konnte. Dabei handelte es sich um eine 90-jährige, pflegebedürftige Dame, die vergiftet wurde. Ich nehme an, Sie haben davon gehört. Ich hatte damals nichts mit dem Fall zu tun, aber da ich in Merschenrod lebe, nun im Ruhestand bin, dachte ich, dass ich mir diesen Fall einmal näher ansehen und versuchen sollte, ihn mit Hilfe einiger intelligenter Köpfe zu lösen.“

Dajana Borowska blickte nervös auf ihre Uhr.

„Leider bin ich jetzt etwas in Zeitdruck, aber sehr interessiert daran mitzuarbeiten. Hätten Sie denn heute Abend Zeit, mich zu besuchen? Dann könnten wir vielleicht schon das eine oder andere klären. Wie wäre es um 20 Uhr auf ein Glas Wein bei mir?“

Rainer Werner sagte sofort begeistert zu. Sie gab ihm ihre Adresse, verabschiedete sich und machte sich eilig auf den Weg. Seine Schmerzen waren soweit abgeklungen, dass er wieder nach Hause gehen konnte. Zuvor kaufte er im Supermarkt noch eine Schachtel Pralinen, um sie abends als Gastgeschenk überreichen zu können.

***

In Merschenrod wohnte kein Merschenröder weit entfernt von einem anderen Merschenröder. Da das Wetter einen angenehmen Frühlingsabend versprach, machte Rainer Werner sich rechtzeitig zu Fuß auf den Weg. Er hatte sich zu diesem Anlass für seinen besten Anzug entschieden. Lange hatte er darüber nachgedacht, ob das zu förmlich sei und ob er nicht lieber etwas Lässigeres anziehen sollte. Sein Kompromiss sah vor, zu seinem Anzug anstelle von Hemd und Krawatte ein T-Shirt zu tragen. Er war noch immer ein sehr attraktiver Mann. Der Schlaganfall hatte seine linke Körperhälfte gelähmt, aber dank der Reha und einem starken Willen, mittels Physiotherapie, wieder der Alte zu werden, war davon nur noch übriggeblieben, dass er sein linkes Bein etwas hinterherzog. Ein paar Minuten vor acht stand er vor Dajana Borowskas Haus. Es handelte sich dabei um ein kleines, aber außergewöhnliches Objekt. Es befand sich am Ende des Ortes, abseits der Hauptstraße, hatte einen blasslavendelfarbenen Anstrich und dunkelgrün gestrichene alte Fensterläden. An der einen Hauswand wuchs wilder Wein empor. Im Vorgarten stand eine steinerne Bank mit einer lebensgroßen lesenden Steinfigur darauf. Zu deren Füßen lag ein ebenfalls steinerner schlafender Hund. Um dieses Arrangement herum sah man begehbare, bereits mit winzigen weißen Blüten bestückte Bodendecker. Eingerahmt wurde das alles durch viele Lavendelsträucher und Rosenbüsche. Im Hochsommer würde das fantastisch aussehen. In diesem harmonischen Bild wirkten die geschickt verborgenen Überwachungskameras wie Fremdkörper. Wahrscheinlich würde ein weniger geschulter Blick als der des Kommissars diese überhaupt nicht wahrnehmen. Wozu benötigte Sie diese? Pünktlich um 20 Uhr klingelte Rainer Werner bei Dajana Borowska an der Haustür.

Sie öffnete ihm und ihr Anblick verschlug ihm die Sprache. An der Bücherzelle sprach er mit einer sportlichen Frau in Jeans und Sneakers mit kurzer Lederjacke und einer Kappe auf ihrem Kopf, unter die sie ihre Haare gesteckt hatte. Nun stand er einer Frau gegenüber, bei deren Anblick ihm sofort der Begriff ‚Femme fatale‘ einfiel. Sie hatte lange, rote, lockige Haare und strahlend grüne Augen. Sie trug ein wunderschönes Kleid, das aus einem engen Oberteil in der Farbe ihrer Augen bestand und in einem roten, weiten, wadenlangen Rock endete, der die gleiche Farbe hatte wie ihr Haar. Rot-grüne Muster zogen sich über das gesamte Kleid. Er hätte sie damit zum Traualtar geführt, aber sie trug es mit einer Lässigkeit, dass er den Verdacht hegte, dass es für sie nicht mehr als ein bequemes Hauskleid war. Es war ihm schon lange nicht mehr passiert, dass eine Frau ein solch heftiges Verlangen in ihm auslöste. Seit seine Frau ihn verlassen hatte, war er keine feste Beziehung mehr eingegangen. Gelegentlich hatte es bedeutungslose One-Night-Stands gegeben, wenn er in Hotels auf Fortbildung war, aber darüber hinaus hatte sich nie etwas entwickelt. Mit ihr konnte er sich jedoch alles vorstellen. Er hätte nie damit gerechnet, dass ihm so etwas noch einmal passieren würde. Dajana bat ihn herein und er folgte ihr, noch immer die Pralinenschachtel in der Hand. Auch das Innere des Hauses passte zum ersten äußeren Eindruck. Das Erdgeschoß bestand aus einem kleinen Flur mit Garderobe sowie Gästetoilette und im Anschluss daran folgte ein großer offener Raum. In diesem befanden sich die Küche, der Essbereich und das Wohnzimmer. Die Küche wurde durch einen Tresen vom Wohnbereich getrennt. Vor dem Tresen stand ein Esstisch für acht Personen. Im eigentlichen Wohnraum befand sich ein weißes schmiedeeisernes Bettsofa mit sehr vielen Kissen. Ihm gegenüber standen mehrere weiße Ledersessel und dazwischen ein niedriger Glastisch, auf dem einige Bücher lagen. Die Fußbodendielen waren, genau wie die einzelnen Fachwerkbalken, die die Bereiche voneinander trennten, weiß lackiert. Der Putz an den Wänden war blasshellgrün gestrichen und die wenigen Teppiche hatten die gleiche Farbe. An einer Wand standen prall gefüllte Bücherregale, an den anderen hingen viele Bilder. Vor der hinteren Wand führte eine Treppe in die obere Etage. Rainer Werner fühlte sich in dieser Wohnung sofort wohl. Sie wirkte einladend und freundlich. Noch immer hielt er die Pralinenschachtel in der Hand. Würde er sie ihr nicht bald geben, würde die Hitze seiner Hände die Pralinen zu einer unförmigen Schokoladenmasse schmelzen. Die Packung weit von sich streckend überreichte er sie ihr. Sie bedankte sich und bat ihn, Platz zu nehmen.

