Eine Lady für den brennenden Baron - Felicity D'Or - E-Book

Eine Lady für den brennenden Baron E-Book

Felicity D'Or

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Beschreibung

Ist der Ruf erst ruiniert, lebt es sich ganz ungeniert. Nicht im Fall von Mathilda Dorring. Einer Lady, die ihren guten Ruf verspielt hat, stehen nicht viele Optionen offen. Der Posten einer Gouvernante im hinterwäldlerischen Wales kommt da wie gerufen. Niemand wird sie dort vermuten und sie kann in Ruhe ihre Wunden lecken. Für Jasper Fallon ist es eine glückliche Fügung, Mathilda als Gouvernante für seine Schwester zu finden. Niemand sonst möchte die Stelle auf dem abgelegenen walisischen Landgut antreten. Seit einem folgenschweren Unfall, der ihn vernarbt und einsam zurückließ, haben ihn die Bewohner der Gegend den ‚brennenden Baron‘ getauft und meiden ihn und seine Familie. Obwohl er vermutet, dass die junge Frau ein Geheimnis mit sich trägt, stellt er sie ein. Die beiden Außenseiter kommen sich viel näher als gedacht, bis die Welt in ihre Idylle vordringt und sie sich ihr stellen müssen.

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Eine Lady für den brennenden Baron

 

Enterprising Ladies 4

 

Felicity D'Or

 

 

 

 

Inhalt:

 

Ist der Ruf erst ruiniert, lebt es sich ganz ungeniert.

Nicht im Fall von Mathilda Dorring. Einer Lady, die ihren guten Ruf verspielt hat, stehen nicht viele Optionen offen. Der Posten einer Gouvernante im hinterwäldlerischen Wales kommt da wie gerufen. Niemand wird sie dort vermuten und sie kann in Ruhe ihre Wunden lecken.

Für Jasper Fallon ist es eine glückliche Fügung, Mathilda als Gouvernante für seine Schwester zu finden. Niemand sonst möchte die Stelle auf dem abgelegenen walisischen Landgut antreten. Seit einem folgenschweren Unfall, der ihn vernarbt und einsam zurückließ, haben ihn die Bewohner der Gegend den ‚brennenden Baron‘ getauft und meiden ihn und seine Familie. Obwohl er vermutet, dass die junge Frau ein Geheimnis mit sich trägt, stellt er sie ein.

Die beiden Außenseiter kommen sich viel näher als gedacht, bis die Welt in ihre Idylle vordringt und sie sich ihr stellen müssen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Impressum

 

Copyright © 2020 Felicity D‘Or

Alle Rechte vorbehalten.

 

Covergestaltung:

Coverdesign: Giusy Ame / Magicalcover.de

Bildquelle: Shutterstock 1192812514, iStock 476175459, Depositphotos

 

Korrektorat: Sabine Klug

 

Herausgeberin:

Veronika Prankl

Auenstraße 201

85354 Freising

[email protected]

 

Sämtliche Texte und das Cover dieses Buches sind urheberrechtlich geschützt. Eine Nutzung oder Weitergabe ohne Genehmigung des jeweiligen Urhebers oder Rechteinhabers ist nicht zulässig und daher strafbar.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Eine Lady für

den brennenden Baron

 

 

 

Enterprising Ladies 4

 

 

 

 

 

 

Prolog

 

Elmsford, Oxfordshire, Ende März 1817

 

Diese wenigen Sätze waren das Schwierigste, was Mathilda Dorring jemals zu Papier bringen musste. Nur ein paar Wörter, würde man meinen, aber sie bedeuteten für die junge Frau so viel.

Gerechtigkeit.

Abschied.

Ungewissheit.

Schon der dritte Versuch lag vor ihr, die beiden vorigen zerknüllt, weil Tränen auf den ersten getropft waren und sie beim zweiten Anlauf so gezittert hatte, dass ihre Schrift kaum lesbar gewesen war. Mathilda atmete tief ein, versuchte, ihre Finger zu beruhigen, doch die schwerwiegenden Folgen dessen, was sie zu tun gedachte, machten ihr Angst. Die Angst wiederum ließ ihr Herz laut klopfen und sandte Zweifel in den Vordergrund.

Erschüttert erhob sie sich von dem kleinen Sekretär und trat ans Fenster, das den Garten überblickte, der ihren Vater so stolz gemacht hatte. Dieses Schreiben würde nicht nur ihren Ruf zerstören, sondern auch den Namen Dorring schädigen.

Und dennoch blieb ihr nichts anderes übrig. Sie hatte einen Fehler gemacht und musste für diesen geradestehen.

Mathildas Ruf könnte nur gerettet werden, wenn ihr Cousin Richard sie heiratete. Wozu sie ihn versucht hatte zu zwingen. Sie hatte ihm aufgelauert, ihr Kleid zerrissen und dafür gesorgt, dass sie in eindeutiger Pose gesehen wurden. So hatte sie das Eheversprechen erhalten, das Mutter und ihr den Status sichern sollte.

Bis sie gesehen hatte, was sie dadurch angestellt hatte. Richard liebte eine andere. Und sie hatte zu spät erkannt, dass sie nicht die Ehefrau eines Mannes sein wollte, der sie verachtete. Dessen Großherzigkeit sie auf Drängen ihrer Mutter und Freunde ausgenutzt hatte, um ihm eine Falle zu stellen, die ihn zwang, sie zu ehelichen. Denn Richard hatte sich ihnen gegenüber immer anständig verhalten. Nur ihre Mutter hatte ihn gehasst, weil er erbte, da sie keinen männlichen Nachwuchs vorzeigen konnte. Und Mathilda hatte sich auf das perfide Spiel eingelassen. Nichts von alledem hätte passieren müssen, wenn sie ein wenig mehr Rückgrat gezeigt hätte.

Wie dumm sie gewesen war. Sich selbst hatte sie ein Bein gestellt. Denn sie würde niemals Lady Dorring sein und das ruinierte ihren Ruf in den Augen der Gesellschaft.

Doch was geschehen war, ließ sich nicht mehr ändern. Sie konnte nur mehr versuchen, für Richard und Lucy den Weg frei zu machen, indem sie öffentlich die Verantwortung für ihre Taten übernahm. Mit allen Konsequenzen.

Entschlossen ergriff sie die Feder und schrieb:Miss Mathilda Dorring löst die Verlobung mit Viscount Richard Dorring zum heutigen Tage.

Kurz und auf das Wesentliche beschränkt. Was gab es auch mehr zu sagen? Diese dreizehn Worte besiegelten ihre Zukunft. Sie war in kompromittierter Pose auf einem Ball gesehen worden und nur eine Heirat mit dem entsprechenden Herrn könnte diese Schande in Vergessenheit geraten lassen.

Routiniert streute sie Salz über die Tinte, faltete das Kuvert und adressierte es an die Times in London. Dann verfasste sie eine Notiz an Richard und versiegelte diese ebenfalls.

Das war ihr Hochzeitsgeschenk für Richard und Lucy. Sie gab ihn frei, da er niemals für sie bestimmt gewesen war. Ihr Cousin würde erst davon hören, wenn sie weit fort war. Ein wenig hatte sie ein schlechtes Gewissen, weil sie sich von Elmsford heimlich wegstahl, aber sie wusste, dass Richard sie nicht einfach gehen lassen würde. Trotz allen Ärgers, den sie ihm eingebrockt hatte, war sein Angebot an sie, im Herrenhaus wohnen zu bleiben, aufrichtig gemeint. Nach allem, das sie ihm angetan hatte, nahm er seine Verantwortung als Oberhaupt der Familie Dorring immer noch ernst genug, um sich um sie zu sorgen.

Das hatte sie gar nicht verdient.

