Eine Göttin im Advent - Alizée Korte - E-Book

Eine Göttin im Advent E-Book

Alizée Korte

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Beschreibung

Advent in Heidelberg. Auf einer gemeinsamen Party wollen Vika und Etienne ihre Freundeskreise miteinander bekannt machen. Die angehende Radiojournalistin und der charismatische Karatelehrer sind gerade erst zusammengezogen und haben bereits einige Herausforderungen zu meistern: Eine Karateschülerin steckt in Schwierigkeiten, ein verletzter Hundewelpe braucht Hilfe, eine Katze hat sehr schlechte Laune … Zu allem Überfluss hat plötzlich auch noch Etiennes Ex-Freundin eine Autopanne in der Nähe. Etienne hilft – und bringt die selbstbewusste Filmkünstlerin mit nach Hause. Nicht nur seine Gefühlswelt gerät alsbald in Aufruhr. Was entwickelt sich da zwischen Vika und der Französin? Hat Etienne aus seinen alten Fehlern gelernt? Oder gerät die geplante Adventsparty am Ende zur Abschiedsfeier von einer großen Liebe? „Eine Göttin im Advent“ wurde bereits vor der Veröffentlichung mit dem Qindie-Siegel für besondere Qualität im verlagsunabhängigen Publizieren ausgezeichnet.

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EINE GÖTTIN IM ADVENT ist eine fiktive Geschichte. Alle handelnden Personen sind meiner Fantasie entsprungen und haben nichts mit lebenden Menschen in bestimmten Positionen oder Funktionen gemeinsam. Dies gilt insbesondere für Mitarbeitende des lokalen Radiosenders, des Heidelberger Tierheims, des Hotels im Odenwald. Auch die beschriebenen Ereignisse haben sich dort nicht zugetragen.

ALIZÉE KORTE wurde in Hamburg geboren. Nach ihrem Studium der Philosophie und Politischen Wissenschaft in Heidelberg und Buenos Aires arbeitete sie unter ihrem bürgerlichen Namen zunächst als Journalistin. Inzwischen ist sie als Kommunikationsberaterin seit über zwanzig Jahren in der Fachwelt rund um Media, Marketing, Werbung und Internet zu Hause. Seit 2006 lebt sie mit ihrer Familie in der Nähe von Düsseldorf und taucht in ihrer Freizeit in die Tiefen selbst ausgedachter Geschichten ab. Nach ihrem Romandebüt »Dein Weg, meine Liebe« (2017) erschienen von ihr der Erzählungsband »Das Echo der Farben« (2018) und der Roman »Zum Horizont führt keine Treppe« (2020).

Mehr Informationen unter www.alizeekorte.de und auf Instagram unter @alizee.korte.autorin

©Alizée Kortec/o Alexander HüsingUgandastraße 213351 BerlinLektorat: Jil Aimée BayerKorrektorat: Sabine WagnerCovergestaltung: Constanze Kramer, www.coverboutique.deBildnachweise: ©Dirk Lux, ©avian – stock.adobe.com, ©Chipmunk131,©SofiaV – shutterstock.com, rawpixel.com, Freepik.comSatz: Die Buchprofis, MünchenHerstellung und Druck der Print-Ausgabe: BoD – Books on Demand, NorderstedtISBN: 978-3-7568-4534-7

Triggerwarnung im Nachwort oder unter www.alizeekorte.de/triggerwarnung

Qindie steht für Qualität im Independent-Publishing. Mit dem Qindie-Siegel zeichnet das Qindie-Autorenkollektiv verlagsunabhängige Publikationen aus, die dem handwerklichen Qualitätsstandard von Verlagsbüchern entsprechen. Auf diese Weise bietet Qindie Lesern und Buchhandel eine Orientierungshilfe im Dschungel des Self- und Independent-Publishings. Mehr Informationen unter www.qindie.de

Allen Ex-Partner*innen, die unseren Lieblingsmenschengeliebt und geprägt haben.

Inhaltsverzeichnis

Krasse Krippe

Karatelehrer glitzern nicht

Zeit zu zweit

Kerl mit Charisma

Göttin mit Mängeln

Diana

Filmabend

Unentdeckte Kontinente

Dinner zu dritt

Goldjunge

Wiedersehen mit ›Phénix‹

Im Akutfall zweimal täglich

Überraschungsgast

Schlüsselmomente

Zuckersterne

Kuss-Emoji und zwei Herzen

Feierabendfeuerwehrfrau

Auszeit

Hochwasserheldin

Glitzer für alle

Starker Stoff

All I Want for Christmas

Unethische Prinzipien

Time to Say Goodbye

À bientôt!

Nachwort

Sandrines Gibassier

Vikas Maronenzöpfe

Vikas Zuckersterne

Krasse Krippe

24. November 2014

»Okay, du hast gewonnen.« Vika verstaut ihren Rucksack im Fußraum und lässt sich mit einem unterdrückten Stöhnen auf den Beifahrersitz fallen. »So etwas habe ich wirklich noch nie gesehen.«

Könnte ihre Kollegin mal damit aufhören, so triumphierend zu grinsen?

»Hab ich doch gesagt«, legt Jazza stattdessen nach. »Zwei Premieren an einem Tag. Ein guter Anfang.«

Sie startet den Motor des Firmenwagens und lässt das Navigationsgerät die Route zurück zum Sendestudio Mannheim-Ludwigshafen berechnen. Eine Stunde und fünfzig Minuten. Genug Zeit also für … alles. Vika klappt die Sonnenblende hoch. Jetzt, da sie ihre Termine für heute erledigt haben, braucht sie den Schminkspiegel nicht mehr, und der Himmel hängt ohnehin voll düsterschwerer Wolken. Seit Tagen schon ist Sonnenschein Mangelware.

»Wenn du meinst. Aber diese Weihnachtsdekorationserfahrung von eben war wirklich …« Vika fährt sich mit beiden Händen in die Haare, als könnten ihre Fingerspitzen zwischen den Haarwurzeln das passende Wort aufspüren.

»… menschenbildverändernd?«, hilft Jazza ihr aus und beschleunigt den Wagen zum Ortsausgang hin.

»Irgendwie schon.«

»Ein Jahr im Job, und du wunderst dich nicht mehr, womit Menschen freiwillig ihre Zeit verbringen«, prophezeit Jazza.

Etwas, das bei näherer Betrachtung ziemlich schade wäre. Denn dass sie bei fast jedem Termin ins Staunen gerät, ist ein wesentlicher Grund, warum Vika ihren studentischen Aushilfsjob beim Radio so liebt. Aber sie will der erfahrenen Reporterin auch nicht widersprechen. Immerhin hat Jazza sie für zwei Beiträge der Reihe Die Top 10 Weihnachtsdekorationen im Sendeland eingetragen. Das Privileg, mit ihr zu weiter entfernten Terminen zu fahren, wird üblicherweise nur den Volontären zuteil. Vika schält sich aus ihrer Winterjacke und zieht den Audiorekorder aus ihrem Rucksack hervor.

Sie ist bereit für die Manöverkritik. Und sie hat ein gutes Gefühl. Also spult sie die Tonaufzeichnung an den Beginn ihres Aufsagers zurück und drückt auf Wiedergabe.

»Das Wohnzimmer von Bernhard und Uschi in Kordel bei Trier ist weihnachtlich geschmückt. Oder, besser gesagt, das Wohnzimmer ist weihnachtlich umgebaut. Denn auf fünfzehn Quadratmetern haben die beiden Weihnachtsfans eine XXL-Krippenlandschaft errichtet. Über hundert Tiere und Figuren bevölkern die selbst gebauten Holzhäuser und das Areal aus Wurzeln, Rinden und Moos. Alles ist liebevoll bis ins Detail ausgestaltet. Die Hirten halten winzige leuchtende Laternen in Händen, ein Bach plätschert vor einer Wurzelhöhle dahin und die mit Geschenken beladenen Kamele der Heiligen Drei Könige tragen mit Goldsaum verzierte Samtdecken. Seit vierundzwanzig Jahren baut das Ehepaar seine Krippe Jahr für Jahr ein bisschen weiter aus. Dieses Jahr sind eine Gruppe von Musikanten und ein turmartiger Anbau hinzugekommen. Pünktlich am ersten Advent wird Uschi die Beleuchtung einschalten. Danach wird keine Figur mehr bewegt. ›Bernhard, wie seid ihr auf die Idee gekommen, so eine krasse Krippe in eurem Wohnzimmer aufzubauen?‹«

Jazza prustet los. Ihr Lachen tönt wie die Trompeten von Jericho, laut und einschüchternd in seiner Perfektion. Wollte man das ideale Lachen vertonen, müsste man nur das von Jazza aufzeichnen.

»›Krasse Krippe!‹ Wie du ernsthaft ›krasse Krippe‹ gesagt hast!«

Sie hält mit einer Hand das Lenkrad fester und wischt sich mit der anderen die Lachtränen ab. »Du hättest das Gesicht der Frau sehen sollen.«

Vika verzieht ihre Lippen zu einer Schnute. So hat sie sich das Feedback nicht vorgestellt.

