Zum Horizont führt keine Treppe - Alizée Korte - E-Book

Zum Horizont führt keine Treppe E-Book

Alizée Korte

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Beschreibung

Studium in Heidelberg, Radiojob in Mannheim, Liebe im Herzen – seit Vika mit Etienne zusammen ist, hat sie ihr Leben wieder im Griff. Doch der attraktive Karatelehrer im Rollstuhl bringt seine eigenen Herausforderungen und mitunter gewöhnungsbedürftige Lösungsansätze mit. Als ein lästiger Bekannter wieder in Vikas Leben tritt und ein unverarbeitetes Trauma aufbricht, will Etienne helfen – und begeht einen schweren Fehler. Ein gemeinsamer Urlaub auf Naxos könnte das Vertrauen zwischen ihnen wieder herstellen und ihre Bindung festigen. Doch alles verläuft anders als gedacht, und nach ihrer Rückkehr muss Vika eine weitreichende Entscheidung treffen. BLOGSTIMMEN »Ein einfühlsamer, reflektierender, anspruchsvoller und intensiver Roman.« Tanjas Buchgarten »Eine rührende und überzeugende Geschichte, spannend erzählt. Ein großer Lesegenuss.« Helgas Bücherparadies

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ALIZÉE KORTE, Jahrgang 1971, arbeitete nach ihrem Studium der Philosophie und der Politischen Wissenschaft zunächst als Journalistin, später als Kommunikationsberaterin. Sie ist seit zwanzig Jahren in der Fachwelt rund um Media, Marketing, Werbung und Internet zu Hause, taucht in ihrer Freizeit jedoch gern in die Tiefen selbst ausgedachter Geschichten ab. Nach ihrem Debüt »Dein Weg, meine, Liebe« (2017) und dem Erzählungsband »Das Echo der Farben« (2018) stellt sie mit »Zum Horizont führt keine Treppe« nun ihren zweiten Roman vor.

Mehr Informationen unter www.alizeekorte.de und auf Instagram unter @alizee.korte.autorin

© 2020 Alizée Korte

c/o Alexander Hüsing

Ugandastraße 2, 13351 Berlin

Lektorat & Korrektorat: KoLibri Lektorat, Sabine Wagner

Covergestaltung © Constanze Kramer, www.coverboutique.de

Bildnachweise: ©kstudija, ©Evan Spiler 2011, ©adrenalinapura –

stock.adobe.com, freepik.com

Satz und E-Book-Konvertierung: Die Buchprofis, München

Triggerwarnung im Nachwort oder unter www.alizeekorte.de/triggerwarnung

Für Rolf und Kira Nefeli.Immer wieder.

Wir können uns nicht aussuchen,was uns passiert.Aber wir entscheiden,wie wir damit umgehen.

Inhaltsverzeichnis

Neckargemünd, 3. Januar 2014

Vic, mon amour

Geliebt und gebeutelt

Freischwimmer

Sneak Preview

Nicht immer einvernehmlich

Ratte im Wolfspelz

Schlüsseldienst

Achtsamkeitsübung

Unangekündigte Besuche

Wasser und Brot

Reglose Ringelrobbe

Flucht nach vorn

Frisch getriggert

Vorausschauend planen

Flamingoblume

Athen 2.0

Unterwegs

Fakten schaffen

Verzicht und zugenäht

Blitzeinschlag

Emanzipierte Entscheidung

Weiteratmen

Geheimnisvolle Pläne

Privatsphäre

The Russian Way

Auf Kurs

Tanz auf dem Vulkan

Stechmücke

Vergiftete Verhältnisse

Aufbruch

Nächtliche Entdeckung

Herbeigetindert

Dissonanz

Der Eremit

Rhetorische Frage

Beinahe synchron

Wheel. Life. Style.

Tacheles

Karmas Lolli

Dreißig

Abschied

Nachwort

Danke! (Bonuskapitel)

LESERSTIMMEN zu »Dein Weg, meine Liebe«

Liebe ist wie ein perfekter Schlag im Karate. Sie trifft völlig unvermittelt.

Freundschaft ist nicht immer ein Geschenk. Manchmal ist sie auch ein Fluch.

Neckargemünd, 3. Januar 2014

Sein Entschluss steht fest. Vielleicht ist er falsch. Doch selbst wenn: Bereuen wird er ihn nicht, soviel ist sicher. Seit er den Schlüssel im Zündschloss gedreht und den Wagen vom Parkplatz des Wohn- und Pflegeheims gelenkt hat, fühlt er sich ruhiger. Das Zittern seiner Hände ist nicht mehr sichtbar, jetzt, wo seine Finger das Lenkrad umklammern. Er würde sich gern einreden, es wäre verschwunden, aber es ist nur nach innen gewandert. Dort sitzt es in seinen Eingeweiden und erschüttert sein Denken. Er muss seine gesamte Konzentration darauf richten, den Druck seines rechten Fußes auf das Gaspedal mit den Lenkbewegungen seiner verkrampften Hände in Einklang zu bringen, die den Sportwagen auf dem Stück Straße in seinem Gesichtsfeld halten.

Die Ortschaft liegt inzwischen hinter ihm. Die nächste wird er nicht erreichen. Kurz spürt er, wie sein Herz einen Schlag aussetzt und sein Magen rebelliert. Ruhig Blut. Der Xenon-Scheinwerfer frisst die Dunkelheit, lässt die Reflektoren der schwarzweißen Leitpfosten aufleuchten und signalisiert mit seinem aggressiv kalten Licht jedem entgegenkommenden Fahrzeug, dass hier jemand unterwegs ist, der nicht aufgehalten werden darf. Gut so.

Seine Entscheidung ist gefallen. Er ist einer von sieben Milliarden Menschen auf diesem Planeten und was er tut oder lässt, hat keinerlei Auswirkungen. Okay, in einer wissenschaftlichen Arbeit hätte er als Fußnote hinzugefügt, dass es Auswirkungen haben könnte. Die Zahl der betroffenen Individuen wäre allerdings so klein, dass sie insgesamt zu vernachlässigen wäre. Der Gedanke an Individuen macht das Zittern wieder präsenter. Der Trick ist, bestimmte Gedanken nicht zuzulassen. Nicht an Individuen zu denken. Nicht an Namen. Sonst kommt die Panik. Gefolgt von Zweifeln. Zweifeln, die er sich nicht mehr leisten kann. Der Audi gleitet über die Bundesstraße, liegt sicher in den Kurven. Schade eigentlich. Irgendwo in Heidelberg schaut sein Besitzer vermutlich schon auf die Uhr. Er wird vergeblich warten. Sowohl auf das Auto als auch auf die CD. Sorry, not sorry. Ihm zu drohen, war eine erbärmliche Idee. Lächerlich. Aber es hat ihm geholfen, die Autofrage zu lösen. Mit seiner uralten Schleuder hätte er dieses Vorhaben nicht durchziehen können. Außerdem hat sein Mädchen den Schlüssel versteckt.

Sein Mädchen.

Er darf ihren Namen nicht denken. Sonst kommt automatisch auch die Ahnung des Schmerzes, den er ihr zufügt. Dabei wäre der so oder so gekommen. So hatten sie wenigstens drei Monate. Drei Monate Beziehung ohne Realitätscheck. Wolke sieben ist sogar ins neue Jahr geschwebt.

Darauf hätte er nicht gewettet. Damals. Vor dreiundachtzig Tagen. Früher wäre diese Zeitspanne nichts als ein Wimpernschlag gewesen. Etwas, das an der Uni wie ein Atemzug vergeht. Jetzt liegt zwischen dem 12. Oktober und heute – alles.

Er wischt sich über die linke Wange, unsicher, ob sie nass ist. Falls ja, spürt er es nicht an den Fingern seiner linken Hand. Aber seine Sicht verschwimmt. Nicht, dass er jetzt einen Unfall baut.

Das Schicksal ist ein Arschloch, jedoch eines mit Sinn für Ironie.

Das beste Talent vergeudet.

Die größte Liebe von kürzester Dauer.

Dass sie ihn überhaupt noch erwischt hat, die ganz große Liebe!

Unnötig. Aber grandios.

Der Karatefreak im Rollstuhl hat empfohlen, sie auszukosten. Klar, der futtert auch den Optimismus mit dem Morgenmüsli. Muss man wohl, sonst kommt man nicht auf die Idee, Karate zu unterrichten. Mit einer Querschnittlähmung. Aber hier gibt es nichts mehr zum Auskosten. Festhalten ist eine dumme Idee, wenn die einzige Lektion, die es noch zu lernen gilt, Loslassen heißt.

In einer der nächsten Kurven muss es sein. Ein orangefarbenes Warnblinklicht, rot-weiße Sicherheitsbaken, dazwischen Absperrband, wo die Leitplanke nach dem Lkw-Unfall der vergangenen Woche fehlt. Der Laster ist zu langsam gewesen, um es bis in den Neckar zu schaffen. Vielleicht hat ihn auch die Leitplanke gebremst, jedenfalls ist er in der Böschung hängen geblieben.

Gut. Das wird jetzt nicht passieren.

Hinter der nächsten Kurve ist es.

Er darf jetzt nicht an sein Mädchen denken. Sonst weiß er nicht, wohin mit dieser Liebe zu ihr, die ihm so groß und so einzigartig vorkommt, dass sie sieben Milliarden Menschen aufwiegt. Sonst hält er es nicht aus, dass auch sie vergeudet ist. Verschwendet wie sein Wissen, seine Talente, seine ganze beschissene Hochbegabung. Sonst wird er doch noch zögern und nachsinnen, wem er diese Liebe schenken könnte, damit sein Mädchen für den Rest ihres Lebens geliebt wird wie zuletzt.

Da hinten blinkt das orange Warnlicht. Jetzt gilt es, die großen Gedanken nicht mehr zuzulassen. Das Universum hat seine eigene Balance. Wir glauben zu verlieren, aber nichts geht verloren. Es verändert sich bloß alles. Aus Leben wird Tod, wird neues Leben. Die Liebe aber ist unsterblich. Er weiß, dass sie überleben wird, dass sein Mädchen geliebt werden wird.

Er tritt das Gaspedal bis zum Anschlag durch und peilt rechts neben dem Blinklicht das flatternde Absperrband an. Vor seinem Blick verschwimmt es.

Hör auf zu denken.

Es lohnt sich nicht mehr.

Das Leben ist leicht, es fliegt davon.

Die Liebe ist größer und noch leichter.

Etienne Jeancour wird …

Vic, mon amour

Als Vika den schilfgrünen Citroën CX auf dem Waldparkplatz zum Stehen bringt, rutscht das schwarze Notizbuch von ihrem Schoß. Eine Ecke bohrt sich in ihren Fußrücken und verstärkt das Gefühl, dass ihr ihre Vergangenheit einmal mehr auf die Füße fällt. Eine Vergangenheit, die sie bisher nur aus einer Perspektive betrachtet hat – ihrer eigenen. Was sie aus dem Fußraum fischt, bevor sie in die staubige Hitze tritt, ist die andere: Daniels Perspektive. Vikas Finger zittern, als sie den Citroën abschließt und den inzwischen vertrauten Waldweg einschlägt. Zehensandalen waren nicht die beste Wahl. Scharfkantige Kiesel schieben sich zwischen Fußsohle und Leder, und reflexartig umfasst sie das abgegriffene Notizbuch fester, um den Schmerz besser ertragen zu können. Dabei ist dies genau das Problem. Dass sie immer noch glaubt, der Schmerz sei verdient. Gerechte Strafe, weil sie lebt und Daniel tot ist. Da können Anna und Etienne ihr noch so oft ins Gewissen reden. Sie trägt keine Schuld an Daniels Tod. Natürlich nicht. Er selbst ist es gewesen, der mit seinem Entschluss zu Ende brachte, was der wuchernde Hirntumor begonnen hatte. Aber deshalb fühlt sie sich noch lange nicht unschuldig. Hallo?! Jedenfalls wird sie es sich nicht leicht machen und Unschuld mit Unerfahrenheit und Naivität gleichsetzen. Denn unerfahren und naiv war sie ganz sicher, als sie drei Monate verliebt auf Wolke sieben schwebte, ohne zu ahnen, dass der Liebste seinen Selbstmord plante. Vielleicht ein Stück weit egozentrisch. Auch wenn Anna und Etienne sich gegenseitig darin überbieten, es ihr auszureden.

»Das ist deine zweite Chance«, hat Anna vorhin gesagt, als sie ihr das Notizbuch aushändigte. »Die zweite Chance, deine Liebe kennenzulernen.«

Annas Lachen war Vika unpassend erschienen. Immerhin ist Daniel ihr Bruder gewesen. Ihr kluger, hochbegabter Bruder, der sie in einem letzten Geniestreich zur Begünstigten seiner Lebensversicherung gemacht und ihr damit pünktlich zur Volljährigkeit ein selbstbestimmtes Leben außerhalb einer Pflegeeinrichtung ermöglicht hat. Inzwischen bewohnt Anna eine Zwei-Zimmer-Wohnung im Heidelberger Stadtteil Ziegelhausen und beschäftigt mehrere Assistentinnen, die sie dabei unterstützen, ihren Alltag, bestehend aus Schulunterricht, individuellen Bildungsmaßnahmen, Sprach- und Physiotherapie und festgelegten Ruhephasen, zu bewältigen. Ihr Terminkalender ist voller als Vikas, und im Gegensatz zu ihr kennt sie ihn auswendig. Daniel ist nicht der Einzige in der Familie mit herausragender Intelligenz gewesen.

Anna hat mit einem Physikbuch im Leseständer auf ihrem Bett gelegen, als Vika auf Ashtars Öffnen hin ins Zimmer trat. Der Elektrorollstuhl hing am Ladekabel und durch die offene Balkontür strömte der Geruch der Blumen in den Pflanzkästen herein.

»Was sagt eigentlich Etienne dazu, dass du auch noch sieben Monate nach Daniels Tod alles stehen und liegen lässt, sobald es um seine Hinterlassenschaften geht?« Zwischen all den bunten Stützkissen und in ihrem geblümten Sommerkleid sah Anna deutlich jünger aus als achtzehn, aber Vika ließ sich davon nicht täuschen.

»Ashtar hat geschrieben, dass du mir sein Notizbuch geben willst.«

»Ich hätte meine Meinung nicht geändert, wenn du gesagt hättest, du kommst erst morgen. Oder nächste Woche.«

Vika zuckte mit den Schultern. »Ich hatte gerade Zeit. Und Etienne sagt dazu übrigens gar nichts. Er weiß, dass ich nicht mit ihm zusammen wäre, würde Daniel noch leben. Hart, aber wahr. Außerdem ist er in der Karateschule.«

»Klar. Wo sonst. Ash, der weiße Läufer stand auf F5, nicht auf F6. Das wäre ja kompletter Unsinn.«

Ashtar schob die Figur ein Feld zurück und verpasste als Nächstes dem schwarzen Turm eine Abreibung mit dem Staubtuch. »Beende das Spiel, dann Putzen ist einfacher.« Ihr nicht ganz perfektes Deutsch ließ sie resoluter klingen, als ihre zierliche Statur suggerierte.

»Das Spiel ist beendet. Daniel hat aufgegeben.«

Anna hatte gelacht. Ihr Humor war wirklich … nun ja. Dann hatte sie Vika eingeladen, auf ihrer Bettkante Platz zu nehmen, und das Notizbuch zwischen ihren Kissen hervorgezogen.

Auf dem Waldweg kommt Vika eine ältere Frau entgegen, deren übergewichtiger Labrador ihr mit weit aus dem Maul hängender Zunge hinterhertrottet. Sie grüßt, die Frau nickt. Vika bleibt kurz stehen und schüttelt nun doch die Steine aus ihren Sandalen. Ein Schweißtropfen läuft zwischen ihren Brüsten herab über ihren Bauch, einen zweiten spürt sie im Nacken, direkt unter ihrem nachlässig zusammengebundenen Haarknoten. Sie hat nicht erwartet, dass es sogar im Wald noch so drückend sein würde. Um diese Zeit am Nachmittag ist der Erbacher Ruheforst sonst nicht so unbelebt. In den Baumwipfeln toben normalerweise Vögel, die Luft schwirrt von Insekten und auf den Waldwegen begegnen sich Jogger und Spaziergänger mit Hunden oder kleinen Kindern. Aber die seit Tagen anhaltende Hitze hat sich wie ein Slow-Mo-Filter über den Wald gelegt. Selbst die Vögel scheinen träger zu zwitschern. Es ist nicht mehr weit bis zur Andachtsstelle. Vika stützt sich mit einer Hand an einer der hölzernen Bänke ab, während sie noch einen weiteren Stein unter ihrer Fußsohle hervorholt. Dann geht sie vorsichtig zu den Buchen hinüber und setzt sich im Schneidersitz vor die kleine Gedenktafel auf den trockenen Waldboden. In memoriam. Daniel Artopé. Mit der Handfläche wischt sie über die Metallplakette. Hallo, Daniel. Sie legt das Notizbuch in ihren Schoß und zieht ihr Smartphone aus der Gesäßtasche ihrer Shorts, um bequemer zu sitzen, wenn ihre Gedanken mit der Seele des Mannes kommunizieren, an dessen Seite sie gehofft hatte, alt zu werden. Schöne Grüße von deiner Schwester. Ich war vorhin bei ihr. Wir haben auf ihrem Bett gesessen. Ash hat uns Limonade serviert. Anna sagt, sie hat die Aufnahmeprüfung für einen beschleunigten Weg zum Abitur geschafft. Wenn alles gut geht, darf sie in zwei Jahren studieren. Probeweise fängt sie bereits im Wintersemester mit Jura an. Du kannst stolz auf sie sein. Vika stockt. Kann eine Seele stolz auf jemanden sein? Etienne und ich sind stolz auf sie, korrigiert sie sich. Anna hat mir übrigens dein Notizbuch gegeben. Ich dachte lange, es wäre bei Hartmut. Es wäre wirklich schlauer gewesen, du hättest es einfach bei mir gelassen. Sie schüttelt den Kopf. Es hat keinen Sinn, jetzt mit Vorwürfen zu kommen. Was geschehen ist, ist geschehen. Jedenfalls habe ich es jetzt hier. Du hast viel in anderen Sprachen hineingeschrieben, daran erinnere ich mich noch. Damals habe ich dich dafür bewundert, dass du dich auf Englisch, Französisch, Russisch und Arabisch so gut ausdrücken konntest. Du hast immer gesagt, es sei nur Synapsentraining, Dinge, die Hochbegabte eben tun, um die Zeit totzuschlagen. Ich war so beeindruckt, dass ich gar nicht auf die Idee kam zu fragen, wie es sich anfühlt, Zeit totzuschlagen, die man eigentlich nicht hat. Wie auch immer. Ich habe dein Notizbuch, und ich hoffe, es hilftmir, ein paar Dinge zu verstehen. Warum du dich entschieden hast, mir nichts zu sagen, zum Beispiel. Vika wischt sich ein paar Haarsträhnen aus der Stirn und verscheucht ein Insekt von ihrem nackten Bein. Dann schlägt sie das Notizbuch auf und blättert behutsam durch die Seiten. Tatsächlich hat Daniel es nicht für nötig gehalten, irgendetwas auf Deutsch niederzuschreiben. Stattdessen prangen dort Gedichte oder Songtexte auf Englisch oder Russisch, chemische Formeln, Zeichnungen von Molekülen, Fließtext auf Arabisch, für den er das Notizbuch einfach umgedreht hat, um bequemer von rechts nach links schreiben zu können. Kurze Absätze auf Französisch. Dazwischen irgendwo auf der Seitenmitte:

Temodal – phänomenal

Lyrika – idyllika

Beides ist mehrfach mit Kugelschreiber durchgestrichen. Beim Weiterblättern konzentriert Vika sich auf die Passagen in Englisch und Französisch. Besonders letztere versteht sie kaum. Ihr Schulfranzösisch hat sie in den Jahren nach dem Abitur so schnell vergessen, dass sie nicht mal mehr über das Wetter sprechen könnte. Geschweige denn verstehen, worüber sich Etienne mit Marie-Lou während ihrer täglichen Anrufe unterhält. Immerhin erkennt sie ein Muster: Notizen auf Französisch beschäftigen sich mit Daniels Gefühlen, die auf Englisch eher mit literarischen Ausdrucksformen anderer Verfasser. Jackpot. Das, was sie am brennendsten interessiert, steht in einer Sprache geschrieben, die sie kaum versteht. Immerhin nicht auf Russisch oder Arabisch, tröstet sie sich. Sie spürt die Verkrampfung in ihrer Stirn, während sie sich auf die Worte konzentriert. Je pense … l’espoir … je ne croix pas … quand je meurs. Vika seufzt. Sie versteht nicht einmal den Zusammenhang. Ihr Blick gleitet schneller über die Zeilen. Vic, mon amour … Unwillkürlich hält sie die Luft an. Vic? Daniel hat sie nie Vic genannt. Es ist Etienne, der ihr diesen Kosenamen gibt. Etienne, der Halbfranzose, nicht Daniel, der Deutsche mit dem französischen Nachnamen seiner Hugenottenvorfahren. Eilig blättert sie weiter, überfliegt einen französischen Passus nach dem nächsten. Immer wieder stößt sie auf die drei Buchstaben. Vic. Mon amour. Mon ange. Die Buchstaben verschwimmen vor ihren Augen. VerdammtesSynapsentraining! Deine Hochbegabung war nichts anderesals eine beschissene Behinderung! Warum musstest du in einer Sprache über mich schreiben, die ich nicht beherrsche? Weißt du, wie lange ich nach diesem Buch gesucht habe in der Hoffnung, es würde mir helfen, dich wenigstens posthum zu verstehen?

Ihre eigene Wut erscheint ihr plötzlich lächerlich. Schließlich liegt die Lösung auf der Hand. Vika wischt sich die Tränen aus dem Gesicht und atmet tief durch. Dann nimmt sie ihr Smartphone und wählt Etiennes Nummer. Er ist in der Karateschule, aber wenn sie sich richtig erinnert, gibt er erst später am Nachmittag Unterricht.

»Vic. Hey!« Sie hört das Lächeln in seiner Stimme und sofort hüpft ihr Herz.

»Chéri.«

»Wo bist du?«

»Am Grab deines wundervollen Vorgängers.«

Er lacht leise. »Was hat er jetzt wieder angestellt?«

»Wenn ihr miteinander geredet habt, hat er da jemals Vic gesagt? Oder hast du mich so genannt, wenn die Rede auf mich kam?«

Einige Sekunden ist es still in der Leitung. Etienne scheint nachzudenken. »Nein«, sagt er dann. »Er hat immer als Vika von dir gesprochen. Und ich weiß, dass ich dich erst als Vic gesehen habe, nachdem ich dich persönlich kennengelernt hatte. Die französische Kurzform schien perfekt zu dir zu passen. Warum fragst du?«

»Anna hat mir sein Notizbuch gegeben. Ich sitze hier und versuche, es zu verstehen, aber Mister Superschlau hat alles auf Russisch, Arabisch, Französisch und Englisch niedergeschrieben.«

»Englisch kannst du.«

»Ja, aber der Teil ist nicht sonderlich interessant. Wo es um mich geht, hat er auf Französisch geschrieben. Und wie es aussieht, hat er mich in diesen Texten Vic genannt.«

»Was? Du meinst …« Er stöhnt. Sie stellt sich vor, wie er sich mit der freien Hand durch die Haare fährt, und in ihrer Brust spürt sie ein süßes Kribbeln. »Du willst also sagen, dass mein ganz persönlicher Herzensname für dich gar nicht von mir stammt? Fuque. Ich meine, Vic ist die übliche Kurzform von Victoire, aber ich dachte dennoch, ich wäre originell.«

Seine Verzweiflung amüsiert sie.

»Du weißt, er war hochbegabt. Wahrscheinlich hat er sich in die französische Sprache eingefühlt und ist schlichtweg zu der gleichen Erkenntnis gekommen: dass Vic eine übliche Kurzform ist, die aus mir nicht erklärlichen Gründen gut zu mir passt.«

»Ich hasse ihn. Ich will gar nicht wissen, zu welchen Erkenntnissen er noch gekommen ist.« Vika muss sich beherrschen, um nicht laut zu lachen. Etienne hat ihr schon in ihrer ersten gemeinsamen Woche erzählt, dass er bei ihren frühesten Begegnungen immer wieder das Gefühl gehabt hat, Vika mit Daniels Augen zu sehen. Sich nicht nur selbst in sie zu verlieben, sondern gleichzeitig Daniels Liebe zu ihr fortzuführen. Es hat ihn irritiert, schließlich hat er Daniel nicht sonderlich gemocht. Wer freiwillig auf Lebenszeit an Vikas Seite verzichtet, kann nicht mehr alle Latten am Zaun haben. Davon ist er überzeugt nach allem, was er selbst durchgemacht hat, ohne aufzugeben. Vika dagegen hat sich insgeheim bestätigt gefühlt, dass ihre Entscheidung für Etienne die richtige gewesen ist.

»Das wird sich nicht verhindern lassen«, sagt sie jetzt. »Wie gesagt. Alles, was er über mich geschrieben hat, ist auf Französisch. Ich will wissen, was das ist, und du kannst zufällig Französisch. Also wirst du es mir übersetzen.«

»Wie bitte? Du verlangst von mir, dass ich Daniels Tagebuch lese und für dich übersetze? Was wenn … wenn ich eifersüchtig werde?«

Jetzt muss Vika wirklich lachen. »Chéri. Habe ich dir heute schon gesagt, dass ich dich liebe?«

»Nicht oft genug.«

»Ich liebe dich.«

»Das hat er jetzt gehört.«

»Das hört er immer. Und ich glaube, es gefällt ihm.«

»Wenn du es sagst …« Er schmollt immer noch.

»Brauchst du dein Auto? Soll ich dich heute Abend abholen?«

»Nein, schon okay. Toni fährt mich. Wir sehen uns morgen.«

Jetzt ist es Vika, die schmollt. Seit Etienne aus der Reha zurück ist, zieht er sein Programm knallhart durch. Gleich nach ihrer Rückkehr hat er ihr gesagt, dass er Tausende Nächte mit ihr verbringen will. Aber keine einzige, nur weil er sich fürchtet, allein zu schlafen. Seitdem hält er an dem empfohlenen Rhythmus fest: Montag, Mittwoch, Freitag und an einem weiteren Tag ihrer Wahl schlafen sie getrennt in ihren jeweiligen Wohnungen. Vika seufzt.

»Ich komme zum Frühstück.«

Er lacht. »Das klingt … vielversprechend.«

Vika schickt ihm hastig ein paar Abschiedsküsschen und fragt sich, ob sie tatsächlich gerade rot wird. An Daniels Grab.

Geliebt und gebeutelt

Die Eingangstür poltert, ein Teenager flucht, eine Sporttasche knallt gegen eine Spindtür. Etienne runzelt die Stirn und sieht über den Computerbildschirm in den Flur. Derweil aktualisiert das MacBook die Daten für den nächsten Newsletter-Versand.

»Hey, Spackofatz! Was ist los? Hat Seval keine Zeit für dich oder warum legst du hier einen Auftritt hin wie Sturmtief Kyrill?«

»Verdammt. Ich dachte, du bist nicht da …« Aus dem Flur erklingt mürrisches Stöhnen.

»Und wage es nicht, hier vorbeizulaufen, ohne reinzukommen«, droht Etienne. Auf dem Laptop drückt er Enter und beißt sich auf die Unterlippe, um nicht zu lachen, als Jan mit schuldbewusster Miene im Türrahmen erscheint. Seine dreizehnjährigen Hände zupfen an der in Gel erstarrten Tolle.

»Hey, ich dachte, ich hätt mal Ruhe, wenn ich schon meiner Mutter …«

»Also, was ist mit Seval?« Etienne stößt sich von der Schreibtischplatte ab und gleitet in seinem Rollstuhl rückwärts in den Raum.

»Muss lernen.«

»Willst du drüber reden?« Etienne kann sich das Lachen nicht länger verkneifen. Das bleibt auch Jan nicht verborgen. Die Hände in die Taschen seiner Jeans vergraben, kommt er o-beinig auf ihn zu.

»Alter, was ist los mit dir?«, fragt er mit einem provozierenden Grinsen.

»Mein Schüler hat ein Hormonproblem.«

Jan tritt vor und führt einen zu neunundachtzig Prozent korrekten Mawashi-Geri-Tritt über den Kopf seines Senseis hinweg aus, der nicht einmal mit der Wimper zuckt.

»Du willst Prügel? Kannst du haben. Heute Abend nach sechs.«

Jan schnaubt. »Pah. Meine Alte will, dass ich ihre Orchideen auf Hydrokultur umpflanze.«

»Ohne deine Alte würde es diese Karateschule nicht geben. Was geht mit Dankbarkeit?«

»Du bist die Pest.«

»Und dein Sensei. Wie gesagt, achtzehn Uhr würde passen. Und halt die Spannung im Fuß, sonst brichst du dir die Zehen. Wär echt ein trauriger Anblick.«

»Orr. Als wenn du das besser könntest!«

Etienne rollt wieder an den Schreibtisch, wo sein Laptop inzwischen hundertachtundzwanzig Newsletter-Empfänger für den aktuellen Versand bestätigt hat. »Welcher Wegweiser läuft denn selbst in die Richtung, in die er zeigt?«

»Welcher Wegweiser läuft überhaupt?«

Etienne lacht. »Fast kommt es mir so vor, als seien sechs Monate Karateunterricht doch nicht spurlos an dir vorbeigegangen.«

Jan verzieht das Gesicht. »Stimmt. Die Narbe an der Augenbraue habe ich immer noch.« Er streicht sich die Haare zurück, und die blassrosa Narbe, wo er in einer der ersten Trainingsstunden aus Unachtsamkeit gegen Etiennes Rollstuhl geknallt war, wird kurz sichtbar. »Außerdem habe ich bereits den grünen Gürtel.«

»Oh yeah, soll mich das beeindrucken? Ich in deinem Alter … ach, vergiss es. Wie läuft’s inzwischen mit deinem Vater?«

Jan zuckt mit den Achseln. »Geht.«

Etiennes Handy klingelt. Auf dem Display sieht nicht nur er Vikas Namen, sondern auch Jan. Ehe Etienne noch etwas sagen kann, ist der Junge aus der Tür. »Ich bin drüben bei meiner Mutter.«

Etienne seufzt. Viel Spaß noch mit den Orchideen, denkt er. Bei dem Gedanken an Pflanzen in schweren Töpfen wird ihm immer noch übel. Er schüttelt den Kopf, um ihn loszuwerden. Dann geht er an das Telefon.

Nach dem Gespräch hängt das verliebte Grinsen noch in seinem Gesicht, als Toni das Büro betritt.

»Wie läuft’s?«, fragt er, während er sich auf den einzigen Bürostuhl im Raum fallen lässt.

»Kommt langsam ins Rollen.« Etienne lacht leise. »Facebook-Seite steht. Du, Jürgen, Olli und Kai sind ebenfalls Admins. Die erste Kampagne mit einem gesponserten Posting habe ich gestartet. Zielgruppe Mannheim, Heidelberg und umliegende Käffer, ausgespielt an männliche und weibliche Personen mit Interesse an Karate oder Kampfsport. Ist eher ein Test als eine dezidierte Werbeaktion, aber mal sehen, was dabei rumkommt. Website habe ich noch mal upgedatet, das 360-Grad-Video vom Dojo ist jetzt auch drin. Der zweite Newsletter mit den Workshop-Terminen geht heute noch raus. Im ›Mannheimer Morgen‹ erscheint in den nächsten Tagen ein Interview mit mir, wahrscheinlich übermorgen. Kannst du mir folgen?«

Toni fährt sich über die Glatze und lässt den Bürostuhl mit einer kraftvollen Fußbewegung zu seinem Kumpel rollen.

»Ich dachte, du promovierst in Philosophie. Studierst du jetzt auch noch Marketing?«

»Das muss ich nicht studieren. Es reicht, wenn ich mir ein paar Sachen angucke, während ihr anderen in sanften Träumen schlummert.«

Toni sieht ihn ernst an. »Das meine ich. Du schläfst nicht, bist völlig übermüdet und vernachlässigst deinen Körper so sehr, dass ich dich mit Druckgeschwür und Blutvergiftung auf der Intensivstation wiederfinde.«

»Hey. Ich zieh das Programm durch. Wirklich. Ich will das auch nicht noch einmal erleben. Aber nach sechs Uhr morgens darf ich arbeiten. Mit dem Segen meiner Therapeuten – und hoffentlich auch mit deinem.«

Toni seufzt und nickt schließlich. »Es ist bloß so, dass mir dein Tempo manchmal Angst macht.«

Etienne lacht. »Anfängerfehler. Ich hab Räder, du nicht. Nach sechs Jahren in dieser Konstellation solltest du wissen, dass ich schneller bin.«

»Bergab vielleicht. Mit Rückenwind.«

Etienne schüttelt den Kopf. »Können wir jetzt die Bestellungen durchgehen, bevor ich mich für Herrn Watanabe umziehen muss?«

Herr Watanabe ist sechsundfünfzig und arbeitet im Ersatzteileinkauf eines japanischen Fahrzeugherstellers an der Bergstraße. Er lebt seit vier Jahrzehnten mit Diabetes und dem Willen, seinen Charakter durch regelmäßiges Karatetraining zu perfektionieren. Die vergangenen Jahre hat er in Ermangelung eines angemessenen Senseis im heimischen Keller trainiert. Seit Toni und Etienne das Dojo im Mannheimer Stadtteil Lindenhof eröffnet haben, hat er ihnen mehrere Trainingsstunden lang nur zugesehen. Erst als Toni den stillen Gast schon hinauskomplimentieren wollte, hat er sich schließlich zum Einzeltraining angemeldet. Bei Etienne. Der kommt jetzt in den Trainingsraum und begrüßt seinen älteren Schüler außerhalb der mit japanischen Reisstrohmatten ausgelegten Trainingsfläche. Höflich erkundigt er sich nach seinem Befinden, den Nachwehen des vorigen Trainings und den Auswirkungen auf die innere Ausgeglichenheit. Erst danach bittet er ihn auf das Tatami und eröffnet das Training mit der im Karate üblichen Begrüßung, einer voreinander ausgeführten Verbeugung, begleitet von einem deutlich gesprochenen »Oss!«. Sie arbeiten neunzig Minuten miteinander, für die letzte halbe Stunde kommt Toni dazu.

Als Herr Watanabe Richtung Umkleide verschwindet, verpasst Etienne Toni auf dem Weg nach draußen einen Schlag an den Oberschenkel. Im nächsten Moment wird er so hart gestoppt, dass nur Hüftgurt und Fußsicherung den Flug auf das Tatami verhindern. Etienne nutzt den Schwung, um sich zur Seite zu kippen und mit einer Hand am Boden eine Drehung auf dem linken Rad auszuführen. Tatsächlich muss Toni den Metallbügel an seiner Rückenlehne loslassen, und sofort nimmt jeder die Ausgangsstellung ein.

»Was ist? Willst du Ärger?«

Etienne lacht leise. »Klar. Du bist langsam.«

Tonis nächster Angriff kommt mit der Wucht einer Abrissbirne. Etienne schafft noch einen Stoß mit dem Ellbogen, dann kippt er schon samt Rollstuhl auf die Matte. Eine Weile traktieren sie sich trotzdem noch mit Sprüchen und Hieben, bis Toni Etienne am Kragen seiner Karatejacke packt und wieder auf die Räder stellt.

»Ich kann dich jetzt nicht fertigmachen. Du wolltest noch Jan verkloppen.«

Eine Stunde später schleicht ein verschwitzter Jan zur Umkleide. Etienne spürt die Enttäuschung, als ihm einfällt, dass er Vika heute nicht sehen wird. Dass er allein in seiner Wohnung schlafen wird. Der Gedanke missfällt ihm, versetzt ihn aber nicht mehr in Panik. Ebenso wenig wie die Tatsache, dass er in Tonis altem Fiat auf dem Beifahrersitz mitfahren muss. Der Traumapsychologe in der Klinik in Bad Wildungen hat ganze Arbeit geleistet. Toni schaltet das Autoradio ein. Für einen Moment übertönt der Verkehrsfunk sogar die Fahrgeräusche des Kleinwagens. Es ist nicht Vikas Stimme, die den Bericht zur Verkehrslage liest, und Etienne spürt Sehnsuchtsschmerz in seiner Brust aufsteigen. Seit sie neben ihrem Studium beim Sender jobbt, wo sie in Jazza und Laurence große Fans ihrer Sprechstimme gefunden hat, kommt es immer wieder vor, dass sie die Verkehrsnachrichten im Hauptprogramm verlesen darf. Er sei sich nicht sicher, ob der Job zu mehr Umsicht oder größerer Ablenkung am Steuer führe, hat Etienne gewitzelt.

»Wie läuft’s mit Vika?«, fragt Toni in diesem Moment, als könnte er Gedanken lesen.

»Gut. Sie besucht mich morgen früh.«

In Heidelberg-Handschuhsheim angekommen, stellt Toni den Fiat auf den überdachten Behindertenparkplatz vor dem Mehrfamilienhaus, in dem Etienne eine Erdgeschosswohnung gehört.

»Soll ich dir noch bei irgendetwas helfen?«, fragt er, während er schon den Motor ausschaltet.

Etienne seufzt. »Du hast nicht ernsthaft Lust, meine Steuererklärung zu machen. Warum fragst du nicht einfach, ob du auf ein Bier mit reinkommen kannst?«

»Weil du eigentlich weißt, dass ich kein Bier trinke?«

»Korinthenkacker. Ich kenne jemanden, der dieser Tage extra alkoholfreies Pils angeschleppt hat.«

Toni schenkt ihm einen vorwurfsvollen Blick. »Warum machst du das?«

»Weil ich es kann.« Etienne lässt lachend seinen Bizeps spielen. »Los, raus mit dir!«

In seiner Wohnung verschwindet Toni im Bad und Etienne in der Küche. Er setzt für sich Teewasser auf und nimmt für seinen Freund eine Flasche Alkoholfreies aus dem Kühlschrank.

»Soll ich dir was …?« Toni erscheint im Türrahmen, als Etienne gerade das Wasser auf den Grünteebeutel in seiner Jumbotasse gießt.

»Setz dich einfach nach draußen. Ich komme gleich.«

Etienne holt Löffel und Flaschenöffner aus einer Schublade und legt beides zu der Bierflasche auf seinen Schoß. Dann nimmt er die Tasse in eine Hand und steuert seinen Rollstuhl nur mit der anderen aus der Küche und durch das Wohnzimmer. Toni hat inzwischen die große Schiebetür aufgezogen und sich auf den Balkon gesetzt. Durch die Hanglage des Hauses kombiniert Etiennes Wohnung die Vorteile eines ebenerdigen Eingangs mit einem weiten Ausblick vom Balkon über Handschuhsheim und das Neuenheimer Feld bis in die Rheinebene. Vor der Türschwelle kippt Etienne den Rollstuhl an und manövriert sich, immer noch einhändig, auf den Antriebsrädern nach draußen. Der Tee in der vollen Tasse schwappt, aber kein Tropfen tritt über den Rand.

Toni grinst. »Angeber.«

»Hättest du nicht versucht, mir Hilfe anzubieten, hättest du dein Bier allein raustragen dürfen. Aber so …« Etienne stellt seine Teetasse auf die hölzerne Weinkiste, die ihm als Balkontisch dient, und schickt sich an, Tonis Bierflasche zu öffnen. Seit dem Unfall vor über sechs Jahren ist die Feinmotorik in seiner linken Hand eingeschränkt. Insgesamt kommt er dank einer stabilisierenden Bandage dennoch gut zurecht, auch wenn er als eingefleischter Linkshänder für einige Verrichtungen alternative Lösungsabläufe entwickeln musste. Für das Öffnen einer Bierflasche hat er noch keinen gefunden, aber es stört ihn nicht, sich der Herausforderung immer wieder zu stellen – wäre da nicht die Erkenntnis, dass sich Kraft und Beweglichkeit seiner Finger in letzter Zeit verschlechtert haben.

»Hast du noch mal über die OP nachgedacht?«, erinnert Toni ihn prompt daran, dass ein hochdekorierter Professor glaubt, die Funktionalität seiner Hand durch eine weitere Operation verbessern zu können. Möglicherweise steckt auch seine Schwester dahinter, dass nun auch Toni ihm mit diesem Thema auf die Nerven geht. Etienne schüttelt den Kopf und reicht Toni die offene Flasche.

»Schlechter Zeitpunkt. Wir haben die Karateschule gerade erst eröffnet und meine Dissertation schreibt sich auch nicht von allein. Ich habe schon durch den letzten Klinikaufenthalt viel Zeit verloren, da lege ich mich nicht gleich ins nächste Krankenhausbett. Außerdem würde meine Hand nach dem Eingriff wochenlang in Gips stecken, und ich wäre so nützlich wie ein Vertikutierer im Kiesgarten. Das kannst du dir nicht ernsthaft wünschen.«

Toni sagt nichts dazu. Er stößt seine Bierflasche sacht an Etiennes Teetasse und nimmt einen Schluck.

»Jan entwickelt sich gut«, sagt er dann. »Vor allem mit Seval als Trainingspartnerin.«

Etienne lacht. »Ich denke, dass seine Mutter zu ihrer Familie zurückgekehrt ist, hat noch mehr dazu beigetragen. Noten besser, kein Schulverweis, freier Zugang zum Karatetraining.«

»Ob sein Vater das auf dem Schirm hatte, als er seine Frau die ehemalige Möbelmanufaktur für ihr Yoga-Studio auswählen ließ, in der zufällig noch genug Platz für eine Karateschule war?«

»Glückliche Fügungen sollte man nicht hinterfragen.«

Eine Weile sitzen sie einfach da, blicken zum Horizont und schweigen, männerfreundschaftlich verbunden, zu unterschiedlichen Themen. Als es schon dämmert, hören sie drinnen Schritte, und kurz darauf erscheint der ergraute Pagenkopf von Etiennes Nachbarin Brigitte in der offenen Schiebetür.

»Ach hier … seid ihr.« Ihr Blick fällt auf Toni, der sofort wegsieht und sich mit beiden Händen über den Schädel fährt, als wolle er seine nicht vorhandenen Haare shampoonieren. »Ich habe dir Cevapcici in den Kühlschrank gestellt. Für heute Abend oder morgen Mittag. Toni, wenn du magst, kannst du auch noch welche haben. Hackfleisch war im Angebot, und ich habe viel zu viel gekauft.«

Kaum fällt der Name des Nationalgerichts seiner kroatischen Heimat, weiten sich Tonis Augen. »Ich … ähm … wollte ohnehin gerade los.«

Er steht so hastig auf, dass der Plastikstuhl nach hinten kippt.

»Das ist gut, dann kannst du sie ja gleich mitnehmen«, sagt Brigitte, während Toni noch den Stuhl aufhebt und wohl irgendwo darunter nach Worten sucht. Etienne grinst.

»Alter, die Dinger sind schon fertig. Du brauchst nicht zu fürchten, dass Brigitte Körperteile von dir dazu verarbeitet, wenn du den Fuß in ihre Wohnung setzt.«

Toni brummelt Unverständliches und folgt tatsächlich Brigitte nach drüben.

Etienne trinkt seinen Tee aus und bringt Tasse und Bierflasche in die Küche. Dann leert er den Wäschetrockner, faltet T-Shirts und Hosen auf seinem Bett zusammen, verstaut alles im Kleiderschrank und macht sich bettfertig. Bis Mitternacht diktiert er der Spracherkennung seines Computers noch das nächste Kapitel seiner Dissertation, anschließend fährt er den Laptop herunter und schaltet das Licht aus. Durch die offene Schiebetür schlüpft die Katze herein. Maunzend springt sie auf das Bett und balanciert so lange auf seinen Beinen auf und ab, bis sie es schafft, in irgendwelchen Muskeln eine Spastik auszulösen. Dann legt sie sich zwischen seine zitternden Beine und fängt an zu schnurren.

»Gib Ruhe«, flüstert Etienne. »Wenn Vika kommt, hast du die längste Zeit zwischen meinen Beinen geschnurrt.«

Es beginnt gerade zu dämmern, als Etienne aufwacht. Es ist Hochsommer, das heißt, eigentlich ist es noch mitten in der Nacht. Schätzungsweise halb fünf. Aber er hat eindeutig den Schlüssel im Schloss seiner Wohnungstür gehört. Wer kommt um diese Zeit? Brigitte? Er kann sich nicht erinnern, dass er einen Albtraum gehabt hätte, und dass sie um diese Zeit sein Gefrierfach auffüllt, ist unwahrscheinlich. Toni? Die Probleme, die ihn umtreiben, haben normalerweise Zeit bis nach Sonnenaufgang. Zumal er es war, der sich vorhin erst um Etiennes Nachtschlaf gesorgt hat. Nadia? Kurz wird ihm vor Schreck heiß, als er an seine Ex-Freundin denkt. Seit ihrem letzten Versuch, ihn zurückzuerobern, hat sie sich nicht mehr gemeldet. Aber der Raum neben seinem Schlafzimmer ist noch immer voll mit ihren Möbeln. Irgendwann wird sie kommen, um die Sachen abzuholen. Vermutlich vor der Geburt ihrer Tochter. Aber doch hoffentlich nicht heute, mitten in der Nacht? Im Flur hört er eine Jacke rascheln und einen Schlüsselbund in der Schale auf dem Schuhschrank scheppern. Vic? Aber warum so früh? Er hört sie ihre Schuhe in die Ecke werfen. Eindeutig Vic. Hoffentlich vergewissert sie sich, dass sie nicht wieder in den Weg kullern, den er braucht, um die Kurve in die Küche zu schaffen. Sie flucht unterdrückt, und er hört das Schurren, mit dem sie ihre Treter beiseiteschiebt. Verdammt. Sein Herz schlägt schneller, ob vor Freude oder aus Panik ist ihm selbst nicht ganz klar. Sie sind noch keine drei Wochen zusammen, und er hat ihr gesagt, dass sie alles mit ihm anstellen darf, außer ihn im Bett zu überfallen. Er tastet unter der Bettdecke nach dem Plastikbeutel, in dem sich in den vergangenen Stunden bereits ein wenig Urin gesammelt hat. Sexy Querschnittlähmung. Yeah. Vika ist definitiv noch nicht bereit dafür, sich das Bett mit seinen Ausscheidungen zu teilen. Falsch. Er ist nicht bereit dafür.

Jetzt erscheint ihre Silhouette im offenen Durchgang zwischen Wohnzimmer und Schlafzimmer. Sie ist barfuß, trägt die ausgebeulte Pyjamahose mit den aufgedruckten Donuts und das T-Shirt mit dem gähnenden Panda. Ihre Haare sind oben auf ihrem Kopf zu einem unordentlichen Knoten gebunden, aus dem sich die vorderen Strähnen gelöst haben. Ohne Zweifel kommt Vika geradewegs aus ihrem Bett. Sie muss sich den Wecker gestellt und sofort ins Auto gesetzt haben. Wenn er sie jetzt in den Arm nähme, könnte er die Bettwärme noch spüren und ihren süßen Schlafgeruch tief einatmen.

»Hey«, sagt er leise, aber da er sich nicht bewegt hat, zuckt sie trotzdem zusammen. »Du bist zu früh.«

»Es ist immerhin schon heute«, rechtfertigt sie sich schwach.

»Ich möchte nicht, dass du jetzt ins Bett kommst.« Er hasst es, dass er klingt wie im Dojo. Unsicher hält sie inne.

»Aber ich bin hundemüde.«

»Du hättest weiterschlafen können.«

»Willst du, dass ich wieder gehe?« Jetzt klingt sie ängstlich. In seiner Brust spürt er den Stich. Er will sie nicht wegschicken. Aber er kann sie auch nicht in sein Bett lassen.

»Alternativ könntest du mir einen Cappuccino machen. Mit aufgeschäumter Milch.« Er wagt ein Lächeln, und in ihren Augen blitzt plötzlich so etwas wie Erkenntnis. Kopfschüttelnd dreht sie sich um und tappt in die Küche. Er hört, wie sie den Wasserkocher füllt. Dann richtet er sich auf und setzt in seinen Rollstuhl über. Er nimmt den Beutel auf seinen Schoß, zieht sich sein T-Shirt aus und legt es darüber, bevor er ins Badezimmer verschwindet.

»Ich weiß genau, was du machst!«, ruft Vika aus der Küche.

Hoffentlich nicht. Hoffentlich doch.

Er hasst es, Geheimnisse vor ihr zu haben, aber er will auch nicht darüber reden. Nicht jetzt. Später auch nicht. Er geht davon aus, dass sie weiß, dass er sich alle paar Stunden katheterisiert, aber nicht, dass er manchmal andere Lösungen bevorzugt. Missmutig schiebt er die Badezimmertür hinter sich zu. Müsste er sie darüber informieren? Vielleicht hat sie ja auch selbst recherchiert. Außerdem könnte sie ihn fragen. Auch wenn es schönere Themen in einer frischen Beziehung gibt: Er würde ihr antworten.

Jetzt leert er Beutel und Blase, befreit sich von seiner Nachtausrüstung und wäscht sich die Hände. Als er nur in frischen Boxershorts an Vikas in die Ecke geworfenen Schuhen vorbei durch den Flur rollt, ist die Küche leer. Es riecht weder nach Kaffee noch nach warmer Milch. Der Wasserkocher ist still. In seinem Bett findet er einen zwei Meter langen Bettdeckenwurm, aus dessen oberem Ende ein wirrer Haarknoten ragt.

»Du hast nur so getan, als würdest du Kaffee machen.«

Zwei grüne Augen blitzen zwischen Haarsträhnen hervor, ein rosiger Schmollmund schiebt sich über den Rand der Bettdecke. »Und du hast so getan, als wolltest du mich wieder nach Hause schicken.«

»Hey, ich bin ja wohl …!«

»… vom Schicksal gebeutelt. Ich weiß.« Sie gähnt provozierend, obwohl er wetten könnte, dass sie in genau dieser Minute hellwach ist. Unfassbar. Diese Frau ist einfach unglaublich. Etienne hält den Rollstuhl neben dem Bett und setzt sich auf die Matratze um.

»Das wird Konsequenzen haben«, murmelt er. Sein Herz galoppiert, sein Nacken kribbelt. Er kann es kaum erwarten, Vika in seine Arme zu schließen. Als er den Kopf auf das Kissen sinken lässt, fliegt die Decke hoch, und in der nächsten Sekunde ist Vika auf ihm.

»Das hoffe ich«, flüstert sie. Der Panda und die Donuts sind weg. Etienne sieht und spürt nur Vika, schlafweich und duftend. Ihre Haut auf seiner, ihre Lippen auf seinen. Er schlingt beide Arme um sie und lässt seine Hände über all die besonderen Stellen ihres Körpers wandern, als müsse er sich erneut von ihrer Existenz überzeugen.

»Ich hatte Sehnsucht nach dir«, sagt sie leise. Er schiebt ihr Bein über seine, legt den Arm noch ein bisschen fester um ihre Schulter und hebt den Kopf. Sie versteht sein Zeichen und dreht sich mit Schwung auf den Rücken, sodass er genau dort liegt, wo er bereits seit Stunden liegen möchte: auf ihr.

»Und ich erst«, murmelt er, während er sich ihren Hals entlangküsst. »Und ich erst.«

Freischwimmer

Schlaf ist für Vika ein Geschenk, das sie Traum für Traum entgegennimmt. Je tiefer sie schläft, umso wacher ist sie in ihrem Traum. Gerade ist sie im Großraumbüro des Radiosenders, bei dem sie dank der engagierten Fürsprache ihrer Freundin Jazza seit einigen Monaten offiziell als Studentische Aushilfe und inoffiziell als Nachwuchsmoderatorin arbeitet. Soeben eröffnet ihr die bunthaarige Redakteurin, die Programmdirektion habe beschlossen, dass die Moderatorinnen künftig die Musikstücke zwischen den Beiträgen selbst singen sollen. Durch die Digitalisierung sei die Konkurrenz größer geworden, man müsse den Hörerinnen und Hörern etwas Einzigartiges bieten. Vika ahnt, dass sie träumt, aber sie will das Problem trotzdem lösen. Sie schlägt Jazza eine verpflichtende Gesangsgrundausbildung für alle vor und bietet sich aufgrund ihrer Karaoke-Erfahrungen als Tutorin an. Sogar im Schlaf dämmert Vika, dass das Programm, das sie sich hier aufhalst, schwer durchzuziehen sein wird. Nicht zuletzt, weil sie sich vorgenommen hat, ab Oktober an der Uni wieder richtig Gas zu geben. Das Sommersemester hat sie dank Etienne, der sie sogar aus der Rehaklinik heraus noch mit Ideen für ihr Philosophiereferat unterstützte, gerade noch so zu einem guten Ende gebracht. Das vorherige Wintersemester dagegen musste sie nach Daniels Tod ebenso abhaken wie das vorangegangene Auslandssemester in Buenos Aires. Ein Jahr hat sie ihren Eltern auf der Tasche gelegen, ohne ihrem Masterabschluss näher zu kommen. Das muss sich nach dem Sommer dringend ändern. Aber wenn sie sich zum Wintersemester so diszipliniert organisiert wie Etienne, könnte sie die Gesangsausbildung für die Kolleginnen als wöchentlichen Fixtermin an eine ihrer Schichten hängen. Anstelle von Jazza steht ihrer beider Musikchef Laurence vor ihr und wiegt bedächtig das Haupt.

»Das Schwimmbad hat schon seit einer Stunde geöffnet.«

Ja klar. Und irgendwo fährt vermutlich gerade ein Zug von Gleis neun. Diese ganz und gar irrelevante Information kann nur aus der sogenannten Realität in ihren Traum funken. Aber dafür hat sie jetzt keine Zeit. Sie muss Laurence von ihrem Plan überzeugen. Vika dreht sich zur Seite und will sich die Decke über die Ohren ziehen, aber die klemmt fest. Sie zieht, so stark sie kann – und etwas, oder vielmehr jemand, landet unsanft auf ihrer Schulter.

»He!« Etienne. Sein leises Lachen erzeugt ein warmes Gefühl in ihrem Bauch, während er sich wieder aufrappelt. »Frühstück ist fertig. Sei froh, dass ich es nicht auf dem Schoß hatte, sonst würdest du jetzt schon schwimmen.«

O Mist. Sie hätte nicht so kräftig ziehen sollen. Aber was redet er da auch für dummes Zeug von Schwimmen und Schwimmbad? Sie muss den Gesangsunterricht für das Kollegium vorbereiten, sonst können sie das einzigartige Hörerlebnis vergessen.

»Lass mich schlafen. Es ist mitten in der Nacht.«

Etienne lacht, diesmal lauter. »Unsinn. Es ist gleich acht. Wir haben noch locker zwei Stunden geschlafen, nachdem du gekommen bist.«

Gekommen. Ja, richtig. Mehr als einmal. Sie erinnert sich.

»Es ist trotzdem zu früh.« Sie wälzt sich herum und drückt ihr Gesicht fester in das Kissen. Überraschenderweise lässt er tatsächlich von ihr ab, aber Vika bleibt keine Zeit, in ihren Traum zurückzufinden, da schallt auch schon französische Gute-Laune-Musik aus Etiennes Stereoanlage. Stöhnend dreht sie sich auf den Rücken. Je veux trällert Zaz, und irgendwo im Wohnzimmer dreht Etienne Pirouetten. Vika hört das Quietschen seiner Reifen auf den Holzdielen.

»Je veux dormir!«, ruft sie ihm zu. »Je ne veux pas schwimmen!«

»Wenn du willst, dass ich dir nachher Daniels Ergüsse übersetze, solltest du jetzt aufstehen.«

»Das ist Erpressung!«

»Nein, nur ein Versuch, dich in eine Diskussion zu verwickeln, die dich vom Weiterschlafen abhält.«

»Orr. Außerdem habe ich keine Badeklamotten dabei. Das ist das Killerargument. Ohne Badeanzug kein Schwimmbadbesuch. Gute Nacht.«

»Du enttäuschst mich. Natürlich habe ich vorgesorgt. Du kannst den Badeanzug von Marie-Lou nehmen. Dürfte in etwa passen. Croissants sind übrigens jetzt fertig.« Die letzten Worte ruft er bereits aus der Küche, aus der der Backofenalarm ertönt.

Dass er sie zur Unzeit aus dem Bett scheucht, hat natürlich rein gar nichts damit zu tun, dass sie ihn heute Nacht überfallen hat. Dabei weiß sie längst, dass viele Menschen mit einer kompletten Querschnittlähmung nachts Inkontinenzprodukte verwenden oder sich nach mehreren Stunden Schlaf vom Bett aus noch einmal katheterisieren. Sie versteht nicht, warum Etienne sich den Stress antut, morgens in aller Frühe das Bad aufzusuchen, statt entspannt durchzuschlafen. Sie seufzt. Über den Gesangsunterricht für die Radiokollegen braucht sie sich keine Gedanken mehr zu machen. Stattdessen muss sie einen anderen Weg finden, Etienne davon zu überzeugen, dass er ihr, was auch immer er unter seiner Bettdecke verbirgt, zumuten kann.

»Vic! Letzte Verwarnung!«, hört sie ihn rufen.

Je veux d'l'amour, d'la joie, de la bonne humeur, singt Zaz.

»Ist das gerade eigentlich eine Retourkutsche für heute Nacht?«, brüllt sie gegen Zaz an. Aus der Küche hört sie Lachen.

»Das gerade noch nicht.« In der nächsten Sekunde kommt Etienne auch bereits um die Ecke, eine Wasserpistole auf dem Schoß.

Aber bevor er sie zur Hand nehmen kann, hat Vika schon die Bettdecke beiseitegeworfen und ist aus dem Bett gehüpft.

Eine Stunde später fahren sie am Bismarckplatz in die Tiefgarage des Darmstädter Hof Centrums. Aus dem CD-Spieler schallt koreanischer Pop, und als Etienne gleich im ersten Untergeschoss auf den Behindertenparkplatz direkt neben den Aufzügen einbiegt, hupt der Mercedes-Fahrer hinter ihm. Etienne lacht nur und ruft ein fröhliches, »Danke, ich weiß, dass mein Auto nicht behindert aussieht«, aus dem offenen Fenster. Vika grinst. Sie liebt seine unaufgeregte Art im Umgang mit Menschen, die ihn unangemessen behandeln. Er schaltet den Motor aus, zieht in Zeitlupe den Schlüssel ab und schenkt ihr ein Lächeln, das ihr augenblicklich Herzrhythmusstörungen beschert. War es eben schon so heiß in diesem Auto? Sie sieht ihn an, und er grinst noch breiter.

»Na los, steig schon aus«, fordert er sie auf.

Sie kennt das Spiel. Wenn sie zusammen mit dem Auto unterwegs sind, besteht er darauf, seinen Rollstuhl selbst ein- und wieder auszuladen. Dazu verstaut er vom Fahrersitz aus die abnehmbaren Antriebsräder hinter dem Beifahrersitz und hebt Sitzkissen und Rahmen auf die Rückbank. Um Vika dabei nicht mit den sperrigen Teilen zu verletzen, bittet er sie stets, nach ihm ein- und vor ihm auszusteigen. Einmal hat sie ihm angeboten, den Rollstuhl für ihn im Kofferraum zu verstauen, aber da hat er sie angesehen, als hätte sie ihn beleidigt. Seiner Ansicht nach reicht es, wenn sie ihm draußen hier und da über Stufen hilft oder ihm in schmalen Durchgängen Türen aufhält. Sein wichtigstes Hilfsmittel zu verstauen, schafft er sehr gut allein.

Er sieht sie immer noch an, eine Hand am Lenkrad, die andere bereits hinter ihrem Sitz und auf den Lippen dieses Lächeln, das einen ganzen Schwarm Schmetterlinge in ihrer Brust Rumba tanzen lässt.

»Geht nicht«, flüstert sie, und bevor er etwas erwidern kann, schlingt sie den Arm um seine Schultern und küsst ihn. Das Aussteigen eilt nun doch nicht mehr so sehr. Etienne vertieft sich nur zu bereitwillig in das Spiel ihrer Zungen und entzündet überall ein Feuerwerk, wo seine Fingerspitzen sie berühren. Erst als ihre Haut großflächig in Flammen steht, beendet er ihren Kuss.

»Fortsetzung folgt«, murmelt er und dirigiert sie sanft Richtung Autotür.

Vika wartet an der Fahrerseite auf ihn. Anfangs ist sie sich unsicher gewesen, ob sie während seines Transfers lieber woanders hinschauen sollte, aber inzwischen ist es ganz normal, dass sie ihm dabei zusieht. Vorsichtig hebt er den Rollstuhlrahmen mit den speziellen Lenkrädern, die beim Rollen blinken, zwischen den Vordersitzen hindurch und über seinen Schoß, bevor er ihn neben der geöffneten Autotür auf den Boden legt. Dann holt er die großen Antriebsräder auf dem gleichen Weg nach draußen. Anstelle von Speichen haben sie Chromfelgen, die das japanische Peitschenrad formen, eine Rarität aus den USA, die ihm regelmäßig Komplimente von Fremden beschert. Nein, für einen Rollstuhl muss man sich nicht schämen. Man kann sehr gut auch stolz auf ihn sein. Dass hat Vika an Etiennes Seite schnell verstanden.

Jetzt lässt er die Steckachsen einrasten, legt das schwarze Kissen auf die Sitzfläche, dreht sich den Stuhl für den Transfer zurecht und stellt die ihm zugewandte Bremse fest. Während er sich umsetzt, spannt sich die gut trainierte Muskulatur seiner Schultern unter dem weißen T-Shirt, und durch den breiten Riss in seiner verwaschenen Blue Jeans erspäht sie die weiche, weiße Haut über seinem linken Knie. Im Gegensatz zu den ausgetretenen Chucks, die, wie sie inzwischen weiß, nicht aus seiner Zeit als Fußgänger stammen, sondern von Marie-Lous Freund Marc, sind die Abnutzungen seiner Jeans an den Oberschenkeln echt. Immer wieder transportiert er Tabletts, Taschen und Kisten auf seinem Schoß, sodass selbst der dicke Jeansstoff mit der Zeit durchscheuert. Ihr Herz schwillt vor Zärtlichkeit an. In den vergangenen Wochen hat sie so manche von Etiennes Besonderheiten kennen- und lieben gelernt. Dass er ihr Freund ist, fällt ihr immer noch schwer zu glauben.

Er schiebt sie zur Seite und schließt die Autotür. Dann nimmt er ihre Hand. Wie ein Freund das eben mit seiner Freundin so macht. Dazu sieht er zu ihr hoch, und sein Lächeln erwischt sie wieder mit der Intensität des allerersten Mals. Bäm! Vika wird heiß. Ruhig Blut, redet sie sich selbst zu. Er ist wirklich mein Freund. Etienne. Ist. Mein. Freund.

»Komm. Gehen wir«, sagt er und zieht sie zum Ausgang.

Im Vorraum an den Aufzügen legt er seinen Arm um ihre Hüfte. Vika beugt sich zu ihm und stiehlt ihm einen Kuss, aber da hält schon der Fahrstuhl mit einem Pling! auf ihrer Etage, und sie müssen ausweichen, um den Leuten Platz zum Aussteigen zu geben.

»Awww, wie süß!«, entfährt es einer Frau, die mit ihrem Mann und einer riesigen Tüte des Elektronikmarktes aus der Kabine tritt und Vika und Etienne verklärt anlächelt. Vika spürt Etiennes Hand in ihrer und lächelt zurück. Sie ist froh, mit ihm zusammen zu sein. Glitzerkonfettiregenfroh und stolz. Weil sie sich nicht von einem Rollstuhl abschrecken lässt, sondern ganz ungezwungen damit umgeht.

Glaubt sie.

Zumindest noch für die nächste Viertelstunde.

Im Schwimmbad steuert Etienne auf eine Umkleidekabine mit dem Rollstuhlfahrersymbol an der Tür zu. Vika stellt ihre Tasche auf der Bank ab, während Etienne den Riegel vor die Tür schiebt. Plötzlich wirkt er unsicher.

»Soll ich dir bei irgendwas helfen?«, fragt sie.

»Ähm, nein. Halt einfach meinen Anblick aus.«

Haha. In den folgenden Minuten ist jeder für sich mit Umziehen beschäftigt. Vika hat darauf bestanden, sich vor der Abfahrt in Etiennes Badezimmer davon zu überzeugen, dass sie mit dem Badeanzug seiner Schwester nicht aussieht wie eine Vogelscheuche. Aber tatsächlich erstreckt sich Marie-Lous hervorragendes Stilbewusstsein auch auf Bademode, und der schwarze Einteiler ist aus einem so angenehm weichen und gleichzeitig elastischen Material, dass er sich perfekt an Vikas kurvenärmeren Körper schmiegt. Sie hat das gute Stück gleich anbehalten und lediglich ihre Unterwäsche für danach in eine Plastiktüte gesteckt. Jetzt stellt sie fest, dass auch Etienne seine Badehose bereits trägt. Der blauweißkarierte Stoff seiner Bermudas reicht fast bis zu seinen Knien, die im grellen Kunstlicht der Umkleide ebenso blass und knochig aussehen wie seine Füße. Seit er sich der Jeans entledigt hat, stehen sie nachlässig schräg auf der Fußstütze. Vika besinnt sich, ihre Kleidungsstücke zusammenzulegen und in der Tasche zu verstauen, statt Etienne anzugaffen, der sich aus seinem T-Shirt schält. Das ungnädige Neonlicht zeichnet die Narbe, die sich von der Höhe der Schulterblätter bis fast zum Bund seiner Jeans seine Wirbelsäule hinunterzieht, in ungesundem Pink. Auch die kürzere, die von vorn rechts kommend sichelförmig um seine Rippen verläuft, sticht bei dieser Beleuchtung viel deutlicher hervor. Autsch. Plötzlich bekommt seine Bitte, seinen Anblick auszuhalten, eine ganz andere Bedeutung.

»Fertig?« Etienne grinst zu ihr hoch, löst die Bandage von seiner linken Hand und wirft sie ebenfalls in die Sporttasche.

Er hat ihr nie erklärt, was genau damals bei dem Unfall mit seiner Hand passiert ist, aber es müssen mehr als gewöhnliche Knochenbrüche gewesen sein. Schließlich hat er als geborener Linkshänder auch sechs Jahre danach noch Schwierigkeiten bei feinmotorischen Tätigkeiten. Die Bandage schützt und stützt, sodass er sie oft nicht einmal nachts ablegt. Jetzt lässt das unvorteilhafte Licht die zahlreichen Narben violett leuchten. Vika greift schnell nach der Sporttasche.

»Ja«, beantwortet sie seine Frage, stellt ihm die offene Tasche auf den Schoß und entriegelt die Kabinentür.

Vor den Schließfächern steuert Etienne in einen Gang, in dem zwei tropfnasse, voluminöse Frauen mittleren Alters gerade zwei vollbehängte Kleiderbügel aus einem Garderobenschrank ziehen. Etienne weicht ihren auf dem Boden abgestellten Schuhen aus, wobei die Bandage aus der Tasche rutscht. Er kann sie gerade noch auffangen, aber die plötzliche Bewegung löst eine Spastik in seinem rechten Bein aus. Es beginnt, heftig zu zittern, sein Fuß rutscht von der Fußstütze, die Tasche seitlich von seinem Schoß. Im Fallen dreht sie sich, und der gesamte Inhalt verteilt sich in den Pfützen auf den Bodenfliesen. Die beiden Frauen zucken zusammen.

»Sorry«, stößt Etienne hervor, der so abrupt stoppt, dass Vika gegen ihn rempelt. Reflexartig hält sie sich an seiner Schulter fest. Dabei bemerkt sie, wie die Frauen Etienne anstarren. Und wie anders ihre Blicke sind als die, die ihm die Menschen in seinem Umfeld normalerweise zuwerfen. Diese Frauen sehen nur einen jungen Mann, dessen blasse, kraftlose Beine spastisch zittern und der sich mit einer deformierten Hand voller Narben an seinen Rollstuhl klammert und alles, was Vika in ihren Augen ausmachen kann, ist Mitleid – und vielleicht noch eine Spur Abscheu. Das macht Vika wütend. Gleichzeitig wächst ihr Bedürfnis, wenigstens die Narbe auf seinem Rücken vor diesen Blicken zu schützen. Himmel, warum hat Etienne seine Füße nicht richtig auf die Fußstütze gestellt? Warum hat er ihr nicht gesagt, dass sie die Tasche nehmen soll? Dann wären sie gar nicht erst in diese Situation gekommen, in der die eine Frau sich jetzt aus ihrer Schockstarre löst, ihren Klamottenbügel zurückhängt und tatsächlich fragt, ob sie helfen kann.

»Nein! Es geht schon.« Vikas Stimme klingt schrill, als sie sich fast schon panisch an Etienne vorbeischiebt, neben ihm in die Hocke geht und anfängt, ihre Sachen zurück in die Tasche zu stopfen. Die Frau reicht ihr einen von Etiennes Schuhen, und Vika hört, wie er sich bedankt, während sie der Frau wortlos den Schuh aus der Hand reißt und mit den anderen Sachen verstaut. Warum muss die Trulla fremden Krempel aufheben, wenn man ihr doch sagt, dass man keine Hilfe braucht! Wenigstens trollt sie sich mitsamt ihrer Begleiterin, erspart Vikas Ohren jedoch nicht ein zu laut getuscheltes »Also ich könnte das nicht …«, woraufhin Vika die unschuldige, inzwischen verschlossene Sporttasche in das nächstbeste Schließfach rammt, und sich gerade noch zurückhalten kann, den übergewichtigen Kühen nicht laut hinterherzurufen, dass sie das auch nicht kann. Ganz offensichtlich kann sie es nicht, auch nicht, nachdem sie sich keine zwanzig Minuten vorher noch am liebsten selbst auf die Schulter geklopft hätte, weil sie die supertolerante Freundin des besonderen Mannes ist. Sie kann es nicht und macht deshalb alles nur schlimmer, blamiert sich mit ihrem Verhalten vor fremden Frauen und vor ihrem Freund, dem sie gerade unausgesprochen vorgeworfen hat, sie in diese Situation gebracht zu haben, weil er seine Gliedmaßen ihrer Meinung nach nicht richtig arrangiert hat. Auch vor sich selbst blamiert sie sich, weil sie am Ende sogar noch gedanklich die Frauen für ihre Körperform beleidigt hat, obwohl das sonst gar nicht ihre Art ist und die Frauen dafür so wenig können wie Etienne für seine Behinderung.

»Vic?«

Sie fährt herum und sieht hinunter in Etiennes verlegenes, aber nicht minder hübsches Gesicht.

»Wir brauchen das Duschzeug. Und der Euro für das Schließfach ist auch noch in der Tasche.«

Zehn Minuten später verstaut Etienne ihre Handtücher, Shampoo und Duschgel in einem der Regalfächer an der langen Seite der Schwimmhalle und rollt zum Beckenrand. Im Gegensatz zu Vika hat ihn das Missgeschick von eben nicht weiter verunsichert. Als der Mitarbeiter, der ihnen die barrierefreie Einzeldusche aufschließt, ihm erzählt, dass er neulich schon mal einem jungen Rollstuhlfahrer die Dusche aufgeschlossen habe, ob er den vielleicht kenne, kontert er: »Nein, aber Sie sind sicherlich der Bruder von dem Mann, der mir letzte Woche die gleiche Frage gestellt hat.«

Dem Mann geht ein Licht auf. »Sorry, blöde Frage«, murmelt er, bevor er Etienne und Vika in dem kleinen gefliesten Raum allein lässt. Unter der Dusche macht Etienne sich einen Spaß daraus, Vika mit Shampooschaum zu bewerfen, sodass auch sie sich langsam wieder entspannt. Kaum in der Schwimmhalle, saust er auf den Bademeister zu.

»Timo, an dem Klappsitz in der barrierefreien Dusche ist möglicherweise eine Schraube lose. Du solltest unbedingt den Sitz reparieren, bevor sich jemand verletzt.«

Der muskulöse Typ, dessen tiefschwarzer Haarwuchs auf dem Kopf und im Gesicht auf die exakt gleiche Länge gestutzt ist, mustert ihn skeptisch. »Aber vielleicht ist da gar nichts kaputt. Sicher bist du dir ja nicht.«

»Hey, ausnahmsweise saß ich auf dem Sitz und lag nicht darunter. Geh doch einfach nachgucken.«

»Klar, und wenn ich das tue, springt jemand vom Beckenrand.«

Etienne lacht. »Du hast seltsame Fantasien. Meine Freundin ist verantwortungsbewusst, sie würde niemals springen.«

Timo legt den Kopf schief und zieht mit dem Zeigefinger ganz leicht sein rechtes unteres Augenlid herunter. Dann verschwindet er im Duschbereich.

Sofort dreht Etienne seinen Rollstuhl, sodass die blinkenden Vorderräder im seichten Wasser direkt an der Kante stehen, rutscht auf der Sitzfläche nach vorn und schiebt seine Füße von der Fußraste.

»Komm, hilf mir mal.«

Lachend streckt er die Hand nach ihr aus, und Vika tritt zögernd an seine Seite. Sie will sich nicht wieder blamieren, aber wenn sie ihn jetzt hochheben soll, weiß sie nicht, ob sie so nah am Wasser überhaupt sicher steht. Seine Finger schließen sich warm und fest um ihren Unterarm. Im nächsten Moment folgt ein kräftiger Stoß. Sie kreischt auf, dann schlägt auch schon das Wasser über ihrem Kopf zusammen. Als sie sich zurück zur Oberfläche kämpft und prustend Luft holt, taucht Etienne neben ihr auf. Also hat er den Schwung, den er ihr verpasst hat, genutzt, um selbst ins Wasser zu kommen. Physik beherrscht er.

»Mistkerl!«, ruft sie ihm zu und schlägt mit der flachen Hand auf das Wasser. Doch das hält ihn nicht davon ab, mit einem halben, trägen Kraulzug die kurze Distanz zwischen ihnen zu überwinden. »Ha! Du brauchtest eine Abkühlung, und außerdem …« Er legt seine Unterarme auf ihre Schultern und zieht sich näher. »… habe ich dich schon wieder viel zu lange nicht umarmt.«

Seine nassen Wimpern flattern über dem außergewöhnlichen Farbenspiel seiner Augen. Waldsee im Herbst. Jetzt verstärkt das Schwimmbad den Blauanteil in seiner von Grün und Braun dominierten Iris.

»Und du glaubst, dass du es dir ausgerechnet mit dieser pubertären Aktion verdient hast?«

Sie lacht, wartet auf seinen Kuss, aber er zögert.

»Okay«, sagt er schließlich. »Du findest es nur mäßig witzig, ins Wasser geschubst zu werden. Verständlich. Aber mich kennst du immerhin. Und ich habe das auch nur gemacht, um dir meine erste Begegnung mit Daniel zu demonstrieren. Übrigens genau an dieser Stelle.«

»Du hast ihn ins Wasser gestoßen?«

»Nein. Er mich.«

Fassungslos starrt Vika ihn an. Sie hat gewusst, dass Etienne und Daniel sich aus dem Schwimmbad kannten. Aber wie genau sich ihre erste Begegnung abgespielt hatte, hat Etienne ihr nie erzählt. Er hat Daniel nicht gemocht und daraus auch nie ein Hehl gemacht, weder ihr noch ihm gegenüber. Aus irgendwelchen Gründen hatte er dennoch eingewilligt, Daniels schwerbehinderter Schwester Anna Tipps für ein mögliches Studium zu geben. In der Folge hatte er mehr über Daniel erfahren, als ihm lieb gewesen war.

»Aber … warum?«

Etienne zuckt mit den Schultern. »Weil er ein Arschloch war.«

Mit diesen Worten wirft er sich mit Schwung rückwärts ins Wasser, dreht sich in der Bewegung und krault los.

»Hey, warte! Erzähl mir gefälligst die ganze Story!«

»Sobald du mich einholst!« Seine Schultern rotieren, seine Arme teilen das Wasser, und während Vika noch die Augen verdreht, taucht er schon unter der ersten orange-weißen Kette hindurch, die auf der linken Seite des Beckens Bahnen für die Sportschwimmer abteilt. Es ist lange her, dass Vika zum letzten Mal auf Tempo geschwommen ist, aber das hier ist eine Frage der Ehre. Also taucht auch sie kurz unter und nimmt die Verfolgung auf. Etiennes Vorsprung wird kleiner, ihn vor dem Ende der Bahn einzuholen, bleibt dennoch illusorisch. Als er den Beckenrand erreicht, taucht er unter der nächsten Trennkette hindurch und biegt in die benachbarte Bahn ab. Vika spürt ihren Puls im Hals und Erschöpfung in ihren Armen. Sie holt noch einmal Luft, um ebenfalls unter der Kette hindurchzutauchen und Etienne den Weg abzuschneiden.

»Das ist unfair!«, beschwert er sich, kommt aber weiter auf sie zu.

»Daniel hat dich ins Wasser geschubst.« Vika keucht. »Und was geschah dann?«

Etienne legt den Kopf in den Nacken. Nur mit leichten Armbewegungen hält er sich über Wasser, während er zur Schwimmbaddecke hinaufsieht.

»Dann bin ich untergegangen.«

»Was? Wieso? Du kannst doch super schwimmen!«

»Aber ich lasse mich nicht von einem wildfremden Wichser ins Wasser stoßen.«Etiennes Ausdruck wird hart. »Also bin ich untergegangen.«

Vika starrt ihn wütend an, während sie sich mit Armen und Beinen rudernd in der Schwebe hält.

»Du bist untergegangen«, wiederholt sie.

»Jupp. Im Flug noch mal tief Luft geholt und dann abgesunken bis auf den Grund. Hübsche Fliesen da unten. Hellblau. Hab leider vergessen, wie viele ich gezählt habe.«

Den letzten Satz stößt er wütend hervor, dreht sich in die Bauchlage und krault die Bahn zum entfernteren Beckenrand.

»Hey!«, ruft Vika. Aber Etienne macht keine Anstalten, auf sie zu warten. Im Gegenteil, er scheint das Tempo angezogen zu haben. Vika folgt ihm, so schnell sie kann. Diesmal wartet er am Ende der Bahn auf sie.

»Und was ist dann passiert?«, japst Vika. »Ist Daniel dir nachgesprungen?«

Das Farbenspiel seiner Iris funkelt mit den Lichtreflexen auf der Wasseroberfläche um die Wette.

»Timo ist mir nachgesprungen. Daniel stand am Beckenrand und hat gegrinst.«