Während sie die Schachtel in die Küche brachte und mit zwei Gläsern und der bereits geöffneten Flasche Wein in der Hand wiederkam, stand er noch immer unschlüssig mitten im Raum. Sich auf das Bettsofa zu setzen wäre ihm zu intim vorgekommen, der Esstisch zu förmlich und bei den Sesseln wusste er nicht, für welchen er sich entscheiden sollte. Sie löste das Problem, indem sie die Flasche und die Gläser auf den Esstisch stellte. Dort stand schon eine Schale mit Snacks sowie zwei Wassergläser und eine Karaffe mit Wasser. Er setzte sich und wusste nicht genau, wie er die Unterhaltung beginnen sollte. Auch dieses Problem löste sie, indem sie das Gespräch eröffnete, während sie den Wein einschenkte. Offensichtlich war sie gut im Problemlösen. Das gefiel ihm.

„Ich freue mich sehr, dass Sie meiner Einladung gefolgt sind. Seit heute Vormittag habe ich ununterbrochen über ihren Vorschlag nachgedacht und inzwischen auch ein paar Ideen dazu. Ich will Ihnen aber nicht vorgreifen. Erzählen Sie doch bitte, wie Sie sich das vorgestellt haben. Aber erst einmal ‚Prost, auf eine erfolgreiche Zusammenarbeit‘.“

Sie erhob ihr Glas und stieß mit ihm an.

„Vielen Dank für die Einladung. Zunächst möchte ich Ihnen sagen, dass Sie ein sehr schönes, geschmackvolles Haus und Grundstück haben. Dazu passt auch dieser ausgezeichnete Wein.“ Er wollte ihr noch weitere Komplimente über ihre Augen, ihre Haare, ihre Figur und ihr Kleid machen, aber selbst ihm war klar, dass er sich in einer Art Hormonrausch befand und dass dies etwas übertrieben wirken würde. Deshalb fuhr er sachlicher fort:

„Gerne will ich Ihnen meine Vorstellungen unterbreiten. Ich dachte, es sei eine gute Idee, eine Gruppe von kriminalistisch interessierten Menschen zu suchen, welche sich regelmäßig treffen, um über alte, ungelöste Fälle zu sprechen. Polizisten, so sie nicht im Ruhestand sind“, fügte er hinzu, „kommen hierfür eher nicht infrage, da sie in ihrer Freizeit nicht auch noch ihrem Beruf nachgehen möchten. Leider stamme ich nicht von hier und war vor meiner Pensionierung beruflich so stark eingespannt, dass ich hier kaum Sozialkontakte habe und darum niemanden kenne, der sich dafür interessiert. Auch wenn wir uns noch nie persönlich begegnet waren, hatte ich natürlich schon von Ihnen gehört. Ihr Ruf als Autorin von sehr spannenden Kriminalromanen eilt Ihnen voraus. Deshalb kam mir der Gedanke, Sie zu fragen, ob Sie an einem solchen Projekt Interesse hätten. Soviel ich weiß, stammen Sie hier aus dem Ort und kennen bestimmt viele Leute, die ebenfalls infrage kämen.“

„Ich freue mich sehr darüber, dass uns der Zufall heute früh zueinander geführt hat. Solch ein Projekt finde ich ausgesprochen spannend und erhoffe mir dadurch natürlich auch, Einblicke in die professionelle Polizeiarbeit zu bekommen, die ich dann in meinen Kriminalromanen verwenden kann. Leider muss ich Ihnen mitteilen, dass mir nicht viele Menschen eingefallen sind, die eine Bereicherung für ein so ein Vorhaben darstellen würden. Entweder sind die Leute, die mir einfielen, intelligent, aber ihnen fehlt die nötige Fantasie, oder sie haben mehr Fantasie als Intelligenz, was auch nicht gerade hilfreich ist. Deshalb kam mir ein anderer Gedanke. Ich kenne natürlich keine Polizeiinterna, aber ich hörte, wie jeder andere Merschenröder auch, dass einige Personen im direkten Umfeld der toten Dame verdächtigt wurden. Wie Sie schon sagten, stamme ich aus Merschenrod, kenne hier fast alle Einheimischen und somit auch die Leute, die in Zusammenhang mit dem von Ihnen erwähnten Fall stehen. Diese Menschen sind eng miteinander verwoben und jemand außerhalb dieser Gruppe wird es bis heute schwer haben, an andere Informationen zu kommen als die bisher bekannten. Allein schon aus diesem Grund würde es wenig Sinn machen, irgendwelche kriminalistisch Interessierte, ohne Zugang zum internen Zirkel, in die Ermittlungen einzubeziehen. Das bedeutet, dass man in diesen Kreis eindringen muss, um diesen Fall zu lösen. Aber wie gelingt das? Da der Fall nie aufgeklärt wurde, schwebt über allen damals Verdächtigen noch immer der Verdacht, ein Mörder zu sein. Gerade in so einem kleinen Ort kann dies zu einer starken persönlichen Belastung führen. Meine Überlegungen gehen nun in folgende Richtung: Jeder der Beschuldigten hat mit Sicherheit ein starkes Interesse daran, endlich seine Unschuld zu beweisen. Den Mörder oder die Mörderin schließe ich dabei natürlich aus. Um in diesen Kreis vorzustoßen, habe ich mir nun Folgendes überlegt: Warum sollte man also nicht die damals Verdächtigten einladen, sich an der endgültigen Aufklärung dieses Falles zu beteiligen?“

Rainer Werner blickte Dajana sprachlos an. Auf diese Idee war er überhaupt nicht gekommen. Selbst wenn ihm dieser Gedankengang gekommen wäre, hätte diese Personengruppe niemals seine Einladung angenommen. Wenn allerdings Frau Borowska die Einladungen aussprechen würde, wäre es vorstellbar, dass solch ein Treffen durchaus zustande kommen könnte.

„Das ist eine hervorragende Idee. Ich bin begeistert. Meinen Sie diese Personen nehmen Ihre Einladung an?“

„Ich denke, es ist einen Versuch wert. Da ich in den Fall nicht näher involviert war, benötige ich natürlich von Ihnen die Namen der Verdächtigen.“

„Damals wurde Edeltraud von Heideberg mit Gift ermordet. Sie war 90 Jahre alt und bereits seit geraumer Zeit bettlägerig. An dem Tag ihres Todes waren sechs Personen in ihrer Wohnung. Jede dieser Personen hatte die Gelegenheit, das Gift in ihren Tee zu geben. Der Polizei gelang es nicht, dies einer Person nachzuweisen. Bei den Verdächtigen handelt es sich um den 65-jährigen Sohn der Toten, Hubertus von Heideberg, um die 60-jährige Schwiegertochter Hildegard von Heideberg und um deren gemeinsame Tochter, die 38-jährige Helene von Heideberg. Weiterhin hielten sich am Todestag von Edeltraud von Heideberg auch die Haushälterin Gerlinde Hill, die Pflegerin Karin Weber und der Nachbar Gerd Blössel in deren Wohnung auf.“

Dajana Borowska hatte sich die Namen notiert.

