Eine Art Familientreffen (Rosa Kaninchen-Trilogie, 3) - Judith Kerr - E-Book

Eine Art Familientreffen (Rosa Kaninchen-Trilogie, 3) E-Book

Judith Kerr

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Beschreibung

Die berührende Aufarbeitung einer wahren Fluchtgeschichte Nach Kriegsende ist Anna in England geblieben. Verheiratet mit einem bekannten Autor führt sie ein zufriedenes Leben. Da wird sie nach Berlin gerufen. Ihre Mutter liegt nach einem Selbstmordversuch im Koma. Die Begegnung mit ihr führt Anna noch einmal zurück in die Jahre ihrer Kindheit. Die gesamte Reihe: Als Hitler das rosa Kaninchen stahl Warten bis der Frieden kommt Eine Art Familientreffen

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Als Ravensburger E-Book erschienen 2015Die Print-Ausgabe erscheint in der Ravensburger Verlag GmbHUngekürzte LizenzausgabeText copyright © Kerr-Kneale Productions Ltd 1971, 1975The author asserts the moral right to be identified as the author of this work.»Eine Art Familientreffen« erschien unter dem Titel »A Small Person Far Away«© 1978 by Judith KerrUmschlagillustration: Henriette SauvantÜbersetzung aus dem Englischen: Annemarie BöllAlle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg.ISBN978-3-473-47686-2www.ravensburger.de

Samstag

Der Teppich hatte genau die richtige rote Farbe – nicht zu gelblich und nicht zu bläulich; es war ein warmer, leuchtender Ton genau dazwischen, der so schwer aufzutreiben war. Er würde wunderbar ins Esszimmer passen.

»Den hätte ich gern«, sagte Anna. Heute war ganz offenbar ein Glückstag.

Während der Verkäufer sie zur Kasse führte, warf sie einen kurzen Blick auf ihr Spiegelbild in der Scheibe des Schaukastens, in dem Tischwäsche ausgestellt war. Der grüne Tweedmantel – nicht von Bekannten abgelegt, sondern mit selbst verdientem Geld gekauft – hing ihr salopp von den Schultern. Der bedruckte Seidenschal, das gut geschnittene dunkle Haar und der recht zuversichtliche Ausdruck, das alles passte gut zum Status dieses Warenhauses. Eine wohlbetuchte junge Engländerin, die ihre Einkäufe machte. Nun, dachte sie, dahin habe ich’s nun inzwischen gebracht.

Während sie einen Scheck ausfüllte und der Verkäufer ihren Namen notierte und die Adresse, an die der Teppich geliefert werden sollte, stellte sie sich vor, wie sie Richard davon erzählen würde. Der Teppich würde die Wohnungseinrichtung fast komplettieren. Es fehlten jetzt nur noch einige kleinere Dinge wie Kissen und Lampenschirme, und sobald Richard mit seinem Drehbuch fertig war, würden sie sie zusammen aussuchen.

Sie merkte, dass der Verkäufer beim Lesen ihrer Unterschrift auf dem Scheck stutzte.

»Verzeihen Sie, wenn ich frage, gnädige Frau«, sagte er, »aber Sie sind nicht vielleicht mit dem Herrn verwandt, der fürs Fernsehen schreibt?«

»Das ist mein Mann«, sagte sie und merkte, wie sich wieder dieses alberne Grinsen auf ihrem Gesicht ausbreitete, dem anzusehen war, dass sie sich selbst dazu beglückwünschte, mit einem solchen Mann verheiratet zu sein. Lächerlich, dachte sie. Ich sollte doch inzwischen daran gewöhnt sein.

»Tatsächlich?« Das Gesicht des Verkäufers wurde rosa vor bewundernder Freude. »Das muss ich meiner Frau erzählen. Wir sehen alle seine Stücke, müssen Sie wissen. Wo nimmt er nur immer seine Einfälle her, gnädige Frau? Helfen Sie ihm manchmal beim Schreiben?«

Anna lachte. »Nein«, sagte sie. »Er hilft mir.«

»Tatsächlich? Schreiben Sie denn auch?«

Warum habe ich nur damit angefangen, dachte sie. »Ich arbeite beim Fernsehen«, sagte sie. »Aber meist ändere ich nur Kleinigkeiten an den Stücken anderer Leute. Und wenn ich nicht mehr weiterweiß, frage ich zu Hause meinen Mann.«

Der Verkäufer überlegte einen Augenblick und ließ es dann, Gott sei Dank, dabei bewenden. »Als im vergangenen Jahr diese große Serie Ihres Mannes lief«, sagte er, »sind meine Frau und ich extra deswegen jeden Samstag daheimgeblieben. Fast alle Leute in unserer Nachbarschaft haben sich die Serie angesehen. Es war so aufregend – ganz anders als das, was man sonst so vorgesetzt bekommt.«

Anna nickte und lächelte. Es war Richards erster großer Erfolg gewesen.

»Auf diesen Erfolg hin haben wir geheiratet«, sagte sie.

Sie dachte an das Standesamt in Chelsea, gleich neben der orthopädischen Klinik. Richards Eltern waren aus Nordengland gekommen, Mama aus Berlin, ihre persönlichen Freunde aus der BBC waren da gewesen und Vetter Otto, der beim Empfang umkippte – angeblich wegen der Hitze, aber in Wirklichkeit hatte er ganz einfach zu viel Champagner getrunken. Und dann war das Taxi gekommen, sie und Richard waren davongefahren und hatten sie alle zurückgelassen.

»Für uns war es auch ganz aufregend«, sagte sie.

