Eine Liebe in Pjöngjang - Andreas Stichmann - E-Book
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Eine Liebe in Pjöngjang E-Book

Andreas Stichmann

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Beschreibung

Nominiert für den Deutschen Buchpreis 2022 An der Spitze einer Delegation junger Kulturschaffender reist Claudia Aebischer ein letztes Mal nach Pjöngjang: zur feierlichen Eröffnung der dortigen Deutschen Bibliothek. Starke Empfindungen sind ihr eigentlich fremd. Doch schon kurz hinter der chinesischen Grenze sieht sie sich mit einer Erscheinung konfrontiert, die eine alte Sehnsucht in ihr weckt. Eine Begegnung, die alles neu und anders macht – gibt es das? Das Phänomen hat, wie Claudia erfährt, einen Namen. Sunmi ist Germanistin, Dolmetscherin und Agentin der DVRK. Von seiner Reise nach Nordkorea 2017 brachte Andreas Stichmann keine literarische Reportage und kein erzählendes Sachbuch heim, sondern die Idee zu einem Roman. «Eine Liebe in Pjöngjang» ist mehr als das, es ist ein Abenteuer. Die unwahrscheinliche Geschichte einer Liebe zwischen zwei ungleichen Frauen, zwei Lebensaltern, zwei Kulturen. Ein Buch, das sich das Fremde anverwandelt wie jemand, der sich verliebt: schlagartig, voller Hingabe, geblendet vom Leuchten der eigenen Projektionen. 

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Andreas Stichmann

Eine Liebe in Pjöngjang

Roman

 

 

 

Über dieses Buch

Nordkorea, mon amour. Starke Empfindungen sind Claudia Aebischer eigentlich fremd. An der Spitze einer Delegation junger Kulturschaffender reist die Fünfzigjährige ein letztes Mal nach Pjöngjang: zur feierlichen Eröffnung der dortigen Deutschen Bibliothek. Doch schon kurz hinter der chinesischen Grenze sieht sie sich mit einer Erscheinung konfrontiert, die eine alte Sehnsucht in ihr weckt. Eine Begegnung, die alles neu und anders macht – gibt es das? Das Phänomen hat, wie Claudia erfährt, einen Namen. Sunmi ist Germanistin, Dolmetscherin und Agentin der DVRK.

Von seiner Reise nach Nordkorea 2017 brachte Andreas Stichmann keine literarische Reportage und kein erzählendes Sachbuch heim, sondern die Idee zu einem Roman. «Eine Liebe in Pjöngjang» ist mehr als das, es ist ein Abenteuer. Die unwahrscheinliche Geschichte einer Liebe zwischen zwei ungleichen Frauen, zwei Lebensaltern, zwei Kulturen. Ein Buch, das sich das Fremde anverwandelt wie jemand, der sich verliebt: schlagartig, voller Hingabe, geblendet vom Leuchten der eigenen Projektionen.

Vita

Andreas Stichmann, 1983 in Bonn geboren, studierte am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig. 2008 erschien sein Erzählungsband «Jackie in Silber», für den er unter anderem den Clemens Brentano-Preis, den Kranichsteiner Literaturförderpreis und den Hamburger Förderpreis für Literatur bekam. «Das große Leuchten», sein erster Roman, wurde für den Bachmann-Preis nominiert und mit dem Förderpreis zum Bremer Literaturpreis ausgezeichnet. Andreas Stichmann lebt in Berlin.

IN EINER SOMMERNACHT zu Beginn des 21. Jahrhunderts reisten zwei Dutzend Berliner Kulturmenschen zur Eröffnung einer deutschen Bibliothek nach Pjöngjang. Der Anschlussflug in der chinesischen Grenzstadt Dandong war ohne Angabe von Gründen ausgefallen. Gegen Mitternacht wurden sie telefonisch in einen Zug beordert, der eigens vom nordkoreanischen Tourismusbüro losgeschickt worden war, sie zu holen.

Die chinesische Schriftzeichenwerbung loderte im schwarzen Spiegel des Grenzflusses, als der Zug anfuhr. Ausläufer des Vulkans Paektusan, halb zu China, halb zu Nordkorea gehörig, zogen sich bis runter zum Wasser und glänzten werbebunt. Ein neonblauer Zahn fuhr am Fenster vorbei. Selbst Arztpraxen, hatten die Deutschen während ihres Stopps gesehen, leuchteten in Dandong wie Jahrmarktsbuden. Einfach alles in dieser Stadt war aus Licht.

