Einbein - Jens Waschke - E-Book

Einbein E-Book

Jens Waschke

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  • Herausgeber: Lehmanns
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2023
Beschreibung

Es gibt Tage, an denen sich der in die Jahre gekommene Anatomieprofessor Nodus, als Prosektor zuständig für das Leichenwesen in der Münchner Anatomischen Anstalt, manchmal fragt, ob er nicht die Arbeit an den Nagel hängen soll. So wie heute an diesem eigentlich schönen herbstlichen Sommertag. Erst ein mysteriöser anonymer Anruf am Vormittag, dann pöbelt ihn einer der Studenten an, ob seine Vorlesung wieder mit der ewig-gleichen Anekdote über den Nordeuropäischen Hirsch beginnen wird und dann schließlich das: Im Hof der Anatomischen Anstalt wird ein anatomisch exakt abgetrenntes einzelnes Bein abgelegt. Ein linkes Bein. Zu wem das Bein wohl gehört? Denn nach der Methode von Nodus ist dieses Bein nicht seziert worden. Er und sein Präparator Ernst Unbehagen stehen vor einem Rätsel. Das weitet sich allmählich zu einer Apokalypse aus, denn auch Kollegen anderer bayerischer Universitäten berichten von abgetrennten einzelnen Gliedmaßen, die sie erhalten haben. Nodus und sein kauziger Präparator gehen der Sache nach. Doch ehe er sich versieht, wird Nodus selbst Opfer einer unerbittlichen Verfolgung.

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Seitenzahl: 176

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Waschke

Einbein

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Impressum

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet unter http://www.dnb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehaltenDieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar.Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen, Verfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung auf DVDs, CD-ROMs, CDs, Videos, in weiteren elektronischen Systemen sowie für Internet-Plattformen.

© 1. Auflage: quowadis GbR München© 2. korrigierte Aufl. 2023. Lehmanns Media GmbHHelmholtzstr. 2-910587 BerlinDesign: Jens WaschkeGrafik: Andreas DietzSatz & Layout: LaTeXVolker ThurnerUmschlag: Jasmin PlawickiDruck und Bindung: ScandinavianBook • Neustadt (Aisch)ISBN 978-3-96543-408-0 www.lehmanns.de

für meine Familie.

Meine Liebe und Inspiration, mein Halt,

mit beiden Beinen im Leben zu stehen

VIDOLOR

Wenige Tage zuvor

Jetzt hatten Sie ihn doch ertappt! Dabei war es doch nahezu unmöglich. Er hatte versucht, alle Spuren zu verwischen. Sogar die elektronischen Protokolle der Zugänge zum Institut hatte er nachträglich geändert, was alles andere als einfach gewesen war. Eigentlich konnte niemand wissen, dass er am vergangenen Wochenende noch einmal hier gewesen war, was nicht mit seinen eigentlichen Aufgaben zu tun hatte.

Trotzdem konnte er sich beim besten Willen nicht anders erklären, warum ihm gerade per E-Mail mitgeteilt worden war, sich bitte umgehend im Büro des Geschäftsführers einzufinden. Zumal dieser zuvor, abgesehen vom Bewerbungsgespräch, nie ein persönliches Treffen für wichtig erachtet und mit ihm, wenn überhaupt, nur per E-Mail kommuniziert hatte. Und das, obwohl das Institut nun wirklich nicht groß war. Eigentlich war er sogar dessen einziger Mitarbeiter, der einen festen Arbeitsplatz hier hatte. Alle anderen Mitarbeiter arbeiteten in der Konzernzentrale in den USA und, wie er seit Kurzem wusste, in einer Außenstelle in Sarajevo. Auch wenn diese Zweigstelle in Bosnien und Herzegowina sicher nie im offiziellen Web-Auftritt der Firma genannt werden würde, so viel war sicher. Auch der Geschäftsführer war, soweit er es beurteilen konnte, nahezu nie hier im Institut. Daher schien es unwahrscheinlich, dass Mr. Gordon ihn kurz vor dem Wochenende zu einem Pläuschchen bei einer Tasse Kaffee zu sich ins Büro bat. Er spürte, wie er zu schwitzen begann und seine Bewegungen fahrig wurden. Sogar seine Smart-Watch schien die Veränderung wahrzunehmen und ermahnte ihn auf dem Display: Nur mit der Ruhe, Stress ist ungesund. Atme tief durch und denke an etwas Schönes! Bullshit-Bingo!