„Ich kenne diese Personen entweder persönlich oder zumindest vom Namen her. Ich denke, es wird kein Problem sein, sie einzuladen. Wo sollen diese Treffen abgehalten werden und haben Sie eine konkrete Vorstellung davon, wann und wie oft diese stattfinden sollen?“

Über die Frage des Ortes hatte der Kommissar sich noch keine Gedanken gemacht. Sicher war jedenfalls, dass ein solches Treffen mit so vielen Menschen, unmöglich in seiner Wohnung vonstatten-gehen könnte. In seiner Fantasie hatten immer ein paar ältere Männer mit ihm zusammen bei ein paar Flaschen Bier gesessen und mit ihm einen Fall erörtert. Nun war die Zusammensetzung der Gruppe jedoch völlig anders und passte weder in seiner Vorstellung noch in der Realität in seine Wohnung. Dajana Borowska sah ihn an und konnte offensichtlich seine Gedanken lesen.

„Was halten Sie denn davon, wenn wir uns in der Wohnung der Toten treffen? Soviel ich weiß, steht diese noch immer leer. Auf dem Anwesen gibt es auch Nebenräume für Veranstaltungen, die dafür geeignet wären. Falls das nicht geht, könnten wir uns auch im Nebenraum einer Gaststätte treffen. Notfalls auch bei mir.“

Rainer Werner hätte es schön gefunden sich bei ihr zu treffen, aber offensichtlich präferierte sie diesen Ort nicht. Eine Gaststätte hielt er für völlig ungeeignet, egal ob im Haupt- oder Nebenraum. Den Gedanken an den Tatort als Treffpunkt fand er hingegen gar nicht schlecht.

„Die Wohnung der Toten wäre eine gute Idee. Allerdings hege ich Zweifel, ob dem die Angehörigen zustimmen.“

„Mehr als ‚Nein‘ können sie nicht sagen. Lassen Sie es mich wenigstens versuchen. Irgendeinen passenden Ort finden wir schon. Haben Sie denn bereits über den zeitlichen Ablauf nachgedacht?“

„Ich dachte, bei der ersten Zusammenkunft stellen wir uns kurz vor, ich berichte darüber welche Fakten in der Polizeiakte stehen und gebe noch ein paar weitere Hinweise preis. Danach hat einer der Anwesenden ein paar Tage oder eine Woche Zeit, um eigene Informationen zu sammeln und uns dann beim nächsten Treffen seine Ergebnisse und möglicherweise die Tatperson zu präsentieren. Diese Sachverhalte fließen dann auch in den Wissensstand der nachfolgend Vortragenden ein. Ich hoffe, dass mit jedem Abend das Gesamtbild deutlicher erkennbar sein wird und wir vielleicht schneller als erwartet den Täter oder die Täterin überführen können. Was die Uhrzeit angeht, schlage ich 20 Uhr vor, da doch einige der genannten Personen noch berufstätig sind.“

„Ich vermute, dass die Anwesenden sich bereits genügend Gedanken gemacht haben. Mit wirklich neuen Erkenntnissen ist meiner Meinung nach nicht zu rechnen. Sie werden wahrscheinlich höchstens ein paar Tage benötigen, um ihre Sichtweisen zu formulieren und vortragen zu können.“

Das erschien Rainer nachvollziehbar.

„Dann schlage ich vor, wir verbleiben so, dass Sie zunächst mit den Verdächtigen Kontakt aufnehmen und sie fragen, ob sie bereit wären, mitzumachen und vielleicht sogar Räumlichkeiten dafür zur Verfügung zu stellen.“

Dajana Borowska nickte und schenkte erneut Wein nach. Offensichtlich empfand sie den Abend noch nicht als beendet.

„Das werde ich tun. Gab es damals denn schon einen Hauptverdächtigen?“

„Wenn ich das verraten würde, dann wäre die bevorstehende Veranstaltung nicht einmal halb so spannend, wie sie es werden könnte.“ Ein süffisantes Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. Dieses Lächeln erwiderte sie jedoch nicht, sondern antwortete in Gedanken versunken:

„Ich hoffe sehr, dass sich der Fall endgültig lösen lässt. Es würde all jenen, die unschuldig sind, eine schwere Last von den Schultern nehmen.“

Danach trank sie ihren Wein mit einem Schluck aus und sah auf ihre Uhr.

Rainer Werner interpretierte das so, dass der Abend aus ihrer Sicht nun doch beendet war. Er konnte aber seinen Wein nicht so schnell austrinken, deshalb fragte er sie:

„Hat es Sie nie in die Welt hinausgetrieben? Wollten Sie immer hier in Merschenrod bleiben?“

Erstaunt blickte sie ihn an, als wäre sie überrascht, dass er noch immer hier war. Gab dann jedoch bereitwillig Auskunft:

„Ich bin hier geboren. Dieses Haus ist mein Elternhaus. Schon meine Großeltern haben hier gewohnt. Sobald ich alt genug war, Merschenrod zu verlassen, habe ich das getan. Direkt nach dem Abitur bin ich ein Jahr gereist und habe dann in Paris und London jeweils ein Semester studiert. Fragen Sie mich bitte nicht was. Denn das hatte letztendlich keine Bedeutung. In Wirklichkeit studierte ich Menschen und die Nachtclubs. Diese Zeit finanzierte ich durch Aushilfsjobs, die hauptsächlich darin bestanden zu kellnern. Nach etwas über zwei Jahren kam ich zu Besuch nach Hause. Meine Eltern waren zu diesem Zeitpunkt bereits krank und starben innerhalb von wenigen Monaten. Ich habe beide bis zu ihrem Tod gepflegt. Sie hinterließen mir dieses Haus und einen größeren Geldbetrag. Diesen gab ich für meinen Lebensunterhalt aus, als ich in Marburg begann Germanistik zu studieren und nebenbei ein Volontariat bei einer kleinen Tageszeitung machte. Als freiberufliche Journalistin verdiente ich dann mein Geld. Es reichte, um Stück für Stück das Haus zu renovieren sowie mich und mein Auto zu finanzieren. Außerdem gab es mir die Gelegenheit, Bücher zu schreiben. Mit dem fünften Buch gelang mir der finanzielle Durchbruch. Seit dieser Zeit lebe ich ausschließlich vom Bücherschreiben. Ich habe danach ein paar Jahre in Berlin gelebt, aber dann zog es mich wieder in die Heimat zurück. Ich kenne die Merschenröder gut und sie kommen in allen meinen Büchern vor. Aber bisher gab es keinen Mordfall in Merschenrod, über den ich hätte schreiben können. Der Mord an Edeltraud von Heideberg war mir zu nah an meinem Lebensbereich, als dass ich ihn schriftstellerisch verwenden wollte. Aber durch ihren Ansatz kann sich daran etwas ändern.“

Rainer Werner hatte inzwischen seinen Wein ausgetrunken. Er blickte auf die Uhr.