Mit Macht beschleunigte der Zug. Die Werbung wurde zu einem Lavastrom, alle Motive schmolzen hinein. Kussmünder. Sektgläser. Palmen.

Auf halber Höhe der chinesisch-koreanischen Freundschaftsbrücke waren mit einem Mal pechschwarze Planen vor den Fenstern.

Die Deutschen erschraken.

Es waren keine Planen, wie sich zeigte. Es war die totale Finsternis der stromlosen Nacht.

Claudia Aebischer, die Präsidentin des Verbandes europäischer Bibliotheken, war als Einzige bereits im Land gewesen. Sie hatte ihre Mitreisenden vor dem kleinen Schock gewarnt und beobachtete nun, wie sie dennoch zusammenzuckten. Sie selbst war eigentümlich ungerührt, erinnerte sich aber noch gut an die Panik bei ihrer ersten Reise, keine vier Monate zuvor.

Ein Licht pulste über der rostroten Tür. Kühler war es geworden. Alle Mobiltelefone waren nun ohne Netz und würden es für die Dauer des Aufenthaltes auch bleiben. In Pjöngjang würde man ihnen außerdem die Reisepässe abnehmen. Claudia Aebischer sah, wie es in ihren Mitreisenden arbeitete, obwohl sie vorbereitet worden waren. Das ist das Ende!, sagten ihre Gesichter.

Zur Entspannung nahm sie ein Sixpack Tsingtao-Bier aus ihrem Gepäck. Sie bot den anderen davon an. Als niemand wollte, stellte sie es mittig auf den Boden, trank eine Flasche im Stehen. Ihre Mitreisenden waren deutlich jünger, die meisten journalistisch tätig. Kollegial verbunden wirkten sie aber nicht. Eine Lifestyle-Kolumnistin war dabei. Sie begleitete einen Surflehrer, der es sich in den Kopf gesetzt hatte, die erste Surfschule Nordkoreas zu eröffnen. Blogger fuhren mit. Tippten erste Notizen in ihre Smartphones. Eine Journalistin mied ihren Blick und zeigte stattdessen ihr fragezeichenförmiges Ohr. Es war viel Ambition an Bord, wenn man Claudia fragte, die junge Variante. Menschen, die in Wirklichkeit noch keinen Schimmer hatten, wohin genau sie so dringend streben.

Aber, stellte sie erschrocken fest, das waren grimmige Oma-Gedanken. So dachte sie sonst eigentlich nicht.

Sie rauchte.

Ein Dutzend Bibliotheken und Sprachschulen hatte sie im südostasiatischen Raum mitbegründet. Dies hier würde ihre letzte berufliche Reise sein. Das Amt aufzugeben, sei richtig nach all den Jahren, auch um ein lang aufgeschobenes Buchprojekt endlich zu beginnen, hatte sie entschieden. Etwas einsam und verwirrt bin ich wohl, weil noch niemand davon weiß, sagte sie sich. Sie wünschte, es hätte sich ergeben, jemanden einzuweihen.

Die jungen Menschen äugten ängstlich zu ihr hoch. Sie schienen sich beruhigende Worte zu wünschen. Dem kam Claudia gerne nach. Sie erzählte ihnen von einem Kyŏksul-Kampf, den sie bei ihrem ersten Aufenthalt hatte ansehen dürfen. Kyŏksul war eine Kampfkunst, die sie selbst praktiziert hatte, bis ihre Bandscheibenvorfälle dem ein Ende gesetzt hatten.

Sie erzählte von der Umgänglichkeit der Nordkoreaner. Ja, zuvorkommend seien sie ihr begegnet.

Sie seien außerdem sehr dankbar für jedes Interesse an ihrem Land.

Mehr! Mehr Beruhigungen! Äugte es zu ihr hoch.

Als Feindin des Sitzens sprach Claudia zu ihren Mitreisenden runter.

Sie würden nicht das wirkliche Land sehen, nur das Theaterstück Pjöngjang. Und in diesem Pjöngjang, dem Pjöngjang der Ausländer, gebe es zwar überall Militär, aber ebenso Alltägliches. Auch normale Menschen, sie würden sehen.

Gelogen war das nicht. In Pjöngjang gab es Schneider. Ärzte. Papierpflegespezialisten. Frischgebackene Schwiegereltern weinten Freudentränen auf Prachtstraßen und vor Kim-Monumenten, während die festlich gekleideten Brautleute sich fotografieren ließen. Es gab Glasbläser. Es gab Tierpräparatoren. Es gab – Claudia war von einem der vielen kundenlosen Taxifahrer stolz darauf hingewiesen worden – neuerdings sogar Staus. Kinder gab es. Kinder rutschten auf den Rüsseln hölzerner Spielplatz-Elefanten in normalen, nur eben nordkoreanischen Sand.

Und vor den Toren der Stadt könne man sich die normale nordkoreanische Armut anschauen, fuhr sie fort. Das Arbeitslager dort stehe dem Besucher offen, zumindest dienstags, dienstags sei dort Tag der offenen Tür.

Ein kleiner Witz.

Wurde nicht honoriert, wie sie sah.

*

Später hatten einige ihrer Mitreisenden die Augen zugemacht. Ihre Oberkörper ragten dunkelgelb angeleuchtet aus dunkelgelbem Gepäck und wurden vom Zug leicht hin und her geschaukelt. Geschmackvoll-schlicht waren die jungen Leute gekleidet, weiche Gesichtszüge, gut sitzende Frisuren. Es war eine schöne und passive Generation, die sich da ins Erwachsensein hineinschaukeln ließ. Etwas unwitzig vielleicht. In der Spiegelung der Scheibe hatten sie etwas von lagernden Puppen.

Wobei das wieder die Oma-Perspektive war, stellte sie fest. Eigentlich plump. Es sagte nichts aus über den einzelnen Menschen, nur über einen sich allgemein wandelnden Geschmack. Solche Veränderungen waren grundsätzlich richtig und wichtig und ein Anlass zum Austausch. Claudia galt als herzhafte Ausfragerin. Als junggeblieben und wissensdurstig. Normalerweise.

Draußen tauchten die ersten rötlichen Umrisse von Plattenbauten auf. Batteriebetriebene Lämpchen an den beiden Gemälden, die in jeder Wohnung zu hängen hatten, erzeugten das weihnachtlich-schummrige Licht. Wenn man wusste, dass es die Führerporträts waren, deren Beleuchtung per Zeitschaltuhr geregelt war, wurde das Weihnachts- zum Höllenschimmern.

Sie ersparte den anderen die Info.

*

Schwefelgelb dämmerte der Morgen. Claudia sah drei Kinder in zeltgroßen, dreckstarren Armeejacken am Rand einer Siedlung stehen. Maschinengewehre lehnten an einer Mauer. Auf einem Feld graste ein bejochter Ochse.

Was sie dann sah, verstand sie nicht. Ein Gesicht vor ihrem eigenen. Es war weiblich, asiatisch und drückte Erstaunen aus. Ihr gegenüber, hinter zwei Zugfenstern, stand eine exakt gleich schnell reisende Nordkoreanerin. Sie hatte wohl ebenfalls nur auf die Landschaft hinausblicken wollen. Das Verrückte lag in der Dauer: Bestimmt eine halbe Minute schon riss der zufällig entstandene Blickkontakt nicht ab.

Erst lag darin: Nichts.

Dann: Du kennst mich nicht. Ich kenne dich nicht. Wir sehen uns nie wieder.

Dann: Schon komisch. Wie wir beide uns jetzt. In diesem Moment. In diesem immer länger werdenden Moment. So bewusst anstarren. So unangenehm bewusst.

Aber warte noch. Ich, Claudia, schlage blitzschnell eine Brücke. Ich komme zu dir, und wir teilen oder tauschen unsere Leben …

Im nächsten Moment dachte sie: Was für ein kindischer Unsinn. Erst Oma, jetzt Kind! Vielleicht sollte ich mich doch etwas ausruhen.

Die Nordkoreanerin war verschwunden.

*

In Pjöngjang strahlte der Tag. Die Mitglieder der deutschen Delegation zogen ihre Rollkoffer auf den kreisrunden Bahnhofsvorplatz – und sahen dabei aus wie aus dem Ei gepellt: rein und sicher. Kaum Betrieb herrschte. Einige Wachsoldaten standen stramm an Ecken, die nicht wirkten, als müssten sie unbedingt bewacht werden. Claudia konnte das schöne Gesicht aus dem Zug nirgends entdecken.

Ein freundlicher Agent begrüßte sie auf Englisch. Er stellte sich als ihr Fahrer vor. Nicht ganz zu Unrecht, denn er fuhr den Bus, in dem sie kurz darauf saßen, und doch hatte er mindestens eine Militärakademie besucht. Ein Inoffizieller Mitarbeiter des Staatssicherheitsdiensts. Oder IM oder MFS. Agent war Claudias Allroundbegriff geworden. Außer an Kino und Popcorn erinnerte der sie an nichts.

Der Agent scherzte in sein Mikrofon. Er hoffe, die Deutschen stießen sich nicht die Köpfe an der Decke. Zwar chauffiere er in diesem Bus auch manchmal ein Basketballballteam. Aber eines von hier.

Als niemand außer Claudia mit einem freundlichen Glucksen reagierte, schob er erklärend hinterher: Koreaner seien bekanntlich klein.

*

Auch später beim Mittagessen im Hotel lächelten Claudias Mitreisende allenfalls verspannt. Sie tauschten sich flüsternd darüber aus, was ihnen besonders suspekt war. Die fünf in ihren Augen identisch aussehenden Kassiererinnen im Hotelshop rangierten weit oben. Sobald die Tür des Shops aufging, hackten sie auf ihre übergroßen Taschenrechner ein, taten wild beschäftigt, obwohl sie doch kaum Kundschaft hatten. Wie viele Menschen gastierten in diesem Geisterhotel? Verteilt auf vierunddreißig muffige Stockwerke? Zehn? Auch der Agent war ihnen suspekt. Auffällig oft und nah schlendere er vorbei, flüsterten die jungen Deutschen, schaue dabei alibimäßig auf ein gar nicht funktionierendes Mobiltelefon.

Wer flüstert, der lügt, dachte Claudia. Zu den Kassiererinnen war ihr ein altes DDR-Sprüchlein eingefallen. Wir tun, als würden wir arbeiten, die tun, als würden sie uns bezahlen. Aber sie behielt es für sich, sie wollte weg von diesem Munkeln.

«Mögt ihr Kimchi? Es wird hier im Norden mit Rotchili zubereitet», sagte sie laut. «Besser als im Süden. Ich bestelle mal.»

Auf nichts hatte sie weniger Lust als darauf, erneut all die Klischees und Schaurigkeiten aufgezählt zu bekommen, die in keinem Nordkoreabericht fehlen durften. Stockwerk elf kam auf den Knöpfen im Aufzug nicht vor, wurde angemerkt. Dort mochten sich Abhöranlagen verbergen.

Oder auch nicht.

Zwölf Frisuren seien nordkoreanischen Frauen erlaubt, Männer müssten aus nur acht Frisuren wählen …

Reichte ihr schon.

*

Am Nachmittag folgte der verpflichtende Besuch im Mausoleum. Fünf Stunden zogen sie in Zweierreihen an Medaillen, Wimpeln und Pokalen vorbei.

In der Gruft verbeugten sie sich vor den gläsernen Schneewittchensärgen der Kims. Graue Gesichter auf rotem Zierkissengrund. Stimmungsaufhellend wirkte der Ort nicht, wie Claudia zugeben musste.

«Kann es sein, dass uns seit unserer Ankunft eine Frau folgt?»

«Den Mann da an der Ecke kenne ich auch schon. Nur in anderen Klamotten.»

Konnte alles sein, wusste Claudia und war froh um den fröhlichen Hotelpagen, die vernünftige Frau an der Rezeption und alle anderen, die einen normalen Eindruck machten. Es erstaunte sie, wie sehr sie sich bereits mit dem Land identifizierte. Bei ihrer ersten Reise hatte sie noch durchgehend das Gefühl gehabt, Deutschland zu sein. Nun fühlte sie sich eher als Jena, wo sie herkam – und die anderen waren Berlin.

Beim Abendessen dankte die Gruppe Claudia überraschend für ihre beruhigende Art. Die ein, zwei Nordkoreaner, mit denen sie länger gesprochen hätten, seien tatsächlich ganz locker und normal gewesen. Und das Kimchi mit Rotchili schmecke, sagten sie, an den Agenten gerichtet, der auf sein – eigentlich doch funktionstüchtig wirkendes – Mobiltelefon sah.

Claudia hatte ihnen das Thema Essen empfohlen. Das sei immer noch der Smalltalk-Stabilisator Nummer eins. Der Agent, der sich über den Abend hin in drei Agenten aufspaltete, empfahl ihnen umgehend weitere Seitenspeisen und Drinks. Claudia, die fließend Russisch sprach und ein wenig Koreanisch, half mit Übersetzungsvorschlägen aus.

Einige der jungen Frauen sahen spürbar zu ihr auf. Das schmeichelte ihr. Sie galt als intellektuelle Lebefrau. Glossistin. Autorin. Ex-Taxifahrerin aus dem Osten. Als eine, die sich durchgebissen hatte. Sie selbst hatte ihre Kindheit in Jena keinesfalls als Zumutung erlebt. Im Gegenteil. Ihre Eltern, Dozenten an der Technischen Universität, hatten ihr ein privilegiertes Leben geboten. Mein Sonntagskind, hatte ihre Mutter sie genannt.

Nach der Wende hatte sie oft ein schlechtes Gewissen gehabt, so gut war es ihr ergangen, und so wenig hatte sie sich als Jugendliche für Leute, denen es schlechter ging, für Leute aus anderen Kreisen interessiert.

In Pjöngjang kam das schlechte Gewissen zurück. Gerüche ließen etwas in ihrem Inneren splittern. Darunter flossen Assoziationen hervor. Schon bei ihrem ersten Besuch war ihr im Hotel das Aroma eines Reinigungsmittels aufgefallen. Das hatte sie seit ihrer Kindheit nicht mehr gerochen! Auf den Straßen vor den Wohnhäusern berührte sie der erdige Geruch von Torf-Briketts, ob angenehm oder unangenehm, ließ sich nicht sagen.

Die Erinnerungen eher gut. Die Gedanken nicht. Glück und Scham lagen dicht beisammen.

Pjöngjang gab ihrer Entscheidung, das Amt niederzulegen, den letzten Schub. Wo es hinginge, wusste sie nicht.

*

Auf dem Bett in ihrem Zimmer liegend, betrachtete Claudia Aebischer Kim Jong-il und Kim Il-sung. Apfelbackig schauten sie aus ihren goldenen Rahmen an der gegenüberliegenden Wand. Der Ginseng-Schnaps aus der Minibar machte ihr zunehmend Spaß. Rauchen war überall erlaubt. Es stimmte schon: Eine Nordkoreareise war eine Zeitreise in die frühen Achtzigerjahre. Wenn nicht gar in eine alternative Vergangenheit. Hier zählte man offiziell das Jahr 107 nach Kim Il-sung.

Als sie barfuß über den sumpfgrünen Teppich des Hotelflurs ging, um das Stockwerk zu erkunden, huschte eine junge Frau an ihr vorbei, sie wusste gleich: Es war die aus dem Zug. Bei ihrem letzten Besuch hatte sie einige solcher Begleiterinnen um sich herum wahrgenommen. Aber keine mit einem so eigentümlich nahbaren Gesicht. Keine, die einen diffusen Emotionsfluss auslöste, wie sonst nur Gerüche, die man längst vergessen hatte.

Das Licht war ausgegangen, Claudias Kehle plötzlich staubtrocken. Sie schlich an den Lichtinseln der Kim-Porträts vorbei und betrat ein Treppenhaus. Dort war es, als blickte man in den Raum hinter der Matrix. Als habe man die Retro-Realität verlassen und sehe erstmals den rohen Raum der echten Welt. Und der hallte und verströmte eine Baustellenkälte und lag weit in der Zukunft und war außerdem frisch und blendend weiß gestrichen. Von ihrer Begleiterin war nichts mehr zu sehen.

CLAUDIA AEBISCHER WAR fünfzig Jahre alt. Sie hatte drei erzählende Sachbücher geschrieben. Kyŏksul. Weimar. Armutsforschung. Nicht geschrieben hatte sie das literarische Werk, das ihr in ihrer Jugend vor Augen gestanden hatte. Das Poesie-Ding, wie sie es für sich nannte. Dieses Nicht-Buch begleitete sie.

Das letzte halbe Jahr mit der Entscheidung, aus dem Amt zu scheiden, hatte sie in eine merkwürdige zweite Pubertät gestürzt. Sie fragte sich, was sie seinerzeit gehindert hatte, Schriftstellerin zu werden. Warum hatte sie es nicht zumindest versucht?

Ihre vorläufige Antwort lautete: Es war ihr bis weit in ihr Erwachsenendasein hinein zu gut gegangen, um wirklich etwas zu wagen. Das Thema dieses einen großen Buches wäre natürlich Alles gewesen – und damit ein Wagnis. Die Sachbücher hatte sie ohne große Verrenkungen zuwege gebracht. Zuletzt hatte sie das Thema Makrofotografie ins Auge gefasst. Ihre Begeisterung für die Landschaften des Kleinsten, ausgelöst durch die Ausstellung eines Bekannten aus Amsterdam, war ungebrochen. Dennoch erschien es ihr jetzt wie ein schlechter Scherz, ein Buch zu schreiben über die allerkleinsten Dinge. Ein Feelgood-Essay für Hobbyfotografen?, sagte eine hämische Stimme in ihr. Mehr hast du nicht mehr vor?

Familie: keine.

Ihre Eltern lange tot.

Sie hätte jetzt, nach bald zehn Jahren, plötzlich wieder darüber heulen mögen.

*

Beim Frühstück meinte Claudia zu sehen, wie die Schreibenden unter ihren Mitreisenden innerlich schon an ihren Artikeln werkelten. Sie glaubte auch zu wissen, wie diese Artikel klingen würden. Stilsicher. Sie würden stilsicher das Angelesene wiederholen. Sie würden klug-ironisch die Oberfläche der Inszenierung beschreiben und daraus folgern:

Mehr bekommt ein Mensch in diesem Land nicht zu sehen.

Aber ich vielleicht doch, schoss es ihr ein. Die anderen müssen sich noch beweisen und seriös sein, aber ich? Bin ich nicht alt und frei?

Rauchend stand sie am Fenster.

Pjöngjang war die Stadt der wenigen Farben. Über einem Feld ungeheuer symmetrischer Wohnriegel stand die stumpfsilberne Sonne. Die schraubenförmigen Bauten des Wissenschaftlerviertels schimmerten in einem unaufgeregten Marzipanrosa. Keine Musik. Keine Sitzgelegenheiten. Keine Menschengruppen. Keine Teenie-Trauben. Keine als solche zu erkennenden Geschäfte oder Restaurants, keine Aufschriften, keine Cafés, kein Lärm. Immer nur: Plattenbau, breite Straße, einfarbige Wand. Schneekugelstille herrschte unter der aufblendenden Sonne.

*

Vor dem Hotel warteten sie auf die angekündigte Dolmetscherin. Ihr Name sei Sunmi, und sie spreche fließend Deutsch, verriet der Agent. Sie würde ihnen die zukünftige Deutsche Bibliothek präsentieren, die bisher nur der deutsche Botschafter von innen gesehen hatte.

Claudia hatte bei ihrem ersten Besuch mehrere Gebäude besichtigt. Lange war unklar geblieben, welches das Rennen machen würde. Bei allen handelte es sich um freistehende Villen, sehr repräsentativ, schließlich ging es den Nordkoreanern bei der Sache vor allem um die Presse, um den Schein nach innen und außen. Über den Symbolwert solcher Projekte war Claudia sich im Klaren; diesmal erschien er ihr noch bedeutsamer als sonst.

Während die anderen Deutschen bald nach der Eröffnung wieder abreisen würden, bliebe sie weitere drei Wochen vor Ort, um die Einrichtung des Hauses zu begleiten. Als Besucher waren allenfalls ein paar Parteikader zu erwarten, die so tun würden, als stünde die Bibliothek allen offen.