Als sie aus dem Kaufhaus in die Tottenham Court Road trat, stürzten Lärm und Licht auf sie ein, als explodiere die Welt. Nebenan wurde ein neues Gebäude hochgezogen, und der Sonnenschein schien zu erzittern vom Getöse der Presslufthämmer. Einer der Arbeiter hatte trotz der Oktoberkühle sein Hemd ausgezogen und zwinkerte ihr zu, als sie an ihm vorüberging. Hinter ihm zerbröckelten die letzten Reste eines zerbombten Hauses, Ziegel, Putz und daran haftende Tapetenreste, unter den Stößen eines Bulldozers. Bald würde von den Bombenschäden in London nichts mehr zu sehen sein. Es wird auch Zeit, dachte sie, elf Jahre nach dem Krieg.

Um dem Lärm zu entgehen, wechselte sie auf die andere Straßenseite. Hier waren die Läden fast unverändert – schäbig und zufällig, mit Waren, von denen man sich kaum vorstellen konnte, dass jemand so etwas kaufte.

Auch »Woolworth« war fast noch so, wie sie es in Erinnerung gehabt hatte. Sie war mit Mama hier gewesen, als sie eben erst in England angekommen waren, und Mama hatte sich für einen Shilling ein Paar Seidenstrümpfe gekauft. Später, als Papa nichts mehr verdiente, hatte Mama sich jedes Mal nur einen Strumpf zu Sixpence kaufen können, und obgleich alle Strümpfe angeblich dieselbe Farbe hatten, hatten sie doch nie so ganz genau zueinander gepasst.

»Wenn ich mir doch nur ein einziges Mal zwei Strümpfe auf einmal kaufen könnte!«, hatte Mama gerufen.

Und nun kaufte Anna teure Teppiche, und Mama verdiente in Deutschland Dollars, als hätte es diese elenden Zeiten nie gegeben. Nur Papa hatte es nicht mehr miterlebt, wie sich alles verändert hatte.

Einen Augenblick lang überlegte sie, ob sie versuchen sollte, die Pension wiederzufinden, die ihr erstes Heim in England gewesen war und hier irgendwo in der Nähe liegen musste. Aber dann entschloss sie sich doch, es nicht zu tun. Das Haus war in der Zeit der schweren Bombenangriffe getroffen worden und würde sowieso nicht mehr zu erkennen sein. Sie hatte einmal Richard die andere Pension in Putney zeigen wollen, in die sie umzogen, nachdem sie ausgebombt worden waren, aber das alte Haus war durch drei mickrige Einfamilienhäuser ersetzt worden mit dem gleichen baumlosen Rasen und den gleichen Bruchsteinwegen davor. Geblieben war lediglich die Bank am Ende der Straße, wo Papa manchmal in der Sonne gesessen und die Pfeife geraucht hatte. Er hatte den Tabak mit getrocknetem Laub und Rosenblättern gestreckt, und zu Mittag hatte er Brot gegessen, das er über dem Gaskocher toastete, um es dann mit genau einem Siebentel des Inhalts einer Dose Fischpaste zu bestreichen. Wenn er doch all das noch hätte erleben können, dachte Anna, als sie an einem Spirituosenladen vorbeikam, der bis unter die Decke mit Flaschen gefüllt war – wie hätte er das genossen.

In der Oxford Street drängten sich die samstäglichen Käuferscharen. Sollte sie noch bei »Libertys« vorbeigehen und sich nach Lampen umschauen? Aber als sie an der Haltestelle vorbeikam, hielt dort gerade ein Bus der Linie 73; sie sprang auf, kletterte aufs Oberdeck und setzte sich hin. Während der Bus sich langsam durch den Verkehr quälte, dachte sie an Möbel, an das Mittagessen, an ein Drehbuch, das sie bis zur nächsten Woche kürzen musste.

Vor dem Kaufhaus »Selfridges« starrten die Menschen zu einer bunten Gipsfigur hinauf. »Kommt und besucht Onkel Holly und seine Zwergengrotte«, verkündeten Plakate in den Schaufenstern. Mein Gott, dachte sie, sie sind schon bei den Weihnachtsvorbereitungen.

Im Hydepark marschierte eine kleine Gruppe unter den Bäumen her, die schon ihr Laub verloren, ganz offensichtlich auf die »Speaker’s Corner« zu. Die Demonstranten trugen selbst gemachte Transparente mit der Aufschrift »Russen raus aus Ungarn«, einer hatte die Morgenzeitung auf ein Stück Pappe geheftet. Sie zeigte das Bild von russischen Panzern und die Schlagzeile »Stählerner Ring um Budapest«. Die meisten der Demonstranten sahen wie Studenten aus, und die paar bieder gekleideten älteren Leute waren wahrscheinlich Ungarn, die vor der Besetzung des Landes durch die Nazis nach England geflohen waren.

Eine Frau, die auf einem der vorderen Plätze im Bus saß, war auch aufmerksam geworden. »Ist das nicht schrecklich mit diesen armen Menschen in Ungarn«, sagte sie zu ihrer Nachbarin. »Warum tun wir nichts, um ihnen zu helfen?«

»Was würdest du denn vorschlagen«, sagte die Freundin. »Sollen wir einen dritten Weltkrieg anfangen?«

In Knightsbridge ließ der Verkehr etwas nach, und als der Bus an Kensington Gardens vorbeifuhr, konnte Anna das Laub auf den Rasen unter den Bäumen fallen sehen, wo Gruppen von Schulkindern, angetrieben von ihrem Lehrer, Fußball und Schlagball spielten.