„Es war ein sehr netter und aufschlussreicher Abend bei Ihnen. Ich bedanke mich recht herzlich für Ihre Einladung. Hier ist meine Visitenkarte. Sobald Sie mit den Verdächtigen gesprochen haben, können Sie mich anrufen. Sollte es Ihnen gelungen sein, auch noch eine Örtlichkeit für die Treffen zu finden, können Sie auch gleich den ersten Termin dafür ausmachen. Ich als Rentner habe immer Zeit.“

Beide standen gleichzeitig auf, sie brachte ihn zum Ausgang und bedankte sich für seinen Besuch. Sobald er ihr Haus verlassen hatte, schloss sie die Tür hinter ihm. Er hätte es schöner gefunden, wenn sie ihm zum Abschied lächelnd nachgewunken hätte. Der Abend war noch jung und er machte noch einen kleinen Umweg, bevor er nach Hause ging. Ziel des Umweges war es, sich das Anwesen der von Heidebergs anzusehen. Es war ein Gutshof mit mehreren Nebengebäuden, die in ihrer Gesamtheit einen runden, in sich geschlossenen Verband darstellten. Von außen gesehen wirkte der Hof abweisend und glich eher einem Gefängnis als einem attraktiven Hofgut. Was sich in den einzelnen Gebäuden befand, wusste er nicht, da er lediglich um die Anlage in der Dorfmitte herumgehen konnte, aber keine Möglichkeit hatte, einen Einblick zu bekommen. Er hoffte, dass sich dies ändern würde, falls es Dajana Borowska gelang, die Treffen dort zu organisieren. Er ging beim Dönerstand vorbei und bestellte sich einen Döner zum Mitnehmen. Nachdem er wieder daheim war, öffnete er eine Flasche Bier, schaltete den Fernseher ein und aß seinen Döner, während er versuchte, frühzeitig herauszubekommen, wer der Mörder im Krimi war. Er kam zum Ergebnis, dass die Drehbuchschreiber weder fantasiebegabt noch fachlich kompetent waren. Der Täter erschien jedes Mal in den ersten fünf Minuten und war stets der nette Unverdächtige. Auch dieses Mal war es so. Nach Ende des Krimis schaltete er den Bildschirm aus und nahm das bereits angefangene Buch zum Lesen in die Hand. Seine Gedanken glitten jedoch immer wieder zu Dajana Borowska. Er legte das Buch zur Seite, ging ins Bett und stellte sich vor, sie käme herein, ließ ihr wunderschönes Kleid zu Boden gleiten und hätte darunter nichts als ihre nackte Haut, die durch den Mond, der durchs Fenster schien, in magisches Licht getaucht war.

Tag 3 – Samstag

Dajana Borowska rief Rainer Werner zwei Tage später an.

„Guten Morgen, Herr Werner. Ich hoffe, ich störe Sie gerade nicht.“

„Guten Morgen, Frau Borowska. Sie stören nie. Wie geht es Ihnen? Konnten Sie bereits etwas erreichen?“

„Gut, danke. Ja. Tatsächlich ist es mir gelungen, mit allen, damals Verdächtigen, Kontakt aufzunehmen. Sie sind bereit, sich an der Aufklärung des Falles zu beteiligen. Vielleicht können nicht alle bei jedem Treffen dabei sein, aber sie versuchen es. Weiterhin ist die Familie damit einverstanden, dass diese Zusammenkünfte im Anwesen der von Heidebergs stattfinden. In der Wohnung der Verstorbenen möchte es die Familie nicht, allerdings haben sie einer Führung durch die Räumlichkeiten zugestimmt, damit auch Sie sich ein Bild von den örtlichen Gegebenheiten machen können. Eines der Nebengebäude war früher eine Kapelle und wird heute für Veranstaltungen und private Feiern genutzt. Dort ist Platz genug. Dieser Raum würde sich für unsere Zusammenkunft anbieten. Ich könnte ein Flipchart oder einen Overheadprojektor zur Verfügung stellen. Das erste Treffen könnte schon bald stattfinden. Sie müssen nur einen Termin nennen und ich gebe diese Information dann weiter. Da es vermutlich mehrere Sitzungen geben wird und diese vielleicht auch einmal kurzfristig verschoben werden müssen, habe ich eine WhatsApp-Gruppe gegründet, um alle zeitnah informieren zu können, und habe inzwischen alle, damals Verdächtigen, dazu eingeladen. Lediglich Sie fehlen noch. Ich bitte hiermit, um Ihre Erlaubnis, Sie aufnehmen zu dürfen.“

„Das hört sich fantastisch an. Ich habe nicht damit gerechnet, dass es Ihnen innerhalb dieser kurzen Zeit gelingt, so viel zu erreichen. Respekt! Ein herzliches Dankeschön dafür. Selbstverständlich können sie mich zu dieser WhatsApp-Gruppe hinzufügen. Da wir bereits darüber gesprochen haben, dass einige der Verdächtigen berufstätig sind, würde ich, falls es nicht zu kurzfristig ist, gleich den nächsten Mittwochabend um 20 Uhr vorschlagen.“

„Ich hatte diesen Termin bei meinen Kontaktaufnahmen schon angedeutet und keiner sprach sich explizit dagegen aus.“

„Dann teilen Sie das doch via WhatsApp gleich allen mit. Ich bereite alles dafür vor. Ein Flipchart wäre tatsächlich von Vorteil, zumindest für meine Einführungsveranstaltung. Allerdings könnte ich meine Informationen auch mithilfe eines Overheadprojektors vermitteln. Was für Sie leichter zu transportieren ist, würde ich benutzen.“

„Ich bringe beides mit. Das kann bis zum Ende der Ermittlungen dort stehenbleiben. Vielleicht benötigt es noch ein anderer Teilnehmer. Ich schreibe nun alle an und wenn nichts dazwischenkommt, treffen wir uns am Mittwoch um 20 Uhr auf dem Anwesen. Dann können Sie die Besichtigung der Örtlichkeiten vornehmen und danach die Kapelle aufsuchen, um mit den Ermittlungen zu beginnen. Auf Wiederhören Herr Werner und noch einen schönen Tag.“

„Den wünsche ich Ihnen auch.“

***

Nachdem sie aufgelegt hatten, holte Rainer Werner seine Akte hervor und überlegte sich, welche Informationen er daraus bekannt geben wollte und welche aus ermittlungstechnischen Gründen erst einmal verschwiegen werden sollten.

Er spielte mit dem Gedanken, alle Sachverhalte preiszugeben. Dies würde zwar gleich zu Beginn die Verdächtigen provozieren, aber vielleicht würde genau das dazu führen, dass sich der eine oder die andere verriet. Er nahm sich vor, die Örtlichkeiten zu beurteilen und die Anwesenden kennenzulernen und erst danach zu entscheiden, wer auf eine Provokation hin mehr von sich verraten könnte.