Denn selbst wenn Richard und seine geliebte Lucy ihr verziehen, so konnte sie selbst das nicht. Mathilda hatte es zugelassen, benutzt zu werden. Hatte sich für die Zwecke ihrer Mutter einspannen lassen und nicht ein einziges Mal dagegen aufbegehrt. Mit dieser Last musste sie nun leben.

Aber nicht als geduldete Verwandte in ihrem Elternhaus.

Mathilda sah auf den schäbigen Koffer, den sie im Speicher gefunden hatte, und das Bündel Kleider daneben. Ihre einfachsten Gewänder. Dazu hatte sie die Reste ihres Nadelgeldes gepackt und ein Schmuckset, das Vater ihr geschenkt hatte.

Sie wollte nichts von Richard annehmen. Wenn sie sich jemals wieder im Spiegel ansehen wollte, ohne vor Abscheu zu vergehen, musste sie sich ein eigenes Leben schaffen.

Es war beinahe Morgen, als Mathilda durch die Eingangshalle schlich, wo sie die Briefe für den Butler bereitlegte, der sich darum kümmern würde.

Dann schlich sie hinaus in den kalten Frühlingsmorgen und machte sich auf den Weg ins Ungewisse.

 

 

 

Kapitel 1

 

Bristol April 1817

 

Unentschlossen blieb Mathilda stehen, nachdem die schwere Eichentür des Hauses hinter ihr mit einem dumpfen Schlag zugefallen war. Wohin sollte sie sich jetzt wenden? Mrs Shufflebothams Agentur für Hausangestellte war ihre letzte Hoffnung gewesen.

Mit eisernem Willen hatte sie sich daran geklammert, hatte sich wieder und wieder gesagt, dass es doch möglich sein müsste, mit ihren Fähigkeiten irgendwo einen Posten als Gouvernante oder Gesellschafterin zu ergattern.

Hieß es nicht immer, die aufstrebenden Klassen von Kaufleuten und Fabrikanten suchten händeringend nach dem letzten Schliff für ihre Töchter, um diese dann an Aristokraten zu verheiraten? Das hatte man ihr zumindest immer gepredigt. Die Konkurrenz schlafe nicht, hatte es geheißen, und eine Lady müsse zusehen, dass sie sich schnell und gut verheiratete, bevor ihr ein Emporkömmling mit mehr Geld als Stil die besten Männer wegschnappte.

Nun, das Thema hatte sich für sie mittlerweile erledigt. Mathilda würde niemals heiraten. Und offensichtlich benötigten die Kaufleute auch keine Gouvernanten. Zumindest keine wie sie. Wieder etwas, das sie zu wissen glaubte und das sich als falsch erwiesen hatte.

Ratlos sah die junge Frau auf den kleinen Koffer, der ihre Besitztümer beinhaltete. Sie hatte kaum noch Geld. Das meiste ihrer mageren Reserven war für die Reise nach Bristol draufgegangen. Das kleine Zimmer in einer Pension war bis zum Ende der Woche bezahlt. Sie traute der Vermieterin nicht, deshalb nahm sie den Koffer immer mit sich, wenn sie das Gebäude verließ.

Aber was kam danach? Müde lief sie über die Straße zu der kleinen Grünfläche. Dort setzte sie sich auf eine Bank. Der April hatte Sonnenschein gebracht. Rundum blühten bunte Blumen und die Vögel zwitscherten. Es war angenehm, sich von der Sonne wärmen zu lassen. Einen Augenblick schloss sie die Augen und stellte sich vor, zu Hause im Park ihres Vaters zu sein. Aber Vater war tot und Elmsford war nicht länger ihr Zuhause.

Ernüchtert fiel Mathildas Blick wieder auf die abweisende Tür der Agentur. Ein Herr, der etwas heruntergekommen wirkte, betrat soeben das Gebäude. Ob er wohl auch Arbeit suchte?

Mrs Shufflebotham, eine würdevoll ergraute Dame mit einer prägnanten Hakennase, hatte Mathilda vorhin selbst empfangen. Zuerst hatte sie das noch für ein gutes Zeichen gehalten. Schnell wurde sie allerdings eines Besseren belehrt.

„Sie sind kaum zwanzig Jahre alt, Miss, und haben keinerlei Referenzen!“ Kalte Augen hatten sie taxiert.

„Ich spreche fließend Französisch, kann Sticken, Harfe spielen und Aquarelle malen“, hatte Mathilda sich beeilt zu sagen. „Zudem weiß ich, wie man sich in Gesellschaft benimmt, und ich verlange nicht viel.“

„Hören Sie“, hatte die ältere Dame angefangen und kurz auf die Unterlagen vor ihr gesehen. „Miss ... Swann!“ Das war der Name, den Mathilda angegeben hatte. Die Agenturinhaberin hatte ihn verächtlich betont. „Ich vermittle nur Personal allererster Güte! Was auch immer Sie getan haben, Miss, ich gebe Ihnen einen Rat: Gehen Sie zurück zu Ihrer Familie und betteln Sie um Verzeihung. Ich werde meinen Kunden garantiert kein gefallenes Mädchen der Oberschicht präsentieren.“ Mit einer wegwerfenden Geste war sie entlassen worden.

Noch immer verdaute Mathilda den Schock. Es tat weh, als gefallenes Mädchen bezeichnet zu werden. Doch noch mehr kränkte es ihren Stolz, dass eine Frau wie Mrs Shufflebotham sich erdreistete, sie zu verachten! Immerhin war sie die Tochter eines Viscounts! Sie hatte mit Herzögen gespeist und war der Königin vorgestellt worden. So durfte sie niemand abfertigen.

Doch Mrs Shufflebothams war bereits die dritte Agentur, die sie rundweg ablehnte. Nur so direkt hatten die anderen beiden ihre Absage nicht formuliert.

War wirklich so leicht zu erkennen, dass sie der Oberklasse angehörte? Mathilda sah an sich herab. Sie trug ein schlichtes Kleid aus geblümtem Musselin mit ihrem einfachsten Spencer aus dunkelbrauner Wolle darüber. Sie hatte das Kleid selbst umgeändert, sodass sie es ohne die Hilfe einer Zofe an- und ablegen konnte. Von der Haube hatte sie sogar die Blüten entfernt, um seriöser zu wirken. In so einer Aufmachung hätte sie sich noch vor ein paar Wochen nicht mal aus ihrem Zimmer begeben.

Die Demütigung wurde durch Wut ersetzt, die nun langsam in Mathilda aufstieg. Das würde sie sich nicht gefallen lassen! Den Mrs Shufflebothams dieser Welt zum Trotz würde sie nicht aufgeben. Das musste sie, denn nach Hause zurückzukriechen kam nicht infrage.

Wenn die Agenturen sich weigerten, sie zu vermitteln, dann musste sie eben ohne diese auskommen. Viele Familien inserierten auch in den einschlägigen Damenmagazinen. Sie konnte sich einfach auf ein Inserat bewerben. Genau! Mathilda sprang mit neuem Elan auf. Das würde sie machen. Wo fand man so ein Magazin, wenn man kein Abonnement von Ackermann‘s hatte? In einem Buchladen oder einem Ladys Club? Für Letzteres würde sie sicher nicht als Mitglied zugelassen werden. Nicht ohne Referenzen. Also konnte sie nur hoffen, dass ein Buchgeschäft auch Magazine führte.

In ihrem Retikül hatte Mathilda noch etwas Kleingeld. Es war für Essen diese Woche bestimmt. Der Rest ihrer Barschaft, zwei Pfund, lag gut versteckt zusammen mit ihren wenigen Schmuckstücken in dem Koffer. Die junge Frau gab sich keinen Illusionen hin, davon leben zu können. Selbst wenn sie die Granatkette und die Ohrringe, die sie zu ihrem Debüt vor zwei Jahren geschenkt bekommen hatte, versetzte, würde das Unvermeidliche nur hinausgezögert werden.