Und das, wo er doch wirklich keine zart besaitete Natur hatte. Im Gegenteil, in seinem Job musste man schon abgehärtet sein und so einiges hinnehmen, was normale Menschen als Affront gegen den guten Geschmack oder sogar als Angriff gegen alle Normen des menschlichen Zusammenlebens auffassen würden. Wie auch immer, da der Gesprächstermin gleich um elf Uhr angesetzt war, blieb ihm keine weitere Zeit für Spekulationen, die an diesem Punkt sowieso nicht weiterhalfen. Also klemmte er seinen Laptop unter den Arm, falls sein Chef doch nur eine dringende spezifische Frage zur Abwicklung der letzten Aufträge haben sollte, und machte sich auf den Weg an das andere Ende des Korridors. Das Gebäude war sehr modern, alle Außenflächen verglast und verspiegelt, sodass er sehen konnte, dass draußen ein schöner Spätsommertag angebrochen war mit wolkenlosem Himmel. Irgendwie konnte ihn das aber heute nicht fröhlich stimmen.

Nach einem kurzen Klopfen wurde er hereingebeten. Mr. Gordon saß an seinem Schreibtisch aus Industriestahl, der auch heute wieder so leergefegt war wie das gesamte Büro, sodass er sich erneut fragte, was sein Chef wohl tat, wenn er denn mal hier war. Vielleicht war es aber auch nur das konsequenteste papierlose Büro, das man sich vorstellen konnte. Gordon trug einen schnittigen blauen Anzug ohne Krawatte und hätte mit seinem gut gebräunten Teint und seiner makellosen Frisur auch als CEO irgendeines Tech-Start-Ups durchgehen können. Aber eigentlich waren sie ja auch nur eine Vermittlungsagentur wie andere moderne Firmen von LOVOO bis Tinder, nur dass ihre zu vermittelnden „Mandanten“ eher weniger lebendig und kontaktfreudig, aber dennoch fast lebensfrisch bei ihnen ein- und aus „gingen“. An- und Verkauf würde auch passen, dachte er zynisch.

Mit einem strahlenden Lächeln, so als wollte er ihn als Gast in einer Wellness-Einrichtung begrüßen und durch seinen Anblick sogleich das Entspannungsgefühl steigern, begrüßte ihn Mr. Gordon in akzentfreiem Deutsch: „Es freut mich, dass wir uns mal wieder persönlich sehen! Da ich ganz kurzfristig meine Planung geändert habe und nochmal hier in der Filiale vorbeischauen wollte, ist es mir ein besonderes Anliegen, mal wieder mit Ihnen zu sprechen. Sie sind jetzt ja auch schon seit bald neun Monaten bei uns. Wie gefällt es Ihnen, haben Sie sich gut in Ihr Arbeitsgebiet eingefunden?“

Vielleicht war es nur eine Kontrolle, wie er seine spontane „Dienstreise“ von vor zwei Wochen weggesteckt hatte. Nur nichts anmerken lassen hieß also die Devise. Der sonderbare Eindruck, irgendwann im letzten Jahr in einen falschen Film geraten zu sein, verstärkte sich aber augenblicklich noch erheblich. Die Frage klang, als wäre er bei einer Investment-Bank und der Vorgesetzte würde fragen, ob die Smoothies in der Kantine auch immer schön gekühlt wären. Aber seine Tätigkeit war wohl sonst mit kaum einer anderen vergleichbar, wenn man mal vom reinen Abwicklungsprozess absah, der nur über das Internet und Telefon geführt wurde. Persönlichen Kontakt zu Kunden oder den „Mandanten“, wie er sie nannte, gab es nie. Und das, obwohl die Kunden alles andere als von geringem Prestige waren. Es waren Wissenschaftler von Top-Forschungs-Instituten des Landes darunter, meistens jedoch Mediziner an renommierten Kliniken, die ihrerseits im Austausch mit internationalen Kapazitäten auf ihren Forschungsgebieten standen. Diese wurden für Kongresse und Fortbildungsveranstaltungen aus den USA, England und zunehmend auch aus China eingeflogen. Aber mit den Veranstaltungen selbst hatte er ja nur indirekt und mit den medizinischen Koryphäen aus dem Ausland gar nichts zu tun. Die kannte er nur von den Flyern, mit denen die Veranstaltungen beworben wurden. Ihre Firma wurde als Partner allerdings nie genannt. Eingangs fand er das eigenartig und wollte schon mal auf den Umstand hinweisen, dass eine Nennung doch für sie eine gute und einfache Werbung in Fachkreisen wäre. Da aber niemand im Institut arbeitete, mit dem er sich hätte austauschen können, hatte er das Anliegen verschoben. Mit den Informationen, über die er seit einigen Tagen verfügte, war ihm allerdings schlagartig wie Schuppen von den Augen gefallen, dass es für diese Diskretion sehr gute Gründe gab. Nun war er froh, einfach den Mund gehalten zu haben. All dies ging ihm durch den Kopf, bevor Mr. Gordon fortfuhr:

„Sie scheinen überrascht zu sein, dass ich Sie einfach ohne triftigen Grund zu mir bitte? Tatsächlich muss ich eingestehen, dass ich eine kleine Bitte habe, und da ich schon mal hier bin, dachte ich, ich könnte dies mit einem kleinen Gespräch verbinden“.

„Das ist sehr nett und… ja, doch, ich habe mich gut eingelebt. Es läuft auch alles gut und die Vermittlungen der letzten Monate liefen tadellos, alle Kunden waren sehr dankbar und zufrieden.“

Er merkte selbst, dass seine Antwort nicht nur hölzern und wenig authentisch klang, sondern auch an Inhalt so banal und ausdruckslos rüberkam, dass sie ihm auf der Stelle peinlich war. Wieder registrierte er ein paar Schweißtropfen, die von dem Spiegelbild seiner Glatze im Fenster herüberglitzerten. Schnell fuhr er sich mit der Hand über den Kopf, da er auf keinen Fall wollte, dass ihm sein Gegenüber die Anspannung ansehen konnte. Da schien er aber die Empathie, die Mr. Gordon seinen Mitarbeitern oder seinen Mitmenschen im Allgemeinen entgegenbrachte, überschätzt zu haben. Zumindest ließ sich sein Vorgesetzter nicht anmerken, ob er den Gefühlszustand seines Filialleiters einordnen konnte.

„Um es kurz zu machen“, fuhr Gordon unumwunden fort, „einer unserer Kunden – der mit der Fortbildung im Klinikum letzte Woche – hat gebeten, ob Sie heute vor Feierabend nochmal kurz vorbeischauen könnten, da er etwas zur Vorbereitung der Körper mit Ihnen besprechen wollte, um deren Nutzbarkeit in Zukunft noch weiter zu verbessern“.

Ihm wurde mulmig, wenn er sich bei der Formulierung vor Augen führte, dass es sich um Menschen handelte, von denen Gordon sprach. Tote zwar, aber dennoch Menschen. Immerhin war dem Amerikaner hoch anzurechnen, dass er nicht wie viele in der Branche einfach wie im Englischen von „Kadavern“ sprach. Diese Formulierung wird im Deutschen ausschließlich für tote Tiere verwandt, nicht aber für Menschen. Hier könnte man Leichen sagen oder eben Körper, wenn es um die Beschreibung der äußeren Hülle der Menschen ging, fand er.

„Nehmen Sie den Firmenwagen, dann müssen Sie nicht die S-Bahn nehmen wie all die anderen armen Kreaturen, die sich keinen eigenen Wagen leisten können oder nicht über den Luxus eines Firmenparkplatzes verfügen“.

„Kein Problem, wann werde ich erwartet?“, erwiderte er, hoffend, sich seine einsetzende Beruhigung nicht durch zu viel Enthusiasmus gegenüber diesem banalen Auftrag anmerken zu lassen. Tatsächlich fiel ihm ein Stein vom Herzen. Auch wenn es bisher noch nie vorgekommen war, dass er nach einer Veranstaltung einen Kunden besucht hatte, so handelte es sich doch immerhin um eine Routine-Angelegenheit, die mit seiner üblichen Tätigkeit in Verbindung stand und nicht mit seiner außerbetrieblichen Aktion vom Wochenende.