Sie stieg am Ende der Kensington Church Street aus und machte sich auf den Heimweg durch die von Bäumen gesäumten Wohnstraßen am Fuß von Camden Hill. Hier gab es kaum Autos und nur wenige Fußgänger, sie war daher, als sie an der niedrigen Mauer eines Vorgartens vorüberging, überrascht, dass jemand ihren Namen rief. Es war niemand zu sehen außer einem Baby, das in seinem Kinderwagen im Eingangstor stand und die Welt mit ernster Miene betrachtete. Sie fragte sich, ob es etwa das Kind gewesen sei, als sich eine schlanke hübsche Frau hinter der Mauer aufrichtete, eine welke Pflanze in den erdverschmierten Händen.

»Elizabeth«, sagte Anna, »ich wusste gar nicht, dass Sie hier wohnen.« Sie und Richard hatten Elizabeth Dillon vor ein paar Wochen auf einer Party kennengelernt. Sie arbeitete bei einer Filmgesellschaft, bei der man gerade überlegte, ob man die Rechte an einem von Richards Stücken kaufen solle. Ihr Mann war beim Überseesender, und zu viert hatten sie einen großen Teil des Abends zusammen verbracht.

»Man kommt kaum damit durch«, sagte Elizabeth, so, als hätten sie ihr Gespräch von damals gar nicht unterbrochen, »alles zu erledigen, was an so einem Wochenende erledigt werden muss.« Sie ließ überdrüssig die Pflanze auf die Erde fallen. »Kommen Sie herein und trinken Sie einen Schluck.«

Anna zögerte. Bei der Party hatte Richard den größten Teil des Gesprächs bestritten, und sie hatte Angst, dass Elizabeth sie ohne ihren Mann langweilig finden könnte. »Ich weiß nicht recht –«, begann sie, aber Elizabeth sagte mit solcher Herzlichkeit »Kommen Sie doch«, dass es töricht gewesen wäre, abzulehnen.

»Vielen Dank«, sagte sie, und Elizabeth führte sie an dem Kinderwagen vorbei in die enge Diele, wo sie sich mit geübter Geschicklichkeit an einem Roller und einem zerzausten Teddybären vorbeischlängelte. Aus dem oberen Stockwerk hörte man den Lärm von zwei Blockflöten, vermischt mit wildem kindischen Gekicher.

»Sie scheinen nie über die erste Lektion hinauszukommen«, sagte Elizabeth und schoss seitwärts in eine Küche, die mit Wäschegirlanden drapiert war und wo ein kleiner Junge sich mit einem Meerschweinchen eine Schüssel Cornflakes teilte.

»Mein Schatz, vergiss nicht, Patricia wieder in ihren Käfig zu tun, bitte!«, sagte Elizabeth, während sie sich rasch die Hände im Spülbecken wusch. Dann schüttete sie schnell ein paar Eiswürfel aus dem Kühlschrank in eine Schüssel und fügte noch hinzu: »Du weißt doch, wie traurig du warst, als Papa neulich fast auf das Meerschweinchen getreten ist.« Sie waren schon halbwegs zur Tür hinaus, als das Kind vorwurfsvoll antwortete: »Papa muss eben besser aufpassen.«

In einem L-förmigen Wohnzimmer im ersten Stock saß Elizabeths Mann, das römische Imperatorengesicht noch unrasiert, im Schlafrock und trank Kaffee.

»James ist erst um vier ins Bett gekommen«, sagte Elizabeth. »Wegen dieser Sache mit Ungarn. Willst du einen Schnaps, Liebes?«

James schüttelte den Kopf und nippte an seinem Kaffee. Anna sagte: »Was meinen Sie, was geschehen wird?«

»Nichts«, sagte James düster. »Wenn nicht ein Wunder geschieht. Wahrlich, diese armen Schlucker in Ungarn versuchen alles, um etwas zustande zu bringen. Zivilisten gegen Panzer. Man muss sich das einmal vorstellen! Mein Tipp: Der Westen wird reden, aber nichts tun.«

»Niemand will einen neuen Weltkrieg«, sagte Elizabeth.

»Aber nun gar nichts zu tun, das scheint mir auch fragwürdig. Schon bei Hitler war das das falsche Rezept.« Sie reichte Anna ein Glas. »Aber wem sage ich das. Wie alt waren Sie eigentlich, als Sie Deutschland verließen?«

»Neun«, sagte Anna. Sie redete nicht gern über ihre Kindheit in der Emigration, aber Elizabeth strahlte eine solche Herzlichkeit aus, dass sie dennoch darauf einging. »Ich habe keine Gräuel miterlebt«, sagte sie. »Als das anfing, waren wir schon raus.«

»Und Sie sind gleich hierher gekommen?«

»Nein.« Sie erklärte, dass sie zuerst in der Schweiz und dann in Frankreich gelebt hätten. »Meinem Bruder und mir hat das sogar gefallen«, sagte sie, »all diese verschiedenen Schulen und verschiedenen Sprachen. Aber für meine Eltern war es natürlich schrecklich – besonders für meinen Vater, der Schriftsteller war.«

Elizabeth nickte: »Und Sie treten nun in seine Fußstapfen.«

»Nun – das wohl kaum.«

»Oh, ich dachte doch?« Elizabeths graue Augen blickten überrascht. »Ich dachte, Sie arbeiten doch für die BBC – haben Sie nicht den Wunsch, ernsthaft zu schreiben?«