Bis dahin gab es noch viel zu tun. Zunächst rief er bei seiner alten Dienststelle an und ließ sich mit dem damals zuständigen Kommissar verbinden.

Nach dem Telefonat konnte er sich ein besseres Bild der Verdächtigen machen. Allerdings hatte sein ehemaliger Kollege Menschen immer anders eingeschätzt als er. Er fand es interessant herauszufinden, ob sich das diesmal wieder bestätigen würde.

Als Nächstes ging er zum Bäcker und zum Metzger. Es war kurz vor Mittag und die Läden waren leer. Das war sein Plan gewesen. Er machte mit der Bäckerin Smalltalk und schmeichelte ihr etwas, worauf sie danach bereitwillig auf seine Fragen bezüglich des alten Falles Auskunft gab. Beim Metzger ließ er das Schmeicheln weg. Allerdings war auch bei ihm zunächst entspannter Smalltalk vonnöten, um ihn auf seine Fragen vorzubereiten. Er hatte ebenfalls eine Meinung zu dem Tathergang. Rainer Werner fragte sich, warum er nicht schon viel früher mit beiden darüber gesprochen hatte. Vermutlich hatte jeder im Ort eine eigene Sichtweise auf die Tat. Aber in diesen beiden Läden vereinten sich die Ansichten aller Kunden zu einem überzeugenden Mehrheitsbrei. Vielleicht wäre es keine schlechte Idee, noch einmal die Schwätzerbank aufzusuchen. Wer weiß, wer sich zu ihm setzen würde und welche Informationen er dort erfahren könnte. Zunächst sah sein Plan jedoch vor, den gerade gekauften Leberkäse in der Pfanne zu erhitzen und auf das frische Brötchen zu legen. Er überlegte kurz, ob er das Spiegelei darauf weglassen sollte, entschied sich aber dafür und schlug es in die Pfanne, bevor ihn sein schlechtes Gewissen mahnen konnte, an die unnötigen Kalorien zu denken. Nach der Mahlzeit nahm er sich fest vor, sich zukünftig gesünder zu ernähren. Diesen Vorsatz fasste er inzwischen nach fast jedem Essen. Im Anschluss wollte er einen kurzen Mittagsschlaf und danach einen Spaziergang zur Bank machen.

Vormittags hatte es geregnet, aber nachmittags schien wieder die Sonne und es war zu erwarten, dass die Schwätzerbank abgetrocknet war. Sicherheitshalber nahm er sich ein aufblasbares Outdoorkissen und einen kleinen Regenschirm mit und begab sich zu der Bank. Dort angekommen, sah er eine junge Frau darauf sitzen, die in einem Buch las.

„Darf ich mich zu Ihnen setzen?“, fragte er.

„Selbstverständlich“ antwortete diese.

Er fragte, was sie da lese.

„Ich habe mir gerade den neusten Krimi von Frau Borowska aus der Bücherzelle geholt und wollte mal reinlesen, ob er mir liegt. Er gefällt mir und ich werde ihn mit nach Hause nehmen.“

„Ich habe Frau Borowska erst vor ein paar Tagen hier kennengelernt. Eine sehr nette Frau.“

„Ich kenne sie nicht persönlich. Aber man redet über sie.“

„Darf ich fragen, was man über sie redet?“

„Alles Mögliche. Sie soll sehr schwierig im Umgang sein, aber das sind vermutlich die meisten Künstler. Und Schreiben ist ja auch eine Form von Kunst. Außerdem soll sie sehr zurückgezogen leben und häufig verreisen. Wohin weiß keiner. Von ihrem Privatleben weiß niemand etwas Genaues. Sie sieht doch klasse aus und hat trotzdem keinen Mann. Sonderbar. Irgendwie ist sie undurchschaubar. Mehr weiß ich auch nicht über sie. Jetzt muss ich wieder los. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag.“

Diesen wünschte er ihr auch und blieb sitzen. Kurz danach kam ein älterer Mann und ließ sich neben ihn auf die Bank fallen. Nachdem sie über das Wetter gesprochen hatten, erkundigte sich Rainer Werner bei ihm, ob er gebürtiger Merschenröder sei und ob er die Leute kennen würde, die damals mit dem Tod von Edeltraud von Heideberg in Verbindung standen.

„Ich habe mein ganzes Leben in Merschenrod verbracht und kenne jeden. Die von Heidebergs kennt natürlich jeder hier. Denen gehört ja alles. Die meisten Landwirte haben um diesen Ort herum keine eigenen Felder, sondern diese nur von denen gepachtet. Denen traue ich alles zu. Auch einen Mord. Ich sage nur: Adelspack! Mehr sage ich nicht dazu. Die Gerlinde und die Karin haben für die alte Baronin gearbeitet, das sind anständige Mädchen. Die waren das nicht. Die kenne ich schon seit klein auf. Und zum Gerd Blössel sage ich auch nichts. Der ist so alt wie ich. Der war mit mir schon im Kindergarten und in der Schule. Ich kann den nicht leiden. Konnte ich noch nie. Ich muss jetzt weiter.“

Rainer Werner bedankte sich und wünschte ihm noch einen schönen Tag. Der alte Mann nickte nur und bog ab in Richtung Supermarkt.

Es dauerte nicht lange und eine Dame mittleren Alters mit Enkelin nahm neben ihm Platz. Die Kleine ging in die Bücherzelle, setzte sich dort auf den Boden und zog aus der untersten Reihe verschiedene Kinderbücher heraus. Rainer Werner war sich nicht sicher, wie alt das Mädchen war, aber er vermutete, dass sie bereits lesen konnte, so wie sie sich in die Bücher vertiefte. Im Falle der Großmutter gelang es ihm nicht, auf den Tod von Edeltraud von Heideberg zu sprechen zu kommen. Statt von ihr etwas zu erfahren, wusste die Großmutter nach einer Viertelstunde alles Wissenswerte über Rainer Werner und er nichts über sie. Sie hätte eine gute Ermittlerin abgegeben. Bevor er sie fragen konnte, wer sie war, war sie bereits aufgestanden, hatte ihre Enkelin gefragt, für welches Buch sie sich entschieden hatte, und war winkend um die Ecke verschwunden. Für heute reichten ihm die Gespräche. Bis zum Mittwoch hatte er noch etwas Zeit und er plante, einmal täglich diese Bank aufzusuchen. Er musste seinen ehemaligen Kollegen unbedingt den Tipp geben, bei Verbrechen innerhalb eines Ortes undercover Schwätzerbänke mit in ihre Ermittlungen aufzunehmen. Niemals hätte er es für möglich gehalten, dass gerade dort möglicherweise die großen Kriminalfälle der Geschichte gelöst werden könnten. Außerdem hatte er einen Weg gefunden, seine Einsamkeit auf Dauer zu reduzieren. Wer weiß, wen er alles noch kennenlernen konnte. Vielleicht fand sich sogar einmal jemand, der Lust hätte, mit ihm gelegentlich Schach zu spielen. Welch reizvoller Gedanke. Er machte sich auf den Heimweg und dachte dabei an Dajana Borowska. In seinen Fantasien nannte er sie bereits zärtlich Jana und fragte sich, wohin sie so häufig verreiste und was sie für Geheimnisse verbarg. Als seine Gedanken erotische Züge annahmen, entschied er sich spontan, Salat und Gemüse einzukaufen, um Gewicht zu reduzieren. Ein etwas schlankerer Körper, gestählt durch die Physiotherapie, wäre sicher hilfreich, um seine Eroberungspläne in die Tat umzusetzen.