„Fahren Sie am besten gleich, dann haben Sie das vor der Mittagspause erledigt. Und falls ich bis zu Ihrer Rückkehr nicht mehr da sein sollte, wünsche ich Ihnen weiterhin alles Gute!“

Na, das war ja mal war was, persönliche Wünsche vom Chef. Irgendwie aber hatte er einen faden Beigeschmack im Mund. Wie damals, als ihm ein Bestattungsunternehmer beim Tode seines Vaters zum Abschied hinterhergerufen hatte, er wünsche ihm noch weiterhin viel Gesundheit. So antwortete er auch nur bemüht locker:

„Geht klar, Chef, dann bis bald!“, sagte er, nahm seinen Laptop und machte sich auf den Weg, nachdem er in seinem Büro den Laptop schnell gegen den Autoschlüssel getauscht hatte. Eigentlich traf es sich ganz gut, ging ihm durch den Kopf, als er die Tiefgarage des Instituts betrat, die sich diese mit den anderen Firmen im Gebäude teilte. So konnte er wenigstens nochmal ungestört das Auto überprüfen und feststellen, ob er nicht doch irgendwelche Hinweise auf seinen Wochenend-Trip zurückgelassen hatte. Kaum hatte er aber ein paar Schritte zurückgelegt und bereits mit der Fernbedienung des Autoschlüssels die Türen geöffnet, hatte er plötzlich den Eindruck, er wäre nicht allein in der Garage. Es handelte sich nur um eine vage Ahnung, so, als könnte er ein Spannungsfeld in der Umgebung wahrnehmen, dessen Ströme durch die Anwesenheit eines anderen Menschen nahezu unmerklich verändert worden waren.

Gerade als er sich umdrehen wollte, hörte er ein knirschendes Geräusch. Wie von einem Lederschuh, der beim Aussteigen aus dem Auto auf mit Splitt gestreutem Beton unter der Last des Körpergewichts gedreht wird. Bevor er aber sein Gegenüber sehen konnte, traf ihn etwas Spitzes unvermittelt am Hals. Es fühlte sich zunächst an wie der banale Stich einer Wespe. Augenblicklich spürte er, wie alle Muskeln erschlafften und er zu Boden zu sinken drohte. Er wurde mit einem festen Griff von hinten gepackt und umschlungen, sodass er nun wie ein Mehlsack in den Armen eines anscheinend kräftigen Menschen hing. Es war abstrus, da er keine Bewegung machen konnte und ihm nicht mal seine kleinen Fingerglieder gehorchten, aber auf der anderen Seite keine Ohnmacht einsetzte. Er blieb bei vollem Bewusstsein wie in einem Wachtraum, aus dem er allerdings spätestens jetzt allzu gern wieder aufgewacht wäre. Da sein Kopf auf die Brust sackte, sah er nur seine eigenen Füße, als er zu seinem Wagen geschleift wurde.

Das war ja ein Ding, dass er in der firmeneigenen Tiefgarage erst überfallen wurde und dann offensichtlich auch noch mit dem eigenen Firmenwagen verschleppt werden sollte. Tun konnte er nichts, er war schon froh, dass wenigstens seine Atemmuskeln bisher nicht ihren Dienst versagten. Tief atmen konnte er allerdings nicht mehr und musste daher mit dem wenigen frischen Sauerstoff haushalten, der bei jedem der flachen Atemzüge noch seine Lungen erreichte. Zumindest wenn er nicht gleich auf der Stelle ersticken wollte. Die Tür zum Fond des schwarzen BMW-Kombi wurde geöffnet und er wurde grob hineinbugsiert, ohne angeschnallt zu werden, sodass er etwas schief im Sitz hing wie ein Fahrgast, der einen über den Durst getrunken hatte und nun seinen Rausch mit hängendem Kopf und triefenden Mundwinkeln ausschlief, während er nach Hause kutschiert wurde. Wohin die Fahrt ging, konnte er nicht sehen, da sein Kopf immer noch mit dem Kinn auf der Brust ruhte und auch seine Augen nicht mehr so recht die Bewegungen ausführen wollten, die sein Gehirn ihnen krampfhaft auferlegen wollte. So verging ungefähr eine halbe Stunde, falls seine Zeiteinschätzung noch funktionierte. Da er in diesem Moment der maximalen Entschleunigung sonst aber nichts tun konnte, als seinem eigenen Atem zu lauschen, wäre auch durchaus möglich, dass ihm jede Sekunde wie eine halbe Ewigkeit vorkam und die Fahrtzeit tatsächlich viel kürzer war.

Plötzlich konnte er am Neigungswinkel des Autos spüren, dass sie offensichtlich wieder in eine Tiefgarage einfuhren, als auch schon die Fahrzeugtür beherzt aufgerissen wurde.