Das kann sie doch unmöglich interessieren, dachte Anna. Sie überlegte, wie sie das Thema wechseln könnte, aber Elizabeth sah sie so erwartungsvoll an, dass sie schließlich sagte: »Eigentlich habe ich zuerst zeichnen wollen. Ich habe jahrelang hart daran gearbeitet. Es war Richard – er meinte, ich solle schreiben, so habe ich ein paar kleine Sachen für die BBC gemacht, und dann habe ich diese Redakteurstelle bekommen. Aber ich bin wirklich nicht sicher –«

Zu ihrer großen Erleichterung ließ sich in diesem Augenblick von der Tür her eine Stimme vernehmen. »Mami.« Der Junge war wieder da, das Meerschweinchen in den Händen. »Darf Patricia einen Kartoffelchip haben?«

»Mag sie denn Kartoffelchips?«, fragte Elizabeth.

»Ich weiß es auch nicht.« Auf seinem kleinen Gesicht zeigten sich Falten, während er nach dem richtigen Wort suchte. »Es ist ein Experiment«, sagte er, um einen präzisen Ausdruck bemüht.

Elizabeth nahm aus einer Schüssel auf dem Tisch einen Kartoffelchip, alle schauten zu, wie das Meerschweinchen ihn beschnüffelte und ihn schließlich auffraß.

»Sie mag ihn«, sagte das Kind entzückt.

»Geh und hol ein Schüsselchen«, sagte Elizabeth, »dann kriegt ihr ein paar für euch und könnt sie gemeinsam in der Küche essen.«

»Gut.« Er schnappte sich das Meerschweinchen und lief hinaus. In dem kurzen Schweigen, das entstand, konnte Anna die beiden Blockflöten oben hören, die jetzt das Gleiche spielten.

»Wie alt ist er?«, fragte sie.

»Sechs«, sagte Elizabeth. Er war offenbar ihr Ein und Alles.

»Er hat eine merkwürdige Beziehung zu dem Meerschweinchen«, sagte James. »Er spinnt sich lange Geschichten darüber zurecht und schreibt sie sogar auf. Nicht wahr?«, fügte er, an das Kind gewandt hinzu, das inzwischen wieder aufgetaucht war.

»Was ist?« Der Junge beobachtete, wie seine Mutter Kartoffelchips in die Untertasse schüttete, die er ihr gebracht hatte.

»Du schreibst Geschichten?«

»Aber nur über Patricia. Weil Patricia –« Er suchte wieder nach dem richtigen Wort. »Patricia ist wichtig«, sagte er schließlich, froh, das Wort gefunden zu haben. »Manche Leute«, sagte er gewichtig, »zum Beispiel meine Lehrerin, Miss Shadlock, die wollen, dass ich über andere Sachen schreibe, zum Beispiel ›an der See‹ oder ›meine Großmutter‹. Aber ich mag nur über Patricia schreiben.«

In Annas Erinnerung regte sich etwas. »Ich wollte immer nur über Katastrophen schreiben«, sagte sie. »Meiner Lehrerin gefiel das auch nicht.«

»Katastrophen?«, sagte das Kind und ließ das Wort über die Zunge rollen.

»Ja, weißt du – von Schiffbrüchen, Erdbeben und solchen Sachen.«

Er nickte. »Aber für mich ist Patricia am wichtigsten.« Er nahm das Schüsselchen mit den Chips. »Komm, Patricia«, sagte er, »jetzt geben wir …« Er zögerte, aber als er draußen vor der Tür war, hörte Anna ihn ganz glücklich sagen: »ein Bankett.«

Einen Augenblick schauten ihm alle lächelnd nach. Dann fiel Elizabeth etwas ein.

»Es muss doch seltsam für Sie sein, in einer fremden Sprache zu schreiben«, sagte sie zu Anna. »Ich meine«, fügte sie eilig hinzu, »ich weiß, dass es nicht wirklich eine Fremdsprache für Sie ist. Aber Sie müssen doch zuerst Deutsch gesprochen haben. Ich meine, Sie haben doch Englisch erst lernen müssen.«

Anna hatte keine Lust, sich über dieses Thema auszulassen. »Ich habe seit meiner Kindheit fast kein Deutsch mehr gesprochen«, sagte sie. »Ich könnte in dieser Sprache unmöglich schreiben – praktisch habe ich den Wortschatz einer Neunjährigen.«

Durch die offene Tür konnten sie den Jungen sehen, der auf dem Flur das Meerschweinchen mit Chips fütterte. »Eins für dich und eins für mich …«

»Ach so«, sagte Elizabeth, »das ist ja interessant.« Dann fügte sie hinzu: »Eine Art eingeweckte Kindheit.«

Die Blockflöten waren verstummt, und es war plötzlich sehr still. Vielleicht sollte ich jetzt gehen, dachte Anna, aber da setzte James seine Kaffeetasse ab und streckte sich. »Und was macht Richard?«, fragte er.

Dies war so leicht zu beantworten, dass sie sich in ihrem Sessel zurücksinken ließ. Sie erzählte ihnen über Richards neue Serie, und dann sprachen sie über das Stück, das vielleicht verfilmt werden sollte. (»Er hat eine ungewöhnliche Einbildungskraft«, sagte James.) Dann kamen sie darauf, wie sie und Richard sich kennengelernt hatten, zu einer Zeit, als sie sich einsam und mutlos fühlte. (»Mein Vater starb, kurz nachdem ich die Kunstschule verlassen hatte.« Sie fügte, damit es sich nicht so tragisch anhörte, hinzu: »Er war schon sehr alt, viel älter als meine Mutter.«) Sie und Richard hatten sich auf einer Party kennengelernt – sie hatten beide schwer zu kämpfen, wohnten beide in möblierten Zimmern, sie unterrichtete halbtags, um ihre Miete bezahlen zu können, und Richard schrieb, obwohl er schon einen der großen Literaturpreise gewonnen hatte, Dialoge für Fernseh-Trickfilme. »Irgendwas zu machen – was auch immer –, ist besser als Stunden geben«, hatte er ihr gesagt. Über diesen Punkt waren sie in Streit geraten, und dann hatten sie plötzlich festgestellt, dass sie miteinander redeten, als hätten sie sich immer schon gekannt.

»Und dann?«, fragte Elizabeth, so als wollte sie es wirklich wissen.

»Dann?« James hob seine extravaganten Augenbrauen. »Dann lebten sie glücklich, und wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie noch heute.«

Anna lachte, aber er hatte Recht – von dem Augenblick an war es bergauf gegangen mit ihnen: Richard war über Nacht als Fernsehautor berühmt geworden, sie selber hatte, wenn auch in viel bescheidenerem Maße, in der Redaktion Erfolg gehabt, und jetzt hatten sie sogar eine eigene Wohnung.

»Wir haben uns jetzt Möbel gekauft«, sagte sie, als wäre das das Überraschendste, was man tun könne. Sie wollte gerade erklären, dass sie, seit sie Berlin verlassen hatte, nicht mehr in einer eigenen Wohnung gelebt hatte, da kam ein etwa zehnjähriges Mädchen mit dem Säugling auf dem Arm herein.

»Er hat geschrien«, sagte das Mädchen, während der Kleine, immer noch mit Tränen in den Augen und die Finger im Mund, sich umschaute.

»Es kann doch nicht schon wieder Zeit zum Füttern sein«, sagte Elizabeth. Anna erhob sich schnell.

»Es tut mir leid«, sagte sie, »ich halte euch auf …« Aber Elizabeth rief: »Unsinn, es war reizend.« Man sah ihr so deutlich an, dass sie es ehrlich meinte, also machte sich Anna wegen ihres langen Bleibens keine Sorgen mehr.

»Kommen Sie doch einmal zum Essen«, sagte James. »Eisen Sie Richard mal von seinem Schreibtisch los.«

»Ja«, sagte Elizabeth, »wie wäre es mit Donnerstag?«

Anna sagte, Donnerstag würde gut passen, und Elizabeth begleitete sie mit dem Säugling auf dem Arm ans Gartentor.

»Gegen acht«, rief sie ihr noch nach, und Anna drehte sich um und winkte zustimmend.

Elizabeth stand im Wind, und das Kind, die Ärmchen fest um den Hals der Mutter gelegt, schaute einem Vogel nach. Fallendes Laub wirbelte um die beiden, und während Anna durch Sonnenschein und spielende Schatten heimwärts ging, blieb dies Bild ihr vor Augen.

Der Häuserblock, in dem sie wohnten, war nagelneu, und sobald sie ihn von der Straßenecke aus sah, beschleunigte sie den Schritt.

Dies tat sie immer: Sie wusste, es war albern, nachdem sie doch schon über ein Jahr verheiratet war, hatte sie immer noch diese Angewohnheit. Während sie über eine Terrasse ging, die mit städtischen Blumenkübeln geschmückt war, wäre sie beinahe auf dem schlüpfrigen Laub unter ihren Füßen ausgeglitten. Neben dem Lieferanteneingang sprach der Hausmeister gerade mit einem Jungen auf einem Fahrrad. Als er sie sah, winkte er ihr zu und rief etwas, das sie nicht verstand, aber sie hatte es zu eilig, um stehen zu bleiben.

Der Fahrstuhl war nicht unten, und statt auf ihn zu warten, lief sie die zwei Treppen hoch, öffnete die Wohnungstür mit ihrem Schlüssel, und da war Richard.

Er saß vor seiner Schreibmaschine, fast in derselben Haltung wie vor ein paar Stunden, als sie ihn verlassen hatte. Vor ihm auf dem Tisch lag ein ordentlich aufeinandergelegter Stapel Blätter, der Papierkorb neben ihm floss über von zerknüllten Seiten. Hinter ihm sah sie den winzigen Wohnraum mit dem neuen gestreiften Sofa, dem roten Sesselchen, das sie in der vergangenen Woche gekauft hatte, und den Vorhängen, deren Muster sie selber in ihrer Zeit auf der Kunstschule entworfen hatte. Vor dem Hintergrund der lebhaften Farben hob sich sein dunkles Haar und das blasse, nervöse Gesicht ab; da starrte er mit gerunzelter Stirn auf das Blatt und tippte wie rasend mit zwei Fingern.

Für gewöhnlich würde sie ihn nicht unterbrochen haben, aber heute war sie zu glücklich, um zu warten. Sie ließ ihn die Zeile zu Ende schreiben, dann rief sie: »Es war so schön – die Dillons haben mich hereingebeten. Und ich hab einen Teppich fürs Esszimmer gefunden.«

»Wirklich?« Er kehrte langsam aus der Welt zurück, über die er gerade geschrieben haben mochte. »Die Dillons? Ach, die Leute von der Party.«

»Ja, sie wohnen nur ein paar Straßen von hier. Sie haben vier Kinder, ich weiß nicht, wie sie das bei ihrem Beruf schafft, aber ich habe einen der Jungen kennengelernt, er ist herzig. Sie wollen, dass wir nächste Woche zum Essen kommen, sie sind wirklich so nett –« Plötzlich fand sie es unmöglich, die Dillons in ihrer ganzen Nettigkeit zu beschreiben, darum sagte sie: »Weißt du, sie haben ein Meerschweinchen, das Cornflakes frisst.«

Er lächelte. »Wann gehen wir hin?«

»Donnerstag. Ich dachte mir, dann solltest du dir schon mal eine Pause gönnen.« Sie sah, wie er einen Blick auf die eingespannte Seite warf, wie er sich zögernd entschloss, sich für den Augenblick davon zu trennen.

»Und was ist mit dem Teppich?«

Sie wollte gerade anfangen, darüber zu berichten, als es an der Tür klingelte. »… genau das richtige Rot«, sagte sie, während sie die Tür öffnete. Draußen stand der Hausmeister.

»Ein Telegramm«, sagte er und reichte es ihr. Es war für sie. Sie war davon überzeugt, es müsse eine gute Nachricht sein … an einem solchen Tag! Sie machte es schnell auf.

Dann schien einen Augenblick lang die Welt stillzustehen.

Merkwürdigerweise sah sie mit einem Teil ihres Bewusstseins Richard ganz deutlich, obgleich sie den Blick auf die gedruckten Worte gerichtet hielt. Sie hörte ihn sagen: »Was ist?« Und nach einer Weile, die ihr wie eine ungeheure Zeitspanne vorkam, an die sie später keine Erinnerung mehr hatte, die aber in Wirklichkeit nur ein paar Sekunden gedauert haben konnte, drückte sie ihm das Papier in die Hand.

»Das verstehe ich nicht«, sagte sie. »Mama ist nie krank.«

Er strich das Papier auf dem Tisch glatt, und sie las es noch einmal. Vielleicht hatte sie sich beim ersten Mal verlesen.

DEINE MUTTER ERNSTHAFT AN LUNGENENTZÜNDUNG ERKRANKT STOPP BITTE BUCHE FÜR ALLE FÄLLE FÜR MORGEN EINEN FLUG STOPP WERDE HEUTE ABEND ACHT UHR ANRUFEN.

Unterzeichnet hatte es Konrad.

»Sie hat doch außer Grippe nie etwas gehabt«, sagte Anna. Wenn sie es nur mit ganzer Kraft wollte, würde die ganze Sache sich in Luft auflösen. Sie sagte: »Ich will nicht nach Berlin.«

»Vielleicht brauchst du ja gar nicht hin.« Sie setzte sich, und Richard setzte sich neben sie. »Er spricht ja nur von einer provisorischen Buchung. Wenn er heute Abend anruft, geht es ihr vielleicht schon besser.«

Natürlich, dachte sie, natürlich. Konrad war sehr verantwortungsbewusst. Er hatte kein Risiko eingehen wollen. Heute Abend saß Mama vielleicht schon in ihrem Bett, und ihre blauen Augen würden vor Empörung sprühen. »Um Himmels willen, Konrad«, würde sie rufen, »warum in aller Welt musstest du den Kindern telegrafieren?«

»Was sollen wir tun?«, sagte sie. »Buchen?«

»Soll ich mit dir fliegen?«

»Nach Berlin?« Sie war gerührt, aber auch entsetzt. »Natürlich nicht. Nicht, wo du mitten in deiner Arbeit bist. Du könntest ja auch gar nichts tun.«

Er machte ein besorgtes Gesicht. »Wenn ich nur Deutsch könnte.«

»Das ist es nicht. Aber du weißt, es wäre schrecklich für dich, die Arbeit jetzt zu unterbrechen. Und für Mama bin ja ich verantwortlich.«

»Wahrscheinlich.«

Sie rief Pan Am an; die Leute dort waren sehr hilfsbereit, als sie ihre Situation erklärt hatte, und versprachen, ihr einen Platz zu reservieren. Dies schien die ganze Sache fast endgültig zu machen, und sie fand sich plötzlich ganz ohne Grund den Tränen nahe.

»Komm«, sagte Richard. »Du brauchst was zu trinken.«

Er goss ihr von dem Whisky ein, den sie eigentlich für Besucher vorrätig hielten, und dann machten sie sich, da die Mittagszeit schon vorbei war, Kaffee und Butterbrote. Anna trug alles ins Wohnzimmer, und sie saßen in der vorwurfsvollen Gegenwart von Richards halb fertigem Manuskript.

»Ich verstehe es immer noch nicht«, sagte sie und umklammerte Trost suchend den heißen Kaffeebecher. »Wenn jemand heute Lungenentzündung bekommt, dann pumpen ihn die Ärzte doch einfach mit Penicillin voll. Oder ob es das in Deutschland noch nicht gibt?«

»Das gibt es bestimmt.«

»Die Amerikaner haben es auf jeden Fall. Und für die arbeitet sie doch.« Es war alles sehr verwirrend. »Und wie hat sie sich die Lungenentzündung überhaupt zugezogen?«

Richard dachte darüber nach. »Hat sie in ihrem letzten Brief nicht etwas von Segeln geschrieben? Vielleicht haben sie einen Unfall gehabt und wenn sie sehr nass und kalt geworden ist und die Kleider nicht gewechselt hat …«

»Dafür würde Konrad schon sorgen.«

Einen Augenblick lang hatten sie eine gemeinsame Vision: der solide und vernünftige Konrad, und Mama, die lachte und schrie: »It’s only a bit of water.« Sie sagte immer »bit of water« – das war einer der wenigen Fehler, die sie im Englischen immer machte. Aber vielleicht sprachen sie und Konrad Deutsch miteinander, wenn sie allein waren. Anna stellte erstaunt fest, dass sie das nicht wusste.

»Ich will mal sehen, ob ich den Brief noch finde«, sagte sie, und plötzlich fiel ihr etwas ein. »Ich glaube, ich habe ihn gar nicht beantwortet.«

»Aber es ist noch nicht so lange her, dass wir ihn bekommen haben.«

»Ich weiß nicht.«

Als sie den Brief ausgegraben hatte, fanden sie, dass er genauso war wie die meisten von Mamas Briefen – begeisterte Berichte über die kleinen Erfolge in ihrer Arbeit und ihrem gesellschaftlichen Leben. Im Zusammenhang mit ihrer Arbeit war sie für ein paar Tage nach Hannover geschickt worden, und sie und Konrad waren von einem amerikanischen General zum Erntedankfest eingeladen worden. Vom Segeln hieß es nur, dass das Wetter jetzt zu kalt dazu sei und dass sie und Konrad stattdessen viel Bridge spielten. Der Brief war genau einen Monat alt.

»Jetzt mach dir keine unnötigen Sorgen«, sagte Richard. »Du wirst ja heute Abend mit Konrad sprechen, und wenn es wirklich ernst ist, wirst du deine Mutter morgen sehen.«

»Ich weiß.« Aber sie konnte sich nicht beruhigen. »Ich wollte ihr die ganze Zeit schreiben«, sagte sie. »Aber die Wohnung und dann die neue Stelle –« Sie hatte die Vorstellung, dass ein Brief Mama davor bewahrt hätte, Lungenentzündung zu kriegen.

»Na also, vom Bridgespielen bekommt man keine Lungenentzündung«, sagte Richard. »Nicht einmal deine Mutter.« Sie musste lachen. Mama übertrieb alles.

Plötzlich und ganz ohne ersichtlichen Grund fiel ihr ein, wie Mama, als sie gerade in England angekommen waren, versucht hatte, ihr ein Paar Stiefel zu kaufen. Mama war mit ihr die ganze Oxford Street entlanggegangen, von der Tottenham Court Road bis zum Marble Arch, und sie waren in jedes einzelne Schuhgeschäft hineingegangen. Anna hatte bald gemerkt, dass die verschiedenen Filialen von Dolcis, Lilley und Skinner und Mansfield alle die gleichen Modelle führten, aber Mama hatte sich nicht davon abbringen lassen, dass irgendwie irgendwo ein Paar Stiefel sich versteckt hielten, die einen Bruchteil besser oder billiger waren als die übrigen. Schließlich kauften sie ein Paar, das fast genau dem ersten Paar glich, das sie angesehen hatten, aber Mama hatte gesagt: »Nun, wenigstens wissen wir jetzt, dass wir nichts versäumt haben.«

Mama hatte immer Angst, irgendetwas zu versäumen, ob das nun ein billigeres Paar Stiefel war oder ein sonniger Tag.

»Sie ist romantisch«, sagte Anna. »Sie ist es immer gewesen. Ich glaube, Papa war es auch, aber auf eine andere Weise.«

»Was mich immer überrascht hat, ist, dass sie unter dem Flüchtlingsdasein so viel mehr gelitten hat als er«, sagte Richard. »Wenigstens nach dem zu urteilen, was du mir erzählt hast. Schließlich hatte er als Schriftsteller doch alles verloren. Geld, sein Ansehen und die Sprache, in der er schrieb.« Er machte ein bekümmertes Gesicht, wie immer, wenn er von Papa sprach. »Ich weiß nicht, wie er damit fertiggeworden ist.«

Einen Augenblick lang sah Anna Papa ganz deutlich vor sich: Er saß vor einer klapprigen Schreibmaschine in einem schäbigen Zimmerchen und lächelte liebevoll und ironisch und ohne eine Spur von Selbstmitleid. Widerstrebend trennte sie sich von dem Bild.

»Es mag seltsam klingen«, sagte sie, »aber ich glaube, auf seine Weise fand er es interessant. Und natürlich war es für Mama so schwer, weil sie mit den praktischen Dingen fertigwerden musste.«

Als Papa kein Geld mehr verdiente, hatte Mama die Familie damit durchgebracht, dass sie Büroarbeit machte. Obgleich sie weder Stenografie noch Maschineschreiben gelernt hatte, war es ihr doch stets gelungen, annähernd wiederzugeben, was man ihr diktiert hatte. Sie hatte es überlebt, aber es war ihr verhasst gewesen. Des Nachts hatte sie in dem Schlafzimmer, das sie in der Pension mit Anna teilte, von all den Dingen gesprochen, die sie in ihrem Leben hatte tun wollen und die sie nun wohl nie würde tun können. Manchmal, wenn sie sich des Morgens auf den Weg zu ihrer langweiligen Arbeit machte, war sie so voller Zorn und Verzweiflung, dass diese Gefühle sie wie eine Aura umgaben. Anna erinnerte sich, dass einer ihrer Arbeitgeber, ein Mann mit geschniegeltem Haar, der mit drittklassiger Konfektion handelte, sie entließ, weil er angeblich Erschöpfungszustände davon bekam, sich zusammen mit ihr in einem Raum aufhalten zu müssen.

Mama war weinend nach Hause gekommen, und Anna hatte sich hilflos und schuldig gefühlt, als hätte sie in der Lage sein müssen, etwas daran zu ändern.

»Was für ein Pech, dass sie jetzt krank werden muss«, sagte sie zu Richard, »gerade jetzt, wo sich für sie endlich alles zum Besseren gewandt hat.«

Während Richard anfing, wieder in seinem Manuskript zu blättern, räumte sie das Geschirr weg und suchte ein paar Kleidungsstücke zusammen, die sie einpacken wollte, falls sie wirklich nach Berlin würde fliegen müssen. Aus irgendeinem Grund erfüllte sie der Gedanke daran mit Schrecken. Warum eigentlich, dachte sie. Warum ist es mir so zuwider? Sie konnte nicht glauben, dass Mamas Krankheit wirklich gefährlich war. Das war es nicht. Es war eher die Angst davor, zurückzugehen. Zurück nach Berlin? Zurück zu Mama? Wie dumm, dachte sie. Sie können mich ja nicht dort festhalten.

Als sie ins Wohnzimmer trat, hatte Richard wieder eine Seite zusammengeknüllt und in den Papierkorb geworfen.

»Es hat keinen Zweck«, sagte er. »Das wirkliche Leben ist aufregend genug.« Er schaute auf die Uhr. »Es dauert noch Stunden, bis Konrad anruft. Sollen wir nicht ein bisschen nach draußen gehen?«

Sie musste einiges zum Essen einkaufen, nahm ihre Einkaufskarre, und sie liefen zur Portobello Road, wo der Markt in vollem Betrieb war. Der Himmel hatte sich bezogen, und obgleich es noch nicht fünf Uhr war, flackerten an den meisten Ständen gelbe Gasflammen und beleuchteten die billigen Äpfel und Kartoffeln, die unverpackten, hausgemachten Süßigkeiten und den Trödel, der nie einen Käufer zu finden schien.

Sie drängten sich auf dem engen Bürgersteig durch die Käufer, erstanden Karotten und Lauch, kauften eine Lammkeule beim Metzger, Orangen, Äpfel und späte Brombeeren, Nudeln und ein langes französisches Brot, und schließlich war Annas Einkaufskorb voll.

Diese Menge von Lebensmitteln hatte etwas Tröstliches.

»Besser, du fährst morgen nicht nach Berlin«, sagte Richard, »ich kann das alles unmöglich allein aufessen.«

An einem der Trödelstände entdeckte er eine kleine Blechdose, auf deren Schraubdeckel ein Union Jack gemalt war. Die Flagge steckte zwischen den Zähnen eines verblassten Löwen. An ein paar Stellen war die Farbe abgeblättert, was zur Folge hatte, dass der Löwe auf eine rührend ängstliche Weise zu lächeln schien. Dieses Lächeln gefiel ihnen beiden so sehr, dass sie die Dose für Sixpence kauften und dann anfingen, erwartungsvoll die anderen Trödelstände in der Nähe zu durchstöbern. Als sie beim letzten angekommen waren, war es beinahe dunkel, und man fing schon an abzubauen. Planen wurden zusammengerollt, Bremsklötze entfernt, Lichter gelöscht, und die ersten Karren rumpelten schon in die Seitenstraßen hinein.

»Lass uns gehen«, sagte Anna.

Es war kalt, als sie sich jetzt durch die vertrauten Straßen auf den Heimweg nach Nottinghill Gate machten.

Sie hatte einmal hier in der Nähe zusammen mit ihrem Bruder Max gewohnt. »Ob wohl Konrad auch Max ein Telegramm geschickt hat?«, sagte sie.

Richard gab keine Antwort, und sie merkte, dass er sie gar nicht gehört hatte. Sein Gesicht hatte den verschlossenen, abwesenden Ausdruck, an dem zu erkennen war, dass er an sein Manuskript dachte. Sie trottete neben ihm her, die Dose mit dem Löwen und dem Union Jack fest in der Hand.

Als Papa gestorben war, hatte man auf seinen Sarg einen Union Jack gelegt. Das wurde immer so gemacht, hatte man ihr gesagt, wenn ein Untertan der britischen Krone im Ausland starb. Es war ihr komisch vorgekommen, denn Papa war in Hamburg gestorben, und nur während des letzten Jahres seines Lebens war er britischer Staatsbürger gewesen. Sie erinnerte sich an die eisige Halle und wie die deutschen Musiker die Siebente von Beethoven gespielt hatten, die Papa so sehr liebte, und an die Soldaten der Britischen Kontrollkommission, die zusammen mit Max und einem deutschen Journalisten den Sarg getragen hatten.

»Der arme Papa«, hatte Max gesagt, »wie hätte ihn all das amüsiert«, und Anna, die nicht begreifen konnte, dass Papa tot war, hatte gedacht, ich muss ihm unbedingt darüber schreiben. Papa war nach Deutschland gefahren, um über das Theater zu schreiben – sein erster offizieller Besuch nach fünfzehn Jahren Exil. Er war zum ersten Mal in seinem Leben geflogen, und als er in Hamburg aus dem Flugzeug kletterte, hatten Reporter und Fotografen ihn erwartet. Man hatte ein Essen für ihn gegeben, eine Stadtrundfahrt mit ihm gemacht, und als er am Abend das Theater betrat, war das Publikum aufgestanden und hatte applaudiert. Und in der Nacht hatte er in seinem Hotelzimmer einen Schlaganfall erlitten.

Es ist acht Jahre her, dachte Anna. Es kam ihr viel kürzer vor. Er war erst nach einigen Wochen gestorben, und erst als sie und Max ganz verstört zum Begräbnis kamen, hatte Mama ihnen die näheren Umstände seines Todes erzählt.