Tag 5 – Montag

Am Morgen des übernächsten Tages ging er erneut zur Schwätzerbank. Nachdem sich in der ersten halben Stunde niemand zu ihm setzte, betrat er den Supermarkt und kaufte Schokoladenkekse. Er öffnete die Packung, als er wieder auf der Bank saß. Vielleicht hat Schokolade einen Einfluss auf das unterbewusste Geruchsempfinden. Wie magisch zog die geöffnete Packung Kinder an. Diese waren allerdings kaum geeignet, seine Ermittlungen voranzutreiben. Nachdem jedes Kind einen Keks bekommen hatte, zogen sie zu dem Spielplatz, welcher sich in Sichtweite befand. Die Mütter waren sehr schlank und lehnten die Kekse ab, aber sie unterhielten sich mit ihm. Mit der Baronin und ihrer Familie hatten sie alle nicht viel zu tun. Die Baronin war zu alt, der Sohn beruflich in der nächstgrößeren Stadt tätig, dessen Frau war eine Zugereiste, die sich nie wirklich integriert hatte, die Tochter Helene war schon früh ins Internat gekommen und hatte ihre prägenden Jahre nicht im Ort verbracht. Die Haushälterin und die Pflegerin kannte man, aber aufgrund des Altersunterschiedes hatte man keinen näheren Kontakt mit ihnen. Der Nachbar war ein sonderbarer Kerl, über den es geteilte Meinungen gab. Die Spannbreite beinhaltete alles von sehr höflich und aufmerksam bis zu aufdringlich und widerlich schleimig. So nett diese Unterhaltungen auch waren, sie halfen Rainer Werner nicht. Als die Schokoladenkekse aufgegessen waren, zogen auch die Mütter mit ihren Kindern weiter.

Er wollte schon resigniert aufbrechen, als sich eine ältere, sehr elegante Dame neben ihn setzte. Sie sah ihn interessiert abschätzend an und eröffnete das Gespräch mit den Worten:

„Sie sind also der Kommissar im Ruhestand, der alle Leute nach den Verdächtigen in Bezug auf den Tod der Baronin ausfragt.“

Es ergab keinen Sinn, das abzustreiten.

„Ja, der bin ich. Mein Name ist Rainer Werner. Mit wem habe ich das Vergnügen, gnädige Frau?“, erwiderte er freundlich lächelnd.

„Mein Name ist Carmen Schneider. Vermutlich hat sich die Dorfgemeinschaft auf zwei ihrer Verdächtigen versteift. Zunächst einmal auf die Schwiegertochter Hildegard von Heideberg. Das Hauptargument für ihre Täterschaft besteht darin, dass sie die einzige Zugereiste ist. Wie unsinnig dieses Argument ist, versteht sich von allein. Der andere Verdächtige, der von fast genauso vielen Einheimischen als Täter gehandelt wird, ist der Nachbar Gerd Blössel. Ich kann Ihnen versichern, dass er ein Riesenidiot ist, aber kein Mörder.“

„Woher nehmen Sie diese Gewissheit?“

„Ich bin seine Ex-Frau. Er ist ein Angeber, ein notorischer Lügner und Betrüger. Er träumt davon, er sei James Bond 007 von Merschenrod und die hübschesten Frauen der Welt lägen ihm zu Füßen. Dabei vergisst er in den Spiegel zu sehen und dass er vermutlich schon lange keinen mehr hochbekommt.“

Rainer Werner blickte Carmen Schneider an und war sprachlos.

Das nutzte sie aus, um weiterzusprechen:

„Sie denken jetzt wahrscheinlich: ach ja, diese Ex-Frauen lassen nie ein gutes Haar an ihrem Ex. Aber so ist es nicht. Ich war noch sehr jung, als wir zusammenkamen. Wir haben früh geheiratet und ich habe sehr schnell gemerkt, dass wir nicht zusammenpassen. Für die damalige Zeit und dazu auf dem Land stellte es noch eine Revolution dar, sich scheiden zu lassen. Ich tat es trotzdem, auf die Gefahr hin, als ‚Geschiedene‘ nie wieder einen Mann zu finden. Aber es dauerte nicht lange und ich bin meinem zweiten Mann begegnet, mit dem ich eine sehr glückliche Ehe führte, bis er letztes Jahr starb. Aus dieser Ehe sind zwei prachtvolle Kinder und drei ebenso prachtvolle Enkel hervorgegangen. Gerd und ich hatten uns inbeiderseitigem Einverständnis getrennt. Wir sind nicht nur immer in Kontakt geblieben, was auf dem Dorf sowieso nicht anders geht, sondern blieben auch unser Leben lang gute Freunde. Glauben Sie mir, ich kenne ihn besser als jeder andere Mensch. Er ist viel zu feige für einen Mord.“

„Sie haben sich bestimmt auch über die anderen Verdächtigen Gedanken gemacht. Wem davon würden Sie einen Mord zutrauen?“

„Ich will nicht spekulieren, aber für mich kommen zumindest zwei in die engere Auswahl. Zunächst einmal Gerlinde Hill, die Haushälterin, weil deren Familie wegen der Baronin ihr Heim verloren hat. Die Eltern hatten einen Bauernhof, der Vater war ein Säufer und die Mutter war kränklich. Den Hof hätten sie wahrscheinlich sowieso nicht halten können. Gerlinde wurde damals als junge Frau von der Baronin aufgenommen, weil sie fleißig war. Dafür hat Gerlinde auf ein eigenes Leben mit Mann und Kindern verzichtet. Was gegen ihre Täterschaft spricht, ist, dass es keinen Sinn ergibt, so viele Jahre oder besser Jahrzehnte mit dem Mord zu warten. Damit scheidet sie vermutlich aus. Mein anderer Kandidat ist der Sohn. Das kann aber daran liegen, dass ich voreingenommen bin, weil ich Anwälten prinzipiell nicht über den Weg traue. Was aber noch für ihn spricht, ist, dass er befürchten musste, dass die Baronin Gerd vielleicht in ihrem Testament berücksichtigen könnte. Die Pflegerin Karin Weber ist eine gut ausgebildete, fleißige Frau. Ich traue ihr zu, eine Todkranke zu erlösen, aber dazu hätte sie vermutlich Mittel und Wege gefunden, die sich nicht oder nur schwer nachweisen ließen. Deshalb schließe ich sie aus. Ob die Schwiegertochter Hildegard von Heideberg innerhalb der Familie eigenständige Entscheidungen trifft oder sich immer an die Regularien der Familie hält und deshalb niemals ihre Schwiegermutter töten würde, vermag ich nicht zu beurteilen. Bleibt also nur noch die Enkelin übrig. Sie war in ihrer Kindheit und Jugend im Internat. Wenn sie hier war, dann hatte sie kaum Kontakt zu anderen hier im Ort. Ich habe gehört, dass sie in Therapie ist, aber weshalb weiß ich nicht. Sie ist somit die unbekannte Variante im Spiel. Allerdings halte ich die Auswahl der Verdächtigen für zu begrenzt. Es gäbe noch viel mehr Leute, die einen Grund hätten, der Baronin oder ihrer Familie etwas anzutun.“