„So, da haben wir ja schon unseren Patienten“. Vier Hände in Handschuhen und mit Armen, die unter OP-Anzügen verborgen blieben, packten ihn und hievten ihn auf ein fahrbares Bettgestell, das wie die Liege in einem Operationssaal aussah. Da war es mit ihm aus. Er wollte hinausschreien, dass ein Missverständnis vorliegen müsse, da er kein Patient sei und sich zumindest bis vor kurzem körperlich einwandfrei gefühlt hatte. Sein Herz raste, seine Atmung ging schnell, aber dafür viel zu flach, sodass ihm sofort schwarz vor Augen wurde. Leider wurde er aber nicht bewusstlos und musste hilflos mit ansehen, wie er auf eine Liege geschnallt durch helle Gänge geschoben wurde. Dabei gerieten immer wieder zwei Köpfe mit OP-Masken in sein Gesichtsfeld, die ihn seelenruhig, aber zügig transportierten, als wäre dies hier ein Routineablauf in einem Krankenhaus.

„OP 2 ist frei und vorbereitet“, hörte er aus dem Hintergrund eine weitere Männerstimme. Ehe er sich versah, wurde er von einem hellen Licht geblendet, das ihm die Tränen in die Augen schießen lies. Schließen konnte er die Lider ja nicht.

„Was für ein Albtraum“, sprach er zu sich, „das kann doch nicht wahr sein“.

Aber was auch immer er versuchte, er wollte nicht aus dem Traum aufwachen, was wohl damit zusammenhing, dass er bereits absolut wach war. Nur bewegen konnte er sich leider nicht. Er hoffte immer noch, dass der Irrtum auffliegen würde, wenn die Ärzte noch einmal seine Patientendaten überprüften, um dann festzustellen, dass er überhaupt keine Erkrankung hatte, die eine Operation nötig oder auch nur sinnvoll machen würde. Außerdem musste er feststellen, dass er zwar kein Glied seines Körpers bewegen konnte, er aber sehr wohl die kalte Luft spürte, als er mit groben Handgriffen bis auf die Unterhose entkleidet wurde. Betäubt war er also nicht, sondern nur gelähmt, und auch die unbequeme Lage mit abgespreizten Armen und Beinen konnte er sehr gut wahrnehmen und machte sich schon Sorgen um Druckstellen an der Haut. Groteskerweise nahm niemand von ihm Notiz. Entweder nahm man an, er habe eine Narkose erhalten und würde von allem ringsum nichts mitbekommen, oder aber es war allen einfach egal. Letztere Alternative war natürlich noch beunruhigender, da sie keinen guten Ausgang der Sache vermuten ließ, selbst wenn es sich bis jetzt um einen großen Irrtum handeln sollte. Für diesen Fall würde er diese Klinik, und nach so einer Art von Einrichtung sah es aus seiner „Patienten“-Perspektive aus, aber auf eine satte Schmerzensgeldzahlung verklagen.

Wie angemessen diese wäre, wurde ihm klar, als er einen scharfen Schmerz an seiner linken Leiste spürte wie von einem Schnitt mit einer Rasierklinge.

„Bitte binde diesmal ordentlich die Schenkelarterie und -vene ab, damit es nicht wieder so blutet wie beim letzten Mal. Du weißt, dann werden die Präparate nicht so schön und die Kunden beschweren sich wieder, weil sie kein Blut sehen möchten. Operieren üben wie Kinder bei den Doktorspielen im Kindergarten wollen sie schon, am liebsten auch mit echtem Menschen-Material, nur bluten soll es bitte nicht…“, ätzte der Operateur weiter.

Noch bevor ihm bewusst werden sollte, dass da über seine Adern gesprochen wurde, spürte er einen dumpfen Schmerz, so als würde ihm jemand einen stumpfen Gegenstand einfach so in den Oberschenkel bohren und damit herumrühren, als suche er etwas. Die Schmerzen wurden unerträglich. Er wollte einen Schrei ausstoßen, um dem Druck in seinem Körper Luft zu machen, aber es war aussichtslos. Seine Kehlkopfmuskeln waren offensichtlich ebenso gelähmt wie die Muskeln an Armen und Beinen. Dann wurde sein linkes Bein auf einmal kalt, so als hätte er es nach dem Sauna-Aufguss in ein Kneipp-Becken gesteckt. Das Gefühl war völlig paradox, da er zwar von der Locke bis zur Socke, oder in seinem Fall eher von der Platte bis zur Matte, mit Schweiß überströmt war, sich sein Körper aber nirgendwo warm anfühlte.