Ob ein Laden in Bristol ihr Zugang zu Damenmagazinen verschaffen konnte, würde sie nur erfahren, wenn sie es versuchte, nicht wahr? Mathilda gab sich innerlich einen Tritt und schickte sich an zu gehen.

Sie verließ die Grünfläche und trat in Gedanken versunken auf die Straße. Die Agentur lag in einem belebten Viertel nahe dem Stadtzentrum von Bristol. Karren und Kutschen bevölkerten die Wege. Was gäbe sie jetzt nicht darum, bequem durch die Straßen chauffiert zu werden! Ihre eigene Kutsche hatte eine weiche Polsterung und war zu jeder Tages- und Nachtzeit für die Ladys des Hauses verfügbar gewesen. Nie hatte sie diese Bequemlichkeit infrage gestellt. Das würde ihr nie wieder passieren. So viel war klar, seit sie mit der öffentlichen Postkutsche nach Bristol gereist war. Mathilda schauderte bei der Erinnerung an die übel riechenden Körper, die sich im Inneren der ungefederten Kutsche gedrängt hatten.

„Passen Sie auf, Miss!“, rief plötzlich eine Stimme hinter ihr und eine Hand zog sie ruckartig von der Straße auf den Bürgersteig vor die Agentur.

Sie stolperte und erschrak, als galoppierende Pferde mit einem glänzend lackierten Phaeton eine Handbreit vor ihrem Körper vorbeirasten. Das war knapp! Als sie wieder vernünftig Luft holen konnte, sah sie, dass die Hand, die sie vor dem Unfall gerettet hatte, zu dem Mann gehörte, der vorhin Mrs Shufflebothams Agentur betreten hatte.

„Ist alles in Ordnung?“, fragte er und ließ sie vorsichtig los.

Mathilda klopfte instinktiv ihre Glieder ab und nickte dann. Der Schrecken hatte ihr die Stimme verschlagen. Ihr Koffer lag auf der Straße, zertrampelt.

Oh nein! Sie raffte ihre Röcke und zog ihn beherzt vor den anderen Fahrzeugen in Sicherheit. Das war alles, was sie besaß. Doch glücklicherweise war nichts verloren gegangen. Nur an einer Seite klaffte ein Loch, das Hufe gerissen hatten. Die im Koffer befindlichen kargen Besitztümer waren alles, was ihr geblieben war. Gegen die Verzweiflung ankämpfend, rappelte sie sich hoch.

Wo war der Herr, der sie gerettet hatte? Sie hatte sich nicht einmal bedankt. Leider war keine Spur mehr von ihm zu sehen. Er war in der anonymen Masse der Passanten verschwunden. Niemand sonst kümmerte sich um die verschmutzte junge Frau, die sich nun den Straßenstaub abklopfte.

Tja, dann blieb ihr wohl nur, in die Pension zurückzukehren und den Schaden zu begutachten.

Das schäbige Haus, in dem die Witwe Small Zimmer an Damen vermietete, lag in einer engen Seitengasse zwischen Hafen und Stadtzentrum. Die Gegend war gerade noch respektabel, doch nur wenige Straßen weiter fanden sich Spelunken, in denen Seeleute verkehrten, und Etablissements, von denen eine wohlerzogene Dame eigentlich gar nicht wissen durfte, dass sie existierten. Doch wenn Mathilda eines gelernt hatte in den drei Wochen, seit sie unterwegs war, dann war das, sich vorzusehen. Gleich nachdem man ihr in der Poststation die Pension der Witwe empfohlen hatte und sie dort aufgenommen wurde, hatte sie sich erkundigt, welche Straßen sicher waren.

Im Erdgeschoß des Hauses hatte sich früher die Schuhmacherwerkstatt des seligen Mr Small befunden. Ein verblichener Schriftzug zeugte noch von feinen Lederwaren und Flickschusterei, die hier einst das Auskommen der Familie gesichert hatten. Seit ihr Gatte verstorben und die Söhne in Spanien gefallen waren, verdiente sich die Witwe etwas Geld damit, die schäbigen Zimmer zu vermieten.

„Miss Swann“, empfing die Vermieterin sie mit verkniffenem Gesicht und musterte ihre schmutzigen Kleider missbilligend. Die Frau schien nicht recht zu wissen, was sie mit Mathilda anfangen sollte. Von Beginn an war sie der jungen Frau gegenüber misstrauisch gewesen. Nur ihr Bargeld hatte Mathilda zu dieser Unterkunft verholfen. Sie hatte überlegt, doch lieber in einen Gasthof auszuweichen, aber hier, zwischen lauter anderen Frauen, fühlte sie sich sicherer.

„Miss Swann, wie lange benötigen Sie das Zimmer noch?“, erkundigte sich Mrs Small. „Ich habe bereits wieder eine Anfrage erhalten.“

„Ich habe noch für die ganze Woche bezahlt, Mrs Small“, erwiderte sie aufgebracht. Der Gedanke, auch diese Unterkunft zu verlieren, war grauenvoll.

„Jaja, schon gut, Mädel. Ich werfe Sie ja nicht hinaus“, brummte die Alte missmutig. „Ich frage mich nur, ob Sie schon Arbeit haben, da ich Aussicht auf eine Dauermieterin habe. Wenn Sie morgen verschwinden, weil Sie eine Anstellung gefunden haben, dann stehe ich ohne Mieter da!“

„Dann dürfte es Sie freuen, dass ich noch nichts gefunden habe, Mrs Small. Ich bleibe Ihnen wohl noch ein wenig erhalten! Guten Tag!“ Mit diesen spitzen Worten drehte Mathilda der Vermieterin den Rücken zu und stieg nach oben in die ärmliche Kammer, die ihr zugewiesen worden war. Sie hörte, wie die Witwe etwas von „Miss Hoity-Toity“ vor sich hin murmelte.

Erschöpft fiel sie auf das harte Bett, das in dem muffigen Raum stand. Wenn die Witwe Small sie nun auch noch rauswarf, dann war alles aus. Dann bliebe ihr nur, mit dem restlichen Geld nach Elmsford zurückzufahren und dort ihrem Cousin und seiner jungen Gemahlin zur Last zu fallen.

Zu allem Überfluss knurrte Mathildas Magen auch noch. Auf dem wackeligen kleinen Tisch lag nur noch ein Apfel. Wie gerne hätte sie jetzt von den Shortcakes ihrer alten Köchin gehabt, mit der Blaubeermarmelade, die nach einem alten Geheimrezept hergestellt wurde. Sollte sie doch zurückgehen? Richard und Lucy würden dafür sorgen, dass es ihr an nichts mangelte.

Nichts außer ihrer Selbstachtung!

Nein, sie durfte nicht aufgeben. Einen Versuch musste sie noch unternehmen. Sie beschloss, die Annoncen auf jeden Fall noch zu prüfen, bevor sie sich der Gnade ihrer Verwandten überließ. Das war sie sich selbst schuldig.

Aber zuerst verschlang Mathilda den schrumpeligen Apfel. Dann prüfte sie die Überreste des Koffers. Ein Kleid hatte einen Riss, der Rest war lediglich schmutzig, wo der Straßenstaub durch den Riss in den Koffer gedrungen war. Auch das Geld und der Schmuck waren in ihrem Lederumschlag unversehrt. Glück im Unglück. Schnell wusch sie die Sachen mit dem Wasser aus, das von ihrer Morgentoilette noch in der Waschschüssel war, und hängte sie über die Stange vor dem Kamin. Natürlich brannte kein Feuer, aber irgendwie, beziehungsweise irgendwann, würden das Hemd und das Kleid schon trocknen.