Hellhörig geworden, hakte Rainer Werner sofort nach:

„Was meinen Sie damit?“

„Heute versucht sich der Adel eher zurückzuhalten. Noch vor fünfzig Jahren war das anders. Da war der Adel der Herrscher über das Dorf und seine Menschen. Alle waren von der Baronin und ihrer Familie abhängig und diese ließen es die Dorfbevölkerung auch spüren. Wenn es um die Vermehrung des eigenen Vermögens ging, wurde der ein oder andere Mensch hier im Ort in den Ruin getrieben. Selbstverständlich wurde das dann netter formuliert: Man half ihm, indem man ihm den Hof abkaufte. Auf dem Land haben die Leute ein gutes Gedächtnis. Auch das Generationengedächtnis funktioniert. Neunzig Jahre sind ein langes Leben. Da geschieht viel und nicht alles davon wird verziehen. Vielleicht war erst jetzt die Gelegenheit gekommen, um sich zu rächen. Wer weiß das schon. Was ich damit sagen will, ich glaube, es gibt mehr als sechs Verdächtige. Aber die Polizei hat sich nie die Mühe gemacht, in der Richtung zu recherchieren.“

Gerne hätte Rainer Werner sich noch länger mit Carmen Schneider unterhalten, aber sie war aufgestanden und sagte ihm, dass sie jetzt weitermüsse.

Er bedankte sich für das Gespräch und die Informationen und sie nickte nur.

Nachdenklich blickte er ihr hinterher. Eine interessante Person, diese Carmen Schneider, fand er. Er hatte nun lange genug auf der Bank zugebracht, entschied, dass es Zeit war, etwas einzukaufen und den Rückweg anzutreten.

Auf dem Heimweg fällte er die Entscheidung, bei dem ersten Treffen nicht alle Informationen preiszugeben, die er inzwischen hatte. Er würde die Bombe erst nach allen Plädoyers platzen lassen.

Kapitel 2

Tag 7 - Mittwoch

Gestern hatte es geregnet und er konnte die Schwätzerbank nicht mehr aufsuchen. Den heutigen Tag nutzte er für die letzten Vorbereitungen für das abendliche Treffen. Er hatte sich für einen grauen Anzug entschieden und trug dazu ein schwarzes T-Shirt. Seine Unterlagen hatte er bereits so aufbereitet, dass er sie mithilfe des Overheadprojektors oder des Flipcharts vortragen konnte. Er packte diese in seine Aktentasche, die ihn sein ganzes Berufsleben begleitet hatte. Pünktlich um 20 Uhr stand er vor dem Hofgut. Außer ihm war niemand da. Ein paar Minuten später erschien Dajana Borowska. Sie sah heute Abend sehr hübsch aus. Sie trug einen schwarzen Hosenanzug und dazu einen grauen Strickpullover. Besonders attraktiv fand er ihren Hut, einen schwarzen Fedora, bestimmt von Borsalino.

„Guten Abend, Frau Borowska, ich vermute einmal, wir beide sind die ersten Teilnehmer.“

„Guten Abend Herr Werner, ich gehe davon aus, dass wir beide die Letzten sind und die anderen bereits reingegangen sind.“

Sie betätigte den Türgriff und das Tor öffnete sich.

Der Blick in den Innenhof verschlug ihm den Atem. Ein wunderschönes Ambiente. Überall standen oder hingen Dekorationsgegenstände im Hof. Efeu und Kletterrosen umrahmten die Kulisse. Links vom Eingangstor stand das Haupthaus. Daneben befanden sich mehrere kleinere Nebengebäude und größere Scheunen. Den Abschluss stellte rechts vom Eingang die historische Kapelle dar. Von außen war der Hof nicht einsehbar. Rainer Werner fand, dass dies eine sehr beeindruckende Anlage war. Dajana Borowska steuerte zielgerichtet die Kapelle an. Offensichtlich kannte sie sich auf dem Hofgut aus. Das hatte sie bisher nicht erwähnt. Nachdem sie die Tür zur Kapelle geöffnet hatte, traten beide ein und sahen, dass alle Teilnehmer schon eingetroffen waren und entweder an dem langen Tisch saßen oder an ihm standen. Dajana Borowskas Flipchart und ihr Overheadprojektor waren bereits aufgebaut. Hubertus von Heideberg stand auf und begrüßte Rainer Werner.

„Möchten Sie sich zuerst die Wohnung meiner Mutter ansehen oder lieber die Anwesenden kennenlernen?“

„Ich denke, es wäre netter, wenn ich mich erst einmal vorstellen würde, dann die einzelnen Personen kennenlernen und danach die Besichtigung vornehmen könnte.“ Rainer Werner hat sofort gespürt, dass er gleich zu Beginn die Regeln aufstellen musste, um die kommenden Gespräche zu leiten, sonst würde das der Hausherr übernehmen und das war nicht in seinem Sinne. Hubertus von Heideberg gefiel es gar nicht, von der Position des Hausherrn in die des Verdächtigen gedrängt zu werden, aber er wollte es sich nicht schon von Anfang an mit dem Kommissar verderben. Er war ein guter Anwalt und wusste genau, wann der Zeitpunkt gekommen war, die Zügel in die Hand zu nehmen. Jetzt war nicht der Moment dafür. Er nickte und setzte sich wieder. Auch alle anderen nahmen Platz.

Rainer Werner legte seine Aktentasche am Kopfende des Tisches vor sich und blieb stehen.