»Ich habe ihr Gesicht gesehen, als sie uns die Tür geöffnet und deine Haare gesehen hat«, kontert sie. »Was hast du gegen ›krasse Krippe‹? Das ist ja wohl eine angemessene Beschreibung.«

Jazza fährt sich mit einer Hand durch ihre frisch blaudierten, pink gesträhnten Haare. Eine zweifarbige Locke hat sich in einem von sechs Ringen an ihrem rechten Ohr verheddert.

»Fürs Digitalradio vielleicht. Nicht für den Hauptsender.«

»Also, ich finde fünfzehn Quadratmeter Krippenlandschaft im Wohnzimmer krass. Ich meine, ich mag Weihnachtsdeko. Wirklich. Aber wie kommt man auf so eine Idee? Das würde mir nicht mal nach fünf Gläsern Glühwein und zwei Stunden Kommet, ihr Hirten in Dauerschleife einfallen.«

»Nach zwei Stunden Kommet, ihr Hirten bräuchte ich dreizehn Monate Weihnachtsdetox. Soviel ist sicher.«

Diesmal endet Jazzas Lachen mit diesem übermütigen, etwas schrägen Kiekser, den sie sich für Live-Sendungen im Radio so mühevoll abtrainiert hat. Nein: abtrainiert zu haben glaubt. Vika grinst. Nobody is perfect.

»Dafür hat es dir der Lichter-Louis von heute Vormittag aber ganz schön angetan. Vierzigtausend LEDs an der Fassade seines Hauses haben den Weihnachtsfunken in dir entfacht. Gib es zu!«, neckt sie die Kollegin.

»Quatsch. Vierzigtausend LEDs sind neununddreißigtausendneunhundertachtzig zu viel.«

»Ach ja? Mit zwanzig könntest du also leben? Was würde Laurence dazu sagen?«

»Zu zwanzig weihnachtlichen LEDs vor meinem Fenster? Ich schätze, er würde sich höflich für die gemeinsamen Nächte bedanken und die nächste Dating-App auf seinem Smartphone installieren.«

»O Mann. Er ist echt Scrooge.«

Draußen stapelt der späte November die Wolkendecken bis in die Täler hinunter. Aus den regennassen Feldern erheben sich Hochspannungsmasten wie kahle Koniferen. Müde schleppen sie ihre lichtlosen Girlanden von einer Ortschaft zur nächsten und bohren ihre Wipfel in die frühe Dämmerung.

»Und deiner? Steht Etienne auf Weihnachten?«

»Eher nicht. Seit dem Unfall würde er diese Zeit am liebsten überspringen. Meine Vorgängerinnen waren auch nicht gerade typische Weihnachtselfen. Die erste hat in der Vorweihnachtszeit Schluss gemacht, die zweite hat sich an Nikolaus von einem anderen schwängern lassen.«

»Ha!« Jazza schlägt mit der flachen Hand auf das Lenkrad und trifft dabei die Hupe, die einen kurzen Laut von sich gibt und einen schläfrigen Bussard von der Leitplanke aufscheucht. »Aller guten Dinge sind drei. Winterschlaf ist keine Option. Richte es ihm aus, oder soll ich es ihm persönlich sagen?«

Vika grinst. »Nicht nötig. Ich schätze, im letzten halben Jahr ist ihm schon aufgefallen, dass es mit mir anders ist. Und dass er um Weihnachtsfeeling nicht drum rumkommt, ist ihm spätestens klar geworden, als ich Toni gebeten habe, einen Haken anzubringen, damit ich meinen elektrischen Adventsstern im Küchenfenster aufhängen kann. Mein Plan ist eine subtile Hyposensibilisierung. Etienne wird täglich einer kleinen Dosis Weihnachten ausgesetzt und übersteht den Vierundzwanzigsten dann hoffentlich ohne Allergieschock.«

»Meine besten Wünsche für dieses Unterfangen.«

Vika zieht den letzten Schokoriegel aus der Mittelkonsole. Den ursprünglichen Vorrat haben sie schon auf der Hinfahrt während ihrer Diskussion über Interviewfragen und O-Ton-Formate verdrückt, das Naschfach aber nach dem ersten Termin in Völklingen an der nächsten Tanke wieder aufgefüllt.

»Du auch?«

Jazza nickt und schaltet ihren Sender ein, um die Zeit der Stille zu überbrücken, in der sie beide abwechselnd von dem riesigen Riegel abbeißen. Taylor Swift legt bereitwillig ihre Stimme über Kau- und Schluckgeräusche. Die Lüftung lässt Jazzas blaurosa und Vikas karamellblonde Haare im warm-trockenen Mief tanzen, sodass beide Frauen sich über Stirn und Schläfen fahren.

Der Song im Radio wird leiser.

»Selbstironisch …«, beginnt der Moderator.

»Marcel!«, ruft Jazza, während Vika gleichzeitig »Claudius!« schreit. Beide lachen.

»Ich denke, Marcel hat Urlaub.«

»Erst ab Mittwoch.« Jazza grinst triumphierend, weil sie es wie immer schneller als Vika geschafft hat, die Stimme der moderierenden Person im Studio zu identifizieren. Sie hören noch eine Weile den Ausführungen über Taylor Swift und Blank Space zu.

»Stimmt. Eindeutig Marcel«, gibt Vika zu und schiebt Jazza das letzte Stück Schokoriegel aus der Folie zwischen die Lippen. Die kaut, schluckt und grinst noch breiter mit ihrem Schokomund.

»Und wie läuft’s sonst so mit Etienne?« Jazza liebt diese Frage anscheinend. Oder Vikas genervtes Augenrollen, das zwangsläufig darauf folgt. Vielleicht auch beides. »Was habt ihr am Wochenende gemacht?«

»Seine Wohnung umgeräumt.« Das war auch dringend nötig, denn seine Ex hatte ein eigenes Zimmer gehabt, während Etienne mit seinem Faible für freie Flächen entbehrliche Innenwände hatte herausreißen lassen, um die restliche Wohnfläche als Wohn-, Schlaf- und Arbeitszimmer zu nutzen. Die Aufteilung widersprach Vikas Verständnis von Zusammenziehen. Sie jedenfalls war nicht als Etiennes Untermieterin eingezogen, folglich musste sich auch die Raumaufteilung verändern. »Wir haben jetzt ein gemeinsames Wohn- und Arbeitszimmer und teilen uns ein separates Schlafzimmer. Dort haben wir auch endlich den neuen Kleiderschrank aufgebaut.«

»Der hoffentlich diesmal aus massiver Eiche ist.«

»Haha. Stell dir lieber magnolienfarbene Schiebetüren vor. Aus Glas. Ein echtes Träumchen in Cremeweiß und Rosé.«

»Dann sollte Karate Kid sich mit Handkantenschlägen wohl besser zurückhalten. Es sei denn, er steht auf Spider-Optik.«

»Tut er nicht. Außerdem sind Kleiderschrankbauanleitungen sein neuer Endgegner. Das will er sich nicht noch mal antun, glaub mir.« Bei dem Gedanken an Etiennes konzentrierten Gesichtsausdruck, während er Schrauben, Verbindungsbolzen, Fachbodenträger und Abdeckkappen vorsortiert und für die einzelnen Arbeitsschritte bereitgelegt hat, muss sie lächeln. Er will diese Beziehung, das wird ihr einmal mehr bewusst, und es wärmt ihr Herz.

Als sie auf die Autobahn fahren, verdichtet sich der Nieselregen. Paarweise fädeln sich rote Licher in die graue Textur sprühender Nässe. Jazza verkürzt das Scheibenwischerintervall.

»Ihr passt so gut zusammen.«

Interessant, was Jazza aus dem Kleiderschrankthema so alles ableiten kann.

»Ich habe trotzdem manchmal Angst, dass ich meinen Teil des Zügels verreiße und wir mit unserem Beziehungsgaul im Graben landen.«

Dieses Bekenntnis rutscht Vika einfach so heraus. Jetzt, wo sie vom Arbeits- in den Freundschaftsmodus geswitcht haben, kann sie es nicht stoppen.

»Warum?«, hakt Jazza nach. »Er könnte es genauso verbocken.«

»Vor allem könnte er sich mit mir langweilen. Ich meine, er ist supersozial, gesellig und umtriebig. Er hat viele Freunde und noch mehr Bekannte. Und wenn er nicht gerade an der Uni ist, an seiner Dissertation schreibt oder seine Karateschule am Laufen hält, besiedeln diese Menschen das Sofa, den Balkon oder die Küche. Dagegen bin ich der reinste Einsiedlerkrebs!«

»Papperlapapp. Einsiedlerkrebse arbeiten nicht beim Radio, und du bist so langweilig wie Bergwandern auf Rollerskates.«

Zweifelnd schiebt Vika ihre Augenbrauen Richtung Nasenwurzel. »Klingt eher, als würde ich Dinge unnötig verkomplizieren.«

»Vielleicht tust du das auch manchmal. So wie jetzt gerade. Du sitzt mit mir im Auto und beklagst dich, dass du keine Freundinnen hast. Du sagst, dein Leben sei öde, dabei hast du gerade eine krasse Krippe gesehen. Und als krönenden Abschluss unterstellst du Etienne, er könnte sich mit dir langweilen. Himmel! Der Typ hat gerade seine Eigentumswohnung für dich umgeräumt!«

Mit einem Knopfdruck lässt Jazza plötzlich das Fenster auf der Beifahrerseite hinunter. Der Wind fegt mit ohrenbetäubendem Getöse herein, zerrt an Vikas Haaren und klatscht kalten Regen in ihr Gesicht.