„Gut, dann mach mal hin. Wir haben hier nicht nur die eine Extremität abzunehmen“.

Bevor er sich über die Bedeutung des Wortes „abnehmen“ im Kontext seiner aktuellen Situation vollends klar werden konnte, spürte er einen reißenden Schmerz an seinem linken Oberschenkel, der nahezu vernichtend war. Er fühlte das grobe Reiben eines Sägeblatts, das wie den Stamm eines Tannenbaums seinen Oberschenkelknochen zerteilte, nur noch sehr undeutlich und wie durch eine dicke Schicht aus dunkler Watte, da er allmählich doch das Bewusstsein verlor und ihm schwarz vor Augen wurde. Das Letzte, was er sah und hörte, war, als der Operateur sein abgetrenntes Bein in die Höhe hielt, aus dessen Stumpf noch die grünlichen Enden der Fäden um die Blutgefäße ragten.

Ohne es zu wissen, konnte er der menschlichen Konstitution dankbar sein, da er nun das Bewusstsein für immer verlor und nicht mitbekam, wie nacheinander nach dem zweiten Bein auch beide Arme abgenommen und sorgfältig in Plastikfolie eingeschlagen wurden. Erst als zum Schluss die Halsschlagadern auf beiden Seiten unterbunden und der Kopf an der Halswirbelsäule mit der Säge abgesetzt wurde, hörte sein Herz auf zu schlagen.

Sektion 1

Vielleicht werde ich doch langsam zu alt für diesen Job! Nodus lehnte sich in seinem Schreibtisch-Sessel zurück und blickte auf die Pettenkoferstraße vor dem Fenster seines Büros in der Anatomischen Anstalt. Eigentlich ein richtig gemütlicher Herbstnachmittag, wenn man es nur an den vom goldenen Sonnenlicht beschienen Blättern der Platanen festmachen wollte. Im hellen Gegenlicht konnte er sogar mit bloßem Auge die Staubschicht auf seiner Fensterbank und seinen Bücherstapeln erkennen, die sein Zimmer weitgehend ausfüllten und jede Fortbewegung zu einem Hindernis-Lauf machten. Wobei Nodus sich natürlich mit schlafwandlerischer Sicherheit zwischen den Büchersäulen hindurch manövrierte. Und da ihn sowieso kaum jemand besuchen kam in diesem Kabuff, war es eh schon egal, ob er Ordnung hielt oder nicht. Dennoch hatte sein Unordnungszustand wohl dazu geführt, dass die Verwaltung der Anstalt irgendwann einmal beschlossen hatte, dass eine Reinigung des professoralen Büros nicht nur überflüssig sei, sondern auch niemanden als Aufgabe zugemutet werden konnte. Nodus war es egal.

In seiner Mittagspause hatte er sich heute mal wieder einen Spaziergang um die Theresienwiese gegönnt, die von der Anatomischen Anstalt zu Fuß in kaum mehr als fünf Minuten zu erreichen war. Und zwar, ohne sich übermäßig zu hetzen. Er liebte die riesige Fläche im Herzen Münchens, bedauerte allerdings, dass sie aufgrund der Wiesn, wie die Münchner ihr Oktoberfest nannten, mit den dazugehörigen Auf- und Abbauzeiten nahezu den ganzen Sommer über eben nicht frei, sondern mit riesigen Zelten bebaut war. Nahm man dann noch Frühlingsfest und Winter-Tollwood dazu, letzteres war eine moderne Variante eines Weihnachtsmarktes mit riesigen Zelten für ausgefallene Geschenkideen, Kulturdarbietungen und zur Befriedigung jeglicher kulinarischen Gelüste, dann blieb kaum mehr etwas übrig vom Jahr. So auch jetzt, kurz vor dem Beginn des Oktoberfests. Dennoch schlenderte er einmal um den Platz, was ihn ungefähr eine Stunde kostete. Wobei kosten hier nicht der richtige Ausdruck war. Vielmehr gab ihm der Spaziergang eine Stunde an der frischen Luft und ermöglichte es, die Gedanken fliegen zu lassen. Jedes Mal war er fasziniert, wie wenig man hier den Großstadtcharakter von München wahrnehmen konnte. Nicht viele Städte verfügten über vergleichbare Kleinode an Grünflecken. Berlin mit dem Tiergarten, Hamburg mit der Binnenalster und dann fielen ihm eigentlich nur der Hyde-Park in London und der Central Park in New York City ein, aber da war er nun gedanklich schon sehr weit geschweift.

