Eine Privatsache - Beppe Fenoglio - E-Book

Eine Privatsache E-Book

Beppe Fenoglio

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Beschreibung

Der Partisan Milton besucht während eines Erkundungsgangs die inzwischen verlassene Villa, in der Fulvia zu Beginn des Kriegs von ihrem Vater untergebracht worden war, um sie vor der drohenden Bombardierung Turins zu schützen. Gemeinsam haben sie dort Musik gehört und über Literatur geredet. Durch einen Zufall erfährt Milton, dass Fulvia damals mit seinem Freund Giorgio ein Verhältnis hatte. Er will Giorgio sofort zur Rede stellen, doch er muss erfahren, dass die Faschisten ihn geschnappt haben. Milton will ihn befreien und plant einen Gefangenenaustausch. Dazu muss er aber erst eine passende Geisel in seine Gewalt bringen. Das Vorhaben läuft vollkommen aus dem Ruder, die blutigen Ereignisse eskalieren. Fenoglio zeigt schmerzhaft, wie untrennbar das Private mit dem Politischen verbunden ist. Für viele italienische Autoren ist dieser Roman ikonisch. Italo Calvino nannte ihn das Buch, das eine ganze Generation von Autoren gern geschrieben hätte, und verglich es mit Ariosts "Orlando furioso". Es wurde dreimal verfilmt, zuletzt 2017 von den Brüdern Taviani.

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Seitenzahl: 220

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Aus dem Italienischen von Heinz Riedt

Die Originalausgabe erschien 1963 posthum unter dem Titel Una questione privata bei Aldo Garzanti editore in Mailand, die deutsche Erstausgabe 1968 beim Benziger Verlag in ­Zürich/Köln.

E-Book-Ausgabe 2021

© Beppe Fenoglio Estate

Published in arrangement with the Italian Literary Agency

Für das Nachwort: © 2021 Francesca Melandri

© 2021 für diese Ausgabe: Verlag Klaus Wagenbach,

Emser Straße 40/41, 10719 Berlin

Covergestaltung Julie August

Datenkonvertierung bei Zeilenwert, Rudolstadt.

Alle Rechte vorbehalten. Jede Vervielfältigung und Verwertung der Texte, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für das Herstellen und Verbreiten von Kopien auf Papier, Datenträgern oder im Internet sowie Übersetzungen.

ISBN: 9783803143174

Auch in gedruckter Form erhältlich: 978 3 8031 3339 7

www.wagenbach.de

1

»Den Mund leicht geöffnet, mit herunterhängenden Armen, sah Milton zu Fulvias Villa hinüber, die auf dem Hügel über der Stadt Alba lag.

Nicht dass sein Herz geklopft hätte, nein, es schien überhaupt nicht mehr da zu sein.

Da standen die vier Kirschbäume, die den Weg säumten hinter dem angelehnten Tor, die beiden Buchen, die ihre Wipfel weit über das dunkel glänzende Dach reckten. Die Mauern waren immer noch blendend weiß, ohne Flecken und Rauchspuren, die stürmischen Regenfälle der letzten Tage hatten ihnen nichts anhaben können. Sämtliche Fensterläden waren anscheinend schon seit langer Zeit fest verriegelt.

»Wann werde ich sie wiedersehen? Vor Kriegsende bestimmt nicht. Das wäre auch nicht gut. Aber an dem Tag, an dem der Krieg aus ist, mache ich mich auf den Weg nach Turin und suche sie. Sie ist fern von mir, genauso fern wie unser Sieg.«

Sein Kamerad kam auf ihn zu, er rutschte auf dem glitschigen Schlamm aus.

»Warum hast du diesen Umweg gemacht?« fragte Ivan. »Warum bleibst du hier stehen? Wohin starrst du eigentlich? Auf das Haus drüben? Was ist denn daran so interessant?«

»Seit Kriegsanfang habe ich es nicht mehr gesehen, und bis Kriegsende werde ich es nicht mehr sehen. Gedulde dich fünf Minuten, Ivan!«

»Hier geht’s nicht um Geduld, sondern um unsere Haut. Es ist gefährlich hier oben. Wegen der Patrouillen.«

»So weit wagen die sich nicht rauf. Sie kommen höchstens bis zur Eisenbahn.«

»Hör auf mich, Milton, machen wir, dass wir weiterkommen. Der Asphalt passt mir nicht.«

»Wir sind hier ja gar nicht auf dem Asphalt«, erwiderte Milton, der schon wieder die Villa anstarrte.

»Aber er ist gerade unter uns«, und Ivan deutete auf ein Stück Landstraße gleich unterhalb der Anhöhe, eine Straße voller Risse und Schlaglöcher.

»Der Asphalt passt mir nicht«, wiederholte Ivan.

»Auf einem Fuhrweg kannst du von mir aus soviel Blödsinn machen, wie du willst, aber der Asphalt passt mir nicht.«

»Warte hier fünf Minuten«, antwortete Milton ruhig und ging auf die Villa zu. Ivan kauerte sich seufzend auf die Fersen, stützte die Sten auf den Oberschenkel und überwachte Landstraße und Abhang. Er warf seinem Kameraden einen Blick nach. »Wie läuft denn der? In all den Monaten hab ich ihn noch nie so laufen sehen, wie auf Eiern!«

Milton war häßlich: Hochgewachsen, hager, mit gekrümmten Schultern. Er hatte eine dicke, ganz blasse Haut, die sich aber beim geringsten Wechsel von Licht oder Laune verfärben konnte. Obwohl er erst zweiundzwanzig war, hatte er an den Mundwinkeln schon zwei herbe Falten und eine zerfurchte Stirn, weil er die Angewohnheit hatte, sie immer zu runzeln. Sein Haar war kastanienbraun, doch Monate in Regen und Staub hatten es zu einem verwaschenen Blond gebleicht. Für ihn sprachen nur die Augen, traurig und ironisch, hart und begehrlich; sie zogen auch jene Mädchen an, die ihm keineswegs gewogen waren. Seine Beine waren lang, hager und sehnig; sein Schritt weitausholend, rasch und beherrscht.

Er trat durch das Tor, das nicht quietschte, ging über den Weg bis zum dritten Kirschbaum. Was für prächtige Kirschen hatte es im Frühling zweiundvierzig gegeben! Fulvia war hinaufgeklettert, um für sie beide Kirschen zu pflücken. Sie sollten nach einer Tafel echter Schweizer Schokolade verspeist werden, von der Fulvia einen geradezu unerschöpflichen Vorrat zu haben schien. Wie ein Junge war sie hinaufgeklettert, um die, wie sie sich ausdrückte, glorios reifsten zu pflücken, hatte sich auf einen Ast gestellt, der nicht sonderlich kräftig aussah. Der Korb war schon voll, aber sie kam immer noch nicht herunter; sie kletterte nicht einmal zum Stamm zurück. Er dachte schon, sie bliebe absichtlich so lange oben, damit er näher treten und einen Blick von unten zu ihr hinaufwerfen solle. Stattdessen wich er ein paar Schritte zurück. Ein Schauer fuhr ihm bis in die Haarspitzen, und seine Lippen bebten. »Komm endlich herunter. Es reicht, komm jetzt. Wenn du noch länger oben bleibst, esse ich keine einzige Kirsche. Komm runter, oder ich schütte den ganzen Korb hinter die Hecke.« Fulvia lachte; es klang ein bisschen schrill. Ein Vogel flüchtete aus den oberen Ästen.

Er schritt auf das Haus zu, blieb stehen und ging wieder zu den Kirschbäumen zurück. »Wie konnte ich das vergessen?« dachte er verstört. Genau auf der Höhe des letzten Kirschbaums war es gewesen. Sie war über den Weg auf die Wiese hinter den Kirschbäumen gegangen. Dort hatte sie sich hingelegt, trotz ihres weißen Kleides und obwohl das Gras nicht mehr warm war. Sie hatte ihren Nacken mit den Zöpfen in die Hände geschmiegt und in die Sonne gestarrt. Aber als auch er auf die Wiese kommen wollte, rief sie, er solle bleiben, wo er sei. »Bleib! Lehn dich an den Stamm des Kirschbaums. Ja so!« Dann sagte sie, während sie immer noch in die Sonne sah: »Hässlich bist du!« Milton stimmte ihr mit den Augen zu, sie aber sagte: »Du hast herrliche Augen, einen schönen Mund, wunderschöne Hände, aber alles in allem bist du hässlich.« Kaum wahrnehmbar drehte sie den Kopf zu ihm. »Aber so hässlich wieder nicht. Wie können sie nur sagen, du seist hässlich? Sie sagen es ohne … Verstand.« Und eine Weile später, ganz leise zwar, aber so, dass er es hören musste: »Hieme et aestate, prope et procul, usque dum vivam 1 … O großer und lieber Gott, lass mich nur für einen Augenblick im Weiß jener Wolke das Profil des Mannes erkennen, dem ich das sagen werde!« Mit einem Ruck wandte sie ihm ihr Gesicht zu:

»Wie wirst du deinen nächsten Brief beginnen? ›Fulvia, Verderben‹?«

Er schüttelte den Kopf und rieb sein Haar an der Rinde des Kirschbaums. Fulvia ereiferte sich: »Soll das heißen, dass es keinen nächsten Brief geben wird?«

»Es heißt nur, dass ich ihn nicht mit ›Fulvia, Verderben!‹ beginnen werde. Du brauchst dir wegen der Briefe keine Sorgen zu machen. Ich weiß, wir können es nicht mehr lassen: ich, Briefe zu schreiben, und du, sie zu erhalten.«

Fulvia hatte nach der ersten Einladung in die Villa verlangt, dass er ihr schreiben solle. Sie hatte ihn heraufbestellt, damit er ihr den Text von Deep Purple2 übersetzte. »Ich glaube, es geht da um den Sonnenuntergang«, hatte sie gesagt. Er übersetzte den Text direkt von der Platte, die sie auf kleinste Geschwindigkeit eingestellt hatten. Sie schenkte ihm Zigaretten und eine Tafel Schweizer Schokolade. Sie hatte ihn bis ans Tor begleitet. »Kann ich dich morgen früh wiedersehen«, fragte er, »wenn du nach Alba kommst?«

»Nein, auf gar keinen Fall!«

»Aber du kommst doch jeden Morgen und machst die Runde durch alle Cafés.«

»Auf keinen Fall. Du und ich in der Stadt, das ist nichts für uns.«

»Aber hierher darf ich kommen?«

»Das sollst du sogar.«

»Wann?«

»Heute in einer Woche.«

Milton wusste nicht, woran er war, angesichts der Ungeheuerlichkeit, der Unüberwindbarkeit dieser endlosen Zeitspanne. Und sie, wie hatte sie das nur so dahinsagen können?

»Also abgemacht, heute in einer Woche. Und in der Zwischenzeit schreibe mir.«

»Einen Brief?«

»Natürlich einen Brief. Schreib ihn bei Nacht.«

»Ja, aber was für einen Brief?«

»Irgendeinen Brief.«

Daran hatte sich Milton gehalten, und als er sie zum zweiten Mal traf, hatte Fulvia gesagt, er könne ausgezeichnet schreiben.

»Ich hab’s … einigermaßen hingekriegt.«

»Wunderbar, sag ich dir. Weißt du, was ich mache, wenn ich nächstes Mal nach Turin komme? Ich besorg mir ein Kästchen, um deine Briefe aufzubewahren. Alle werde ich aufbewahren, und kein Mensch wird sie je zu sehen bekommen. Vielleicht einmal meine Enkelkinder, wenn sie so groß sind wie ich.«

Er hatte nichts erwidern können, bedrückt bei dem Gedanken, dass Fulvias Enkelkinder nicht seine eigenen sein könnten.

»Wie wirst du deinen nächsten Brief beginnen? Dieser fängt an mit ›Fulvia, du Pracht‹. Bin ich wirklich prächtig?«

»Nein, du bist nicht prächtig.«

»Dann bin ich’s gar nicht?«

»Eine wahre Pracht bist du!«

»Du, du«, sagte sie, »du hast eine Art zu reden … Mir war, als hätte ich das Wort Pracht zum ersten Mal in meinem Leben gehört.«

»Das ist gar nicht verwunderlich. Vor dir hat es eben keine Pracht gegeben.«

»Lügner!« murmelte sie einen Augenblick später, »schau dort, was für eine wunderbare Sonne!« Sie stand mit einem Ruck auf und lief bis zum Wegrand, der Sonne entgegen.

Jetzt folgte sein gesenkter Blick dem Weg, den Fulvia damals gegangen war, doch ehe er dessen Ende erreichte, kehrte er noch einmal an den Ausgangspunkt zurück, zum letzten Kirschbaum in der Reihe. Wie dunkel er geworden war und wie alt. Er bebte und tropfte vor dem weißlichen Himmel.

Dann riss er sich zusammen und ging etwas schwerfällig zu dem Platz vor der kleinen Pergola am Hauseingang. Der Kies war mit vermoderten Blättern vermengt, mit den Blättern zweier Herbste, seit Fulvia nicht mehr da war. Beim Lesen saß sie immer dort drüben, genau unter dem mittleren Bogen, in den großen Rohrsessel mit den roten Kissen gekauert. Sie las

Der grüne Hut, Fräulein Else, Albertine disparue … Diese Bücher in Fulvias Händen taten ihm weh. Er verfluchte, er hasste Proust, Schnitzler, Michael Arlen. Später allerdings hatte Fulvia diese Bücher aufgegeben, anscheinend genügten ihr die Gedichte und Erzählungen, die er für sie übersetzte. Als erstes hatte er ihr seine Fassung von Evelyn Hope3 gebracht.

»Für mich?« hatte sie gefragt.

»Für dich ganz allein.«

»Warum gerade für mich?«

»Weil … wehe, wenn du für so was nicht zu haben bist.«

»Wehe mir?«

»Nein, wehe mir.«

»Was ist denn das überhaupt?«

»Beautiful Evelyn Hope is dead/Sit and watch by her side an hour.« Nachher glänzten ihre Augen, doch sie zog es vor, sich in Bewunderung für den Übersetzer zu ergehen. »Hast du das wirklich übersetzt? Dann bist du ja ein wahrer Gott. Und lustige Sachen übersetzt du nie?«

»Nie.«

»Warum nicht?«

»Ich bekomme sie gar nicht zu Gesicht. Ich glaube, sie fliehen mich, die lustigen Sachen.«

Das nächste Mal brachte er ihr eine Erzählung von Poe.

»Wovon handelt sie?«

»Of my love, of my lost love, of my lost love Morella.«

»Ich werde sie heute Nacht lesen.«

»Ich hab zwei Nächte gebraucht, um sie zu übersetzen.«

»Bleibst du nachts auch nicht zu lange auf?«

»Das muss ich ohnehin«, erwiderte er. »Es vergeht ja keine Nacht ohne Alarm, und ich bin beim Luftschutz.« Sie lachte laut heraus. »Luftschutz! Du bist beim Luftschutz? Das hättest du mir nicht sagen dürfen. Das ist zu komisch. Ein freiwilliger Luftschutzhelfer mit gelbblauer Armbinde!«

»Mit Armbinde schon, aber alles andere als freiwillig! Die Parteileitung hat uns eingezogen, und wenn du bei einem einzigen Alarm fehlst, hast du am nächsten Tag die Polizei auf dem Hals! Auch Giorgio ist beim Luftschutz.« Doch über Giorgio lachte Fulvia nicht, vielleicht, weil sie schon zu viel über ihn gelacht hatte.

Giorgio Clerici war’s, der ihn mit ihr bekannt gemacht hatte, nach einem Basketballspiel in der Sporthalle. Sie waren aus den Umkleidekabinen gekommen und hatten sie wie eine Perle zwischen Algen unter den letzten hinausströmenden Zuschauern entdeckt.

»Das ist Fulvia. Sechzehn Jahre. Aus Turin. Evakuiert aus Angst vor den Bombenangriffen, die ihr aber eigentlich Spaß gemacht haben. Jetzt wohnt sie auf dem Hügel oben, in der Villa, die dem Notar gehört hat… Fulvia hat einen Haufen amerikanischer Platten. Fulvia, der hier ist ein englischer Gott.«

Nur ganz am Ende hatte Fulvia Milton angesehen, und ihre Augen sagten, dass er, Milton, alles sein könnte, bloß kein Gott.

Milton presste die Hände vors Gesicht und versuchte, sich Fulvias Augen vorzustellen. Schließlich nahm er die Hände wieder weg, erschöpft von der Anstrengung und von der Furcht, sich nicht mehr an sie erinnern zu können. Warm waren sie und haselnussbraun, mit goldenen Reflexen.

Er drehte sich um und sah ein Stück von Ivan, der immer noch dahockte und den langgezogenen, unübersichtlichen Abhang beobachtete.

Er trat unter die kleine Pergola. »Fulvia, Fulvia, meine Liebe! »Vor ihrer Haustür schien ihm, als sei dies nicht in den Wind gesprochen, zum ersten Mal nach so vielen Monaten. »Ich bin immer noch derselbe, Fulvia. So vieles habe ich getan, ich habe einen langen Weg zurückgelegt … Ich bin geflohen, und ich habe andere verfolgt. Ich habe mich so lebendig gefühlt wie noch nie, und ich habe mich schon tot gesehen. Ich habe gelacht, und ich habe geweint. Ich habe einen Menschen getötet, und das mit Leidenschaft. Und unzählige habe ich sterben sehen, leidenschaftslos. Aber ich bin immer noch derselbe.«

Von der Seite hörte er Schritte näherkommen, auf dem Weg, der rings ums Haus führte. Milton riss den amerikanischen Karabiner von der Schulter, die Schritte waren schwerfällig, und doch waren es die Schritte einer Frau.

2

Eine Frau spähte um die Ecke. »Was wünschen Sie? Wen suchen Sie? Aber das ist doch …«

»Ja, ich bin’s«, sagte Milton, ohne ein Lächeln, zu sehr aus der Fassung gebracht, weil sie so gealtert war. Sie war noch gedrungener geworden, ihr Gesicht ganz eingefallen und ihr Haar weiß.

»Der Freund der Signorina«, sagte die Frau und kam hinter der schützenden Ecke hervor. »Einer der Freunde. Fulvia ist fort, sie ist zurück nach Turin«

»Ich weiß.«

»Vor über einem Jahr ist sie abgereist, damals, als ihr euern Krieg begonnen habt.«

»Ich weiß. Haben Sie wieder etwas von ihr gehört?«

»Von Fulvia?« Sie schüttelte den Kopf. »Sie hat mir zwar versprochen zu schreiben, aber sie hat’s nie getan. Doch ich gebe die Hoffnung nicht auf, und eines Tages werde ich schon was bekommen.«

»Diese Frau«, dachte Milton und starrte sie an, »diese alte, unbedeutende Frau wird einen Brief von Fulvia erhalten; in dem sie über ihr Leben berichtet, mit Grüßen und Unterschrift.«

Sie unterschrieb stets – wenigstens bei ihm.

»Es kann auch sein, dass sie geschrieben hat, und der Brief ist verlorengegangen.« Sie schlug die Augen nieder und fuhr fort: »Lieb war sie, Fräulein Fulvia, lebhaft, launisch vielleicht, aber sehr lieb.«

»Ja.«

»Und sehr schön.«

Milton antwortete nicht, sondern schob nur die Unterlippe vor. Das war seine Art, Schmerz zu ertragen. Fulvias Schönheit hatte ihm immer wehgetan, mehr als alles andere. Sie sah ihn ein wenig von der Seite an und meinte: »Dabei ist sie jetzt noch nicht mal achtzehn. Damals war sie gerade sechzehn.«

»Ich möchte Sie um einen Gefallen bitten. Lassen Sie mich das Haus noch einmal ansehen.« Seine Stimme war hart geworden, ohne dass er es wollte, fast rau. »Sie wissen gar nicht, wie Sie mir damit … helfen würden.«

»Aber gewiss«, erwiderte sie.

»Lassen Sie mich nur unser Zimmer wiedersehen.« Er hatte vergeblich versucht, seiner Stimme einen weicheren Ton zu geben. »Es dauert nicht länger als zwei Minuten.«

»Aber gewiss.«

Die Frau wollte ihm von innen öffnen, dazu musste sie um das Haus herumgehen, er solle sich gedulden.

»Und dem Sohn des Bauern sage ich, dass er hinausgeht und ein bisschen aufpasst.«

»Auf der anderen Seite, bitte. Auf dieser Seite hält schon ein Kamerad von mir Wache.«

»Ich dachte, Sie wären allein«, sagte die Frau argwöhnisch.

»Es ist geradeso, als wäre ich’s.«

Die Frau verschwand um die Ecke, und Milton trat wieder auf den Vorplatz hinaus. Er klatschte in die Hände, um sich bemerkbar zu machen, und zeigte Ivan die geöffnete Hand. Fünf Minuten, er sollte noch fünf Minuten warten. Dann warf er einen Blick zum Himmel, um sich noch ein weiteres, wichtiges Stück Erinnerung an diesen Tag einzuprägen. Auf dem grauen Meer glitt eine Flotte schwarzer Wolken gen Westen und rammte mit dem Bug ein paar weiße Wölkchen, die sofort zerbarsten. Dann kam ein Windstoß, der die Bäume schüttelte, und das Wasser aus der Dachrinne tropfte auf den Kies.

Sein Herz klopfte, die Lippen waren auf einmal spröde. Durch die Tür hörte er die Melodie von Over the Rainbow4. Das war die erste Schallplatte, die er Fulvia geschenkt hatte. Nach diesem Kauf hatte er drei Tage lang nichts zu rauchen. Seine Mutter war Witwe und gab ihm täglich eine Lira, die setzte er ausschließlich in Zigaretten um. An dem Tag, als er ihr die Platte gebracht hatte, spielten sie sie achtundzwanzigmal. »Gefällt sie dir?« fragte er verkrampft, und sein Gesicht war vor Angst finster, denn eigentlich hätte er fragen wollen: »Magst du sie gern?«

»Du siehst doch, dass ich sie wieder auflege«, hatte sie gesagt. Und dann: »Ich finde sie wunderbar. Wenn sie zu Ende ist, hat man das Gefühl, dass wirklich etwas zu Ende ist.« Und, ein paar Wochen später: »Fulvia, hast du eigentlich ein Lieblingslied?«

»Nicht, dass ich wüsste. Es gibt so drei oder vier Lieder.«

»Ist es nicht …?«

»Vielleicht, eigentlich nein! Es ist ganz reizend, ich mag’s auch wahnsinnig gern, aber außerdem hab ich noch drei oder vier andere.«

Die Frau kam, unter ihrem Schritt knarrte das Parkett ungewohnt laut, missgünstig und boshaft. Als ob es ihm ärgerlich wäre, aus der Ruhe gebracht zu werden, fuhr es Milton durch den Sinn. Rasch trat er unter die Pergola und streifte die lehmverschmierten Schuhe an der Treppenkante ab. Er hörte, wie die Frau den Lichtschalter anknipste und sich am Türschloss zu schaffen machte. Er hatte die Schuhe noch nicht sauber.

Die Tür öffnete sich einen Spalt breit. »Kommen Sie, kommen Sie rein, wie Sie sind. Rasch!«

»Das Parkett …«

»Ach, das Parkett!« erwiderte sie resigniert. Aber sie ließ ihn gewähren und sagte: »Es hat schon so viel geregnet, und der Bauer sagt, dass es noch mehr regnen wird. Mein Lebtag hab ich noch keinen so verregneten November gesehen. Wie kriegt ihr Partisanen bloß eure Sachen trocken, wo ihr doch dauernd im Freien seid?«

»Am Leib«, antwortete Milton. Er hatte noch nicht gewagt, einen Blick hineinzuwerfen.

»Jetzt reicht’s. Kommen Sie. Kommen Sie rein, wie Sie sind.« Die Frau hatte nur eine Birne in der Deckenlampe eingeschaltet. Das Licht fiel matt auf den Tisch mit der Intarsienarbeit, und im Schatten ringsum leuchteten die weißen Schonbezüge von Sesseln und Sofa gespenstisch auf.

»Man könnte meinen, man sei in einer Grabkammer.«

Er lachte etwas albern. Er konnte ihr wirklich nicht sagen, dass dies für ihn der strahlendste Platz auf der ganzen Welt war, dass er für ihn nur Leben oder Auferstehung bedeutete.

»Ich fürchte …«, sagte die Frau bedächtig.

Er beachtete sie nicht, vielleicht hörte er sie gar nicht, er sah Fulvia in ihrer Lieblingsecke auf dem Sofa zusammengekauert, den Kopf leicht nach hinten geneigt, sodass einer ihrer Zöpfe ins Leere hing, glänzend und schwer. Und er sah sich selbst wieder in der entgegengesetzten Ecke sitzen, die langen, hageren Beine weit ausgestreckt, wie er auf sie einredete, stundenlang, und sie so aufmerksam zuhörte, dass sie kaum atmete, den Blick fast stets von ihm abgewandt. Ihre Augen waren von Tränen verschleiert. Und wenn sie die Tränen nicht mehr zurückhalten konnte, wandte sie den Kopf mit einem Ruck zur Seite, wehrte sich, begehrte auf.

»Schluß jetzt. Sag nichts mehr. Du bringst mich zum Weinen. Deine schönen Worte taugen zu nichts anderem, als mich zum Weinen zu bringen, nur das bringen sie fertig. Du bist böse. Du suchst dir solche Themen und sprichst darüber nur, um mich weinen zu sehen. Nein, böse bist du nicht. Aber traurig bist du. Schlimmer als traurig, schwermütig bist du. Wenn du wenigstens auch weinen würdest. Du bist traurig und hässlich. Ich will nicht traurig werden wie du. Ich bin schön, und ich bin lustig. Ich war lustig.«

»Ich fürchte, dass Fulvia nach Kriegsende nie mehr hierherkommt«, sagte die Frau.

»Sie wird wiederkommen.«

»Es sollte mich freuen, aber ich glaube nicht daran. Gleich nach Kriegsende wird ihr Vater die Villa wieder verkaufen. Er hat sie nur für Fulvia gekauft, um sie hier in Sicherheit zu bringen. Er hätte sie längst wieder verkauft, wenn es heutzutage in dieser Gegend Käufer gäbe. Nein, ich fürchte, dass wir sie hier auf diesen Hügeln nie wiedersehen. Fulvia wird ans Meer gehen, wie jeden Sommer vor dem Krieg. Sie ist ja ganz versessen aufs Meer, und ich habe sie so oft von Alassio sprechen hören. Waren Sie schon mal in Alassio?«

Er war nie dort gewesen und misstraute diesem Ort, und im gleichen Augenblick hasste er ihn, wünschte, der Krieg möge ihn so zurichten, dass Fulvia nie mehr hingehen oder sich auch nur nach ihm sehnen würde.

»Fulvias Familie hat ein Haus in Alassio. Wenn sie traurig war oder alles satt hatte, sprach sie immer vom Meer und von Alassio.«

»Ich sage Ihnen, sie kommt wieder.«

Er trat zum Tischchen, das an der Wand neben dem Kamin lehnte, beugte sich etwas vor und zeichnete mit dem Finger die Umrisse von Fulvias Grammophon nach. Over the Rainbow, Deep Purple, Covering the Waterfront5, die Klaviersonaten von Charlie Khuntz und Over the Rainbow, Over the Rainbow, Over the Rainbow.

»Wie oft hat dieses Grammophon gespielt«, sagte die Frau.

»Ja.«

»Hier ist viel getanzt worden, zu viel. Dabei war Tanzen streng verboten, auch im Familienkreis. Wissen Sie noch, wie oft ich reinkommen musste, Sie sollten leiser sein, weil man es draußen den halben Hügel hinunter hörte?«

»Ja, ich weiß.«

»Aber Sie haben nie getanzt. Oder irre ich mich?« Nein, er nicht. Er hatte es nie versucht, nicht einmal, um es zu lernen. Er schaute den andern zu, Fulvia und ihrem Partner, wechselte die Platten, zog das Grammophon auf. Er war der Maschinenmeister. Der Ausdruck stammte von Fulvia. »Aufwachen, Maschinenmeister! Es lebe der Maschinenmeister!« Ihre Stimme war nicht sonderlich angenehm, doch ihr zuliebe hätte er in Kauf genommen, für alle anderen Stimmen taub zu sein. Besonders häufig tanzte Fulvia mit Giorgio Clerici, sie tanzten manchmal fünf oder sechs Platten lang, und trennten sich auch zwischendurch kaum. Giorgio war der hübscheste Junge in Alba, auch der reichste und daher der eleganteste. Kein Mädchen aus Alba war ihm ebenbürtig. Dann war Fulvia aus Turin gekommen, und sie ergaben ein vollkommenes Paar. Er war blond und sie mahagonibraun. Fulvia war begeistert von Giorgios Tanzkünsten. »He dances divinely«, verkündete sie, und Giorgio sagte von ihr: »Sie … sie ist unbeschreiblich«, und, zu Milton gewandt: »Nicht einmal du, wortgewaltig wie du bist, könntest zum Ausdruck bringen …« Milton lächelte ihm zu, stumm, ruhig, sicher fast mitleidig. Beim Tanzen redeten sie nie miteinander. Mochte Giorgio nur mit Fulvia tanzen, mochte er das wenige tun, wozu er imstande war. Ein einziges Mal nur war er ärgerlich geworden, damals, als Fulvia vergessen hatte, Over the Rainbow aus der Liste der Tänze zu streichen. Er sagte es ihr in einer Tanzpause, sie senkte gleich die Augen und murmelte: »Du hast recht.«

Doch eines Tages, als sie allein waren, zog Fulvia eigenhändig das Grammophon auf und legte Over the Rainbow auf die Scheibe. »Komm, tanz mit mir!«

»Nein!« hatte er gesagt, vielleicht sogar geschrien.

»Du musst es lernen, unbedingt. Mit mir, für mich. Los!«

»Ich will nicht … mit dir!«

Aber sie hatte ihn schon gefasst und zog ihn auf die freie Fläche und tanzte.

»Nein!« protestierte er, war aber so verwirrt, dass er nicht einmal versuchte, sich loszumachen. »Und schon gar nicht zu diesem Lied!« Doch sie ließ ihn nicht los, und er musste aufpassen, um nicht zu stolpern und auf sie zu fallen.

»Du musst«, sagte sie. »Ich will es. Ich will mit dir tanzen, verstehst du? Ich hab’s satt, dauernd mit Jungen zu tanzen, die mir gleichgültig sind. Ich halte es nicht mehr aus, nie mit dir zu tanzen.« Doch gerade als Milton nachgab, ließ sie ihn los und stieß ihn heftig von sich. »Hau doch ab und krepier in Libyen!« sagte sie und ging zum Sofa zurück. »Ein Nilpferd bist du, ein schwerfälliges, mageres Nilpferd.«

Aber schon einen Augenblick später fühlte er Fulvias Hand über seine Schulter streichen und ihren Atem auf seinem Nacken. »Du müsstest wirklich mehr auf deine Haltung achten. Du hältst dich zu krumm. Wirklich. Mach die Schultern gerade. Lass sie sehen, verstehst du? Und jetzt setzen wir uns wieder hin und du erzählst mir was.«

Er ging zum Bücherschrank, vom matten Glanz der Scheiben angezogen. Er hatte schon gesehen, dass der Schrank fast leer war und höchstens zehn vergessene, geopferte Bücher enthielt. Er beugte sich über die Regale, richtete sich aber sofort wieder auf, als hätte man ihm einen Fausthieb in die Magengrube versetzt. Er war blass geworden, sein Atem stockte. Unter den wenigen zurückgelassenen Büchern hatte er die italienische Ausgabe Tess of the D’Urbervilles6 entdeckt. Er hatte sie Fulvia damals geschenkt und war anschließend vierzehn Tage lang völlig blank gewesen.

»Wer hat denn die Bücher ausgesucht, die hierbleiben sollten? War das Fulvia?«

»Ja.«

»Sind Sie ganz sicher?«

»Aber natürlich«, sagte die Frau, »nur sie interessierte sich für die Bücher. Sie hat sie selbst ausgeräumt und verpackt. Aber am meisten lag ihr doch am Grammophon und an den Platten. Ein paar Bücher hat sie dagelassen, wie Sie sehen, aber keine einzige Platte.«

Im Türrahmen erschien Ivans Kopf. Rund, blass und fremd wie der Mond.

»Was gibt’s?« fragte Milton. »Kommen sie rauf?«

»Nein, aber wir müssen fort. Es ist höchste Zeit.«

»Zwei Minuten noch.«

Mit einer Grimasse und einem Seufzer zog Ivan den Kopf zurück.

»Gönnen Sie mir noch die zwei Minuten. Ich werde nie wieder stören, vor Kriegsende komme ich nicht mehr her.«

Die Frau breitete die Arme aus. »Aber bitte. Hauptsache, es wird nicht gefährlich. Ich kann mich noch genau an Sie erinnern. Haben Sie gemerkt, wie ich Sie gleich wiedererkannt habe? Und ich will Ihnen sagen … damals hab ich mich immer gefreut, wenn Sie das Fräulein besuchten. Über Sie mehr als über alle andern. Über Sie mehr als über Herrn Clerici, wenn ich ehrlich sein soll. Herrn Clerici hab ich übrigens nie wieder gesehen. Ist er auch Partisan?

»Ja, wir sind zusammen. Wir waren bisher immer zusammen, aber ich wurde vor kurzem zu einer anderen Brigade versetzt. Aber warum sagen Sie, dass Sie mich lieber gesehen haben als Giorgio? Als Besuch, meine ich.«

Die Frau zögerte, machte eine Geste, wie um das eben Gesagte auszulöschen oder wenigstens abzuschwächen, aber »sagen Sie, so sagen Sie’s doch!« bat Milton, und alle Sehnen seines Körpers spannten sich.

»Werden Sie’s auch nicht Herrn Clerici weitererzählen, wenn Sie ihn sehen?«

»Was denken Sie von mir?«