»Jazza!«, kreischt sie und sucht ebenso panisch wie vergeblich nach dem Fensterheber auf ihrer Seite. Stattdessen fährt Jazza, gänzlich ungerührt, die Scheibe wieder hoch und ergänzt:

»Ehrlich, Vika. Was ist dein Problem? Dass er mehr Leute kennt? Oder dass er zu wenig Zeit für dich hat?«

Vika wischt sich mit dem Ärmel ihres rot-weiß karierten Flanellhemds über Stirn und Wange. Vielleicht kam die unfreiwillige Abkühlung gar nicht so ungelegen. Denn eigentlich hat sie gar kein Problem. Schon gar nicht mit Etienne. Oder mit seinem Freundeskreis. In erster Linie ist sie froh, dass er mehr Leute kennt, mit denen sie sich ebenfalls gut versteht. Kein Stress für sie, an der Uni oder im Job den ersten Schritt in Sachen Freundschaftsanbahnung zu unternehmen.

Aber beim Umräumen seiner Wohnung hat er gesagt, die Trennung von Wohn- und Schlafzimmer habe auch den Vorteil, dass sie sogar dann Freunde einladen könne, wenn er sich hinlegen wolle. Da ist ihr plötzlich bewusst geworden, dass es solche Menschen im Moment gar nicht gibt. Sofort hat sie sich unsicher gefühlt. Hätte ihr das nicht früher auffallen müssen? Ist Etiennes Bemerkung ein Wink mit dem Zaunpfahl gewesen, damit sie tunlichst Abhilfe schafft? Aber wie?

»Trifft er sich mit anderen Frauen?«, forscht Jazza nach und erinnert Vika daran, dass sie ihr noch eine Antwort schuldig ist.

»Natürlich nicht. Wie kommst du denn darauf?«

Jazza macht eine Geste, als würde sie einen kleinen Ball auf der Mittelkonsole dribbeln.

»Reg dich nicht auf, es war bloß eine Frage. Laurence trifft sich ständig mit Frauen. Er ist der Feminist unter den Musikchefs. Er hört ausschließlich Musik von oder mit Sängerinnen. Das Potenzial weiblicher Stimmen kann er besser beurteilen als irgendjemand sonst. Die Künstlerinnen stehen bei ihm Schlange für ein Feedback. Aber klar, Karate ist anders. Da schlägt Ett sich sicherlich eher mit Männern herum.«

Nicht wirklich, rauscht es durch Vikas Gedanken. Aber darüber müssen sie jetzt nicht diskutieren. Stattdessen liefert sie ihr die Antwort auf die ursprüngliche Frage. »Mein Problem ist, dass die Mädels aus meiner Heidelberger Uni-Clique weggezogen sind und ich eigentlich nur mit Leuten aus seinem Umfeld befreundet bin – und mit dir, bevor du jetzt wieder das Fenster runterlässt. Man könnte denken, ich wäre eine verschrobene Einzelgängerin.«

»Bist du nicht?« Jazza streckt frech ihre Zunge in Vikas Richtung, ohne den Blick von der Straße zu nehmen.

»He! Allenfalls bin ich typisch norddeutsch. Hamburgerin eben.«

»Ach, so nennt man das. Aber das weiß Etienne doch. Und bisher fand er es nicht langweilig.«

Soll sie Jazza jetzt wirklich erklären, dass sie vor ihrem Freund trotzdem nicht den Eindruck erwecken möchte, als hinge ihr Sozialleben allein von ihm ab? Aber just in diesem Moment beendet Marcels fröhliche Moderationsstimme aus dem Radio David Guettas Lovers On The Sun. »Ist euch da draußen eigentlich klar, dass nächsten Sonntag schon der erste Advent ist? Und heute in einer Woche der erste Dezember? Und in neun Tagen Nikolaus? Das heißt im Klartext: Bald weihnachtet es wieder im Musikprogramm, und ihr könnt euch die größten Weihnachtshits wünschen. Unsere fleißigen Archivwichtel stauben bereits Last Christmas ab und …«

»Ich hab’s!« Jazza dreht den Ton leiser. »Warum schlägst du Etienne nicht vor, eine Adventsparty zu geben? Weihnachtslieder und Deko inklusive. Er kann seine Karatekumpel einladen. Du lädst ebenfalls ein paar nette Leute ein. Was spricht dagegen, wenn es welche vom Sender sind? Auch dein Job ist dein Leben. Wenn du irgendwann in Vollzeit arbeitest, wirst du an sehr vielen Tagen mehr Zeit mit uns verbringen als mit Ett. Umso besser, wenn er weiß, wer wir sind.«

»Hat in der Vorweihnachtszeit überhaupt jemand Zeit?«

»Vika! Schluss jetzt mit den Bedenken und Grübeleien.«

»Schon gut. Du würdest also kommen?«

»Worauf du dich verlassen kannst. Mit Laurence. Eine Weihnachtsdekorationshyposensibilisierung kann er ebenfalls gebrauchen.«

Sie lacht über ihren selbst geschaffenen Zungenbrecher, aber Vika ist in ihren Gedanken schon woanders. Die Idee mit der Adventsfeier ist nicht schlecht. Etienne liebt Partys, und ihre letzte eigene liegt schon viel zu lange zurück. Außerdem ist das Ausrichten so eines Festes die perfekte Gelegenheit, oberflächliche Bekanntschaften zu vertiefen.

Zwei Staus und einen Schnellimbiss später beschließt Jazza, doch nicht mehr zum Sender zu fahren, sondern Vika nach Heidelberg zu bringen und selbst noch ein CD-Regal abzuholen, das Laurence soeben über eBay Kleinanzeigen erstanden hat. Den Pool-Wagen kann sie auch morgen früh abgeben.

»Oder wolltest du deinen Krippen-Aufsager heute noch mal neu einsprechen?«

Vika seufzt. Insgeheim hat sie gehofft, ihren Aufsager schon vor Ort sendefähig gesprochen zu haben.

»Muss ich wirklich? Zwischen krasse Krippe und Mega-Krippe ist inhaltlich kein Unterschied.«

»Es geht um die umgangssprachliche Wortwahl in einem ansonsten nachrichtlichen Kontext. Durch die Alliteration wird sie noch einmal besonders hervorgehoben und genau das bewirkt bei Zuhörern Befremden oder Belustigung. Der Eindruck könnte entstehen, dass die Sprecherin sich über die religiöse Motivation des Krippenbauers lustig macht. Das wollen wir vermeiden. Außerdem hast du an anderer Stelle einen turmartigen Anbau erwähnt. Darunter kann sich niemand etwas vorstellen. Hat der Stall von Bethlehem einen Anbau? Mit Turm? So was musst du präzisieren oder weglassen.«

»Na gut«, lenkt sie ein. Jazza hat ja recht. Wie immer. »Ich spreche ihn morgen neu. Verdammt, wie soll ich jemals einen Beitrag allein produzieren, wenn ich schon beim Aufsager patze?«

»Du patzt nicht, du lernst!«, fährt Jazza sie an. »Außerdem ist der Aufsager das Schwierigste. Er muss Aufmerksamkeit erregen und gleichzeitig in das Thema einführen. Weißt du, wie oft ich meine Aufsager neu einspreche?«

»Aber du moderierst sogar live …«

»Das ist etwas anderes. Meine Beiträge sind keine Spontanmitschnitte, auch wenn sie sich am Ende so locker-flockig und mühelos anhören. Wenn mir ein Thema wirklich am Herzen liegt, will ich, dass das bei den Menschen vor dem Radio auch so rüberkommt.«

»Lässt du mich deshalb keinen Beitrag komplett allein machen? Weil er nicht locker-flockig klingen würde?«

»Was, nein!« Jazza sieht sie irritiert an und tritt im nächsten Moment hart auf die Bremse, weil vor den Radarfallen am Heidelberger Ortseingang der Verkehr stockt. »Meine Beiträge sind einfach meine Beiträge. Du musst irgendwann dein eigenes Thema finden, es vorschlagen und deinen eigenen Beitrag daraus machen.«

»Bisher wurden meine Vorschläge immer abgelehnt oder an die Volontäre vergeben.«

»Weil du keine vierzig Stunden arbeitest und manche Themen eben zeitkritisch oder rechercheintensiv sind. Mach dir nichts draus. Schlag weiter Themen vor. Am besten solche, auf die niemand sonst kommt. Die aktuell sind und emotional. Und sie sollten viele Menschen angehen.«

Klar. Nichts leichter als das. Vika schüttelt nachdenklich den Kopf. »Und wie finde ich die? An der Uni hat sich mir noch keins vorgestellt.«

Jazza hebt die Schultern. »Themen und Geschichten sind überall. Sprich mit den Menschen. Hör ihnen zu. Finde raus, was sie bewegt – und wenn es aktuell ist, emotional und nicht nur dich berührt, könnte es ein gutes Thema für einen Beitrag sein.«

Forschend betrachtet Vika Jazzas Profil. Überall gibt es also Themen und Geschichten. Auch bei Jazza selbst? Vika lässt ihren Blick schweifen – über die gerade Nase mit dem rosa Stecker im rechten Flügel. Die bunten Haarsträhnen, die ihr über die Schultern fallen und sich über ihrer Stirn kräuseln. Die maximal perforierten Ohren. Die klaren, wachen Augen. Was wohl Jazzas ganz eigene Geschichte ist? Was bewegt sie?