Am – von seiner Richtung aus – gegenüberliegenden Pol der Theresienwiese hatte er seine heimliche Freundin besucht, wie er die Bavaria immer nannte. Die 18 Meter hohe Bronzestatue war wie er selbst von der Statur eher etwas handfester und nicht nur für ihn mehr als ein Wahrzeichen, sondern sogar so etwas wie das Gesicht Münchens. Und das schon seit 1850, als der Münchner Künstler Ludwig Schwanthaler die Schönheit im Auftrag Ludwigs des Ersten geschaffen hatte. Gut, sie war nicht so lasziv wie die Imperia in Konstanz, die am Westufer des Bodensees stetig um die eigene Achse kreiste und dabei Papst und Kaiser als Narren auf ihren erhobenen Handflächen trug und von der man sagte, sie sei weltweit die mit Abstand größte Statue einer Hure. Aber dafür war sie viel stilvoller, seine Therese, wie er sie heimlich immer nannte.

Und, Therese, was macht das Leben in München so in diesen Tagen?, hatte er sie im Stillen gefragt wie meist zur Begrüßung.

Du genießt wohl auch die letzten Tage der Ruhe vor dem Sturm des Oktoberfestes, bei dem du dir für eine Woche bestimmt nicht selten wünschst, dir die Hand mit dem Lorbeer-Kranz vor die Augen halten zu können statt nur über den Kopf?... Ist ja auch übel, was dir und sich die Leute antun, die mit oftmals zu viel Bier in Kopf und Hirn an deine Beine urinieren oder unter deinen Blicken auf der Böschung kopulieren wie im Sommer die Karnickel.

Seine Therese trug es wie stets mit der Fassung einer Politikerin von Welt, die man sonst aus dem Fernsehen kannte, wenn die Kanzlerin Angela Merkel mal wieder einen Staats-Besuch mit Donald Trump durchzustehen hatte, ohne die Etikette zu durchbrechen. Und das konnte nicht einfach sein, wenn man einem derart Erkenntnis-resistenten, verlogenen und jeder Form von Manieren beraubten Individuum gegenübertreten musste, das zum großen Unglück auch noch der mächtigste Mann der Welt war. Nodus fragte sich für einen Moment, ob es da nicht sogar angenehmer sei, Defäkalien, Sperma und Erbrochenes zu seinen Füßen ertragen zu müssen. Das aber dafür schon seit über 170 Jahren, was sogar die Amtszeit der Kanzlerin bei Weitem in den Schatten stellte. Als Therese wie gewohnt keine Klageworte erwiderte, war Nodus schließlich weitergeschlendert und kehrte, am Gasthof Lenz vorbei und nach einem kurzen Schlenker zum Café Mariandl in der Goethestraße, zur Anstalt zurück.

*

Ein schöner Tag also. Irgendwie fühlte er sich aber ausgelaugt. Gerade hatte er wieder die Anatomie-Vorlesung für die Studierenden im ersten Semester Medizin gehalten. Mitten in seinen Ausführungen über die Funktion des Hodenheber-Muskels war er von einem Studenten unterbrochen worden, der fragte, ob er jetzt tatsächlich ansetzen wolle, die immer-gleiche Anekdote über den „Nordeuropäischen Hirsch“ zum Besten zu geben, die inzwischen schon in den Vorlesungsskripten stand und daher hinlänglich bekannt sei. Sinnvoller wäre es doch, wenn er sich stattdessen mal die Zeit nehmen würde, ein komplizierteres Thema, das vielleicht auch noch von medizinischer Relevanz sei, einmal richtig zu erklären. Sonst wäre ja immer nur die Zeit, die mit Fachbegriffen vollgestopften Folien herunterzurattern, ohne dass ein Zuhörer die Chance hätte, den Inhalten auch nur ansatzweise zu folgen. Außerdem wäre wünschenswert, wenn er seine bisweilen etwas langatmigen Sätze deutlich artikuliert zu Ende sprechen könnte, statt diese an den Satzenden zu vernuscheln.