Dann packte sie ihre Wertsachen in ein Retikül. Die dicke Ledermappe fand keinen Platz, also wickelte sie den Schmuck und die letzten beiden Guineen in ein Taschentuch und legte alles ganz nach unten in den feinen Beutel. Vor ihrem staubigen Tageskleid leuchtete das Retikül aus rosa Seide förmlich. Schweren Herzens fasste Mathilda in die kalte Asche des Kamins und verrieb den Schmutz auf dem feinen Gewebe. Das sollte ausreichen, um Taschendiebe abzuschrecken.

Lieber war sie schmutzig als mittellos!

Mrs Small erklärte ihr widerstrebend den Weg zu einem Laden, der angeblich auch Magazine führte, und bald stand Mathilda vor dem Gebäude.

Bristol hatte sie überrascht. Ihr Leben lang Londonerin, hatte Mathilda, wie der Rest des Tons, immer auf alle anderen Städte des Landes herabgesehen. Die Gesellschaft lebte in der Hauptstadt oder verbrachte Sommer und Jagdsaison auf Landgütern. Provinzstädte galten als, nun ja, provinziell. Aber Bristol war eine quirlige Stadt voller Leben. Die Schifffahrt hatte Wohlstand an den Fluss Avon gebracht. Kaufleute, Reedereien und dazugehörige Betriebe hatten die Stadt prosperieren lassen. Und so fand sich dort beinahe alles, was es in der Hauptstadt auch gab.

Die junge Dame nahm sich einen Moment, um vor dem Schaufenster die wärmende Sonne zu genießen und den Rest einer Pastete zu essen, die sie an einem Straßenstand erstanden hatte. Zu groß war ihr Hunger gewesen. Und was machte es jetzt noch aus, ob sie Geld sparte? Entweder sie fand in den nächsten Tagen eine Anstellung, oder sie würde aufgeben und zurückkehren müssen.

 

 

 

Kapitel 2

 

Sie betrat den vollgestopften Buchladen, wo sie von einem Angestellten hinter dem Empfangstresen aus Nussbaumholz begrüßt wurde. Dieser musterte sie und meinte schließlich mit einem vielsagenden Blick: „Ich habe auch eine Reihe günstiger Penny-Dreadful-Romane im Angebot, Miss!“

Mathilda, die diese Schauerromane früher gerne gelesen hatte, konnte es sich nicht leisten, einen zu kaufen. „Haben Sie vielen Dank! Ich interessiere mich jedoch für Damenmagazine“, erklärte sie und fügte dann noch höflich hinzu: „Wenn ich fertig bin, dürfen Sie mir gerne das andere Angebot zeigen.“

„Suchen Sie etwas Bestimmtes, Miss?“ Er legte seine Schreibfeder zur Seite. „Ich erkläre Ihnen gern, wie Sie sich zurechtfinden.“ Der Mann war sicher zwanzig Jahre älter als sie. Er wirkte unscheinbar, schmächtig und farblos. Ein Angestellter an einem öffentlichen Ort eben. Doch die Art, wie er sie ansah, empfand Mathilda als unangenehm. Er betrachtete sie ungeniert und lächelte sie an. Mit einem flauen Gefühl im Magen wurde ihr bewusst, dass sie unbegleitet war. Sie war es nicht gewöhnt, ohne Anstandsdame unterwegs zu sein, und tat sich auch nach zwei Wochen noch schwer, andere Menschen einzuschätzen. Versuchte der Mann, mit ihr zu flirten, oder wollte er nur freundlich sein?

Egal, sie würde sich ja nicht lange im Laden aufhalten und sie hatte keine andere Möglichkeit, die Stellengesuche zu prüfen.

„Ich, ...“ Die junge Dame räusperte sich, die Blicke des Mannes ignorierend. „Gibt es hier auch Zeitschriften, Sir? La Belle Assemblee oder Ähnliches?“

„Ah!“ Der stechende Blick wurde noch dreister. „Selbstverständlich finden Sie hier alle aktuellen Veröffentlichungen, Miss! Doch diese sind nicht für den Verkauf bestimmt.“ Er trat hinter dem Tresen hervor und deutete ihr an, ihn zu begleiten. „Ich zeige Ihnen den Weg zum Leseraum.“

Umso besser, wenn sie ihr letztes Geld nicht für eine Zeitschrift ausgeben musste.

Mathilda sah sich um und sah vereinzelt Personen, die an den Regalen etwas suchten oder in Büchern blätterten. Ein alter Mann schob ein Wägelchen mit Büchern und verteilte diese am anderen Ende des vollgestopften Raumes. Sie war also nicht alleine mit dem Angestellten. Zögernd folgte sie ihm an einigen massiven, überladenen Regalen vorbei zu einem Durchgang in einen weiteren Raum voller Bücher. Dort standen einige Sessel, und verschiedene Druckerzeugnisse lagen gebügelt auf einem Sideboard bereit, um gelesen zu werden. Erleichtert registrierte sie eine ältere Dame, die mit ihrem Lorgnon die Times überflog und ihrer Gesellschafterin etwas leise murmelnd vorlas.

„Bitte sehr!“ Der Mann vom Empfang deutete auf die Zeitungen und verließ anschließend den Lesebereich.

Mathilda atmete auf, als er aus ihrem Blickfeld verschwunden war, und wendete sich ihrem Anliegen zu. Schnell sah sie den Stapel an Zeitungen durch und wurde fündig. Mit mehreren Ausgaben von Zeitschriften, welche unter anderem auch die galante Hausführung betrafen, ließ sich Mathilda auf einem Sessel in Fensternähe nieder. Sie überflog die erste Zeitung und suchte nach den Annoncen. Ihr Mut sank, da hier nur Hauslehrer und Hauswirtschafterinnen gesucht wurden. Die zweite Zeitschrift ließ sie hoffen, als sie eine Stelle ausgeschrieben sah für „eine gebildete und anständige Gouvernante in wohlhabendem Haushalt mit drei Töchtern“. Leider befand sich dieser Haushalt in London. Dahin konnte sie nicht gehen. Die Gefahr, erkannt zu werden, war in der Hauptstadt zu groß.

Also weitersuchen. Eine Stellung auf dem Land oder in einer der Industriestädte brauchte sie, wo sie nicht Gefahr lief, auf alte Bekannte zu treffen. Fieberhaft blätterte sie durch die Seiten. Schließlich blieb sie an einem Namen hängen. Ein Schauer überzog sie.

Nein! Sie wollte das nicht sehen. Und dennoch blätterte Mathilda nach einem kurzen Augenblick zurück. Tief Luft holend wappnete sie sich und fing an zu lesen. Es handelte sich um eine Gesellschaftskolumne, die sie früher gerne gelesen hatte. Der Autor oder die Autorin – so genau ließ sich das nicht festlegen, da niemand den echten Namen kannte – erzählte mit spitzer Zunge Klatsch und Tratsch der gehobenen Gesellschaft.

Der jungen Dame wich die Farbe aus dem Gesicht. Zu wissen, dass man entehrt war, war eine Sache, es schwarz auf weiß gedruckt zu lesen, eine völlig andere. Regungslos saß sie in dem Sessel und bemerkte nicht einmal, wie sie das Papier zerknüllte. Als würde sie ihr altes Leben damit zerstören. Denn diese Mathilda Dorring existierte nicht mehr. Sie mochte die Person, die sie gewesen war, ja selbst nicht leiden. Doch wer war sie, wenn sie nicht mehr die Tochter des seligen Viscount Dorring sein konnte?

Erst als sich ein Schatten über sie legte, schrak die junge Frau aus ihrer Starre auf. Der Angestellte stand mit süffisantem Grinsen vor ihr.

