Jackie in Silber - Andreas Stichmann - E-Book

Jackie in Silber E-Book

Andreas Stichmann

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Beschreibung

Held sein! Darum geht es doch. Frisch auf, geradeaus! Ein Afrikareisender stolpert über ein Riesenmädchen. Eine Witwe wartet am Zuckerwattestand. Eine freiheitsliebende Mama bricht am Frühstückstisch zusammen. Und die Kneipengemeinschaft setzt alle Hoffnung auf den großen Verkünder. Dass Helden scheitern, ist der Lauf der Dinge. Sie bleiben zurück im trostlosen Hawaiihemd, im eigentlich doch nicht so glamourösen Silberkleid. Andreas Stichmanns Helden aber laufen im Scheitern zur Höchstform auf. Sie finden sich in den unterschiedlichsten Situationen wieder: Etwa in Südafrika, wohin die Erzählung Malealea führt. Dort sehen sich zwei junge Männer trotz aller Offenheit unüberwindbarer Fremdheit gegenüber, aber auch unvergesslichen Eindrücken. In Goldener Stern wird versucht, Mädchen zu beeindrucken - unverständlicherweise durch Sport. Und dann bleibt noch die Frage: Wer ist Rex Huhmann? In diesen elf Erzählungen trifft der Leser auf eine junge Stimme und auf einen Blick, der sich abseits der begangenen Wege neu auf die Welt einlässt. Mit allen Folgen. Andreas Stichmanns Texte sind klar, ohne einfältig zu sein. Sie schillern an ungewohnten Stellen. Sie haben angenehm greifbare Ecken. Sie sind witzig, ohne mit dem Humor durch die Luft zu wedeln. Und es finden sich Sätze in ihnen, mit denen man sofort seine Wohnung schmücken möchte.

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Seitenzahl: 162

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Inhaltsverzeichnis

Alleinstehende Herren

Wasserleiche

Bussardweg

Malealea

Die Blumen

Hey Hoppmanns

Goldbarrenmann

Schnurrbart

Wer ist Rex Huhmann?

Frances stirbt

Der goldene Stern

Andreas Stichmann

Impressum

Alleinstehende Herren

Wenn der Nachmittag schwer wird und Schatten aus den Wolken fallen, wenn die Ameisen in Ritzen flüchten, weil es draußen kalt wird, wenn es drinnen warm wird, gehst du raus und kackst hinter die Hochhäuser. Aus der Grube krähen Fahrradspeichen, Kühlschrankleichen und Rostgerippe. Ein Hauch von Abenteuer.

Du schreitest durch das pudrige Licht der Laternen, die Arme hinter dem Rücken verschränkt. Du siehst imaginäre Passanten laufen, grüßt mit dem Nicken eines Generals. Erschrickst, wenn du dich im Schaufenster lachen siehst. Nur selten begegnest du wirklich noch einer späten Oma, die ist dann plötzlich sehr echt.

Paul, der im ersten Stock wohnt, macht jetzt alles. Du gehst mittags raus, da steht er mit seinem Hot-Dog-Stand an der Straße. Du gehst wieder rein und rufst beim Kinoprogrammservice an, Paul ist dran und sagt: »Sie wünschen?« Du gehst in die Fußgängerzone, da steht Paul als Känguru und verteilt Reisebürowerbung. Wahrscheinlich ist er einsam, du kennst das, du kennst das. Oft genug wachst du verdattert auf und denkst: Hier bin ich wieder, mit wem rede ich denn? Dann drehst du dich noch mal um und willst dem ganzen Quatsch entgehen, aber etwas sagt dir: Schlaf nicht so lange, Schlaf kann Menschen trinken. Putz Zähne, steck eine Münze in den Tag. Schließlich bist du der Hootscha-Kutscha-Mann. Und du stehst auf und richtest die Wohnung her, denn gleich kommen die Jungs vom Club der einsamen Männer. Da will das Fruchtgummi auf den Tisch gestellt sein, da will die ganze Wohnung im warmen Gewand sich zeigen. Go on, zwitschert das Radio, der neueste Hit der Zitronengirls.