»Haben dich die beiden Krippenbauer berührt? Also emotional gesehen?« Interessiert neigt Vika sich ein Stück zu Jazza.

»Irgendwie schon. Dass Weihnachten ihnen so wichtig ist, hat Wert. Sie investieren Jahr für Jahr zwei volle Monate, um die Geschichte dieses Festes zu zelebrieren. Die meisten Menschen sagen, sie lieben Weihnachten. Aber eigentlich nervt es sie, weil sie so viel einkaufen und erledigen müssen. Und an die Geschichte erinnern sie sich allenfalls an Heiligabend in der Kirche. Dieser Bernhard und seine Uschi schenken Weihnachten ihre Zeit. Es geht ihnen nicht um Konsum und auch nicht um die Aufmerksamkeit anderer wie dem Lichter-Louis. Sie hatten die Krippe schon in ihrem Wohnzimmer, bevor sich die lokalen Medien dafür interessierten. Und, ja, so etwas rührt mich. In dieser ganz persönlichen Geschichte steckt Tiefe – und das wiederum interessiert die Menschen, die uns zuhören.«

Vika schluckt und nickt. Sie wird den Aufsager definitiv neu sprechen, entscheidet sie in diesem Moment.

Wenig später hält Jazza mit dem nachtblauen Kombi vor Etiennes Haus im Heidelberger Ortsteil Handschuhsheim und angelt auf der Rückbank nach ihrer Schultertasche. Aus ihr zieht sie eine mit Alufolie beklebte Schachtel mit der Aufschrift Geheim hervor, in der es vernehmbar klappert.

»Für dein Projekt.« Sie zwinkert, als sie Vikas Überraschung bemerkt. »Lass mich wissen, wann die Party steigt. Und jetzt hopp! Ich muss los.«

Vika steigt aus und schwingt sich den Rucksack über eine Schulter.

»Klar. Ich sag dir Bescheid. Danke, dass du mich mitgenommen hast auf die Termine. Danke für deine Tipps. Danke hierfür.«

Sie schüttelt die silberne Schachtel.

»Steck sie lieber weg, bevor Ett sie sieht.«

Vika lacht. »Keine Sorge. Er ist in seiner Karateschule.«

»Natürlich. Wo sonst.«

Dann winkt Jazza noch einmal kurz und fährt davon.

Karatelehrer glitzern nicht

Mit einem Rums fliegt eine Tür ins Schloss – zum dritten Mal in einer Minute. Etienne seufzt, kann sich aber gleichzeitig ein Lächeln nicht verkneifen. Die Kleinsten sind, dem Geräuschpegel nach zu urteilen, so was von bereit für ihr wöchentliches Karatetraining.

»E-tjänn! E-tjänn!«, skandieren sie aus der Jungsumkleide heraus, begleitet vom Indianergeheul einiger Mädchen, die offenbar bereits den Gang auf und ab rennen. Das Sch! der Mütter gibt eine gute Untermalung ab.

Im Büro der Karateschule, das gleichzeitig als Trainerumkleide fungiert, sieht Etienne grinsend zu Jan hinüber. »Bereit?«

Dem Teenager steht die pure Verzweiflung ins Gesicht geschrieben. »Alter, worauf habe ich mich da nur eingelassen?!«

Wenn er die Augen noch weiter aufreißt, kullern sie gleich über den Boden. Drama Queen. Etienne zieht sich in aller Ruhe die weiße Karatejacke an, kreuzt die offenen Seiten vor seinem Oberkörper und bindet den schwarzen Gürtel darüber. Gewissenhaft glättet er den Stoff über seinen Hüften, bevor er sich auf beiden Reifen hochstemmt und sich in seinem Rollstuhl wieder so weit hinten positioniert, dass die niedrige Lehne seinen unteren Rücken stützt.

»Du hilfst mir eine Stunde beim Kindertraining und darfst dich dafür dreißig Minuten kostenlos mit Toni hauen.« Er vergewissert sich kurz, dass beide Füße in den weißen Sneakers parallel auf der Fußstütze stehen und schiebt mit den Händen seine Knie zusammen. »Fairer Deal, findest du nicht?«

»Aber die sind … wie alt?«

»Zwischen drei und fünf.«

»Aber … warum?! Warum willst du Babys Karate beibringen?«

Jan fährt sich in theatralischer Manier durch die aschblonden Haare, die dadurch auch nicht besser sitzen. Aber Etienne verzichtet auf eine Wiederholung des Vortrags über angemessene Frisuren im Kampfsport, den er in diesem Alter selbst jahrelang an sich hat abprallen lassen, und antwortet stattdessen: »Damit ich mir einen Teil meiner Erklärungen sparen kann, wenn sie vierzehn sind. Auf geht’s. Und so, wie du deinen Gürtel gebunden hast, stehst du in zwei Minuten mit freiem Oberkörper da.«

Etienne schiebt sein Handy in die Tasche seiner Rückenlehne und rollt zur Tür, jedoch nicht, ohne Jans Oberschenkel einen Stoß mit dem Ellbogen zu verpassen. Den Tritt, den er damit provoziert, betrachtet er nach einer halben Drehung gelassen aus sicherer Distanz.

»Schnelligkeit. So wichtig«, bemerkt er trocken und überlässt es seinem Schüler, ihm durch den Flur nachzulaufen.

Die Horde weißer Mäuse hat bereits ihren Weg in den großen Trainingsraum gefunden. In ihren frisch gewaschenen Karateanzügen hüpfen sie über die Matten, während die begleitenden Mamas oder Papas der Jüngsten auf den langen Bänken am Rand des Raumes Platz nehmen. Toni war der Meinung gewesen, man müsse die Eltern möglichst schnell aus dem Trainingsbereich verbannen. Aber Etienne hat vermutet, dass mittelfristig mehr Anmeldungen kommen, wenn die Eltern zusehen, und diese Ahnung hat sich bestätigt. Gleichwohl hält er ein Auge darauf, wenn Kinder die Anwesenheit eines Elternteils als Stress empfinden.

»Hallo zusammen«, grüßt er in die Runde.

Die vielstimmige Antwort kreischt ihm aus fünfzehn Kehlen entgegen.

»Stellt euch bitte für die Begrüßung auf.«

Die Kinder wuseln durcheinander, bis alle nebeneinander am Rand der Matte stehen. Grinsend stellt Jan sich neben den Knirps rechts außen und legt die Handflächen locker an die Seiten seiner Oberschenkel. Etienne nimmt seinen Platz mittig vor den Mädchen und Jungen ein. Seine Hände ruhen auf seinen Oberschenkeln, und er lässt seinen Blick über die Kinder schweifen, die schnell ruhiger werden und schließlich verstummen. Jan eingeschlossen, sind sechzehn erwartungsvolle Augenpaare auf ihn gerichtet.

Etienne fasst die Greifreifen an seinen Rädern und bewegt sie mit einer schnellen, gegenläufigen Bewegung – den linken rückwärts und den rechten vorwärts –, sodass der Rollstuhl sich auf der Stelle um hundertachtzig Grad dreht. Mit dem Blick zur Stirnseite des Dojos, die Vika im Sommer mit einer Szene aus dem Training und der vierten Karateregel – Erkenne zuerst dich selbst, dann den anderen – bemalt hat, verbeugt er sich. Dem Rascheln nach zu urteilen, das er hinter sich wahrnimmt, tun die Kinder es ihm gleich. Er dreht sich zurück, legt die Hände wieder auf seine Beine, und nun verbeugen sich Lehrer und fast alle Lernenden voreinander. Die Ausnahme bildet die dreijährige Yui, die andächtig eine Sockenfluse zwischen ihren Zehen hervorzieht.

»Oss! Geht bitte gleich für unsere Besprechung in den Kniesitz. Gleich heißt nicht sofort«, präzisiert er, als sich zwei Kids aus dem Stand auf die Knie fallen lassen. »Und beim Kniesitz setzt ihr euch auf eure Fersen. Knie zusammen, Fußrücken auf den Boden. Jan macht es euch vor.«

»Fangen wir wieder einen Drachen?«, fragt Lea, ein kleines Mädchen mit Zahnlücke und blondem Pferdeschwanz.

»Heute nicht. Wie ihr wisst, sind nächsten Montag die Karateprüfungen, und dann kommt in der ersten Dezemberwoche auch schon der Nikolaus. Mir hat er erzählt, dass er in großen Schwierigkeiten steckt. Seine Rentiere sind nämlich verschwunden.«

»Hat der Nikolaus denn auch Rentiere?«, will Theo wissen, ein schmaler, sonst eher stiller Junge mit kurzen dunklen Locken. »Wie der Weihnachtsmann?«

Verdammt. Nach Jahren der Weihnachtsabstinenz hätte Etienne die Sache mit den Legenden wohl besser noch einmal nachlesen sollen, bevor er sich der Expertenschar stellt. Auf ihrem Platz auf der Bank scheint sich die Mutter des kleinen Schlaumeiers bereits gut zu amüsieren.