„Stimmt etwas nicht?“, rief Mathilda und blinzelte, um sich ihre Umgebung wieder bewusst zu machen.

„Wir sind jetzt alleine und du kannst dich erkenntlich zeigen!“, rief der Mann und trat so nahe an den Sessel, dass sie sich nicht mehr erheben konnte. Sein Geruch nach ungewaschener Haut drang zu ihr und ließ ihren Magen revoltieren.

Hektisch blickte sich Mathilda um. Die alte Dame und ihre Begleitung waren verschwunden! Während sie ihrem alten Leben nachgetrauert hatte, hatte sich dieser Nebenraum geleert und sie war nun alleine mit dem Angestellten. Sie öffnete ihren Mund, doch er war schneller und drückte seine Hand auf ihre Lippen.

„Schreien hilft dir nichts, Mädel. Es sei denn, du möchtest in hohem Bogen hinausgeworfen werden auf die Straße, wo dann jeder sehen kann, was für eine du bist!“

Was sie für eine war? Die Angst verwandelte sich schlagartig in Wut! Mit blitzenden Augen stieß sie ihn weg: „Sie, Sirrah, werden mich augenblicklich freigeben, oder Sie erfahren tatsächlich, was für eine ich bin! Das könnte Ihrer Stellung hier sehr hinderlich werden! Ich habe Verbindungen in höchste Kreise!“ Diesen Tonfall und Blick hatte sie sich bei der Herzogin von Marly abgeschaut. Niemand wagte es, sich gegen die formidable Dame zu stellen.

Einen Moment dachte sie, sie hätte mit dieser Methode Erfolg. Zweifel stand kurz, aber deutlich im Gesicht des Mannes. Dann grinste er zuversichtlich. „Du sprichst zwar wie eine feine Lady, aber eine junge Dame der Oberschicht würde nicht unbegleitet und in schäbigem Aufzug hier erscheinen.“ Er schob sich so nahe vor die junge Frau, dass er ihre Beine berührte.

Mathilda war schockiert! So etwas hatte noch kein Mann gewagt und sie würde sich ganz sicher nicht klaglos diesem Schurken ausliefern.

Der sprach triumphierend weiter, während er sich über sie beugte. „Solche wie dich kenne ich. Habe mir gleich gedacht, dass du leicht zu haben bist. Deshalb habe ich auch auf die Anmeldegebühr verzichtet, die anfällt, wenn man Magazine lesen möchte.“

So war das also? Dieser Kerl hatte sie gezielt in die Falle gelockt! Mathilda nahm ihren ganzen Mut zusammen und schob mit beiden Händen gegen seine Brust. Tatsächlich überrumpelte ihn ihre Gegenwehr und sie konnte sich vom Sessel erheben. Beim Versuch, an ihm vorbeizulaufen, stolperte sie allerdings über die Zeitungen und fiel mit dem Oberkörper voraus auf den Boden.

Schon war er über ihr. „Dafür wirst du bezahlen, Metze!“, keuchte er in ihr Ohr.

Mathilda zappelte verzweifelt und versuchte zu schreien. Es war ihr egal, was danach passierte. Sollten sie sie doch hinauswerfen, aber Mathilda Dorring würde sich nicht von einem Schurken wie diesem entehren lassen!

Natürlich war sie in den Augen der guten Gesellschaft bereits ein gefallenes Mädchen und sie gab es ja zu, dass sie Schuld auf sich geladen hatte. Doch hatte sie nicht ebenso alles getan, das begangene Unrecht an ihrem Cousin wiedergutzumachen? Hatte sie dem Komfort und dem Trost ihrer Heimat entsagt, um nun in einem Hinterzimmer eines Ladens geschändet zu werden?

„Maul halten, hab ich gesagt!“ Mit diesen Worten drückte der Kerl ihr Gesicht in den Teppich. Dazu musste er einen Arm loslassen. Die junge Frau schlug verzweifelt um sich, konnte ihren Angreifer aber nicht erreichen. Das Gewicht des Mannes lastete zu schwer auf ihr. Sollte sie wirklich keine Chance haben? Jetzt fühlte sie, wie eine Hand nach ihren Röcken griff. Mathilda schluchzte ihren Protest in den Teppich. Sie atmete Staub und Dreck ein und musste husten. Der Mangel an Sauerstoff schmerzte sie.

Das war es also. Mathildas Widerstand fiel in sich zusammen. Der Schurke auf ihr grunzte zufrieden. Sie zwang sich, an Elmsford zu denken. An die Unmengen von Narzissen, die nun den Park bevölkerten und in ein gelb-weißes Meer verwandelten. Wie der Frühling dort duftete. Ruhe überkam sie, als wäre das nicht sie, die am Boden lag und der Gewalt angetan wurde. Sie blendete die wandernden Hände aus, die sie an Stellen berührten, für die sie nicht einmal einen Namen kannte. Was auch immer dieser Schurke ihrem Körper antun würde, ihre Seele würde er nicht bekommen.

Die staubige Luft in ihren Lungen wurde langsam weniger.

Narzissen unter alten Bäumen.

So friedlich und sicher.

Plötzlich drangen Geräusche zu ihr durch. Durchbrachen den Kokon, in den sie sich zurückgezogen hatte, und das Gewicht des Mannes verschwand von ihr. Der Körper tat, was getan werden musste. Befreit drehte Mathilda den Kopf und hustete und japste nach Luft. Sie spuckte den Dreck aus und versuchte, sich aufzurichten. Mühsam stemmte sie ihre Arme hoch und kam auf die Knie. Nachdem sie den Schmutz aus ihren Augen gewischt hatte, registrierte sie endlich, was um sie herum vorging.

Ein Herr stand mit geballten Fäusten über ihrem am Boden kauernden Angreifer. Dieser hatte seine Brille verloren, und Blut tropfte aus seiner Nase.

„Nun steh schon auf, widerwärtiger Schuft! Ich bin noch nicht fertig mit dir! Was fällt dir ein, die junge Dame so zu überfallen?“, grollte der Mann, dessen Gesicht sie nicht erkennen konnte, da er mit dem Rücken zu ihr stand. Seine Rückansicht war allerdings imposant. Breitbeinig und hochaufgerichtet forderte er den Schurken heraus. Dieser zitterte vor Furcht, was Mathilda befriedigt zur Kenntnis nahm.

„Sie wollte es, Sir! Das ist keine Dame!“, stammelte der Angestellte. „Hat mit mir getändelt und ihre Röcke gehoben, nur um dann einen auf keusche Jungfer zu machen!“

Stöhnend kam Mathilda auf die Beine. Ihr Beschützer hatte wohl das Geräusch gehört und drehte den Kopf zu ihr. Doch sie beachtete es gar nicht. Die Wut in ihr suchte ein Ventil.

„Sie dreimal elender Schurke!“, rief sie Staub ausspuckend und trat auf den kauernden Kerl zu, der sich plötzlich bewusst wurde, dass auch von ihrer Seite Gefahr drohte. Doch zu spät. Mathilda schleuderte ihm ihr Retikül, in dem sich die Münzen und der Schmuck befanden, gegen den Schädel, sodass er zusammenbrach. „Ein Frauenschänder und ein Lügner obendrein! Ha! Das wird dich lehren, so etwas noch mal zu versuchen!“ Wieder holte sie aus, von blinder Wut geleitet, doch ihr Arm wurde gestoppt.

„Miss, er hat genug, auch wenn er es verdient hätte, jeden Tag seines armseligen Lebens dieses Retikül um die Ohren geschleudert zu bekommen“, sagte eine tiefe Stimme.

Oh, ihr Retter. Sie zwang sich zu atmen und sammelte ihre Sinne. „Herrje, ist er tot?“ So sehr es sie befriedigte, den Mann, der sie beinahe geschändet hätte, zu ihren Füßen liegen zu sehen, so wenig wollte sie den Tod eines anderen Menschen auf dem Gewissen haben.

„Nein, er ist nur bewusstlos“, beruhigte sie der Herr. Mit einem Schaudern wandte sie sich zu ihm, konnte ihm aber nicht ins Gesicht sehen. Er war groß, erkannte sie jetzt. Sicher einen Kopf größer als sie, weil sie genau auf sein Halstuch sah. Es war ein einfaches weißes Tuch, schlicht gebunden, nicht wie es die Gentlemen in London zu tragen pflegten, in einem der modischen Knoten, die ihre Träger daran hinderten, den Kopf zu bewegen.

„Miss, ist alles in Ordnung?“, erkundigte er sich zögerlich. Eine Hand hielt immer noch ihren Ellbogen, als hätte er Angst, sie würde wieder zusammenbrechen.

Mathilda nickte. „Ja. Nein, ich ...“ Sie schämte sich so sehr. „Es ist nicht wahr, was er gesagt hat, Sir“, flüsterte sie schließlich.

Er erwiderte nur ein unbestimmtes Geräusch, einem Grunzen nicht unähnlich. „Natürlich nicht! Solche wie der da akzeptieren kein Nein und er dachte wohl, leichtes Spiel mit Ihnen zu haben, da Sie alleine waren.“ Mit diesen Worten führte er sie zu einem der Sessel. „Setzen Sie sich einen Moment.“

Mathilda gehorchte wie in Trance. Sie war ein leichtes Ziel für alle, die es auf sie abgesehen hatten. Jetzt erst verstand sie vollends, was einer alleinstehenden Frau alles zustoßen konnte – zusätzlich zum Hunger und der Mühe, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Sie war dem völlig ausgeliefert, da ihr in der Tat niemand Glauben schenken würde. Es war ein demütigendes Gefühl.

Erst als etwas Weißes vor ihrem Gesicht flatterte, kam sie wieder zu sich.

Ein Taschentuch. „Bitte, Sie sind ganz schmutzig, Miss. Wenn Sie, ohne Aufheben zu erzeugen, das Gebäude verlassen möchten, müssen Sie sich säubern. Und wir sollten uns beeilen, bevor der Schuft wieder erwacht oder sich jemand in diese Ecke verirrt.“

Dankbar griff sie nach dem Stoff und wischte den Staub von ihrem Gesicht, der sich mit ihrem Angstschweiß und den Tränen, die sie nicht einmal bemerkt hatte, vermischt hatte. Sie holte tief Luft und hob ihre Augen, um ihrem Retter zu danken.

„Sie?“, rief sie erstaunt, um sich in der nächsten Sekunde ihrer Unhöflichkeit bewusst zu werden. „Sie retten mich heute schon zum zweiten Mal!“ Röte schoss ihr ins Gesicht. „Ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken kann.“

Der Herr betrachtete sie aus dunklen Augen, die keinerlei Regung zeigten. Sein Haar war zu lang für die aktuelle Mode und hing ihm ins Gesicht. Natürlich. Er hatte mit dem Schurken gekämpft und war daher derangiert. Viel auffälliger als die unmodische Frisur waren jedoch die Narben, die sich über seine linke Gesichtshälfte zogen. Etwas, das Mathilda am Morgen auf der Straße nicht bemerkt hatte. Da war sie zu beschäftigt gewesen, ihre mageren Besitztümer in Sicherheit zu bringen.

Bei ihren Worten blitzte etwas in seinem Gesicht auf. „Sie waren das vor der Agentur? Sie führen ein gefährliches Leben, scheint mir, Miss ...“

„Swann. Mathilda Swann“, bemühte sie sich zu ergänzen. „Und ich versichere Ihnen, Sir, ich suche keineswegs die Gefahr, lediglich eine Anstellung.“ Resignation drohte sie zu übermannen. Zu dem kam, dass nach der Taubheit des Schocks jetzt ihre Glieder anfingen zu zittern.

Ihr Retter sah sie interessiert an. „Welche Art Stellung suchen Sie denn, Miss Swann? Sie erscheinen mir recht jung, aber für ein Hausmädchen halte ich Sie nicht.“

„Ich … ich ...“, stotterte Mathilda. Ihre Zähne fingen an zu klappern und sie fror am ganzen Körper. Was hatte der Herr gefragt? Die Gedanken entschwanden ihrem Zugriff.

„Miss Swann!“ Eine Hand rüttelte an ihrer Schulter. „Ist Ihnen nicht wohl?“

Ah, der nette Herr. Was wollte er noch mal von ihr? Ah ja. Sie suchte eine Stellung. „Gou... Gouvernante. Sticken. Fra... Französisch“, stammelte sie.

Plötzlich wurde sie hochgehoben. Fand sich auf kräftigen Armen schwebend wieder. Der Mann war stark. Alarmiert wollte sie sich aus seinem Griff herauswinden. Die Panik drohte zurückzukommen und sie zu übermannen. War sie dem einen Mann entronnen, um jetzt von dem anderen misshandelt zu werden?

Doch dann drangen beruhigende Worte an ihr Ohr. Ohne sie wirklich zu verstehen, entspannte sie sich, schloss die Augen und driftete davon in friedliche Dunkelheit.

 

 

 

Kapitel 3

 

Verblüfft sah Jasper Fallon auf die junge Frau, die er in den Armen hielt. Sollte sie die Lösung seiner Probleme sein? Dass sie ihm heute bereits zweimal quasi vor die Füße gefallen war, konnte kein Zufall sein, oder? Eigentlich glaubte er nicht an Schicksal. Er war schließlich ein Mann der Wissenschaft. Aber das war schon ein merkwürdiger Zufall, der ihn bereits zum zweiten Mal an diesem Tag zum rechten Zeitpunkt an den rechten Ort geführt hatte, um ausgerechnet dieser Dame beizustehen.

Fallon spähte um die Ecke und trat mit seiner Last in den still vor ihm liegenden Buchladen. Er hielt sich im Schatten der wuchtigen Regale. Hinter dem Empfangstresen war bei seiner Ankunft ein kleines altes Männchen gesessen, stocktaub und die Nase in ein Buch vertieft. Er hatte zweimal versucht, es anzusprechen, und war, als eine Reaktion ausblieb, ungeduldig weiter in den Laden getreten.

Ein Blick verriet ihm, dass der Mann sich seither nicht geregt hatte. Ob er wenigstens die Seiten umblätterte? Ein leises Schnarchen erklärte die Untätigkeit des Mannes. Kein Wunder, dass sein Kollege hier solche Schandtaten begehen konnte! Niemand würde etwas hören. Da es Teezeit war, befanden sich zudem kaum Kunden im Hause. Fallon verdrängte diese Gedanken. Es geschah oft, dass er sich in Details verrannte, aber jetzt war dafür keine Zeit. Wichtig war nur, dass der Angestellte ihn nicht mit einer bewusstlosen Frau im Arm sah.

Mit leisen Schritten schlich er an dem Tresen vorbei aus dem Gebäude und zu einer der Droschken, die auf dem belebten Platz auf Kundschaft warteten. „Meine Schwester ist ohnmächtig geworden! Können Sie uns bitte schnellstmöglich zum Fox & Bull fahren?“ Noch während er sprach, hatte er mit seiner linken Hand die Wagentür geöffnet.

Dann legte er die junge Dame vorsichtig auf dem Sitz ab. Erst jetzt betrachtete er sie genauer. Ihr beschmutztes Kleid war einfach, aber von guter Qualität. Das hellbraune Haar hatte sich aus dem geflochtenen Knoten gelöst, als sie versucht hatte, sich gegen diesen Mistkerl zu wehren. Dabei hatte sie wohl auch ihren Hut verloren. Tja, der musste noch in dem Laden liegen. Die Bilder, wie er sie vorgefunden hatte, stürmten wieder auf ihn ein.

Er hatte diesen Laden schon früher einmal besucht und wusste, dass er hier die betreffenden Veröffentlichungen finden würde. Wenn ihm die Agenturen kein Personal vermitteln wollten, dann musste er das auf eigene Faust erledigen. Früher hatte er hier ab und zu etwas für seine Mutter besorgt, weshalb er an diesem Tag schnurstracks zu der Ecke gegangen war, wo er das Gesuchte zu finden hoffte. Er verspürte keinerlei Lust, noch einen Tag länger in Bristol zu bleiben, und wollte diese Sache erledigt wissen.

Dann hatte er die Geräusche gehört und seine Probleme waren verpufft. Jasper schluckte die bittere Galle, die ihn beim Anblick der Geschehnisse dort überkommen hatte, herunter. Es war nur zu deutlich gewesen, dass die junge Dame nicht freiwillig am Boden lag. Der Kerl drückte sie mit seinem Körper auf den verschlissenen Teppich und hatte ihre Beine bis zum Po entblößt, während er sich an seinem Hosenstall zu schaffen machte.

Alles Weitere war eine Frage von Sekunden gewesen. Jasper hatte den Schurken hochgerissen und ihm einen Schlag in die Magengrube verpasst. Dann folgte seine Faust, gegen das Kinn des Kerls. Die Wucht des Treffers hatte diesen an die gegenüberliegende Wand fliegen lassen. Noch während er überlegt hatte, wo er seinen nächsten Schlag hinsetzen sollte, hatte dieser elende Mensch angefangen, das Mädchen zu beschuldigen.

Widerwärtig!

Es war kein ganz junges Mädchen, stellte er nun fest, als er sie genauer betrachtete. Sondern eine hübsche, junge Frau, die ehrbar wirkte und sich wohlerzogen ausgedrückt hatte. Sie mochte um die zwanzig Jahre alt sein. Wahrscheinlich älter, sonst wäre sie nicht in Diensten, oder? Ein etwas angestrengter Zug lag um ihren Mund. Wie sie wohl aussah, wenn sie lächelte?

Nur in ganz seltenen Fällen fragte sich Baron Fallon, ob er sich nicht doch näher mit den Gepflogenheiten der Gesellschaft auseinandersetzen sollte. Dies war ein solcher Moment. Wie war mit einer ohnmächtigen Dame unbekannten Standes zu verfahren? Sie war ganz offensichtlich eine unbescholtene Jungfer oder eine junge Witwe. Wohlerzogen und tugendhaft, aber gezwungen, für ihr Auskommen zu arbeiten. Dennoch – ohne Begleitung war diese Spezies normalerweise nicht anzutreffen. Rätselhaft.

Mit einem unerwarteten Schmunzeln dachte er daran, wie sie plötzlich, einem Racheengel gleich, hinter ihm erschienen war und ihr Retikül geschwungen hatte. Sie schien durchaus Temperament zu besitzen. Eine Sache, die er bisher an Ladys nicht beobachtet hatte. Was sich wohl in dem Täschchen befand? Vorsichtig berührte er den Stoff, der immer noch von einer Hand umklammert wurde. Trotz des Schmutzes fühlte es sich kostbar an. Seide? Etwas so Hochwertiges würde eine Dame doch nicht so schäbig behandeln? Und darin verborgen waren harte Gegenstände. Kein Wunder, dass der Schuft durch den Schlag zu Boden gegangen war! Ob sie ein Riechsalz besaß? Gut möglich! So ein Fläschchen konnte eine hübsche Beule verursachen, wenn es auf einen Schädel traf. Außerdem käme es jetzt recht.

Da er ihrer verkrampften Hand das Retikül nicht abnehmen konnte, versuchte er, die Kordeln zu lockern und hineinzugreifen.

Ein plötzlicher Schrei und das Aufbäumen ihres Körpers ließen ihn sofort zur Seite rücken.

„Was machen Sie da?“ Panisch umklammerte sie ihr Täschchen und drückte sich in eine Ecke der Droschke. „Wo bin ich?“ Wie ein verschrecktes Reh starrten ihre braunen Augen ihn aus dem blassen Gesicht an.

Er hob beruhigend die Arme. Sich selbst verfluchend, weil er ihr Angst eingejagt hatte, drehte der Baron sein Gesicht zur Seite. „Verzeihen Sie, ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten, Miss Swann. Sie waren ohnmächtig und ich habe mich gefragt, ob Sie in Ihrer Tasche wohl Riechsalz haben.“

Sie sah mit großen, verängstigten Augen zu ihrem Täschchen. Steckte ihre Hand hinein und befühlte den Inhalt. Offensichtlich war alles da, was dort hingehörte, denn sie atmete sichtlich erleichtert auf. Das Misstrauen war jedoch nicht aus ihrem Gesicht verschwunden.

„Warum bin ich hier? Wo bringen Sie mich hin?“ Sie fühlte sich sichtlich unwohl in seiner Gegenwart, das erkannte man genau. Ihr Blick glitt zwischen ihm und der Droschkentür hin und her. Sie würde doch nicht aus dem fahrenden Wagen springen? Schnell bemühte er sich, ihr die Situation zu erklären. „Der Schock ließ Sie zusammenbrechen, Miss, und da erschien es mir am sinnvollsten, Sie vom Ort des Geschehens fortzubringen, bevor noch mehr Personen aufmerksam wurden“, erklärte er geduldig.

Seine Worte zeigten Wirkung, denn sie hörte auf zu zittern. „Ich muss mich vermutlich ein weiteres Mal bei Ihnen bedanken“, entgegnete sie darauf mit ernster Miene. Dann schloss sie kurz die Augen, als suche sie nach Worten. Als sie sie wieder öffnete, sah er Schmerz in den warmen braunen Iriden. „Dabei kenne ich nicht mal Ihren Namen.“

Er bemühte sich, das nachzuholen. „Jasper Fallon von Trethffynnon. Zu Ihren Diensten, Miss Swann!“ Dabei lupfte er seinen Hut und deutete eine Verbeugung an. Mehr war in der Droschke nicht möglich.

Die Vorstellung entlockte ihr ein kleines, schiefes Lächeln. „Ich freue mich, Ihre Bekanntschaft zu machen, Mister Fallon“, antwortete sie korrekt. Die Besinnung auf die Etikette schien ein Weiteres dazu zu tun, dass sie seine Anwesenheit akzeptierte. Dann suchte sie hektisch in ihrem Retikül. „Ohne Sie wäre ich heute beinahe umgekommen und entehrt worden. Ich habe nicht viel ...“

„Wenn Sie heute Morgen unter die Räder dieses Phaetons gelangt wären, Miss Swann, hätten Sie den Buchladen nicht besucht“, unterbrach er sie, wohl ahnend, dass sie ihn entlohnen wollte, was nicht infrage kam.

Verwirrt sah sie ihn an. „Sie möchten sagen, dass es besser gewesen wäre, ich würde überfahren am Straßenrand liegen?“ Ihr Gesicht verzog sich zu einer Grimasse. „Womöglich hätten Sie da nicht unrecht.“

„Nein, Miss Swann, das denke ich keineswegs. Aber Sie brauchen mich auch nicht zu entlohnen. Bitte behalten Sie Ihr Geld.“ Es empörte Fallon, dass die junge Dame ihn für etwas, das er für seine Christenpflicht hielt, bezahlen wollte.

Ertappt zog sie die Hand aus dem Retikül.

„Ich erwarte keinen Dank für einen Dienst an meinem Nächsten. Das würde mich beschämen. Aber vielleicht könnten Sie mir anderweitig behilflich sein.“ Wenn sie tatsächlich eine Anstellung suchte, dann könnte diese unglückliche junge Frau die Lösung seines Problems darstellen.

„Behilflich? Ich? Was könnte jemand wie ich denn für einen Herrn wie Sie tun?“ Noch während sie sprach, wurden ihre Augen groß und Röte überzog ihre Wangen.

Obwohl das ein durchaus angenehmer Anblick war, beeilte er sich zu erklären: „Du liebe Güte, nein! Miss Swann! Ich habe keineswegs ein unmoralisches Angebot im Sinn!“ Die Konversation mit Damen lag voller Fallstricke und er war darin ungeübt. Das sah man schon daran, wie ihn die Agenturen behandelt hatten. Sein Ruf als brennender Baron war ihm wohl bis Bristol vorausgeeilt.

Immer noch zweifelnd sah sie ihn an.

„Sie hatten in diesem Laden erwähnt, dass Sie eine Anstellung suchen, Miss Swann“, fing er an zu sprechen. „Oder habe ich das falsch verstanden?“

Ihre Miene änderte sich von misstrauisch hin zu interessiert, was sie jedoch sogleich zu überspielen versuchte, indem sie mit neutraler Stimme antwortete. „Ja, ich suche eine Anstellung, Sir. Haben Sie denn einen offenen Posten, der zu vergeben ist?“

„Sie sind zu gebildet, um ein Hausmädchen zu sein, und wenn ich Sie richtig verstanden habe, möchten Sie als Gouvernante arbeiten.“

Sie schluckte und nickte, immer noch skeptisch, hörte aber aufmerksam zu.

„Wenn Sie also eine derartige Stellung im Sinne hatten, dann kann ich Ihnen eine anbieten.“

„Sie suchen eine Gouvernante? Für Ihre Kinder?“

„Nein, ich bin nicht verheiratet!“, gab er mit einem bitteren Lachen zu. „Aber meine Schwester lebt bei mir und ich bin nicht der geeignete Mensch, eine junge Dame auf die Welt vorzubereiten.“

„Sie möchten mir Ihre Schwester anvertrauen? Nach allem, was ...“ Sie räusperte sich. „Nach allem, was geschehen ist?“ Wieder vertiefte sich die Röte auf ihren Wangen. Peinlich berührt sah sie zu Boden.

„Nun, das ist wohl kaum Ihre Schuld gewesen, Miss Swann.“

„Die meisten Menschen würden mir die Schuld geben, das wissen Sie sehr wohl!“ Ihr Tonfall war so abgeklärt und resigniert, dass Fallon sich unweigerlich fragte, was sie schon alles in ihrem jungen Leben einstecken musste. Sein Instinkt sagte ihm aber ebenfalls, dass jetzt für ihre Vorgeschichte keine Zeit war. Er brauchte jemanden, der sich um Sophia kümmerte. Schnellstmöglich.

Sollte er Miss Swann erklären, dass niemand auf dem Gut des brennenden Barons arbeiten wollte? Dass die Leute Angst hatten? Bevor er das aussprach und sie womöglich ebenso dachte, wollte Fallon noch eine andere Taktik versuchen. „Sind Sie denn qualifiziert, sich um ein sechzehnjähriges Mädchen zu kümmern?“

Sie richtete sich auf. Ihre Haltung war gerade und würdevoll. „Ich kann Ihrer Schwester alles beibringen, was sie beherrschen muss: Sticken, Konversation, Französisch und Aquarellmalen.“

„Das sind interessante Fertigkeiten, aber können Sie sie denn auch auf das Leben in Gesellschaft vorbereiten?“ Das bereitete Fallon am meisten Sorgen. Als Schwester eines eigenbrötlerischen Einsiedlers würde es Sophia nicht leicht haben. Sie litt jetzt schon unter dem schlechten Ruf ihres älteren Bruders.

„Sicherlich, Sir! Ich selbst habe ein Pensionat in Bath absolviert und bisher ...“ Hier kam sie kurz ins Stocken, was ihm nicht entging. „Und bisher auch in hervorragenden Kreisen gedient.“

Mit dieser Qualifikation dürfte Miss Swann eigentlich nicht verzweifelt genug sein, eine Stellung im ländlichen Wales anzunehmen, sondern sollte von Agenturen hofiert auswählen können, wo sie ihre Dienste anbot. Etwas an ihrer Geschichte war nicht ganz rund. Dennoch hatte der Baron nicht das Gefühl, arglistig getäuscht zu werden. Und schließlich gab es immer wieder junge Damen, die plötzlich unverschuldet alleine und mittellos dastanden.

Eben wollte er sie nach ihrer Herkunft fragen, da hielt die Kutsche an. „Das Fox & Bull, Sir“, schallte es vom Kutschbock und dann wurde auch schon die Wagentür geöffnet. Er sprang hinaus, die Unterbrechung insgeheim verfluchend. Unsicher kletterte Miss Swann hinter ihrem Retter aus dem Wagen und sah sich um.

„Bitte Miss Swann, lassen Sie uns kurz eintreten und die Anstellung besprechen. Sie können mir vertrauen.“ Er versuchte sie zum Eingang zu bugsieren. Hoffentlich rannte sie ihm jetzt nicht wieder davon. Aber wohin sollte sie sich wenden? Nach allem, was er bisher über sie erfahren hatte, gab es wohl kaum Menschen, die ihr beistanden. Oder etwa doch?

Sie schien mit sich zu kämpfen, ob sie das Angebot annehmen sollte.

„Bitte Miss Swann, lassen Sie mich die Anstellung beschreiben und hören Sie mir kurz zu“, bat er sie eindringlich.

Das Fox & Bull war ein seriöses, gehobenes Gasthaus. Nach einem Blick auf die weiß getünchte Fassade nickte sie schließlich und ließ sich von ihm in einen privaten Salon im Inneren des Gasthauses führen. Die Wirtin verzog kurz das Gesicht, als er mit der lädierten Frau im Schlepptau zu seinem gemieteten Salon schritt. Kurz angebunden verlangte er nach Tee.

Miss Swann stand unschlüssig in dem eleganten Privatsalon. Noch hatte sie nicht abgesagt. Und der Baron hatte es eilig. Er hatte erledigt, weshalb er nach Bristol gereist war. Nur die Gouvernante hatte noch gefehlt. Würde diese junge Dame zusagen, konnten sie morgen früh die Fähre nehmen und zurückreisen. Er musste sie einfach überzeugen!

„Miss Swann, ich möchte ehrlich sein. Mein Gutshof, Trethffynnon, liegt, wie es der Name vermuten lässt, in Wales, auf der anderen Seite des Severn, fünfzehn Meilen von Swansea entfernt. Ich fürchte, dort gibt es nicht viel, was eine gebildete junge Dame wie Sie unterhalten könnte, aber ich bezahle Sie fair und behandle meine Angestellten respektvoll. Das kann ich Ihnen versichern!“

 

 

 

Kapitel 4

 

Kaum hatte Mathilda die Worte „Severn“ und „Wales“ vernommen, da wusste sie, dass die Torturen des Tages ihr vom Schicksal bestimmt gewesen waren, um auf Mr Fallon zu treffen. Niemand würde sie jemals auf einem abgeschiedenen, walisischen Landgut vermuten, dessen Namen kein zivilisierter Mensch aussprechen konnte. Und ihr zukünftiger Arbeitgeber sah auch nicht aus, als würde er Kontakte zur Londoner Gesellschaft pflegen.

Es war genau die Art Stellung, die sie sich ausgemalt hatte, als sie ihr Zuhause verließ.

---ENDE DER LESEPROBE---