Paul klingelt um drei. Er trägt seine Pizzabotenuniform, nimmt dir den Staubwedel aus der Hand, klopft dir damit lustig auf den Kopf und fragt: »Wo ist der Korn?« Kurz darauf kommt auch Henneberg. Ihr seid drei Freunde in der Welt. Du wirst gebraucht, man erwartet Schlagfertigkeiten. Wer kann so schön potztausend sagen wie du? Keiner ja wohl, und darauf kommt es an. Nach der ersten Runde Memory wird Henneberg symbolisch. Er nennt die Weiber einen Kühlschrankverein, dumpf summend, voller Milch und Wurst. Dazu hebt er den Finger. Auch Paul guckt weinerlich. Und jetzt kommt dein Spruch: »Das ist eben so. Wer wären wir, wären wir nicht alleine? Wer will Kaffeemaschine oder Engel sein? Es ist wie beim Memory, Pärchen kommen raus. Trinken wir noch einen, das Leben ist lang.« Da gucken sie dich an, und ihre Tränen trocknen. Du bist der Ramba-Zamba-Mann.

Später fragst du: »Jungens, wollen wir mal spazieren gehen?« Aber da ist es schon Abend, und die Jungens sind weg. Also gehst du alleine raus, Spaziergang ist schön. Da stehen die Sterne am Himmel, für jeden Menschen einer. Da wirfst du Steinchen an Lieselottes Fenster, bis sie den Kopf herausstreckt: »Neinneinnein!«

Du denkst: Neinneinnein? Warum nicht einfach mal Ja?

Wach auf, steh auf, geh bummeln. Sieh die neuesten Kettensägen im Fenster. Riech im Bücherladen den Schöner-Leben-Duft, kauf Die tausend tollsten Witze. Ein Vorrat an Witz lässt die Frauen miauen. Und anschließend in den Vogelladen. So ein kleiner Franz oder Fritz im Käfig. Was würde denn der Verkäufer empfehlen? Einen Sittich oder Piepmatz, eine Macke oder Meise? Paul sagt: »Das müssen Sie schon selbst wissen, mein Herr.« Und du nimmst erst mal nur den Käfig, das ist ja schon mal nichts.

Montag: Der Club geht im Vorstadtpark Rollschuh laufen. Sportlich vorbei an Baum, Hund, Baum. Das macht das Kreuz robust und die Muskeln geschmeidig. Vorneweg Paul, mit den Händen hinter dem Rücken. Dann Henneberg und du, euch gegenseitig stützend. Die Fräuleins weichen wortlos aus. »Herrschaftszeiten«, sagt Henneberg, auf der Parkbank verschnaufend, »wo kommen die nur alle her? Gott muss einen riesigen Topf voller Mädchenpampe haben, da greift er rein und formt Arme, Beine, Zöpfe. Streut allem noch eine Prise Unerreichbarkeit zu, denn das ist der Hauch des Lebens, jaja.«

Am Dienstag trifft Paul seine Witwe, motorisiert aus dem Anzeiger. Ihr anderen zwei hängt vor der Fensterscheibe des Italieners und seht zu. Paul sitzt so weit ganz souverän am Tisch, einer riesigen, lächelnden Nase gegenüber. Der Kellner kommt, der Kellner geht. Als die beiden das Restaurant verlassen, guckt ihr weg und kennt Paul nicht. Nur zwei zufällige Herren, die einen Sportrülpswettbewerb machen. Paul schüttelt der Dame die Hand. Die Dame geht und steigt in den Bus. Paul guckt traurig. »Habt ihr diese Nase gesehen?« Zärtlich klopft ihr dem Kumpel die Schulter. »Alter Junge, vielleicht beim nächsten Mal!« Dann zieht ihr unsicher grölend in den Imbiss 5000 und stellt euch zu den Karikaturen an den Tisch. Paul wagt ein Spielautomatspielchen, er erntet Kleeblatt, Herz und Stern. Du sagst: »Potztausend.« Henneberg hebt den Finger.

Lieselotte hat gesagt, einen Tee könne man ja mal trinken. Du duschst den ganzen Morgen, dann reibst du dich mit Kokosöl wund. Pünktlich um kurz nach zwei stehst du vor ihrer Tür. Du hast Rosen dabei und setzt dein dreieckiges Lächeln auf. Als Lieselotte in der Tür steht, merkst du, dass die Rosen kitschig sind. Heute kommt man zufällig vorbei, nur so, vielleicht ein Teechen? Ach, warum nicht, ehe ich mich totschlagen lasse, ein Tässchen geht rein. Anis-Fenchel-Kümmel oder Hagebutte?

Sie nimmt dir die Rosen ab und legt sie in die Spüle. Du denkst: Ihr Mund ist wie eine Blume, und ihre Augen sind wie zwei schöne Blumen. Ihr setzt euch auf ihre linksradikale Couch. Sie erzählt von dem Igel, den sie als Kind verarztet hat. Wie schön sie ist, so wunderschön doof. Ihre Socken geringelt, ihre Nase weich, wie sie Tee rührt und plaudert dabei. Wie sie dich nie ansieht beim Reden, immer Fingernagel guckt, Zucker vom Tisch fegt. Und wie fremd es riecht, nach Ananassaft.

Um vier kommt der große, schöne Punk, mit ihm ein Hauch von Büffel und Musik. Lieselotte stellt dich vor: »Das ist mein ganz besonderer Kumpel.« Sie stellt ihn vor: »Mein zukünftiger Mann.«

Warum ist es nie anders, als es ist? Du verabschiedest dich. Du schlenderst draußen herum. Die Nacht, sie naht auf samtenen Tatzen. Dort der alte Straßenclown unter der Laterne. Er sieht aus wie ein Kinderschänder und dreht seine Leier. Es ist Paul. Er sagt: »Willst du meine Lebensweisheit hören?« Er zeigt auf seine Lebensweisheiten-Tafel, auf der mit Kreide etwas von Regenbogen und Traumtränen geschrieben steht. Dann schmeißt er dir ein Bonbon an den Kopf und sagt: »Geh nach Hause.«

Am Donnerstag hört man Gepolter im Hof. »Polterabend«, sagt Henneberg zart. Jemand reicht euch Dosenbier, ihr stellt euch dazu. Hässliche Zottel zerschmeißen Geschirr. »Seit wann heiraten Punks?«, fragst du. Paul klopft dir auf die Schulter: »Nimm’s nicht so schwer.«

»Glück auf«, ruft ein Punk und zerschmettert zehn Teller.

Am Wochenende geht der Club auf Tour, warum auch immer zu Hause saufen? Es geht zum Jahrmarkt, dort steht ihr vor dem Riesenrad. Die sich drehenden Frauen, wie Hähnchen am Spieß. Paul trifft seine motorisierte Nase am Zuckerwattestand. Ihr staunt nicht schlecht: Sie wartet im Minirock, und ihr Körper ist allerhand. Aber ihr wollt den Freund nicht stören, ihr schießt euch lieber für Kuscheltiere um Kopf und Kragen. Henneberg kauft den Kindern einer jungen Mutter sieben Eis. Du selbst probierst Späßchen bei einer eisigen Diva. Aber sie lächelt nur und sagt: »Geh weg.« Puff macht es an der fantastischen Bude. Der sprechende Affe zersägt die Frau mit dem Bart. »Henneberg«, sagst du, »sondieren wir die Lage!« Aber da ist es schon Nacht, und Henneberg ist weg. Also steigst du in die Bahn, als letzter Schrei, also kriechst du ins Krokodilmaul deines Bettes und lässt dich verdauen. Stehst auf als Knochen. Der Nicht-Vogel schweigt, und beim Frühstück spürst du dein Hirn. Ein säuerliches Brennen in den Schläfenlappen.

»Tja, ihr Flitzpiepen«, sagt Paul nachmittags im Imbiss 5000. Man habe noch Cocktails getrunken und sei dann zu ihr. Er habe in Anbetracht der Lage über einiges hinwegsehen können.

»Offene Beziehung«, sagt er. »Entspannte Sache.«

»Goldhochzeit?«, fragt Henneberg betrunken.

»Nee, Cocktails«, sagt Paul. »Entspannter Jazz, Sex mit Verhütung.«

»Schweinebraten«, sagt Henneberg und hebt den Finger.

»Nee, vielleicht gemeinsam Ostsee«, sagt Paul. »Abenteuer, Nacktbadestrand.«

»Fortpflanzung«, fordert Henneberg. »Gemeinschaftsgrab!«

Und als Henneberg später Verzweiflung sagt, winkt Paul nur ab: »Das ist doch überholt.«

Dienstagabend, Gedichtegruppe. Unten bei Paul im dritten Stock. Paul kaut Bleistift und dichtet ganz wacker. »Was reimt sich bitte auf Busen, so warm?« Auch du bist ganz Zeilenbruch und Anapher. Nur Henneberg liest lieber in einem Reiseprospekt: »Lassen Sie sich von der Südsee verzaubern. Hier ist die Frau noch Frau, hier wird der Fisch noch auf Holzkohle gegrillt. Genießen Sie den Meerbusen, Beachlife pur.«

»Die Mädels warten dort sicher schon auf dich«, lacht Paul.

»Warum nicht«, sagt Henneberg. »Solide Typen sind immer gefragt.«

Paul schäkert: »Sagt mal, Mädels, wer ist denn dieser solide Typ da vorne? Ist das nicht der berühmte Henneberg? Was für ein Mann, ich werd schon ganz wuschelig!«

Paul steht auf und taumelt zum Kühlschrank: »Huh, dieser Henneberg, da werde ich mir gleich mal meine Südseetitten einölen! Vater, schlachte schon mal ein Gnu für die Hochzeitszeremonie! Huh, dieser Henneberg, oh Götter, oh Liebe!«

»Du Fuzzi«, brüllt Henneberg plötzlich, schubst Paul in den Bücherschrank und stampft aus der Tür.

Am Mittwoch denkst du: Was ist denn jetzt los? Hausbewohner tragen Möbel aus Hennebergs Wohnung. Lieselotte sagt, Henneberg habe alles verschenkt und sei vorhin mit Koffer und Hawaiihemd in ein Taxi gestiegen. Ob du ihr helfen könntest, seine Kommode in ihre Wohnung zu wuchten?

Paul hält ein weiteres Taxi an und fordert den Fahrer auf, zu brettern. Im Flughafen trennt ihr euch, du links, Paul rechts. Du gerätst zwischen kirre Uniformen, Außerirdische und Japaner, von denen du nicht weißt, ob sie lächeln oder kauen. Wo ist Henneberg?

Im lautlosen Aufzug schwebst du zum Duty-free, trittst in einen grünen Duft, ein Hauch von Mandel? Vor einem Geschäft für Partymützen läufst du Paul über den Haufen. Zusammen marschiert ihr an führerlosen Bahnen vorbei, an WC, Bankautomat, Prayer Room.

Was ist das für ein künstlicher Tag? Was ist das für ein Pfeifen, wie von Urwaldäffchen?

Auf der Aussichtsplattform findet ihr Henneberg schließlich. Zu seinem schreienden Hemd trägt er eine Spiegelbrille.

»Ich kenne Sie nicht«, sagt er. »Was wollen Sie von mir?«

»Henneberg, du kannst doch nicht einfach verdampfen!«

»Wieso? Haltet ihr mich für spießig? Ich fliege jetzt für immer nach Bora Bora, ihr Fürze! Kokosnüsse, Sonne, Busen, noch Fragen? Alles runde und gesunde«, lacht Henneberg.

»Hula hula«, lacht Henneberg und tanzt ein paar Schrittchen. »Tutti Frutti«, sagt er. Dann friert er plötzlich ein.

Paul fragt: »Alles in Ordnung?«

Henneberg schweigt.

Gemeinsam seht ihr auf das Feld der Startbahnen hinaus. Ihr betrachtet die Spielzeugautos, die zwischen den riesigen, damenhaften Flugzeugen fahren.

Wasserleiche

»Es ist Zeit«, sagte Mo. »Wir sollten ihn bestrafen.«

»Wen?«, fragte ich.

»Na, ihn.«

»Erik Morlof, Sebastian Krüger oder William Brian?«

»William Brian«, sagte Mo.

Er schnippte seine Zigarette weg und steckte sich die, die hinter seinem Ohr klemmte, zwischen die Lippen. Das war Mo. Er stand einfach da in seiner dicken Thermojacke, die Red-Bulls-Kappe auf dem Kopf, die Zigarette zwischen den Lippen, und schwieg. Es reichte vollkommen aus. Mehr musste man in diesem Moment nicht tun. Eigentlich hieß er auch gar nicht Mo, sondern Mortimer, aber das war kein großes Thema für ihn.

»Ich heiße Mortimer«, sagte er, »und das ist für mich kein großes Thema, über das ich lang und breit sprechen möchte. Wenn mich jemand Mortimer nennt, sage ich: Das stimmt, ich heiße Mortimer, meine Freunde nennen mich allerdings Mo. Wenn du mein Freund bist, dann nennst du mich Mo, das ist alles. Mehr steckt nicht dahinter.«

»Okay, Mo.«

»Ich kann dich auch freundlich darum bitten, aber ich denke, das wird nicht nötig sein.«

»Nein, Mo, das ist nicht nötig. Ich verstehe, was du mir sagen willst.«

»Gut, dann hätten wir das geklärt.«

Das hatte er ganz am Anfang gesagt. Inzwischen kannten wir uns schon eine Weile und standen jeden Abend zusammen auf der Wiese vor unserem Wohnblock. Wir standen ein Viertelstündchen, dann ging Mo seiner Wege, und ich ging nach Hause. So war es immer. Aber an diesem Abend kam es anders, an diesem Abend sagte Mo: »Es ist Zeit, wir sollten William Brian bestrafen.«

Wir überquerten die weite Betonfläche vor der leer stehenden Müllcontainerfabrik, und ich dachte, dass es gut war, wie wir hier so langgingen, Mo und ich. Der Himmel schwankte zwischen dunkel und hell, weit draußen konnte man die Umrisse der Wohnblöcke erkennen.

Wir betraten eine große Halle, in deren Mitte ein Sessel stand. Es war Mos Sessel, das merkte man sofort. Er setzte sich hinein. Aus dem zerbrochenen Fenster hinaus sah ich, dass seine Freunde im Anmarsch waren. Es waren ziemlich viele, und für einen Moment sah es aus, als wären es Tausende.

»Du musst dir keine Gedanken machen«, sagte Mo, »Du bist mein Freund, und ich möchte, dass die Jungs dich mögen.«

»Schon okay, Mo, ich mache mir keine Gedanken.«

Dann waren sie da. Sascha, René, Maik, Ronny, Rudi, Justin, Kai, Matze, Malte und Enrico. Mein Bruder Mario war auch dabei. Ich kannte jeden einzelnen von ihnen, aber ich hatte nicht gewusst, dass es Mos Freunde waren. Es kam mir vor, als wüsste ich überhaupt sehr wenig.

Wir setzten uns auf die beiden Matratzen, die vor Mos Sessel lagen. Sascha röstete Tabletten auf einem Stück Alufolie, dann holte er ein Plastikröhrchen raus und gab das Ganze durch. Wir inhalierten den Dampf. Als die Reihe an Mo war, winkte er ab. Er war kein Typ dafür, aber es war klar, dass ihn trotzdem alle respektierten. Sie waren selbst ganz anders, aber Mo war eben Mo.

»Es ist Zeit«, sagte Ronny, »William Brian zu bestrafen.«

»Absolut richtig«, sagte Rudi.

»Dito«, sagte Sascha.

»Vielleicht aber auch nicht«, sagte Enrico.

Wir sahen ihn alle an. Es klang ziemlich seltsam, was er da gesagt hatte, und ich merkte, dass wir jetzt alle auf etwas warteten. Mo hob die Hand. Bisher hatte er noch gar nichts gesagt, aber jetzt schaltete er sich ein, und ich glaube, wir waren alle froh darüber.

»Enrico?«

»Ja, Mo?«

»Das, was du da eben gesagt hast, Enrico, das finde ich nicht in Ordnung.«

»Nein, Mo?«

»Nein, Enrico, und ich sage dir auch, warum. William Brian, das wissen wir alle, verdient eine Strafe. Ich bin keiner, der große Diskussionen anfängt, aber William Brian kennt keine Skrupel, und deshalb verdient er eine Strafe, da erzähle ich uns nichts Neues. Und wenn du jetzt sagst, dass er ›vielleicht keine Strafe verdient‹, sagst du etwas, das ich ziemlich daneben finde. Weißt du, was ich dir damit sagen will, Enrico?«

»Ich glaube schon, Mo.«

Mo legte den Kopf in den Nacken und sah an die Decke.

Ein Stein kam durch das zerbrochene Fenster hereingeflogen. Ein weiterer Stein zerbrach eine der wenigen Scheiben, die noch nicht zerbrochen waren. Ich ging zum Fenster und sah, dass die Mädchen kamen. Es waren die Mädchen aus dem Heim. Ich erkannte Nicole, Moni, Bibi, Claudia, Anna, Hannah, Kassandra, Nina, Sandy, Ronja und Klara. Ich hatte das Gefühl, dass etwas Entscheidendes auf mich wartete, aber ich wusste nicht, was es war. Ich wusste nur, dass verdammt viele Menschen in der Gegend wohnten, und dass sie sich offenbar kannten. Ich hatte bisher nichts davon mitbekommen, und jetzt wollte ich herausfinden, was es damit auf sich hatte. Das war alles. Ich war jetzt hier.

Die Mädchen saßen zwischen uns auf den Matratzen und stießen mit Flaschen an. Ein Mädchen, es war Moni, saß direkt neben mir und machte ein klackerndes Geräusch mit den Zähnen. Sie ließ die Augen von links nach rechts wandern, lächelte und machte dieses Geräusch. Sie hatte das gewisse Etwas. Aber Nicole, die auf Rudis Schoß saß und den Kopf beim Lachen zurückwarf, hatte es auch. Sie ließ den Oberkörper zurücksinken und legte ihre Wange an Rudis Wange.

Dann hob Mo wieder die Hand.

»Ihr Lieben«, sagte er, »wir haben heute einen besonderen Gast.«

Jeder wusste, dass ich gemeint war. Ich lehnte mich zurück und steckte mir die Zigarette, die hinter meinem Ohr geklemmt hatte, zwischen die Lippen. Ich machte sie nicht an, ich steckte sie mir nur zwischen die Lippen. Ich wusste nicht, ob es richtig war, dass ich mich zurückgelehnt hatte, aber das mit der Zigarette war genau richtig gewesen. Ich spürte es.

»Er heißt Dennis, und ihr kennt ihn alle«, sagte Mo. »Aber ich glaube nicht, dass ihr wisst, zu was er fähig ist. Ich kann erst mal nur so viel sagen: Er ist heute unser Gast, und ich möchte, dass ihr ihn mögt.«

Alle nickten. Die Mädchen nickten etwas zögerlicher. Es schien mir, als hätten sie im Hintergrund Angelegenheiten laufen, von denen kein Mensch etwas wissen konnte. Aber sie nickten auch, und es war gut, dass Mo gesagt hatte, was er gesagt hatte. Ich wusste, dass ich jemand war.

»Auf unseren Gast«, sagte Kai.

»Auf unseren Gast«, sagte mein Bruder Mario.

»Auf euch alle«, sagte ich.

Wenn ich auch vieles nicht wusste, so wusste ich doch, was Erik Morlof, Sebastian Krüger und William Brian getan hatten. Jeder wusste das, sogar der Himmel und die Sterne.

Ich hatte Erik Morlof, Sebastian Krüger und William Brian einmal gesehen, nachts aus dem Fenster. Sie waren auf den Wohnblock zugegangen und hatten mit ihren Taschenlampen in mein Fenster geleuchtet. Es war zu der Zeit, in der ich der Meinung war, dass es mich vielleicht gar nicht gibt. Ich lag abends im Bett, sah mit geschlossenen Augen mein Zimmer vor mir und dachte: Es gibt mich nicht. Dann machte ich die Augen auf und sah plötzlich diese Lichter im Fenster. Ich sah die drei Gestalten unten auf der Wiese und wie sie zielsicher in mein Fenster leuchteten. Am nächsten Morgen wusste ich nicht mehr, ob es ein Traum gewesen war, aber das mit der Wasserleiche war keiner.

Sie hatten Lilly Wirths unten im Fluss gefunden. Lilly Wirths aus dem Heim. Jemand hatte ihre roten Haare auf dem Wasser treiben sehen, und wir waren alle dabei, als die Polizisten sie mit einem langen Stock ans Ufer zogen. Ich versuchte, wegzusehen, aber dann sah ich doch hin, und ich sah, dass kein Ausdruck mehr in ihren Augen war. Sie war nicht mehr Lilly Wirths.

Erik Morlof, Sebastian Krüger und William Brian standen dabei, und jeder wusste, dass sie Lilly Wirths verführt hatten. Sie hatten sie in die Waldhütte gelockt und mit Wodka abgefüllt, dann hatten sie es getan. Auf dem Tisch. Und hinterher hatten sie sie abgemurkst. Sie hatten ihr die Pulsadern aufgeschnitten, damit es wie ein Selbstmord aussah. Sie hatten auch Kondome benutzt und überhaupt alles richtig gemacht. Drei alte Männer und die kleine Lilly.