»Also, das ist nämlich so«, setzt Etienne zu einer Erklärung an. »Die Rentiere gehören dem Weihnachtsmann. Aber was die meisten Leute nicht wissen, er verleiht sie hin und wieder. Seine Kumpel, der Nikolaus und Knecht Ruprecht, sind ja auch nicht mehr die Jüngsten. Die beiden können unmöglich alle Kinder zu Fuß besuchen. Deshalb borgen sie sich die Rentiere des Weihnachtsmannes. Aber die sind, wie gesagt, verschwunden. Was meint ihr, wollen wir ihnen helfen, sie wiederzufinden, damit der Nikolaus sich pünktlich auf den Weg machen und nächste Woche alle Stiefel befüllen kann?«

»Jaaa!«

Puh. Etienne atmet erleichtert auf. Da hat er ja noch einmal Glück gehabt.

»Dazu müssen wir uns zuerst …« Die ersten Kinder springen bereits auf.

»Aufwärmen!«, ruft Izmael, einer der älteren Jungen, der schon fünf ist.

»Richtig. Und wir müssen gucken, ob unsere Superkräfte funktionieren.«

Während die Kids um die Matte rennen, baut Etienne mit Jan einen kleinen Parcours darauf auf. Zwischendurch gibt er Anweisungen, was beim Rennen alles überprüft werden muss.

»Linker Propeller!«

Die Kleinen lassen ihren linken Arm rotieren.

»Rechter Propeller! Beide zusammen!«

Die Kinder sausen, Propellergeräusche imitierend, um die Matte.

»Und beim Pfeifen testet ihr die Bremsen.«

Er pfeift zwischen den Zähnen, und die Kinder stoppen so abrupt wie möglich. Anschließend lässt er sie noch einige Runden mit Stopps, Richtungswechseln und Strecksprüngen laufen, bevor sie ihn für den erfolgreichen Check-up mit High Five abklatschen dürfen. Dann starten sie den Hindernislauf über hochgewölbte Luftkissen, einen Balancierbalken, durch einen von Jan gehaltenen Hula-Hoop-Reifen und im Slalom um mehrere Kunststoffkegel herum.

»Wir machen uns auf die Suche nach den verschwundenen Rentieren. Der Wald ist unwegsam und voller Gefahren«, erzählt Etienne, froh darüber, dass er sich keine neue Geschichte ausdenken muss. »Wenn ihr alle Abenteuer überstanden habt, lauft ihr zurück, klatscht alle Kameraden und Kameradinnen ab und stellt euch wieder an. Wenn ich pfeife, läuft die jeweils erste Person los. Es darf überholt werden, aber ohne Körperkontakt. Verstanden?«

Die größeren Kids nicken. Einen Durchlauf lässt er den Kids, um den Parcours kennenzulernen. Dann dürfen die nachfolgenden schneller starten, sodass diejenigen, die fertig sind, andere, die noch auf dem Parcours sind, abklatschen müssen, ohne sie aus dem Konzept zu bringen. Nach der dritten Runde herrscht das erwartete Chaos. Theo stolpert über ein Luftkissen, weil er sich auf das Abklatschen konzentriert, Lea stößt zwei Kegel um, da sie besonders schnell sein will, und Izmael führt ein kleines Mädchen, das heute zum ersten Mal mitmacht, an seiner Hand sicher ans Ende des Balancierbalkens, bevor er es abklatscht und weiterrennt.

Etienne stoppt die Übung und weist noch einmal darauf hin, dass sie sich konzentrieren, achtsam miteinander umgehen und ihr eigenes Tempo finden sollen. Der nächste Durchlauf läuft besser. Die Konzentration ist auch den Kleinsten anzusehen.

»Das habt ihr sehr gut gemacht«, lobt er am Ende und versammelt die Gruppe vor sich.

»Du musst auch!«, verlangt Hanna, ein Mädchen mit putzigen, von glitzernden Haargummis zusammengehaltenen Rattenschwänzen, und deutet auf den Parcours. »Sonst kannst du ja nicht mit zu den Rentieren.«

»Stimmt!«, gibt Theo ihr recht. Jan legt die Stirn in Falten, während weitere Kinder beginnen, ihn mit »E-tjänn, E-tjänn!«-Rufen anzufeuern.

Etienne lacht. Er liebt die Unbefangenheit der Kleinen. Für sie ist ein Rollstuhl kein Grund, sich nicht in ein Abenteuer zu stürzen, und diese Einstellung liegt ihm so viel näher als die ständigen Bedenken vieler Erwachsener.

»Na gut«, lässt er sich breitschlagen und fordert Jan auf, den Balancierbalken auf den Boden zu legen. Dann rollt er einige Meter, um Tempo aufzunehmen, wendet vor den Luftkissen und fährt auf den Hinterrädern über jedes einzelne. Zwischendurch setzt er jedes Mal die Vorderräder kurz auf und hebt sie wieder an. Vor dem Balancierbalken kippt er ganz auf die Hinterräder und rollt gekippt über ihn hinweg. Am Ende wartet ein feixender Jan mit dem Hula-Hoop-Reifen, den Etienne ihm geschickt entwindet und sich über die Schultern wirft. Zweimal aufstützen, schon hat er ihn halbwegs elegant unter sich hindurchgezogen. Zuletzt noch einmal die Beine unter den Knien fassen, anheben und den Reifen unter seinen Füßen herausziehen. Schon lässt er ihn um seinen über den Kopf erhobenen Unterarm kreisen, während er einhändig Slalom um die Kegel fährt. Die Kinder johlen, ihre Eltern klatschen von der Bank aus Beifall.

Nach drei weiteren Übungen lässt Etienne die Gruppe vor einem imaginären Schuppen anhalten, in dem die Rentiere eingesperrt und bewacht werden. »Was machen wir nun?«, fragt er in die Runde.

»Wir rufen die Polizei«, schlägt Lea vor.

»Wir kämpfen!«, tönt Jonas, der mit seinem Kindergartenkumpel Izmael ein unzertrennliches Doppel bildet.

Etienne schüttelt den Kopf. »In der Arktis haben wir leider keinen Handyempfang, um die Polizei zu rufen. Und gleich loskämpfen, wollen wir auch nicht. Weiß noch jemand, warum?«

Ratlose Gesichter und gehobene Schultern bei den meisten Kindern folgen als Reaktion. Dann schlägt sich Izmael an die Stirn, dass es nur so klatscht.

»Weil wir uns nur selbst verteidigen und niemanden angreifen!«

»Auch keine Diebe?«, fragt Hanna mit runden Augen.

Etienne schüttelt den Kopf.

»Auch keine Diebe. Aber weil es Diebe sind, kann es sein, dass sie uns angreifen, während wir versuchen, die Rentiere zu befreien. Deshalb müssen wir uns vorbereiten. Wie können wir uns verteidigen, wenn uns ein gemeiner Rentierdieb angreift?«

»Wegschubsen!«

»In den Po beißen!«

»Treten!«

»Kratzen!«

»Hauen!«, rufen die Kinder durcheinander und machen es Etienne leicht, die Brücke zu einer gemischten Technik aus Tritten und Schlägen zu bauen. Mit Jan demonstriert er, was er im Sinn hat. Zumindest ist das der Plan. Aber Jan missversteht absichtlich, wer den Dieb und wer den Rentierbefreier mimen soll, und liefert sich ein kurzes Scheingefecht mit seinem Sensei, das damit endet, dass der ihn unsanft auf die Matte befördert. Die Kleinen meistern das folgende Pratzentraining ohne Zwischenfälle, schlagen jeweils mit links und rechts gegen die von Jan gehaltene Schaumstoffpolsterung und treten einmal gegen die, die Etienne hält. Ein Kind nach dem anderen absolviert die Übung. Schließlich werden die Rentierdiebe mehrmals besiegt. Sicher ist sicher, und die Rasselbande hat noch genug Energie.

»Ihr habt es fast geschafft«, sagt Etienne. »Die Diebe sind besiegt, jetzt müsst ihr nur noch das Scheunentor aufkriegen, dann kann sich jeder ein Rentier abholen.«

Auf seinen Wink hin holt Jan fünfzehn Holzbrettchen, von denen er eins so über zwei Steine legt, dass dazwischen Platz bleibt.

»Ich verrate euch was: Das Holztor ist ziemlich alt und morsch. Am besten, ihr tretet einfach feste zu.«

Jonas und Izmael sind sofort dabei. Ihre kleinen Füße schlagen durch das dünne Holz, sie rennen auf Etienne zu, der seine Hand in die Höhe hält, und klatschen ihn im Sprung ab.

»Wartet, euer Rentier.«

Aus der Tasche in seiner Rückenlehne zieht Etienne einen Umschlag mit Aufklebern und reicht den Jungen je einen davon, bevor sie zu ihren Eltern stürmen.

Jan hilft derweil den nächsten Schülern, die Aufgabe zu bewältigen. Die kleine Yui stellt sich vorsichtig auf das Brett und strahlt über das ganze Gesicht. Jan lässt sie wieder heruntersteigen und erklärt ihr noch einmal, wo sie mit einem Fuß fest zutreten muss. Aber er muss es ihr noch mehrmals erläutern, bevor das Brett bei der letzten Besteigung einfach unter ihr zusammenbricht.

»Kaputt!«, ruft Yui lachend aus und rennt zu Etienne, um ihn abzuklatschen und ihren Aufkleber in Empfang zu nehmen.

Etienne rollt zu den Eltern hinüber, die ihren Kindern gerade dabei helfen, den Sticker in das Trainingsheft zu kleben, das er ihnen in der ersten regulären Stunde ausgehändigt hat. So können auch sie ihren Trainingsfortschritt nachvollziehen.

»Sie machen das so toll!«, schwärmt eine Mutter mit akkurat gestylter Bobfrisur. »Hatten Sie wirklich einen Unfall mit einem U-Boot?«

Er stutzt kurz. »Das ist nur eine meiner Standardantworten für Menschen, die es nichts angeht, warum ich im Rollstuhl sitze.«

Das Lächeln auf dem Gesicht der Frau verschwindet, dann blitzt es in ihren Augen auf. »Verstehe.«

Keine weitere Nachfrage. Er zwinkert versöhnlich.

»Freut mich jedenfalls, dass Ihnen mein Unterricht gefällt.«

Mit seinem Blick sucht er den Vater des Mädchens, das heute zum ersten Mal mitgemacht hat. Die Kleine hatte Spaß, und Etienne möchte ihnen anbieten, eine Vertragskopie und das Trainingsheftchen mitzunehmen. Aber da springt schon Hanna auf ihn zu. Sie hat ihren Karateanzug noch nicht ausgezogen, aber in ihrem zerzausten Haar steckt bereits eine silberne Tiara.

»Guck mal, ich habe eine Schneekugel mit Glitzer!«, ruft sie und schüttelt das runde Ding vor seinem Gesicht. »Und ich habe Nagellack mit Glitzer.« Sie streckt ihm ihre Hand hin, an deren winzigen Fingernägeln noch Spuren von Glitzerzeug zu sehen sind. »Willst du den auch?«

»Ähm … nein danke. Karatelehrer glitzern nicht.«

Die kleine Hanna sieht ihn betrübt an. »Und wenn doch?«

Lächelnd schüttelt er den Kopf. »Das wäre keine gute Idee. Entschuldige bitte.« Er streicht ihr über den Arm und schiebt sie dabei sanft beiseite. Denn gerade entdeckt er den Vater mit dem neuen Mädchen auf dem Weg zu den Umkleiden und beeilt sich, ihn einzuholen. Nachdem er Vertrag und Trainingsheft ausgehändigt hat und wieder in den Trainingsraum zurückkehrt, sammelt Jan noch die Luftkissen ein und verstaut sie in den Regalen hinter dem Sichtschutz.

»Respekt!«, lässt er sich von dort aus vernehmen. »Du hast sie echt im Griff, die Knirpse.«

»Und du hast dich gar nicht so schlecht geschlagen fürs erste Mal. Spätestens seit du auf die Matte geflogen bist, haben sie dich ins Herz geschlossen.«

Mit einem schiefen Grinsen schlendert Jan auf Etienne zu.

»Danke, Sensei. Es gibt meinem Leben so viel Sinn, wenn ich als schlechtes Beispiel dienen darf.«

Etiennes Lachen übertönt sogar den Lärm aus den Umkleiden.

»Also bist du nächste Woche wieder dabei?«

»Hab ich jetzt ein Zwergenabo?«

»Oder ein Toni-Einzelstunden-Abo. Etikettier es, wie du willst. Katrin kann dieses Jahr nicht mehr helfen, weil sie so viel für die Schule tun muss. Insofern ist der Job frei. Und gib ruhig zu, dass sie süß sind.«

Jan verdreht die Augen. »Zum In-den-Kaffee-Löffeln süß. Aber wenigstens lenken sie mich davon ab, bei Seval vorbeizufahren und ihrer ganzen Familie ’ne Ansage zu machen, wo der Weihnachtsmann die Glocken hat.«

»Hey.« Etienne sieht ihn ernst an. »Wir sollten reden.«

Etwas später stopft Jan im Büro gerade seinen Karate Gi in seine Sporttasche, als Etienne hereinkommt und die Tür hinter sich schließt. Jan mustert seinen Sensei skeptisch.

»Willst du wirklich nur reden oder kriege ich jetzt ’nen Einlauf verpasst?«, fragt er in diesem typischen Teenager-Tonfall, dem Etienne Trotz und Unsicherheit gleichermaßen anhört. Gleichzeitig fuhrwerkt er mit seinen Fingern durch seine vom Training zerzauste Gel-Tolle. Wie immer, wenn er nervös ist. Etienne seufzt.

»Hättest du gern einen? Ich kenne zufällig die ein oder andere Pflegekraft, die das …«

»Igitt! Das habe ich doch nicht gemeint!«

Jan wischt sich über die Augen, als müsse er bestimmte Bilder loswerden. Etienne nickt verständnisvoll.

»Genau das ist dein Problem. Du sagst oder tust etwas und fängst erst hinterher an, nachzudenken. Das geht dir nicht allein so. Du bist in guter Gesellschaft mit der Mehrheit der Pubertierenden. Seval eingeschlossen. Bloß kann es in eurem Fall ziemlich üble Folgen für den Rest eures Lebens haben. Oder zumindest für Sevals Leben.«

»Scheiße. Willst du mir jetzt sagen, dass ich sie nicht mehr treffen soll, oder was?« Jan verschränkt die Arme vor der Brust.

Etienne kann förmlich dabei zusehen, wie sich hinter seinem trotzigen Blick die Rollläden senken.

»Ich will dir nur noch einmal in Erinnerung rufen, dass Seval hier Karate trainiert, weil sie Angst hat, von ihrer Familie in die Türkei gebracht und zwangsverheiratet zu werden. Seit Monaten erfindet sie Alibis für die Trainingszeit. Inzwischen nicht nur für die Trainingsstunden, sondern auch für eure Treffen. Was glaubst du, wie lange das gut geht?«

»Ey, ihre Brüder sind voll die Honks. Die checken gar nichts.«

»Klar. Und deshalb kannst du den einen einfach so vor der Disco verkloppen und Seval viermal die Woche treffen! Seid euch eurer Sache nicht so verdammt sicher! Man braucht keinen IQ von 120, um euch auf die Spur zu kommen.«

»Also willst du auch bloß, dass ich sie nicht mehr treffe.« Geknickt senkt er den Kopf.

»Ich will, dass ihr euch der Gefahr bewusst seid. Es kann nicht sein, dass ich Seval die Adresse meiner Tante in Frankreich gebe, damit sie notfalls bei ihr untertauchen könnte, und ihr lauft Händchen haltend durch Mannheim.«

»Mann, stalkst du uns jetzt?!«

»Ganz bestimmt nicht. Aber wenn mir Leute erzählen, wo sie euch gesehen haben, dann können auch Freunde, Bekannte, Nachbarinnen von Sevals Familie euch sehen und ihren Eltern oder Brüdern davon berichten. Ihr seid auf verdammt dünnem Eis unterwegs. Versteh das doch endlich.«

Jan wendet das Gesicht ab und kniet sich hin, um seine Chucks zuzubinden. Als er sich wieder aufrichtet, greift er auch schon nach seiner Tasche.

»Wir sind vorsichtig«, stößt er noch hervor – und ist schon aus der Tür, ohne seinem Sensei noch einmal in die Augen zu sehen.

Etienne wartet, bis er die Eingangstür ins Schloss fallen hört. Dann atmet er tief durch. Wenn das mal gut geht …

Langsam rollt er zu seiner eigenen Sporttasche, die noch hinter seinem Schreibtisch auf dem Boden liegt, und beginnt ohne Eile, sich umzuziehen. Die Eltern und Kinder haben das Dojo bereits verlassen. Laut Trainingsplan werden gleich fünf Braungurte aufschlagen, die mit Toni für eine Vorstellung bei der Weihnachtsfeier der Heppenheimer Polizei proben. Hauptsache, es geht immer viel Holz und möglichst auch Stein zu Bruch.

Bingo.

Schon hört er die ersten aus der Gruppe im Eingangsbereich. Kurz darauf tritt Toni in das Büro und wirft das örtliche Stadtmagazin auf den Tisch. Etienne bindet seinen zweiten Schnürsenkel und stellt den Fuß vorsichtig zurück auf die Fußstütze.

»Ist es gut geworden?«

Toni hängt seine Daunenjacke an die Garderobe und schnäuzt sich die Nase in ein zerknülltes Papiertaschentuch. »Wie man’s nimmt.«

Etienne rollt zum Schreibtisch, schlägt das Hochglanzheft auf und blättert zum Inhaltsverzeichnis. Karatelehrer trotz Handicap steht dort unter einem Foto, das ihn und Toni in ihren Karate Gis auf der Matte zeigt. Etienne stöhnt.

»Wer ist der Karatelehrer? Wer hat das Handicap? Sind wir hier jetzt auf dem Golfplatz? Wo, zum Teufel, ist dann die verdammte Ausrüstung?«

Er blättert weiter zum Innenteil und findet die drei Seiten über Chan Ku’s Dojo. Als er den Text überfliegt, bestätigt sich seine Befürchtung.

Trotz Rollstuhl hat er seinen Lebensmut nicht verloren. […] Obwohl der ehemalige Karateweltmeister nach einem U-Boot-Unfall an den Rollstuhl gefesselt ist, hat er mit einem Freund eine Karateschule aufgebaut.

»U-Boot-Unfall? Hast du ihm das erzählt?«

»Nachdem du seine Frage nicht beantworten wolltest, hat er mich gelöchert. Hab mir deinen Spruch geborgt. Sorry. Dachte nicht, dass er das ernsthaft schreibt.«

Etienne lässt seinen Blick über den restlichen Artikel gleiten.

Wenn er über Karate spricht, vergisst man fast seine Behinderung. […] dass er die Übungen nicht selbst vorführen kann, scheint seine Schüler nicht zu stören.

»Aaah!« Etienne klappt die Zeitschrift zu und schlägt sie sich dreimal gegen die Stirn. »Das ist ja nicht auszuhalten! Und ich habe es geahnt! Das war wieder so ein Typ, der nicht zuhört und am Ende einen Artikel über sein eigenes Erstaunen schreibt, weil er nie gedacht hätte, dass ein Mensch mit einer Behinderung sein Geld damit verdienen kann, Menschen ohne Behinderung Sport beizubringen.«

»Wenigstens hat er der Karateschule drei Seiten gewidmet, das ist doch gut.« Toni fährt sich energisch mit der Handfläche über die kurzen grau melierten Locken, um die feinen Regentropfen abzustreifen, bevor sie seine Kopfhaut erreichen.

»Hat er das? Oder hat er drei Seiten meiner Behinderung gewidmet? In jedem Satz kommt er mit Rollstuhl und Querschnittlähmung! Ich habe ja nicht erwartet, dass er das übersieht, aber meine Behinderung ist nicht das zentrale Thema. Das hätte er im Gespräch merken können.«

»Wärst du nicht behindert, wäre der Artikel maximal eine halbe Seite lang geworden.«

Sie sehen sich an. Etienne wirft die Zeitschrift schwungvoll zurück auf die Tischplatte, stößt sich von der Kante ab und lässt sich rückwärts in den Raum rollen.

»Ich habe es satt!«, wettert er. »Ich habe es so verdammt satt, mit Journalisten zu sprechen, die immer nur die Behindertenstory erzählen wollen!«

»Besser die als keine. Ehrlich. Der Artikel bringt uns bestimmt fünfzehn neue Schüler.«

»… die sich nicht daran stören, dass ich die Übungen nicht vorführen kann. Pah!«

»Ett! Der Artikel ist ein Mittel zum Zweck. Nicht mehr und nicht weniger. Der Typ hat geschrieben, ich sei Serbe. Ich bin so kroatisch, wie man nur kroatisch sein kann. Ich habe zwei Jahre im Krieg gegen die Serben gekämpft. Trotzdem rege ich mich nicht auf, okay? Es ist egal. Der Artikel bringt Schüler. Deshalb haben wir den Termin gemacht. Nicht, um dem Journalisten beizubringen, wie er diskriminierungsfrei über Menschen mit Behinderung schreibt.«

»Wäre ja auch zu viel verlangt, dass er das schon in seiner Ausbildung gelernt hätte.« Missmutig zieht Etienne seinen Geldbeutel aus dem versteckten Fach unter seinem Sitz hervor und stopft ihn in die Klettverschlusstasche auf seinem rechten Oberschenkel. Es ist praktisch, eine Schwester zu haben, die Mode für Menschen im Rollstuhl entwirft und ihn großzügig mit den Prototypen ausstattet. Dann greift er nach seiner Jacke. Toni runzelt die Stirn.

»Musst du weg? Ich dachte, du würdest mich nachher mit zu Brigitte nehmen.«

»Ach ja, richtig.« Etienne wirft seine Jacke wieder zurück auf seine Sporttasche. »Kein Problem. Ich hab genug zu tun.«

Toni reckt einen Daumen in die Höhe, zwinkert und verschwindet Richtung Umkleide. Etienne rollt zurück an den Schreibtisch und schreibt Vika, dass es später wird. Wegen physiotherapeutischer Fingerübungen. Sie wird denken, er sei bei seiner Therapeutin und keinerlei Verdacht schöpfen, womit er sich stattdessen quält.

Anschließend zieht er die mittlere Schublade auf und entnimmt dieser den Karton mit den nummerierten Stoffsäckchen. Vorgestern hat er jedes einzelne befüllt. Jetzt öffnet er das erste und kippt das Dutzend Puzzleteile auf die Tischplatte. Zügig setzt er den ersten von insgesamt vierundzwanzig Ausschnitten zusammen. Dieser zeigt ein Stück blauen Himmel und bildet die linke obere Ecke des Gesamtmotivs. Mithilfe eines herumliegenden Lieferscheins für gelbe Karategürtel dreht Etienne das Teilpuzzle mit der Bildseite nach unten. Aus dem Set bunter Fineliner wählt er den roten. Der Stift fühlt sich immer noch ungewohnt an in seiner linken Hand, dabei ist er Linkshänder. Aber nach seinem Autounfall vor sechseinhalb Jahren und der späteren Infektion in seiner Hand hat er so etwas Filigranes wie einen Stift nur halten können, wenn eine spezielle Bandage seine Finger zusätzlich stützte. Sein Schriftbild hatte nicht gewonnen. Dennoch hat er aus Angst vor einer neuen Infektion erst diesen Sommer wieder eine OP gewagt. Sie ist gut gegangen.

Orte sind Schatzkisten voller Erinnerungen. Manche wollen wir immer wieder öffnen und ihren Inhalt teilen. Er schreibt die Worte in kleinen, fein geschwungenen Buchstaben auf die blaue Rückseite der Puzzleteile. Es ist anstrengend, aber was er hier produziert, ist tatsächlich seine eigene Handschrift. Kein zittriges Gekritzel. Er könnte jetzt stolz auf sich sein, läge da nicht diese Herausforderung vor ihm. Andere wollen wir für immer verschließen. Seine Hand krampft und seine Finger schmerzen. Physiotherapeutische Fingerübungen waren nicht gelogen. Er legt den Stift ab und massiert mit der anderen Hand seine Fingerknöchel. Vielleicht ist es auch psychisch. Sein Herz krampft wie seine Hand, und der Kloß in seinem Hals lässt ihn schwerer atmen. Er nimmt den Stift wieder auf.

Dieser Ort ist meine verschlossene Schatzkiste. Ich wollte nie wieder dorthin zurückkehren …

Zeit zu zweit

Unschlüssig steht Vika in der Mitte des Wohnzimmers, das seit Kurzem auch ihres ist. Etienne hat seine dortige Bibliothek um ein weiteres Regal ergänzt, damit sie Vikas Romane in seine alphabetisch nach Autoren geordnete Belletristiksammlung integrieren konnten. Beim Sortieren wurden sie von der Erkenntnis überrascht, wie viele Bücher sie doppelt hatten, und Vika hat es noch einmal mehr erstaunt, dass Etienne seine Exemplare kommentarlos ausrangierte. Ganz so, als würden ihm ihre Ausgaben von nun an bis an das Ende seiner Tage zur Verfügung stehen.

Der Gedanke setzt auch jetzt süße Wärme in ihrer Brust frei, während sie die oberste Regalreihe inspiziert. Schließlich zieht sie drei Taschenbücher von Élisabeth Badinter und Simone de Beauvoir heraus, die tatsächlich zu Etiennes Bestand gehören, und lässt Jazzas Schachtel ebenso dahinter verschwinden wie den blauen Luftpolsterumschlag, den sie gerade aus dem Briefkasten gezogen hat. Perfekt. Auf beides wird ihr Liebster schon mal nicht mehr zufällig stoßen, wenn er hoffentlich bald nach Hause kommt.

Vorher will sie noch ein bisschen Ordnung schaffen. Dafür braucht sie dringend Musik. Sie schiebt Ariana Grandes My Everything in Etiennes CD-Spieler und dreht die Lautstärke hoch. Nach der langen Autofahrt mit Jazza sehnen sich ihre Füße nach Bewegung und fangen fast von selbst an zu tanzen. Einige Minuten gibt Vika sich mit geschlossenen Augen der Musik hin, bis sie mit einer Hand schwingende Kleinobjekte streift. Ja, Etienne hat manchmal eine eigentümliche Art, Menschen daran zu erinnern, dass nicht für alle die gleichen Dinge selbstverständlich sind. Während er selbst sich in fremden Wohnungen mit unerreichbaren Sofas, dicken Teppichen und verwinkelten Badezimmern herumschlägt, empfängt er seine Besucher mit einer beeindruckenden Installation in der Mitte des Wohnzimmers. Von der Decke hängt ein ausladendes Stück Treibholz, an dem an unterschiedlich langen Nylonfäden über hundert Schlüssel baumeln. Während er selbst mit seinem Rollstuhl bequem darunter durchfahren kann, schwingt die Schlüsselwolke Fußgängern auf Brust- oder Kopfhöhe und zwingt sie zum Ausweichen. Schnell streicht Vika mit der Hand über die Schnüre, damit sich das Schaukeln und Klingen wieder beruhigt und die Fäden sich nicht verheddern. Dann besinnt sie sich ihres eigentlichen Vorhabens und wirbelt, lauthals mit Ariana mitsingend, in das Schlafzimmer.

Dort warten nämlich noch zwei Umzugskartons und ein Wäschekorb darauf, dass Vika ihre Inhalte in den neuen Kleiderschrank einräumt. Gut gelaunt füllt sie die oberen Schrankfächer mit Pullovern und T-Shirts und hängt ihre Kleider, Westen und Jacken auf die rechte Seite der Stange. Die Schuhkartons mit ihren zusammengerollten Socken und Strumpfhosen passen praktischerweise genau in eine Schublade, und ihre Hosen stapelt sie in einer Faltbox, die sie neben den Pullovern unterbringt.

Fertig!

Zufrieden betrachtet sie das Ergebnis und lässt die magnolienfarbigen Schiebetüren zugleiten. Anschließend legt sie die Umzugskartons zusammen und lehnt sie hinter der Tür an die Wand. Neben dem Bett steht noch eine Kiste mit Kleinzeug und Dekokram. Den Adventsstern, der jetzt in der Küche hängt, hat sie am Wochenende bereits ausgepackt. Jetzt zieht sie noch die drei sternförmigen Milchglasschalen mit den silbernen Kieseln daraus hervor. Zwischen die Steine setzt sie je eins von Etiennes LED-Teelichtern und platziert zwei Deko-Schalen auf der Fensterbank. Die dritte stellt sie auf die Kommode neben der Tür. Dort hat Etienne ein gerahmtes Happy-Couple-Foto von ihnen beiden vor der Steilküste Santorinis aufgestellt. Kurz driften ihre Gedanken ab. Im Urlaub haben sie Tag und Nacht zusammen verbracht, und obwohl Vika sich selbst immer als eine Frau kennengelernt hat, die ihre Freiräume teilweise vehement einfordert und verteidigt, hat sie die Zweisamkeit mit Etienne genossen. Seine Nähe hat Vika Geborgenheit vermittelt und sich auf eine wundervolle Art selbstverständlich angefühlt. Jetzt wünscht sie sich, sie könnten auch im Alltag mehr ganze Tage einfach nur miteinander verbringen. Aber da sind ihr Studium, seine Promotion, ihr Job und seine Karateschule …

Vika sieht auf die Uhr. Langsam könnte ihr Chéri wirklich mal nach Hause kommen, damit sie heute Abend wenigstens noch ein paar Stunden füreinander haben. Vorhin mit Jazza wollte sie es nicht zugeben, aber seit sie zusammenwohnen, weiß Vika, wie sich Sehnsucht anfühlt: Als würde ihr an einem heißen Sommertag der perfekte Eisbecher serviert – und immer wieder weggezogen, wenn sie gerade ihren Löffel in die kühle Süße tauchen will. Aber heute wird das nicht passieren, ganz sicher nicht. Immerhin ist Etienne schon bei der Physiotherapie. Es besteht also nicht die Gefahr, dass er sich in der Karateschule mit einem neuen Schüler verquatscht. Oder mit Toni.

Vika schaltet die Lichterkette rund um die Fotoleinwand über dem Bett ein. Das Motiv der verheirateten Felsen von Ise-Shima erstrahlt in sanftem Licht. Auch Etiennes Nachttischlampe, eine schlichte, zylindrische Leuchte, knipst sie auf der niedrigsten Helligkeitsstufe an. Sie wird die Schlafzimmertür offen lassen. Dann merkt er schon in dem Moment, wenn er in den Flur rollt, dass sie noch Pläne für den Abend hat. Der Gedanke lässt sie grinsen.

Im Hintergrund verstummt Ariana Grande. Gleichzeitig klingelt es.

Was für ein Timing! Offenbar hat Etienne sie auch vermisst und will keine Zeit verlieren, sie zu begrüßen. Binnen Sekunden ist Vika an der Wohnungstür.

Davor steht allerdings nicht Etienne, sondern Brigitte aus der Wohnung nebenan – mit einem Katzenkorb.

»Vika, ihr seid meine Rettung!«, sprudelt es aus ihr heraus. »Das Tierheim hat angerufen, sie brauchten jemanden, der einen angefahrenen Kater über Nacht aufnimmt. Ich habe ihn gerade vom Tierarzt abgeholt.« Sie hebt den Korb hoch und Vika erkennt einen ausgestreckten rotweißen Katzenkörper mit bandagiertem Unterleib. »Er ist noch in Narkose, aber er wird demnächst aufwachen. Ich kann ihn nicht alleine lassen. Und ich habe kein Katzenfutter mehr, seit die Kitty bei euch isst.«

Vika überhört den vorwurfsvollen Ton des letzten Halbsatzes. Es ist weder ihre noch Etiennes Schuld, dass es sich die ehemals schwer verletzte und von Brigitte aufgepäppelte Katze in den Kopf gesetzt hat, Etienne zu adoptieren – den einzigen Dosenöffner, dessen Fortbewegungsart sie nicht in Panik versetzt.

»Wir haben genug. Such dir einfach was aus.« Sie lässt Brigitte mitsamt Katzenkorb eintreten und zieht unauffällig die Schlafzimmertür zu, bevor sie die Nachbarin in die Küche lotst und ihr die von Etienne im Vorratsregal gestapelten Aluschalen zeigt. Beim Blick auf die Auswahl rutschen Brigittes fein gezupfte Augenbrauen den halben Weg Richtung Scheitel ihrer silbergrauen Bobfrisur.

»Lachspastete mit Feinschmeckersoße? Kein Wunder, dass die Kitty nicht mehr zu mir kommt! Und mir hat er vor nicht allzu langer Zeit noch erklärt, Freigängerkatzen bräuchten allenfalls Trockenfutter. Ts! Das sind ganz und gar unfaire Methoden, sag ich dir. Ich habe sie gepflegt, als es ihr schlecht ging. Ich war Tag und Nacht für sie da. Ich erwarte bestimmt keine Dankbarkeit. Aber dass sie mich jetzt behandelt, als wäre ich es gewesen, die ihr einen benzingetränkten Lappen um den Schwanz gewickelt und angezündet hat, ist schon enttäuschend.«

»Und er hier ist jetzt dein neuer Hoffnungsträger?« Vika nickt Richtung Katzenkorb, aber Brigitte winkt ab.

»Quatsch. Der ist gechippt. Sie haben bloß die Besitzerin noch nicht erreicht. Der Kater bekommt einmal Lachspastete nach dem Aufwachen bitte, und ab morgen wieder seine Standardmahlzeiten zu Hause. Da braucht Ett sich gar nicht erst Hoffnungen auf ein zweites Haustier zu machen.«

Als ob.

»Er wollte nicht mal das erste. Die Kitty ist einfach hier aufgetaucht und hat ihn um ihre kleine Kralle gewickelt. Wenn also irgendwas unfair war, dann das. Aber apropos Ett: Er müsste jeden Moment kommen. Ich sollte unser Abendessen fertig machen.«

»Brauchst du nicht. Ett und Toni haben Pizza geholt und sind jetzt auf dem Weg hierher. Tu einfach überrascht, wenn er dir gleich Pizza Verdure überreicht.«

Wie praktisch, dass Brigitte inzwischen mit Etiennes bestem Freund, Trainer und Geschäftspartner Toni zusammen ist. Auf diese Weise erfährt Vika immerhin zeitnah, dass ihr Liebster sie vorhin angelogen hat. Von wegen Physiotherapie. Sie schluckt gegen die plötzliche Trockenheit in ihrem Hals. Warum hat er plötzlich Geheimnisse vor ihr? Jazzas beiläufige Frage von vorhin fällt ihr wieder ein: Trifft er sich mit anderen Frauen? Niemals. Oder doch?

Mit einer knappen Entschuldigung läuft sie zurück ins Schlafzimmer, um ihr Handy zu holen. Auf dem Display blinkt schon eine neue Benachrichtigung auf. Sorry, hat länger gedauert. Bin jetzt unterwegs. Bringe Pizza mit. Kuss @, hat er ihr vor zehn Minuten geschrieben. Wie immer muss Vika über sein Namenskürzel schmunzeln, aber im nächsten Moment fühlt sich ihr Magen flau an. Kein Wort von Toni oder der angeblichen Therapie. Was ist da los? Und wie soll sie am besten darauf reagieren? Als sie in die Küche zurückkehrt und dabei versucht, eine Antwort zu tippen, hat Brigitte ihre Abwesenheit nicht etwa genutzt, um mit der Lachspastete mit Feinschmeckersoße und Katzenkorb den Rückweg in die eigene Wohnung anzutreten. Nein. Stattdessen hat sie den Korb auf den Küchentisch gestellt und es sich auf einem Stuhl davor bequem gemacht. Versonnen betrachtet sie den komatösen Kater hinter dem Gitter.

»Weißt du, Vika, es ist doch wirklich tragisch: In weniger als einem Monat ist Weihnachten und so viele Menschen werden wieder Tiere verschenken. Die illegalen Vermehrer, die den Namen Züchter nicht verdienen, machen das Geschäft ihres Lebens und naive Tierfreunde müssen ihre Sparkonten plündern, um ihren neuen Familienmitgliedern die Folgen von Inzucht erträglich zu machen. Oder sie laden die armen Kreaturen im nächsten Tierheim ab.«

Vika unterbricht ihre Nachricht an Etienne. Vielleicht ist es doch besser, nachher persönlich mit ihm zu reden, statt ihn jetzt per WhatsApp mit seiner Lüge zu konfrontieren.

---ENDE DER LESEPROBE---