„Guten Abend meine Damen und Herren, ich danke Ihnen, dass Sie heute hier erschienen sind. Mein Name ist Rainer Werner, und wie Sie inzwischen bestimmt wissen, bin ich Kommissar im Ruhestand. Das bedeutet, dass ich keinerlei polizeiliche Befugnisse mehr habe. Der Tod der Baronin von Heideberg ist noch nicht aufgeklärt. Im Fachjargon handelt es sich um einen sogenannten Cold-Case-Fall. Das heißt, dass die Akte zwar offiziell nicht geschlossen ist, da es sich um ein Kapitalverbrechen handelt, wird sie das auch nie, aber es wird erst weiter ermittelt, wenn es neue Hinweise gibt. Wir sind nun hier versammelt, um herauszufinden, was damals wirklich geschah. Dass es einen Mörder oder eine Mörderin gegeben haben muss, ist unstrittig. Auf allen anderen lastet bis heute noch der Verdacht, ein Mörder oder eine Mörderin zu sein. Das stellt für diejenigen eine große Belastung dar und ich hoffe, dass es uns gelingt, ihre Unschuld zu beweisen und den Täter zu überführen. Bis auf Frau Borowska, die ich erst vor kurzem zufällig kennenlernte und der ich ausgesprochen dankbar bin, dass sie dies überhaupt alles ermöglichte, kenne ich noch niemanden von Ihnen. Deshalb wäre mein Vorschlag, dass Sie sich einmal kurz vorstellen und wir gemeinsam rekonstruieren, was jeder von Ihnen am Vormittag des Todestages in der Wohnung der Verstorbenen tat. Danach würde ich mir gerne die Wohnung ansehen.“

Nach diesem Vortrag war klar, wer die Veranstaltung leitete. Rainer Werner nahm Platz und lächelte aufmunternd in die Runde. Wie nicht anders zu erwarten war, ergriff Hubertus von Heideberg als Erster das Wort.

„Mein Name ist Hubertus von Heideberg. Ich bin der Sohn der Verstorbenen. An ihrem Todestag wollte ich nach meiner Mutter sehen, bevor ich zur Arbeit fuhr. Ich betreibe in Alsfeld eine Rechtsanwaltskanzlei und abends wird es oft spät, bis ich nach Hause komme. Deshalb entsprachen die Besuche bei meiner Mutter vor meiner Arbeit der üblichen Routine. Da die Pflegerin meine Mutter noch versorgte und ich deren Intimsphäre achtete, ging ich in die Küche. Die Haushälterin kochte morgens als Erstes immer eine Kanne Kaffee. Ich nahm mir eine Tasse und setzte mich an den Tisch, um die aktuelle Tageszeitung zu lesen. Auch das gehörte zur üblichen Routine. Nachdem die Pflegerin fertig war, betrat ich das Zimmer meiner Mutter und wir unterhielten uns kurz und besprachen einige Dinge. Dann verabschiedete ich mich und verließ ihre Wohnung.“

Als er erwähnte, dass es abends oftmals spät würde, blickte Rainer Werner sofort zu dessen Ehefrau und erhaschte nur ein Zucken um deren Mundwinkel. Die Frau hatte sich gut unter Kontrolle. Ob es jedoch immer nur die Arbeit war, die für das späte Heimkommen verantwortlich war, bezweifelte er nun.

„Vielen Dank, Herr von Heideberg. Wer von Ihnen ist die Haushälterin Gerlinde Hill?“

„Das bin ich.“ Sie war eine kräftige Frau, die ihr Leben energisch angepackte, was man ihr ansah.

„Können Sie mir sagen, wo Sie zu diesem Zeitpunkt waren?“

„Herr von Heideberg hat einen eigenen Schlüssel zur Wohnung seiner Mutter. Ich musste ihm also nicht die Tür öffnen. Ich hatte der Baronin frühmorgens das Frühstück gebracht, das wie immer aus einer Tasse Kaffee, zwei Scheiben Toast und Marmelade bestand. Nachdem sie gefrühstückt und ich alles abgeräumt hatte, erschien Karin Weber, die Pflegerin. Dann räumte ich die Waschmaschine aus, bestückte sie erneut und stellte sie wieder an. Als ich danach wieder in die Küche kam, saß die Pflegerin dort und trank ihre Tasse Kaffee. Das gehörte genauso zum morgendlichen Ritual wie der Kaffee des Barons. Dieser war inzwischen bei seiner Mutter im Zimmer.“

„Vielen Dank. Frau Weber?“ Er blickte sich suchend im Raum um und eine etwas zurückhaltend wirkende Frau erhob ihre Hand. „Können Sie das bestätigen?“

„Mein Name ist Karin Weber und ich war die Pflegerin der alten Baronin. Ja, so war es. So war es eigentlich immer. Sobald ich Frau von Heideberg versorgt hatte und die Küche betrat, verließ ihr Sohn diese, um zu ihr zu gehen. Bevor ich zu meinen anderen Patienten fuhr, trank ich morgens in der Küche der Baronin eine Tasse Kaffee. Frau Hill hatte immer genug gekocht. An dem Tag war zunächst nichts anders als an jedem Tag. Bis das Unglück geschah.“

„Was geschah als nächstes?“

Die Schwiegertochter meldete sich zu Wort.

„Mein Name ist Hildegard von Heideberg, ich bin die Ehefrau von Hubertus von Heideberg. An dem Vormittag wollte ich nur kurz nach meiner Schwiegermutter sehen. Als ich kam, war niemand in der Küche. Ich schenkte mir eine Tasse Kaffee ein und nahm sie mit ins Zimmer meiner Schwiegermutter. Nachdem ich mich von ihr verabschiedet hatte, brachte ich meine leere Tasse in die Küche und verließ die Wohnung.“

Gerlinde Hill nickte und teilte dem Kommissar mit:

„Ich war noch mit der Wäsche beschäftigt, als die junge Baronin in der Wohnung war. Auch sie besitzt einen Wohnungsschlüssel.“

Als Nächstes ergriff die jüngste Person im Raum das Wort. Es handelte sich hierbei um eine ausgesprochen attraktive Erscheinung von Ende dreißig. Sie hatte blonde Haare, die glatt und schimmernd in einem Long-Bob ihr hübsches Gesicht umrahmten. Ihre Figur war schlank und das dunkelblaue Etuikleid passte gut zu ihren blauen Augen.

„Mein Name ist Helene von Heideberg. Ich bin die Tochter von Hildegard und Hubertus von Heideberg und die Enkelin der verstorbenen Baronin. Kurz vor dem Mittagessen kam ich vorbei. Als ich die Küche betrat, hatte Frau Hill gerade das Tablett mit dem Mittagessen für meine Großmutter fertiggemacht und trug es in deren Zimmer. Meine Großmutter achtete darauf, dass für mich immer ein Vorrat an Cola im Kühlschrank war. Nachdem ich mir ein Glas davon eingeschenkt hatte, betrat ich das Zimmer meiner Oma in dem Augenblick, als Frau Hill es verließ.“

Ein weiteres Nicken von Frau Hill bestätigte dies Rainer Werner. Dieser sah sie aufmunternd an und sie reagierte darauf, indem sie ihm erzählte, was die Baronin an dem Tag zu sich genommen hatte: