Eine dunkle Lüge - Der zweite Fall für Jelene Bahl - Britta Habekost - E-Book
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Eine dunkle Lüge - Der zweite Fall für Jelene Bahl E-Book

Britta Habekost

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Beschreibung

Wenn du dem Dunkel deiner Vergangenheit nicht entkommen kannst … Der Kriminalroman »Eine dunkle Lüge« von Britta Habekost jetzt als eBook bei dotbooks. Auf den ersten Blick sieht die junge Frau im Wald aus, als würde sie schlafen – das Zwielicht malt Schatten auf ihr Gesicht, gefallene Blätter decken sie sanft zu. Doch Kriminalkommissarin Jelene Bahl weiß sofort, dass sie in das starre Antlitz des Todes blickt. Die Frau wurde eiskalt hingerichtet – nur wenige Meter von Jelenes Haus entfernt. Die Spuren der Toten führen sie bald zurück zu einem ungelösten Entführungsfall: ein Mädchen, das vor Jahren mitten auf einem belebten Markt in Mannheim spurlos verschwand. Ein Fall, der mehr und mehr Verstrickungen mit Jelenes eigener Vergangenheit aufweist – und mit einem dunklen Geheimnis, das sie um jeden Preis vergessen wollte … Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der abgründige Kriminalroman »Eine dunkle Lüge« von Bestseller-Autorin Britta Habekost – der zweite eiskalte Fall für Jelene Bahl. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 494

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Über dieses Buch:

Auf den ersten Blick sieht die junge Frau im Wald aus, als würde sie schlafen – das Zwielicht malt Schatten auf ihr Gesicht, gefallene Blätter decken sie sanft zu. Doch Kriminalkommissarin Jelene Bahl weiß sofort, dass sie in das starre Antlitz des Todes blickt. Die Frau wurde eiskalt hingerichtet – nur wenige Meter von Jelenes Haus entfernt. Die Spuren der Toten führen sie bald zurück zu einem ungelösten Entführungsfall: ein Mädchen, das vor Jahren mitten auf einem belebten Markt in Mannheim spurlos verschwand. Ein Fall, der mehr und mehr Verstrickungen mit Jelenes eigener Vergangenheit aufweist – und mit einem dunklen Geheimnis, das sie um jeden Preis vergessen wollte …

Über die Autorin:

Britta Habekost studierte Geisteswissenschaften und ist inzwischen als Schriftstellerin mehrerer Genres erfolgreich. Unter Pseudonym veröffentlichte sie bereits historische Romane und Kriminalromane sowie verschiedene erotische Novellen. Sie ist die Ehefrau und Co-Autorin des Kabarettisten Christian Chako Habekost, mit dem sie gemeinsam die sehr erfolgreiche Krimi-Reihe »Elwenfels« schreibt.

Die Autorin im Internet: www.britta-habekost.de/ 

Bei dotbooks veröffentlichte Britta Habekost ihre Kriminalromane:

»Ein dunkles Spiel – Der erste Fall für Jelene Bahl«

»Eine dunkle Lüge – Der zweite Fall für Jelene Bahl«

Unter Britta Hasler erscheinen bei dotbooks ihre Kriminalromane aus dem Wien der Jahrhundertwende:

»Das Sterben der Bilder – Lischka und Pawalet ermitteln, Band 1«

»Bilder des Bösen – Lischka und Pawalet ermitteln, Band 2«

Unter Nora Schwarz veröffentlichte sie außerdem bei dotbooks ihren Kriminalroman »Todestrieb« sowie ihre erotischen Romane der NYLONS-Serie aus dem dunklen Berlin der Nachkriegszeit, die auch im Sammelband »Dark Temptation – Gefährliches Spiel« erhältlich sind.

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Originalausgabe Dezember 2020

Copyright © der Originalausgabe 2020 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Redaktion: Ralf Reiter

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/frankie's

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (rb)

ISBN 978-3-96655-070-3

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Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

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Britta Habekost

Eine dunkle Lüge

Kriminalroman

dotbooks.

Prolog

4. Dezember 2017, ein Weihnachtsmarkt in Mannheim

Es musste an den Gerüchen liegen. An diesem typischen Aroma von gebrannten Mandeln, Glühwein, Würstchen und Kräuterbonbons, an dieser penetranten Hassliebe, die sie immer überkam, wenn sie auf einen Weihnachtsmarkt ging. Diese Dunstglocke von falscher Winterbeschaulichkeit, der erzwungene Körperkontakt mit Wildfremden. Alles, was sie so verabscheute. Und doch war da etwas in dieser ganzen duftenden Abscheulichkeit, das ihr Gehirn austrickste und sie so fühlen ließ, als wäre sie glücklich. Etwas, das ihren Synapsen suggerierte, dass doch alles in Ordnung war, irgendwie. Wenn sie zum Beispiel sah, wie Torben von einem Süßigkeitenstand einen Spieß mit Schokofrüchten holte, sich zu Leo hinunterbeugte und dem Kleinen die Leckerei überreichte. Dessen leuchtende Augen, der mit Schokolade verschmierte Mund, die Wollhandschuhe, die aus den Ärmeln seines Anoraks baumelten. Die Kindermelodien, die vom Karussell herüberschepperten. Die Lichter. Dann passierte irgendetwas in ihrem Kopf und Ulrike Nolden glaubte auf einmal, dass sie eine glückliche Familie wären. Obwohl ihre Tochter Amelie ein abfälliges Gesicht gezogen und sie nicht hierherbegleitet hatte. Aber sie war sechzehn, das konnte man wohl nicht mehr verlangen.

Und obwohl ihre zweite Tochter Vera noch viel zu klein war, um überhaupt etwas mitzubekommen. Aber allein die Art, wie die Lichter der Budenbeleuchtung sich in ihren großen Augen spiegelten, die aus dem Tragetuch zu ihr aufschauten, verursachte in ihr ein überwältigendes Glücksgefühl. Sie vergaß, dass sie das Gedränge nicht mochte und die klebrigen Gerüche, die immer gleichen, schnöden Verlockungen, den stumpfen Kommerz und die Kälte in ihren Füßen.

Wenn sie sich hinter Torben, der Leo an der Hand hielt, Vera vor ihrer Brust und mit einer Tüte gebrannter Mandeln durch die Gänge zwischen den Buden treiben ließ, war alles vergessen. Sogar die bittere Gewissheit, dass sie sich einer Illusion hingab. Sie waren keine glückliche Familie.

Sie waren eine kranke Familie.

Aber die herrliche Kulisse des altehrwürdigen Wasserturms, der die bunt leuchtenden Stände, den großen Weihnachtsbaum und das Kinderriesenrad zu bewachen schien, ließ sie die Wahrheit vergessen. Ulrike Nolden genoss es, zu vergessen.

An diesem Tag mischte sich das schleichende Gift allerdings von Anfang an in sanften Dosen in ihre Unbeschwertheit. Torben war der Meinung gewesen, dass Vera mit ihren dreizehn Monaten noch viel zu klein war, um über den Mannheimer Weihnachtsmarkt getragen zu werden, aber Ulrike hatte sich durchgesetzt.

»Guck doch, wie ihre Augen glänzen!«, hatte sie zu Torben gesagt. Aber der fühlte sich nicht wohl und war genervt von Leos Begeisterung, der an jedem Stand hielt und darauf bestand, alles anzuschauen, anzufassen, auszuprobieren. Die überschäumende Lebenslust und Neugier eines Fünfjährigen.

»Jetzt lass ihn das doch genießen!«, hatte sie Torben eingeschärft. Aber er hatte nur zur Seite geschaut und seine wachsende Unruhe damit kompensiert, dass er Leo ein billiges Spielzeug aus China angedreht hatte, was den Kleinen aber nicht vollständig zufriedenstellte. Er zog Torben weiter, wollte zu dem Stand mit den Schaffellen. Veras Augen fielen zu; sie schlief ein.

Und dann war Leo plötzlich verschwunden.

Von einem Moment auf den nächsten konnte Ulrike die blau-weiß gestreifte Mütze ihres Sohnes im Gewühl der Menge nicht mehr erkennen. Torben zündete sich gerade eine Zigarette an.

»Du hast seine Hand losgelassen«, warf sie ihm später immer wieder vor. »Du hättest seine Hand nicht loslassen dürfen!«

»Er ist fünf! Er ist doch kein Baby mehr, du kennst doch seinen Freiheitsdrang.«

Torben fühlte sich nicht verantwortlich, und während sie augenblicklich Panik bekam, blieb er ganz gelassen. Er schien sich keine Sorgen um seinen Sohn zu machen, und das machte sie so wütend, dass ihr schlagartig wieder einfiel, wie sehr sie ihren Mann eigentlich hasste.

Sie suchten die umliegenden Stände ab, fragten die Leute, die Budenbesitzer, aber niemand hatte Leo gesehen. Eine Viertelstunde verging. Vera wachte auf und wurde quengelig. Ulrike hyperventilierte fast vor Sorge, erstarrte aber, als Torben ihr einen kalten Blick zuwarf. Sie solle sich gefälligst beherrschen, zischte er sie an. Es würde niemandem helfen, dass sie automatisch das Schlimmste annahm. Sie solle sich zusammenreißen und einfach weitersuchen, Leo könne schließlich nicht weit gekommen sein. Natürlich wollte sie weitersuchen, aber nicht mit Vera im Tragetuch. Die Kleine wurde ständig angerempelt, weil Ulrike sich hektisch zwischen den Leuten durchdrängte.

Da fiel ihr Blick auf das junge Paar am Stand mit den Kartoffelpuffern. Der Mann trug einen südamerikanischen Poncho und sah zuverlässig aus. Die Frau hatte eine rosa Pudelmütze und einen geblümten Wintermantel an und tätschelte sanft den Rücken eines Säuglings, der vor ihrer Brust in einem Tragetuch schlief.

Ulrikes Gedanke war nachvollziehbar: Die beiden waren Eltern, also verstanden sie sicher die schrecklichen Gefühle, die sie durchmachte. Sie sahen freundlich und anständig aus, wie sie da an ihren Kartoffelpuffern knabberten. Vertrauenswürdig. Und dann sah die Frau sie auch noch besorgt an und sprach Ulrikes Gedanken aus.

»Sollen wir auf Ihr Kind aufpassen, während Sie suchen?«

»Entschuldigen Sie, wir haben gerade mitbekommen, dass Sie Ihren Sohn verloren haben«, sagte nun der Mann und deutete auf sein eigenes Kind, das seelenruhig vor sich hinschlummerte.

»Unserer ist dafür ja noch zu klein, zum Glück.«

Ulrike überlegte nicht lange. Sie warf einen Blick auf Torben, der schon ein paar Meter weitergezogen war und ungeduldig über die Schulter zurücksah.

»Wir bleiben einfach so lange hier stehen, bis Sie wieder zurückkommen«, sagte die Frau. »Haben Sie ein Fläschchen dabei, falls Ihre Kleine Hunger bekommt?«

Die Worte rauschten an Ulrike vorbei.

»Ich heiße Eva Marquez, und das ist Hannes, mein Mann.« Die Frau sah sie beruhigend an. »Und hier ist zur Not unsere Handynummer. Wir drücken Ihnen die Daumen.«

»Machen Sie sich keine Sorgen, Ihr Sohn taucht schon wieder auf«, meinte der Mann.

Ulrike Nolden empfand Dankbarkeit und Erleichterung, als sie Vera in die Arme dieser Eva Marquez legte. Dann hastete sie Torben hinterher. Der verlor kein Wort, vielleicht fiel ihm nicht einmal auf, dass Vera nicht mehr im Tragetuch war. Sie schrien Leos Namen, fragten weiter bei den Standbesitzern nach ihm, gingen zum Riesenrad, dem Karussell, dem Stand mit dem geflammten Lachs, der Leo so fasziniert hatte. Nichts. Ihr Sohn war verschwunden.

Ulrike bedrängte Torben, die Polizei zu rufen. Sie zitterte und spürte ihre Beine nicht mehr. Torben zögerte und tastete nach seinem Handy. Am liebsten hätte Ulrike ihn angeschrien. Sie holte gerade Luft, um die angestaute Angst, die Wut und die Ohnmacht herauszubrüllen, als über den Köpfen der Menge auf einmal eine blau-weiß gestreifte Mütze auftauchte. Sie blinzelte.

Und sie sah Leo, der auf den Schultern eines großen Mannes thronte und wie ein kleiner König auf die Köpfe unter sich schaute. Seine Augen leuchteten, und er grinste, als hätte er gerade die allerbeste Zeit seines Lebens. Ulrike drängte sich zu ihm durch und schrie seinen Namen.

Der Mann, auf dessen Schultern ihr Sohn durch die Menge geschaukelt wurde, sah erleichtert aus. »Na endlich, da ist deine Mama!«, sagte er zu Leo. »Da bin ich ja froh, dass meine Strategie aufgegangen ist.«

Ulrike starrte den Mann fragend an. Leo drückte sich in ihre Arme. Torben kam und fuhr sein ganzes Waffenarsenal an Feindseligkeit aus. Bevor er irgendetwas Unpassendes sagen konnte, hob der Mann beschwichtigend die Hände und deutete auf eine Frau neben sich.

»Sehen wir vielleicht aus wie Kidnapper?«

»Weiß nicht!«, stieß Torben hervor. »Sagen Sie es mir!«

»Hören Sie, ich habe gesehen, dass der Kleine seine Eltern verloren hat und hier herumgeirrt ist. Soll ja vorkommen. Unserer Tochter ist das mal auf einem Markt in Spanien passiert, und irgendeine schlaue Frau kam auf die Idee, sie auf den Schultern durch die Menge zu tragen, damit man sie gut sehen kann. Hat funktioniert. Heute auch. Also, wie wär‘s mit einem Dankeschön?«

»Sicher. Ich danke Ihnen tausendmal!«, beeilte Ulrike sich zu sagen. »Wir sind so erleichtert. Vielen, vielen Dank!«

Sie drückte den beiden die Hand, Torben tat es ihr nach. Warum starrt er denn immer noch so widerwillig, dachte sie. Warum kann er nicht einmal über seinen Schatten springen und kein Arschloch sein? Er schämt sich, weil ein anderer Mann Leo gefunden hat und nicht er, sagte eine vernünftige Stimme in ihr. Sie lächelte dem Paar noch einmal zu und zog Leo weiter, weil sie befürchtete, dass Torben ihm einen Schlag auf den Hinterkopf geben könnte, um ihn zu bestrafen.

»Komm, wir holen deine Schwester«, sagte sie und drückte sich zwischen den Leuten in Richtung Kartoffelpufferstand durch.

Und dann begann der wahre Albtraum für Ulrike Nolden.

Kapitel 1

29. Juni 2019, am Waldrand

Im Morgengrauen kamen die Katzen von ihren nächtlichen Streifzügen aus dem Wald heim. Jelene hörte es am leisen Quietschen der Klappe in der Terrassentür, durch die die Tiere im Abstand von einigen Minuten ins Haus schlüpften. Jelene blieb mit geschlossenen Augen auf dem Kissen sitzen und zwang ihren Geist dazu, still zu bleiben. Ein Teil von ihr wollte nach den Katzen schauen, aber ihre Morgenmeditation war noch nicht zu Ende. Sie wusste ohnehin, was die Katzen jetzt machten, weil sie jeden Morgen einem geheimnisvollen, immer gleichen Muster folgten. Eine legte sich aufs Sofa, die Zweite auf den Teppich vor dem Bücherregal, die Dritte auf den Klavierhocker.

Aber an diesem Morgen war es anders. Ein samtiges Streifen an ihrem Knie und ein leises Maunzen. Dann der unverkennbare Hauch von Verwesung. Jelene riss die Augen auf. Sie hatte schon die Befürchtung, die Katze wolle ihr eines ihrer typischen Geschenke machen, einen toten Vogel oder eine Maus, die sie irgendwo für ihre neue Herrin aufbewahrt hatte, um sie heute zu präsentieren. Aber das Maul der Katze war leer. Jelene runzelte die Stirn. Sie hatte ihn ganz deutlich wahrgenommen.

Den Tod.

Vielleicht hat sie im Wald an einem verendeten Marder herumgeschnüffelt, dachte sie und schloss die Augen wieder. Aber die Katze ließ ihr keine Ruhe. Sie rieb sich an ihrem Bein, und das Maunzen klang auffordernd und irgendwie alarmiert. Jelene ignorierte das Tier so gut es ging. Irgendwann gab die Katze auf und rollte sich auf dem Klavierhocker zusammen. Der Geruch verflüchtigte sich, und Jelene konzentrierte sich wieder auf den Raum hinter ihren Augen. Von oben erklang ein leises Knarren. Felix wachte auf. Sie wusste, dass er noch eine Weile im Bett liegen bleiben würde, bevor er herunterkam. Unwillkürlich stellte sie sich sein schlafendes Gesicht vor, das sie manchmal minutenlang beobachtete, bevor sie selbst aufstand.

Den Ausdruck von Weichheit, die Verletzlichkeit der geschlossenen Lider mit den dunklen Äderchen. Selbst jetzt, während sie eigentlich in einen Zustand der Leere eintauchen wollte, drängte es sie, nach oben zu gehen und ihn noch eine Weile anzusehen. Vielleicht entwickelte sich da eine kleine Besessenheit. Oder vielleicht war es Liebe. Felix schlief nur zwei-, dreimal im Monat hier bei ihr in dem fremden Haus am Waldrand, in dem auch sie selbst nicht wirklich zu Hause war. Sie konnte manchmal gar nicht glauben, wie viel Frieden dieser Mann ausstrahlte. Alles an ihm war würdevoll und weich. Wenn sie ihm beim Schlafen zusah, fühlte sie sich auf eine stille Art und Weise mächtig. Es war, als würden ihr die wenigen Minuten, in denen sie den schlafenden Menschen neben sich im Bett anschaute, ein wenig Kontrolle zurückgeben.

Vielleicht lag es daran, dass sie keine Kontrolle mehr hatte. Die Tage waren lang, und manchmal fiel ihr nichts Besseres ein, als in den Wald zu gehen und Bäume zu fotografieren. Es war jetzt zwei Jahre her, dass sie ihr eigenes Leben über den Haufen geworfen hatte. Zumindest ihr äußeres Leben. Seitdem versuchte sie hingebungsvoll, die Kontrolle über ihr inneres wiederzugewinnen. Mit Meditation oder langen, erschöpfenden Wanderungen durch den Wald, immer begleitet von der Frage: Was ist es, was ich wirklich tun will?

Jelene Bahl war nicht Kriminalkommissarin geworden, weil sie das wirklich wollte. Es war nur diese Idee von sich selbst gewesen, die ihr gefiel. Sie war nie besonders gut darin gewesen, sich in irgendetwas anderem zu sehen als in zwei Schubladen. Auf der einen Schublade stand absolute Kontrolle, auf der anderen das Wort Versager. Jelene Bahl hatte nie gelernt, die Facetten dazwischen zu sehen.

Dann waren ein paar sehr unschöne Dinge passiert, und sie musste einsehen, dass die vielen verschiedenen Nuancen zwischen Schwarz und Weiß ein guter Ort waren, um sich von der Katastrophe der Vergangenheit zu erholen. Wie ein Kind hatte sie diese Zwischenwelt erforscht und sich schließlich darin verkrochen wie in einem behaglichen Versteck.

Hauptkommissarin Jelene Bahl, das hatte sich einmal gut angehört, war aber gleichzeitig die Anhaftung an die verletzbarste Idee ihrer selbst. Sie war Polizistin geworden, weil sie glaubte, das würde ihr die Kontrolle über ihr Leben geben. In den letzten Wochen hatte ihr der Wald dabei geholfen, zu erkennen, dass das eine Illusion war. Ebenso wie das absichtslose Dasein der Katzen. Oder Felix.

Vielleicht war es das Beste, was sie je getan hatte: keine Polizistin mehr zu sein. Ihr Leben kam ihr jetzt vor wie etwas, das in einem Buch für die Chancenverwertung von Lebenskrisen nacherzählt wurde. Eine Parabel für gutes Scheitern.

Später saß sie mit Felix auf der Terrasse. Die Sonne malte helle Muster auf ihre nackten Beine. Eine der Katzen – die, die immer noch ein sanfter Hauch von verrottendem Leben umwehte – beobachtete eine flügellahme Motte, die um die Hortensienkübel taumelte. Der Kaffee in Jelenes Tasse dampfte gegen ihre Nasenspitze. Die Katze stand gemächlich und in eindeutiger Absicht auf und schlich sich an die Motte an.

Und plötzlich sagte Felix: »Pass auf, eines Tages wirst du hier im Wald über eine furchtbar zugerichtete Leiche stolpern.«

In seiner Stimme lag eine seltsame Heiterkeit. Er betrachtete entspannt den Tod der Motte. Am Waldrand rauschte der Wind in den Zweigen. Felix schien gar nicht zu merken, wie Jelene sich neben ihm versteifte. Er sprach einfach weiter über diese Vorstellung, und Jelene fiel zum ersten Mal auf, dass er normalerweise nie etwas Unpassendes oder Überflüssiges sagte.

»Und dieser Anblick wird dich an der Ehre packen«, sagte er. »Du wirst zurückgehen und wieder eine Kommissarin sein.«

Die Katze hatte ihre Pfote auf den samtigen Leib der Motte gestellt und betrachtete hingerissen das letzte Flügelschlagen.

»Ich möchte, dass du jetzt gehst«, sagte Jelene, ohne ihn anzusehen. Sie spürte, dass er innehielt, und war erleichtert, dass er sie gut genug kannte, um nicht nachzufragen. Er wusste, dass sie kein Mensch war, mit dem man diskutieren konnte. Nicht an diesem stillen Morgen, der ein Mikrokosmos des ganzen Lebens zu sein schien mit seiner Schönheit und dem Schmerz, der Lust und dem Tod. Felix stellte bedächtig die Tasse auf den Tisch, stand auf und ging.

Jelene hatte keine Ahnung, wann sie bereit war, ihn wiederzusehen.

Aber Felix ging nicht wirklich. Er verließ Jelenes Haus, dieses gedrungene Gebäude mit den großen Fenstern am Waldrand, in dem die Zeit stehen geblieben zu sein schien. Er ließ die Tür ins Schloss fallen und startete seinen Wagen. Jelene sollte sich seiner Abwesenheit sicher sein. Aber er fuhr nur bis zur übernächsten Straßenecke, stellte das Auto dort in einen Wirtschaftsweg zwischen den Zeilen der Weinreben, stieg aus und lief zurück. Zwischen zwei maroden Holzhäusern schlug er den Weg in Richtung Wald ein. Es war nur ein kurzes Stück bis zu der Stelle, wo man zwischen den Bäumen einen guten Blick auf Jelenes Terrasse hatte.

Sie selbst hatte diesen Platz vor einiger Zeit entdeckt und darüber gescherzt, dass es der perfekte Ort für einen Stalker wäre. Felix kauerte sich zwischen ein Haselgebüsch und einen hohen Kastanienbaum und setzte sich auf einen dicken Ast, der dort wie eine Einladung für einen Stalker lag.

Auf der anderen Seite des Hauses zogen sich die Weinberge bis an den Horizont. Eine hellgrüne Fläche, die in der Morgensonne zu flirren schien. Von Ferne erklang das Geräusch eines Traktors, und wenn man ganz genau hinhörte, konnte man in dieser Illusion absoluter Einsamkeit das Rauschen von Autos hören, die über die Weinstraße fuhren. Viele dieser Autos gehörten Touristen aus ganz Deutschland und Holland, denn die Schönheit dieser Gegend hatte sich herumgesprochen und der Wohnmobil-Parkplatz am Stadtrand war voll.

Jelene saß immer noch auf der Terrasse, immer noch mit der Tasse vor dem Gesicht. Warum Felix sie beobachtete, wusste er selbst nicht. Der Gedanke daran, dass er die Frau, die er liebte, bespitzelte, erschreckte ihn. Aber das Offensichtliche zwang ihn dazu. Jelene hatte ein Geheimnis. Und es war nicht die großflächige Tätowierung, die er ihr vor zwei Jahren auf den ganzen Rücken gestochen hatte und die man einer solchen Frau überhaupt nicht zutrauen würde.

Felix spürte die Anwesenheit von etwas Dunklem, und das machte ihm Angst. Er glaubte nicht, dass es irgendetwas war, das er nicht ertragen könnte. Es war eben dieses Ungesagte, Verschwiegene, das Jelenes Reiz ausmachte. Er vermutete, dass er sich nur in sie verliebt hatte, weil sie über etwas ganz Bestimmtes in ihrem Leben nicht sprach. Und genau das verlieh ihr so einen seltsamen, besonderen Schliff. Sie lachte nicht oft und hatte etwas Abwartendes, Grüblerisches. Sie sah aus wie jemand, der zu lange in einen tiefen Brunnen gestarrt und am Grund etwas gesehen hatte, das nicht in diese Welt gehörte. Sie war einer von den Menschen, mit denen man sich ohne viele Worte verstand, die Schweigen als etwas zutiefst Wohltuendes empfanden. Ein tiefes Wasser; und nur ganz selten schimmerte da etwas vage durch die Oberfläche. Wie eine versunkene Flasche mit einem zusammengerollten Stück Papier drin. Dieses Undeutliche machte Jelene aus. Und er hatte Angst, dass sie ihm eines Tages sagte, was mit ihr los war. Was, wenn dann der Zauber, der diese Frau umgab, erlosch? Wie der Nebel, der auf einer Waldlichtung lag, von der Sonne vertrieben wurde und man alles deutlich sah, ohne Verklärung.

Jelene saß regungslos da wie eine Statue. Eine Frau mit breitem Kreuz und schmalem Hals. Das lange Haar so locker aufgesteckt, dass es an den Seiten bauschig herabfiel, sodass sie aussah wie eine Frau auf einer alten Fotografie der Titanic-Passagiere.

Plötzlich stand sie auf, stellte die Tasse auf den Tisch und ging auf den Rand der Terrasse zu. Felix reckte den Kopf. Sein Herz pochte so laut, als wäre es selbst empört über seine Heimlichtuerei. Jelene bückte sich. Als sie sich wieder aufrichtete, hatte sie irgendetwas in der Hand. Etwas Kleines, das sie konzentriert beobachtete. Hatte sie gerade die Motte aufgehoben, die die Katze erlegt hatte?

Felix kniff die Augen zusammen. Er sah sie von der Seite, sah ihren kraftvollen Körper in dem hellgrünen, seidenen Morgenmantel. Jelene stand eine Weile unbewegt am Waldrand und betrachtete das Ding in ihrer Handfläche.

Plötzlich hob sie den Kopf, als finge sie aus dem Wald einen Laut auf. Genau in dem Moment, als Felix wegschauen wollte, weil er dieses Spiel nicht mehr aushielt, fuhr ihr Kopf wie der einer Eule herum, und Felix hätte schwören können, dass ihr Blick ihn traf. Dann wandte sie sich ab und ging ins Haus, ohne das Ding, das sie aufgehoben hatte, zurück in die Hortensien zu werfen. Die Terrassentür glitt geräuschlos zu.

Felix‘ Herz pochte wie nach einem Marathonlauf. Er stand auf und ging zurück auf den Wirtschaftsweg. Zurück zu seinem Auto, zurück in die Stadt, die bekannte Welt. Das hier, diese stille kleine Ansammlung von Häusern am Waldrand, kam ihm auf einmal vor wie feindliches Gebiet. Er bog in den Weg zwischen den beiden Holzhäusern ein. Langsam beruhigte sich sein Herzschlag wieder. Es war ein herrlicher Tag. In der frischen Morgenluft lag schon eine Ahnung der Hitze, die bald kommen würde. In seinem Studio in Mannheim wartete diese Woche eine junge Frau auf ihn, die für die Brustnarbe ihrer Herzoperation ein Reißverschluss-Tattoo bestellt hatte. Zusammen mit der Aufschrift In case of emergency open here.

Er ging zurück auf die Straße, wandte sich nach rechts und prallte am Zugang zu dem Wirtschaftsweg zwischen den Weinreben erschrocken zurück.

Dort stand Jelene an seinen Wagen gelehnt. Fertig angezogen in schwarzer Leinenhose und weißem Shirt. Gekämmt und frisiert, ein Hauch Lippenstift. Wie hatte sie all das in den wenigen Minuten, die er für den Weg zurück gebraucht hatte, gemacht? Sie sah ihn ohne Vorwurf an. Aber er wusste, dass er sich nicht rechtfertigen konnte, und schluckte die Worte herunter, die sich in seinem Mund sammelten. Er würde es niemals wagen, ihre Intelligenz mit Ausflüchten zu beleidigen.

Jelene verschränkte die Arme, der ganze Körper abwartend.

»Wir müssen reden«, sagte sie.

Wenn es eines gibt, was er gut kann, dann ist das warten. Warten und beobachten und sehen, wie die Dinge sich entwickeln. Zusehen, dass sie sich genauso entwickeln, wie er das will. Natürlich gibt es da einige Unwägbarkeiten, aber genau die machen das Spiel ja so interessant. Als würde er einen Film anschauen, dessen Drehbuch er selbst vor langer Zeit geschrieben hat. Einen Film, in dem die Schauspieler, ohne es zu wissen, einer Rolle folgen und doch nur improvisieren können. Felix Schuck, der Tätowierer, zum Beispiel. Der folgt dem Diktat seiner eigenen Unwissenheit und seiner Neugierde.

Er und Felix sind einander so ähnlich. Beide wollen sie etwas von Jelene Bahl erfahren, wobei er selbst viel mehr über sie weiß als ihr Freund. Und Felix‘ Fragen sind ganz anderer Natur als seine.

Entspannt lehnt er sich auf dem Hochsitz zurück und lässt das Fernglas sinken. Hundert Meter weiter sind Felix und Jelene gerade wieder auf der Terrasse aufgetaucht. In der Luft liegt der scharfe Geruch eines toten Tiers. Aber schon bald wird es hier noch viel stärker nach Verwesung riechen, und er ist gespannt, wer es als Erster bemerkt. So wie er Jelene einschätzt, wird sie das Naheliegende zuerst so weit wie möglich von sich schieben. Sie wird es nicht wahrhaben wollen. Das liegt in ihrer Natur. Sie verschließt gerne die Augen vor ihrer eigenen Wahrheit. Vielleicht hat sie sich deswegen für die Arbeit bei der Polizei entschieden.

Jelene hat ihm einen echten Gefallen getan, dass sie in dieses relativ einsam gelegene Häuschen am Wald, in die Randlage von Bad Dürkheim, gezogen ist. Wenn sie immer noch in Mannheim wohnen würde, müsste er ein anderes Spiel spielen. Aber so herrschen für ihn beste Bedingungen. Er liebt den Wald und weiß sich in ihm zu verstecken.

Ihm wird klar, dass die Dinge eine Eigendynamik entwickeln, die ihm in die Hände spielt und dem Film, den er entspannt verfolgt, einen neuen Spannungsbogen verleiht. Es gefällt ihm, den Dingen ihren natürlichen Lauf zu lassen. Er besitzt etwas, das vielen anderen seines Schlages wohl fehlt. Vertrauen. Und obwohl er keine Macht über das Kommende hat, ist sein Vertrauen unerschütterlich. Vertrauen in die Perfektion des Unvermeidlichen.

Er betrachtet seine Hände. Sie zittern immer noch ein kleines bisschen, was ihn ärgert. Es ist eine Weile her, seit er das mit einem Menschen gemacht hat. Genauer gesagt drei Jahre. Und obwohl er Rohypnol eingesetzt hat, war es unglaublich anstrengend. Nicht emotional, aber körperlich. Dass das Mädchen – das kein Mädchen mehr war, sondern eigentlich schon eine junge Frau – sterben musste, war so unvermeidlich wie der Lauf der Sterne über den Nachthimmel. Dass sie auf diese besondere Art sterben musste, nun, damit erfüllte er einen alten Schwur. Dieser starke, brutale Tod war einzigartig in der Menschenwelt. Er weiß, dass Jelene sofort verstehen wird, was damit gemeint ist. Sie wird sich angesprochen fühlen. Bei diesen Temperaturen würden sie die Leiche schnell finden, aber nicht zu schnell. Er hatte sie gut versteckt und hoffte, dass die Füchse etwas von ihr übrig ließen. Aber selbst, wenn nicht – was er mit ihr gemacht hat, das würden die Forensiker unweigerlich herausfinden, und Jelene würde es wissen.

Sie würde sich erinnern. An ihn und auch an alles andere.

Er denkt an die Hasen vom Hof. An ihre dummen, weichen Augen und an den empörten, leeren Blick der Hühner. Er hat mit ihnen geübt so oft es ging. Natürlich war es bei einem Menschen etwas ganz anderes, und er fragt sich, wie lange sie in der Gerichtsmedizin brauchen werden, um seine versteckte Signatur zu entdecken. Er glaubt nicht, dass irgendwo auf der Welt jemals jemand auf diese Weise zu Tode gebracht worden ist. Ein Lächeln zieht an seinen Mundwinkeln. Da soll noch mal einer sagen, dass es nichts Neues mehr unter der Sonne gibt.

Das Mädchen, das eigentlich schon eine junge Frau war, ist die Erste, der diese Ehre zuteilwurde. Das dumme Ding hätte das aber nicht zu schätzen gewusst. Wie auch. Sie hatte ja auch sonst keine besonders große Wertschätzung gezeigt, das undankbare Miststück. Seine Finger zittern stärker. Am liebsten hätte er Jelene seine Hände gezeigt und gesagt: »Sieh hin, es macht mir etwas aus. Ich weiß, dass ihr mich als Psychopathen bezeichnen werdet, als Wahnsinnigen. Aber das bin ich nicht. Ich bin nicht kalt und tot da drin. Ich lebe, und es macht mir etwas aus. Ich wünschte, ich hätte die Kälte eines Psychopathen.«

Er hebt das Fernglas erneut und beobachtet, wie Jelene die Terrassentür schließt. Danach verstellt die leicht spiegelnde Glasfläche das eigentliche Schauspiel. Felix, der arme Kerl, der sich wie ein Stalker verhält, nur um Antworten auf Fragen zu bekommen, die ihn nichts angehen. Er würde zu gerne wissen, was Jelene ihm sagt. Er stellt sich ihre Stimme vor. Ruhig und bestimmt und schneidend. So wie früher. Er hat Jelene nie schreien gehört, wütend, aufgebracht, auffahrend. Nie. Dazu war sie zu ... Er weiß es nicht. Weiß nur, dass sie irgendwie immer außerhalb der Dinge stand. Distanziert, beobachtend, nach eigenen Regeln denkend. So wie er. Es wird Zeit, dass sie sich wieder an ihn erinnert.

Bevor er beschließt, dass er genug gesehen hat, steckt er etwas zwischen die Ritzen des Hochsitzes. In die hintere rechte Ecke, gut versteckt zwischen zwei Ausbuchtungen im Holz. Wo es nur jemand finden wird, der auch danach sucht. Eine Ermittlerin vielleicht, die seine Aufforderung versteht.

Kapitel 2

6. September 2019

Es gibt Menschen, die behaupten, dass man sich alle Ereignisse im Leben selbst erschafft. Die Erfreulichen, aber vor allem die Unerfreulichen. Durch Gedanken, Worte, Überzeugungen. Als Felix in diesem unbedachten Moment vor drei Monaten auf der Terrasse davon gesprochen hatte, dass Jelene eines Tages im Wald über eine Leiche stolpern würde, war ihm nicht bewusst, welche Macht seine Worte besaßen. Nicht, dass dieses Dahingesagte allein dafür sorgen könnte, einen Menschen zu töten. Aber die Vorstellung, dass genau das passieren würde, entwickelte in Jelene ein Eigenleben. Denn obwohl sie es nicht wollte, dachte sie seit diesem Morgen im Juni immer wieder daran. Sie fragte sich, ob ein derartiges Ereignis sie dazu bringen könnte, ihre Entscheidung rückgängig zu machen, ihr einen Anlass geben würde, doch wieder bei der Polizei anzufangen. Oder ob es einfach nur genügte, dass sie nach ihrer achtzehnmonatigen Asienreise fast pleite war und nicht wusste, wie sie ihr Leben finanzieren sollte.

Sie sprach mit Felix nicht darüber. Seit er über sie wusste, was es zu wissen gab, sahen sie sich seltener, aber das störte sie nicht. Sie musste ihm die Zeit geben, mit dem fertig zu werden, was sie ihm erzählt hatte. Und sich selbst. Es war nämlich das erste Mal, dass sie jemandem anvertraut hatte, was sie seit mittlerweile 24 Jahren mit sich herumschleppte. Den Makel.

Felix hatte versucht, ihr einzureden, dass es kein Makel war, kein Fehler und kein Stigma. Dass sie ein bisschen übertrieb mit ihrem Versuch, diese Geschichte geheim zu halten. Aber er wusste ja auch nicht alles. Sie hatte ihm nur die Stützpfeiler der Geschichte verraten, nicht aber die vielen Facetten von Schmerz dazwischen.

Der Sommer entfaltete sich, und in Jelene Bahl setzte eine unmerkliche Veränderung ein, die sie nicht länger ignorieren konnte. Sie spürte eine Erwartung, jeden Morgen, wenn eine der Katzen auf ihr Bett sprang oder von draußen der Ruf der Krähen hereindrang. Etwas würde passieren, das ahnte sie. Sie fühlte eine sonderbare Entschlusskraft, ja fast Freude dabei. Die Katze, die den Verwesungshauch mitgebracht hatte, war seltsam unruhig und drängte Jelene immer wieder dazu, mit ihr in den Wald zu gehen. Sie reckte den Kopf in eine bestimmte Richtung, sprang ein paar Meter und sah sie auffordernd an. Jelene ignorierte dieses Verhalten, weil sie sich nichts dabei dachte. Sie kannte sich mit dem seltsamen Verhalten von Katzen nicht aus und merkte nicht, dass das Tier sich zu ihrer Verbündeten machen wollte. Und trotzdem war da diese innere Erwartungshaltung.

Vielleicht waren es also die geheimnisvollen Kräfte des menschlichen Geistes, die dafür sorgten, dass sie an diesem Morgen der Katze folgte. Jelene beschloss, ihre übliche Laufstrecke zu verlassen und sich dem Weg der Katze anzuvertrauen. Und das hatte seine Gründe.

Es war das letzte Mal, dass sie etwas vollkommen Freies und Ungeplantes tun würde, bevor ihr Leben wieder in geordneten Bahnen verlief. Es war ein Freitag. Am kommenden Montag würde Jelene ihre neue Stelle antreten. In Ludwigshafen. Von ihrer alten Wirkungsstätte in Mannheim nur durch einen breiten Fluss getrennt, der älter war als ihre persönliche Geschichte. Ein verdienter Neuanfang, redete sie sich ein.

Als sie der Katze quer durch den Wald folgte, tat sie es vollkommen bewusst. Das letzte Mal, als sie den sicheren, festen Weg verlassen hatte, hatte es ihr Vertrauen ins Polizeisystem zerstört, hatte sie ihren Job gekostet und beinahe auch ihr Leben. Als sie allmählich roch, was die Katze ihr zu zeigen gedachte, blieb sie stehen und starrte das Tier vorwurfsvoll an.

»Nein, das ist jetzt bitte nicht dein Ernst«, murmelte sie. Die Katze hatte keinen Namen. Jelene hatte sie mitsamt dem Haus und aller Möbel darin von einer alten Dame übernommen, die vor einem halben Jahr gestorben war. Das Tier schaute Jelene an, als wollte es sagen: »Wie du willst. Nur dass es hinterher keine Beschwerden gibt, dass ich dir das verschwiegen habe.«

Das Tier ließ Jelene in der unerträglichen Ahnung, die die holzige Waldluft verätzte, allein und spazierte gemächlich zurück. Irgendwo in der Nähe gab es eine Schießanlage, wo heute besonders reger Betrieb herrschte. Im Wald hallte es von den Schüssen wider, und wenn Jelene es nicht besser gewusst hätte, hätte sie an eine Jagd gedacht. Eine Ahnung jäher Gewalt verstärkte das Gefühl der Bedrohung.

Sie arbeitete sich durch das Brombeergebüsch neben dem abschüssigen Hang und näherte sich der Stelle. Der Verwesungsgeruch war höllisch, so stark hatte sie ihn noch nie wahrgenommen. Und obwohl sie genau wusste, dass ihr Vorgehen mit dem einer Polizistin nicht vereinbar war, tat sie es. Sie kontaminierte einen Leichenfundort. Wie um sich einzureden, dass sie eben doch nicht wusste, was da zwischen den Kastanienbäumen lag und auf sie zu warten schien. Um sich zu sagen, dass sie diesen Moment auf keinen Fall selbst heraufbeschworen hatte. Es musste ja keine menschliche Leiche sein, es konnte sich genauso gut um ein großes Tier handeln. Bitte lass es ein Tier sein ...

Aber Jelene wusste selbst, dass sie das nur hoffte, um das Unvermeidliche noch ein wenig auf Abstand zu halten.

Die Frau lag auf einem Teppich aus braunen Kastanienblättern. Eine heruntergefallene hellgrüne Stachelkugel war wie ein Ausrufezeichen mitten auf ihrer Brust gelandet. Eine ehemals weiße Strickjacke über einem hellblauen Sommerkleid. Kurze braune Haare. Ledersandalen. Die Art, wie der Körper dalag, ließ Jelene glauben, dass es vielleicht ein friedlicher Tod gewesen war. Den Rest blendete sie aus. Sie hatte noch nie eine derart stark verweste Leiche gesehen, und für einen Moment lähmte sie die Vorstellung, dass sie den ganzen Sommer hier am Waldrand verbracht hatte, während vierhundert Meter weiter diese tote Frau lag. Langsam ließ sie sich auf einen umgestürzten Baumstamm sinken und vergrub Mund und Nase im Ausschnitt ihres Shirts.

Ihr Lehrer bei den Tai-Chi-Fortbildungen hatte einmal gesagt, dass man aus jeder Situation eine Meditation machen konnte. Jelene bemühte sich, genau das zu tun. Nicht kopflos zu werden, sondern ein paar Minuten innezuhalten. Das große Ganze und das kleine Ganze zu begreifen. Sich etwas lehren zu lassen vom Tod. Alles bekam auf einmal eine ganz neue Bedeutung.

Sie hatte Felix noch nicht erzählt, dass sie wieder bei der Polizei anfangen würde. Irgendetwas in ihr drückte sich davor, ihm zuzugestehen, dass er recht gehabt hatte. Dieses Szenario, das er selbst vor ein paar Monaten auf ihrer Terrasse entworfen hatte. Jelene fühlte sich ausgetrickst. Es gab Dinge, die sie einfach nicht verstand, und das hier, das überstieg ihr Fassungsvermögen für die Gesetze des Lebens bei Weitem. Ganz langsam tastete sie nach ihrem Handy und aktivierte die Ortungsdienste. Dann wählte sie den Polizeinotruf.

»Sie sind nicht wirklich hier«, sagte die andere Frau und wandte sich kopfschüttelnd von Jelene ab. »Ich sehe Sie nicht, weil Sie gar nicht da sind.«

»Ich weiß selbst, wie verrückt das ist«, beschwichtigte Jelene. »So etwas passiert eigentlich nicht im echten Leben.«

»Da haben Sie allerdings recht, Frau Bahl. Im echten Leben müsste ich außerdem meine ganzen guten Vorsätze, die ich mir für unsere erste Begegnung vorgenommen habe, fallen lassen und Sie ab sofort als Verdächtige behandeln.«

»Das wäre aber eine noch größere Realitätsflucht, als meine Gegenwart zu leugnen. Ich kneife Sie gerne, wenn Sie mögen. Dann sehen Sie, dass ich da bin.«

»Lassen Sie die Finger weg«, knurrte die Frau und streifte sich ein Paar Gummihandschuhe über.

»Was für gute Vorsätze waren das denn?«, wolle Jelene wissen.

Kriminalrätin Tabea Arnau sah sie ungerührt aus ihren übermüdeten Augen an und hob das Kinn. Angriffslustig, dachte Jelene. Sie schaut mich an, als hätte sie nur darauf gewartet, ihre guten Vorsätze brechen zu können. Aber als Leiterin des Dezernats für Gewaltverbrechen hatte sie sich diesen Blick vielleicht schon vorher angewöhnt.

»Ich kenne Sie noch nicht gut genug, um solche Fragen zu beantworten. Aber wenn Sie es unbedingt wissen wollen – ich habe mir vorgenommen, Ihnen trotz Ihrer Vorgeschichte unvoreingenommen zu begegnen. Das ist mir jetzt leider nicht so richtig gelungen. Dank Ihrer Anwesenheit an einem Tatort.«

»Wir wissen nicht, ob das der Tatort ist«, wandte Jelene ein und pflückte sich ebenfalls zwei Gummihandschuhe aus der kleinen Tüte, die Tabea Arnau achtlos in ihre linke Hosentasche gesteckt hatte.

»Klugscheißen. Auch das noch.« Tabea Arnau schonte ihre müden Augen ein wenig, indem sie in die Baumkronen des Pfälzerwaldes blickte, über denen ein strahlend blauer Himmel hing. Es war ein warmer Tag, und kein Windhauch lüftete den unerträglichen Gestank auf der Lichtung.

»Ich wollte Ihnen so begegnen, als hätte ich Ihre Akte nicht gelesen, Frau Bahl.«

Jelene ahnte, was die andere noch dachte, aber nicht aussprach: Als wären Sie eine Frau, deren Fahrlässigkeit an Wahnsinn grenzt, die sämtliche polizeilichen Standards missachtet und Dinge tut, die nur Verrückte tun.

»Entschuldigen Sie, ich will meinen Einsatz keineswegs vorziehen«, wich sie aus. »Ich fange ja erst am Montag mit der Arbeit an.«

»Sie bleiben hier«, befahl ihre zukünftige Chefin. »Sie bleiben von der Leiche weg und warten, bis Sie befragt werden. Dann sehen wir, ob aus Ihrem Arbeitsbeginn überhaupt was wird.«

Arnau betonte das Wort Arbeitsbeginn, indem sie mit ihren behandschuhten Fingern zwei Gänsefüßchen in die Luft ritzte. Dann wandte sie sich um und ging zu der Leiche. Jelene setzte sich wieder auf den Baumstamm und sog die Szenerie in sich auf. Das Alte, Vertraute. Leute in weißen Anzügen. Konzentrierte Geschäftigkeit. Der ernste Blick einer Pathologin, die gerade den Körper der Toten vorsichtig auf den Bauch drehte. Das Alte, Vertraute.

Will ich das wirklich?, dachte Jelene. Nein, sie wollte es nicht. Aber zu diesem Zeitpunkt ahnte sie noch nicht, dass die Pathologin etwas im Mund des Opfers finden würde, das Jelenes Interesse über das normale kriminalistische Interesse hinaus wecken sollte. Etwas, das sie persönlich anging. Etwas, das ihre Vergangenheit in ein neues Licht tauchen und ihr die Sinnfrage erneut entgegenschleudern würde, diesmal aber leise und mahnend und mit einem Beigeschmack von etwas ... ja, Übersinnlichem.

Später kam Tabea Arnau zu Jelene und setzte sich neben sie auf den Baumstamm. »Also, wirklich reiner Zufall?«

»Reiner Zufall. Ich laufe jeden Morgen hier entlang.« Sie deutete auf den Weg oberhalb des Hangs. Dass die seltsam hellsichtige Katze sie hierhergeführt hatte, erwähnte sie nicht. Den anderen Gedanken, der durch ihren Kopf huschte, sprach sie nicht aus. Dass der Mörder diesen Ort nicht zufällig gewählt hatte. Dass ihr diese Nähe zu ihrem Zuhause irgendetwas sagen sollte.

»Und warum?«, fragte Arnau. »Warum laufen Sie ausgerechnet hier entlang?«

»Ich wohne hier. Gleich da vorne bei der kleinen Häuserzeile am Waldrand.«

»In einer pfälzischen Kurstadt?«

»So spannend ist Bad Dürkheim nun auch wieder nicht«, erwiderte Jelene, aber der kleine Scherz kam bei ihrer neuen Vorgesetzten nicht an. Sie stützte die Stirn auf den Handrücken und schüttelte ungläubig den Kopf.

Jelene schluckte. Das hier war ein Desaster. Der denkbar schlechteste Start für ihre Rückkehr zur Polizei. Sie wusste selbst, wie wichtig der erste Eindruck war. Und nachdem sie den halben Sommer damit zugebracht hatte, sich zu überlegen, wie sie mit ihrer komplizierten Vorgeschichte einen möglichst guten Eindruck machen konnte, war ihr nun schlagartig klar, dass sie sich das hätte sparen können.

»Entschuldigen Sie den dummen Spruch von eben«, sagte Arnau plötzlich.

»Ich merke mir dumme Sprüche in der Regel nicht«, erwiderte Jelene. »Welchen meinen Sie?«

»Dass ich Sie verdächtige. Das tue ich natürlich nicht. Es ist nur komisch, dass diese erste Begegnung einfach in das Bild passt, das ich mir von Ihnen gemacht habe.«

»Wenn dieses Bild so chaotisch und unberechenbar ist, warum haben Sie meiner Rückkehr dann überhaupt zugestimmt?«

Arnau schloss die Augen und massierte sich die Nasenwurzel. Jelene beobachtete sie. Sie sah eine Frau vor sich, die nur unwesentlich älter war als sie selbst. Betont sportlich gekleidet, obwohl ihre Statur nicht auf allzu viel Sport schließen ließ. An ihrem fleischigen Handgelenk glitzerte ein dünnes, silbernes Armband mit einem filigranen Fisch daran. Sie hatte sehr gepflegte Fingernägel und roch nach Drogerie-Parfüm. Die Art, wie sie ihren Nacken nach links und rechts drehte und sich mit gelöstem Mund der Massage ihrer Nasenwurzel hingab, strahlte etwas Verletzliches aus, etwas Verspanntes, Migränegefährdetes.

Wenn Arnau die Augen öffnete, würde sie eine Frau im schwarzen Trainingsanzug und nachlässig gebändigten, sehr langen Haaren sehen. Jelene konnte sich denken, wie die andere auf sie reagierte, sie kannte das bereits von ihrer alten Stelle, aus den Gesprächen mit Verdächtigen und Zeugen. Die dezente Irritation, mit der andere Menschen auf ihre – wie Felix sich ausdrückte – »sonderbare Schönheit« reagierten. Ihre großen Augen hatten etwas Verwundbares, wie bei einer Antilope, was nicht zu einer Frau mit Polizeimarke zu passen schien. Dazu die sinnlichen Lippen, die beim Sprechen vibrierten. Und doch sah Jelene beim Blick in den Spiegel immer auch etwas Kantiges in ihrem Gesicht, das den Eindruck von Weichheit verzerrte. Arnau öffnete die Augen und ließ den Blick über Jelenes Körper wandern. Ein wenig zu lang, zu ausführlich. Als würde sie sich ihre Formen unter den Trainingssachen ausmalen. Dann wandte sie sich ab. Jelene nickte unmerklich. Sie begriff, dass das Wiegen und Messen, das Abwägen und Abgleichen beendet war, wusste aber nicht, ob Arnaus Eindruck ihr zum Vorteil gereichte. Die Vorgesetzte war offensichtlich ein wenig erschüttert, dass Jelene Bahl ganz anders war, als sie es wohl vermutet hatte. Dass sie keineswegs in ihre Schablone passte. Sei vorsichtig mit ihr, wisperte eine innere Stimme in Jelene.

Im Hintergrund wurden Kastanienblätter rund um die Leiche zusammengerecht und in Tüten verpackt. Ein grauer Sarg tauchte auf. Die Pathologin klappte ihre Tasche zu. Tabea Arnau sagte: »Beachten Sie mich gar nicht. Ich bin abergläubisch. Besser, Sie erfahren das gleich, dann wundern Sie sich später nicht.«

»Und ich bin in Ihren Augen ein schlechtes Omen?«, fragte Jelene.

»Ja. Sparen Sie sich die Mühe, mich vom Gegenteil zu überzeugen, Frau Bahl. In meinem Weltgefüge ist das hier in blankes Unheil getränkt. Sie haben jetzt Pech an den Händen, das nur ich sehen kann.«

Sie machte ein betont dramatisches Gesicht und winkte dann müde grinsend ab, als wollte sie die Irrationalität dieses Gedankens auf Abstand halten.

Jelene sagte nichts mehr. Erstaunt registrierte sie, dass sie Tabea Arnau mochte.

Sie beobachtete, wie die Pathologin zu Arnau kam und leise mit ihr sprach. Jelena hielt sich zurück, als würde sie nicht dazugehören, stellte sich der anderen Frau auch nicht vor und wünschte sich, an diesem Morgen nicht in den Wald gelaufen zu sein. Sie warf einen Blick auf die Leute von der Spurensicherung, die die Leiche in Plastikfolie einschlugen und in den Sarg legten, und atmete demonstrativ aus, als der Deckel sich endlich schloss. Tabea kam zu ihr zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. »Bereit für Ihre erste Dienstanweisung?«

Jelene nickte.

»Okay. Genießen Sie Ihr Wochenende. Wir sehen uns am Montag.«

Sie wollte sich abwenden, aber Jelene hielt sie zurück. »Warten Sie. Heißt das, Sie lassen das Wochenende einfach verstreichen, ohne ...?«

»Ohne was? Zu ermitteln?« Tabea stemmte die Hände in die Seiten. »Die Einzigen, die jetzt ermitteln, sind die Gerichtsmediziner und das Labor. Haben Sie das Gesicht der Leiche gesehen? Völlig weggefressen von den Waldtieren. Wir müssen erst eine Gesichtsrekonstruktion abwarten, ehe wir auch nur hoffen können, sie zu identifizieren. Wir fangen am Montag an.«

Jelene nickte. Plötzlich graute ihr vor dem Wochenende. Als hätte Tabea Arnau ihren Gedanken gehört, fragte sie in freundschaftlichem Ton: »Gehen Sie auf den Wurstmarkt?«

An diesem Wochenende fand in Bad Dürkheim das größte Weinfest der Welt statt, und allein das Wissen, dass in ihrer Nähe Zehntausende Menschen feierten, löste Unruhe und eine schwer zu erklärende Scheu in Jelene aus. Wie auf ein geheimes Stichwort ertönte aus der nahen Schießanlage ein Schuss.

»Keine Sorge, ich werde am Montag nüchtern sein«, sagte Jelene knapp und ging zu ihrem Haus zurück. Für einen Moment spielte sie mit dem Gedanken, die Katze in einen Karton zu stecken und irgendwo weit weg von ihrem Zuhause auszusetzen.

Er betrachtet sein Bild in der Fensterscheibe des Eiscafés. Glatt rasiert, unauffällig, mit einer ebenso unauffälligen Sonnenbrille. Die Haare in einem gefälligen, modernen Schnitt, den jetzt vor allem Jugendliche tragen.

Ob Jelene auch manchmal hier auf dem belebten, mediterran angehauchten Platz inmitten der Kurstadt sitzt und einen Eisbecher isst? Er entscheidet sich gegen diese Vorstellung. Nein. Er beobachtet sie nun schon so lange, nur unterbrochen von ihrer langen Reise, als er schon geglaubt hatte, sie verloren zu haben. Jelene ist nicht der Typ für Müßiggang und Genuss. Es gefällt ihm, dass er das Spiel eröffnet hat und nun in aller Ruhe auf die gegnerischen Spielzüge warten kann.

Er hat Jelene das Wochenende gründlich versaut.

Die ganze Stadt ist auf den Beinen, feiert laut und ausgelassen das Leben, während Jelenes Welt reduziert ist auf diesen toten Menschen, der praktisch in ihrem Garten auf sie gewartet hat. Ob sie es spürt? Jelene ist nie arglos gewesen, auch nicht als Mädchen. Sie hat immer hinter die Dinge geschaut. Deswegen war es auch nur zu verständlich, dass sie ihn damals zurückgestoßen hat. Sie hat seine wahre Natur gesehen, damals schon. In dem Moment, als er ihr die Wahrheit gesagt hat.

»Geh weg, du widerst mich an.«

Das hatte sie gesagt. Und er fragt sich heute noch, warum sie von allen Worten ausgerechnet dieses verwenden musste. Anwidern. Er kannte dieses spezielle Gefühl damals schon. Es überkam ihn zum Beispiel, wenn er seine Mutter sah, die sich vollgekotzt ins Bett geschleppt hatte, umgefallene Gin-Flaschen neben sich, wenn er ihre wirren, feuchten Haare über dem Gesicht sah, die sich bei jedem sauren Atemzug hoben und senkten.

Tot.

Es hatte ihn angewidert, dass seine Mutter eine lebende Tote war. Aber warum sagte Jelene das zu ihm? Er hatte sich immer Mühe gegeben, nichts von dem, was ihn anwiderte, in sein anderes, sein gutes Leben zu bringen.

Aber offensichtlich war ihm das nicht gelungen.

Letztendlich besteht das Leben aus einem stolpernden Rhythmus von Anziehung und Abstoßung. Anziehung und Abstoßung. Das war wohl im Universum so vorgesehen. Aber er hatte beschlossen, diesem öden Lied ein paar neue Takte hinzuzufügen. Für ihn selbst gibt es nämlich nur eine Sache, die ihn anwidert.

Familie. Vatermutterkind. Allein die Vorstellung löst Brechreiz aus.

Jelene mit ihrem heilen Elternhaus hätte das niemals verstanden. Dennoch war sie tief gefallen. Und er hatte da unten auf sie gewartet, weil er immer schon dort gewesen war und sich in jenen besonderen Abgründen auskannte, in die nur Kinder und Jugendliche fallen können. Aber selbst da noch hatte sie ihn abgewiesen.

Er nimmt einen letzten Löffel von seinem Eis, es schmeckt ihm nicht mehr. Er steht ruckartig auf und erschreckt damit ein kleines Mädchen in seinem Buggy, das von seiner Mama mit Vanilleeis gefüttert wird. Das Kind beruhigt sich sofort wieder und schleckt den Plastiklöffel ab, der ihm hingehalten wird. Er lächelt und fängt erneut sein Spiegelbild auf. Unauffällig. Die spezielle Finsternis in seinem Innern können die Leute nicht sehen.

Am liebsten hätte er die Mutter gefragt, ob ihre Liebe zu diesem Mädchen nur in der Verabreichung von Vanilleeis besteht oder ob es da noch etwas anderes gibt. Er sieht das Mädchen an, blond und rosig, und erschrickt vor der ernüchternden Erkenntnis, dass auch dieser kleine Mensch in seiner Seele bereits verloren ist. Ein kleines Haus für den Tod, wie man so schön sagt.

Es wäre spielend einfach, das Mädchen einfach mitzunehmen. Er hat es oft genug gemacht. Kinder werden weitaus weniger beschützt, als alle immer denken. Sogar die scheinbar behüteten Kinder sind auch nichts anderes als kleine verirrte Sardinen in einem großen Rund aus Haien. Man kann sich ihnen von hinten nähern, sie vom Baum des Alltags pflücken wie Nüsse und einfach einstecken. Er kennt einen Ort, einen geheimen Ort, an dem man die seelische Verwahrlosung dieser Kinder umkehren kann. Aber jung müssen sie sein. Je jünger, desto besser. Dann ist es vielleicht noch nicht zu spät.

Er entfernt sich von der Betriebsamkeit des Cafés und schlägt den Weg in Richtung von Jelenes Haus ein, auch wenn es bei den Menschenmassen, die gerade unterwegs sind, schwierig wird, sich frei zu bewegen. Er lässt sich in der Menge treiben. Seine Wut leuchtet grell hinter der Stirn. Und er hatte gedacht, dass der Tod des Mädchens diese Wut befrieden würde. Oder das Spiel, zu dem er Jelene Bahl aufgefordert hat. Aber das war eine Illusion. Er ist der unerwünschte Rattenfänger. Er hat seine Pflicht getan und wurde aussortiert wie ein altes Fahrrad. Die, die über ihm stehen, brauchen ihn nicht mehr. Wie soll er mit dieser Demütigung weiterleben?

Auf dem Schlossplatz bleibt er stehen und betrachtet die Blätter der Zierplatanen, die langsam dem Herbst zum Opfer fallen. Er erinnert sich an das, was Ivander Meyrinck zu ihm gesagt hat, als er ihn im vergangenen Jahr nach einem seiner Vorträge angesprochen hat.

»Du brauchst eine klare Vision, der du bedingungslos folgen kannst, egal wie viele Rückschläge es gibt. Alles andere ist Zeitverschwendung.«

Er flüchtet sich in die Einfahrt der Tiefgarage, die zum großen Kurhotel gehört. Die kühle Dunkelheit, der leichte Dieselgestank in der Luft beruhigen ihn.

Welche Vision? Hatte er denn je eine? Oder hatte er sich zwischen den einzelnen Impulsen immer nur verzettelt? Die Aufgabe, der er jahrelang gedient hatte, war endgültig abgeschlossen, und jetzt muss er seine Vision erneuern.

»Verknüpfe deine Vision mit einem klaren Bild. Rufe dir dieses Bild immer wieder in Erinnerung. So verlierst du deinen Weg nie mehr aus den Augen.«

Was Meyrinck wohl sagen würde, wenn er wüsste, wie pervertiert seine Lehren ausgelegt wurden?

Er presst sich gegen die Betonmauer im Parkhaus, versteckt sich hinter einem SUV, der ihm Sichtschutz gibt, und schließt die Augen. Vor seinem inneren Blick entsteht ein Bild, ohne dass er es bewusst hervorrufen muss: Jelene. Immer wieder Jelene.

Er muss dafür sorgen, dass diese Frau ihn endlich erkennt. Erkennt, dass er derjenige ist, der ihr Leben in seinen Händen hält. Er besitzt das Missing Link zu ihrer Vergangenheit. Meyrinck betont doch immer, dass man seine Vergangenheit kennen sollte, um die Zukunft gut leben zu können. Ohne sichtbare Vergangenheit kann man nicht leben, ist man so gut wie tot. Er muss herausfinden, ob Jelene bereit ist, wirklich zu leben. Ihr Wiedereintritt in die Polizei wird sie nicht davor bewahren, endlich die Augen aufzumachen.

Kapitel 3

9. September 2019, morgens

Jelene verbrachte das Wochenende auf einer Tai-Chi-Fortbildung in Saarbrücken, zu der sie sich in letzter Minute angemeldet hatte, um die beiden Tage bis Montag nicht in irgendein Loch zu fallen, das sie sich mit sorgenvollen Gedanken selbst aushob. Die Katzen konnten zwei Tage allein gelassen werden, weil sie sich um ihr Fressen selbst kümmerten, und Felix hatte in Mannheim einen neuen Kunden im Tätowierstudio, der ihn mit jeder Menge Arbeit eingedeckt hatte. Sie zögerte den Moment, ihm von ihrem beruflichen Neuanfang zu erzählen, immer noch hinaus. Das war ihre kleine Rache an seinem unheimlichen Wissensvorsprung.

Als Jelene am Montag ins Ludwigshafener Polizeipräsidium ging, fühlte sie sich, als wäre sie aus einem eiskalten Gebirgsbach gestiegen und auf eine sonnige Lichtung getreten. Sie hatte zwei volle Tage nur in ihrem Körper verbracht, und ihr Kopf war nebenhergelaufen wie ein braver Hund, in ihren Gedanken nichts als ruhige Klarheit. Jelene ahnte nicht, wie sehr die Dinge sich bereits gegen sie verschworen hatten. Wie leicht sie erneut vom Kurs abkommen würde, um wieder jenen Weg einzuschlagen, den sie bereits seit 24 Jahren hinter der Fassade ihrer Unerschütterlichkeit verfolgte.

Jemand erklärte ihr den Weg zu ihrer Abteilung. Während sie mit dem Aufzug in den dritten Stock fuhr, kämpfte sie gegen ein Gefühl an, das sie an ihren ersten Schultag erinnerte, wo es besonders stark gewesen war. Seit Jahrzehnten hatte es irgendwo im Hinterhalt geschlafen, und nun verfluchte sie die Unsicherheit in ihrem Innern.

Sie betrat eine Art Foyer, von dem Flure und große Räume abgingen, und hielt Ausschau nach Tabea Arnau. Offensichtlich wurde sie bereits erwartet, den Blicken nach zu schließen. Aber niemand begrüßte sie, und als sie nach ihrer neuen Vorgesetzten fragte, zeigte ein junger Mann, ohne von seinem Laptop aufzusehen, einen Flur hinunter. Jelene sah eine Menschenansammlung hinter einer Glaswand und erkannte den kompakten Umriss von Tabea Arnau. Sie nahm einen tiefen Atemzug und betrat den großen Besprechungsraum. Sechzehn Augenpaare sahen sie an.

Jelene registrierte verschiedene Dinge gleichzeitig und wusste nicht, was davon das Unangenehmste war. Dass sie offensichtlich in eine bereits laufende Fallbesprechung platzte oder dass die Leute in diesem Raum doch schon seit Freitag ermittelten? Dass sie in der Menge ein bekanntes Gesicht entdeckte, das hier eigentlich nicht hergehörte? Oder dass Tabea Arnau es wohl darauf angelegt hatte, Jelene mit dieser Wand aus ermittlungstaktischem Vorsprung zu konfrontieren?

Du bist die Neue und hast den Anschluss verpasst.

Sie kämpfte den Impuls nieder, wieder durch die Tür zu verschwinden, den einzigen freien Stuhl zu ignorieren und zu beschließen, dass sie in diesem Fall nur eine Zeugin sein würde. Sie war einfach nur dankbar, dass gerade ein bulliger Typ mit seiner durchdringenden Stimme ihren Herzschlag übertönte.

»Wir checken noch mal dieses Jugendzentrum, vielleicht hat ja einer von den Rumtreibern sie in letzter Zeit gesehen.«

Jelene ließ sich auf den Stuhl sinken und versuchte, den Wissensvorsprung der Gruppe zu erfassen. Auf einem Flipchart hingen Bilder der Leiche am Fundort und daneben das Foto eines etwa siebzehnjährigen Mädchens mit Retro-Brille, glatten braunen Haaren und einer Katzenbrosche am Kragen.

Dann hatten sie die Tote also bereits identifiziert. Jelene spürte Blicke in ihrem Nacken. Sie zwang sich dazu, den Kopf zu drehen und die Menge zu taxieren. Ein paar Leute nickten ihr zu.

»Gibt es Anhaltspunkte dafür, dass sie vor ihrem Tod in Gefangenschaft war?«, fragte Tabea Arnau, und jemand stand auf. Es war die Pathologin, die Jelene bereits am Samstag im Wald gesehen hatte.

»Nein. Und wenn, dann wurde sie dort gut behandelt«, sagte die Frau und öffnete auf ihrem Laptop Bilder der Leiche, die großformatig auf dem Screen an der Stirnseite des Raumes erschien. Jemand am Tisch unterdrückte ein Stöhnen. Jetzt sah man ganz deutlich, dass kleinere Raubtiere das Gesicht des Mädchens weggenagt hatten. Jelene kombinierte in ihrem Kopf die Möglichkeiten. Wenn sie das Mädchen bereits identifiziert hatten, musste ihnen eine Genprobe vorliegen und die Braunhaarige mit der Katzenbrosche wurde bereits seit einiger Zeit vermisst. Ihr Gehirn stellte alle möglichen Theorien an, um den Anschluss zu bekommen, schaffte es aber nicht, sie von der Tatsache abzulenken, dass sie wieder dieses bekannte Gesicht in der Menge gesehen hatte, das dort eigentlich nicht sein konnte. Was bedeutete es für den Fall, dass ein Vertreter der Mannheimer Mordkommission in der Menge saß? Was bedeutete es für sie selbst?

»Frau Dr. Kain hat in diesem Fall darauf verzichtet, einen der leitenden Ermittler im forensischen Institut an der Leiche direkt ins Bild zu setzen. Warum, muss wohl nicht erklärt werden«, sagte Tabea und wies auf das Foto der stark verwesten Toten.

In der Menge ertönte dankbares Gemurmel.

»Zum Thema Gefangenschaft gibt es für mich keine ersichtlichen Hinweise«, sagte die Pathologin. »Bis auf die Haare. Amelie Nolden hatte zum Zeitpunkt ihres Verschwindens sehr gepflegte und lange Haare. Offensichtlich wurden sie ihr mit einer stumpfen Schere wenig fachkundig abgeschnitten. Das ist aber auch die einzige Gewalteinwirkung, die ich feststellen konnte. Was den Rest angeht ...«, sie zoomte ein Bild des Kopfes heran, »… ist mir so etwas bis jetzt noch nicht untergekommen. Ich würde vorschlagen, dass Sie die Verbrechensdateien durchforsten, die das FBI erstellt hat. Diese Datenbank, in der alle außergewöhnlichen Tötungsmethoden weltweit aufgelistet sind. Würde mich aber wundern, wenn Sie da etwas finden. Das hier ist ... nun, ziemlich einzig-, um nicht zu sagen abartig.«

»Ich halte die Spannung wirklich nicht mehr aus«, stellte Tabea Arnau betont sachlich fest. »Würdest du bitte?«

Jelene betrachtete die kühle, maskuline Erscheinung der Pathologin. Ihr fiel auf, dass sie am linken Handgelenk ein dünnes silbernes Kettchen trug. Ein ganz Ähnliches wie Arnau. Nur dass es bei ihr kein Fisch war, sondern etwas, das aussah wie ein Vogel. Für einen winzigen Moment betrachtete Jelene irritiert ihre Chefin und die Pathologin, ehe es ihr klar wurde.

Dr. Luise Kain zeigte ein Foto, das die Mundhöhle des Opfers darstellte.

»Das ist die einzige Verletzung, die ich feststellen konnte. Auf den ersten Blick nicht sichtbar und auch sonst sehr unauffällig. Aber absolut zerstörerisch. Der Täter hat ihr etwas Scharfes, Gebogenes in den Mund eingeführt.« Sie ahmte den Vorgang mit der gewölbten Hand und einem Kugelschreiber nach. »Es muss eine spezielle Klinge sein, ein gekrümmtes, sehr dünnes Messer, ähnlich einer Sichel oder einer chirurgischen Nähnadel. Es wurde in ihren Mund eingeführt und im Gaumen nach oben gestoßen. Direkt ins Gehirn.«

Die Pathologin klickte ein Foto an, auf dem der geöffnete Schädel der Leiche zu sehen war.

»Hier erkennen Sie die Eintrittsöffnung der Tatwaffe. Der Täter hat mit dieser Klinge das Stammhirn punktiert. Und ich möchte mit Ihnen eine Wette abschließen, dass es so etwas weltweit noch nicht gegeben hat.«

»Was verwetten Sie denn?«, fragte ein junger Mann direkt neben Jelene.

»Meine Glaubwürdigkeit«, erwiderte Luise Kain gelassen.

Jelene fühlte das Blut aus ihren Wangen weichen. Aber nicht, weil diese Details so grauenerregend waren. Irgendwo in den Tiefen ihrer Erinnerung öffnete sich ein kleines Fach und stieß etwas, das davorgestanden hatte, herunter, wo es am Grund ihres Bewusstseins leise zerklirrte. Bevor sie dem inneren Bild folgen konnte, sprach die Pathologin weiter.

»Der Knochen, der oberhalb des Gaumens liegt, ist ein bisschen dünner als der Rest der Schädelstruktur. Aber dennoch braucht es ordentlich Kraft, um da einen spitzen Gegenstand durchzustoßen. Und noch dazu möchte ich annehmen, dass der Täter über medizinisches Wissen oder eine entsprechende Vorbildung verfügt. Und natürlich über Kraft. Ich nehme an, dass das Opfer gefesselt oder betäubt war. Spuren von Rohypnol und Ähnlichem habe ich nicht mehr festgestellt, aber das ist nach der langen Liegezeit der Leiche nicht ungewöhnlich.« Dr. Kain zeigte nun eine vollständige Aufnahme des Körpers. »Abgesehen davon war sie eine gesunde junge Frau. Das Einzige, was ich sonst festgestellt habe, war ein unverheilter Bruch des Mittelfingers, der ungefähr ein Jahr zurückliegt, was aber nicht unbedingt durch Gewalteinwirkung entstanden sein muss.«

»Wie lange lag sie dort auf der Lichtung?«, wagte Jelene sich vor. Sie wollte es einfach wissen. Wollte wissen, wie lange sie nur vierhundert Meter entfernt von einer Leiche vor sich hingelebt und nichts gemerkt hatte.

»Meine lieben Freunde, die Maden und Larven, sagen mir, dass es plus minus drei Monate sind«, sagte Doktor Kain. »Bei der Hitze ging das mit der Verwesung natürlich rasend schnell.«

»Ist es angesichts des Zustands der Leiche geschmacklos zu fragen, ob sie vergewaltigt wurde?«, fragte der junge Mann, der vorhin wissen wollte, was die Pathologin als Wettpfand einzusetzen gedachte.

»Ist es nicht. Aber Ihre Fantasie gestattet Ihnen bestimmt, sich auszumalen, dass sich das aufgrund der massiven Zersetzung nicht mehr feststellen lässt.«

»Ich bin nicht Polizist geworden, weil ich gerne meine Fantasie einsetze«, erwiderte der Mann und sah sie provozierend ruhig an. »Auf anderen Gebieten mache ich das allerdings gerne.«