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Holmes' und Watsons erster Fall: Ein Traumduo findet sich fürs Leben Tauchen Sie ein in die faszinierende Welt von Sherlock Holmes, dem wohl berühmtesten Detektiv aller Zeiten! Den Auftakt der Reihe bildet dieser Roman, in dem Dr. John Watson als Kriegsinvalide nach London zurückkehrt und jemanden sucht, mit dem er zusammenziehen und sich die Miete teilen kann – und findet in dem ebenso hochintelligenten wie skurrilen Sherlock Holmes den passenden Partner. In ihrem ersten Fall ist Spannung garantiert, geht es in ihm doch um Rache wegen eines lange zurückliegenden Mordes in einer Mormonengemeinde im amerikanischen Utah. Der erste Roman der vollständig neuübersetzten Reihe der Sherlock-Holmes-Romane: ein Muss für alle Krimi-Fans! – Mit einer kompakten Biographie des Autors.
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Seitenzahl: 256
Veröffentlichungsjahr: 2025
Doyle Arthur Conan
Mit 6 Illustrationen von Charles Altamont Doyle
Reclam
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RECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK Nr. 962471
2025 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Covergestaltung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH
Coverabbildung: © Gutentag-Hamburg
Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Made in Germany 2025
RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
ISBN978-3-15-962471-6
ISBN der Buchausgabe 978-3-15-020752-9
reclam.de | [email protected]
Vorwort des Herausgebers
(Nachdruck aus den Erinnerungen von John H. Watson, Doktor der Medizin, ehemals Mitglied des Medizinischen Dienstes der Armee)
Mr. Sherlock Holmes
Die Wissenschaft der Deduktion
Das Rätsel von Lauriston Gardens
Was John Rance mitzuteilen hatte
Unsere Annonce beschert uns einen Besucher
Tobias Gregson zeigt, was er kann
Licht im Dunkel
Das Land der Heiligen
Auf der großen Alkali-Ebene
Die Blume von Utah
John Ferrier spricht mit dem Propheten
Eine Flucht ums Überleben
Die Rächenden Engel
Eine Fortsetzung der Erinnerungen von John Watson, M. D.
Die Schlussfolgerung
Anhang
Zu dieser Ausgabe
Anmerkung des Übersetzers
Anmerkungen
Nachwort
Zeittafel
Dieses Buch enthält eine Geschichte voller Spannung, in der die Erwartungen des Lesers und seine Fähigkeiten zu Mutmaßung und Schlussfolgerungen von der ersten bis zur letzten Seite in Anspruch genommen werden. Die »Studie in Scharlachrot« mit ihrem offenbar unergründlichen Rätsel, das Mr. Sherlock Holmes aufgrund seines kühlen Scharfsinns zu lösen vermag, steht den besten Geschichten dieser Schule, die »Mr. Barnes of New York«, »Shawdowed by Three« etc. hervorgebracht hat, in Hinblick auf anhaltendes Interesse und befriedigte Erwartungen in nichts nach; und die Beschreibung der todbringenden Gemeinschaft der Mormonen voller Tyrannei und Vergeltung ist gleichermaßen wahrheitsgetreu wie packend.
Der Band bietet einen wertvollen Vorteil in Form von Illustrationen aus der Hand von Mr. CHARLES DOYLE, Vater des Autors und jüngerer Bruder des bereits verstorbenen Mr. RICHARD DOYLE, seines Zeichens angesehener Kollege von JOHN LEECH in den Seiten des Punch und Sohn des angesehenen Karikaturisten, dessen politische Skizzen, die er mit »H. B.« zu signieren pflegte, vor einem halben Jahrhundert eine Besonderheit in London waren.
Da die ursprüngliche Ausgabe dieser bemerkenswerten Geschichte inzwischen vergriffen ist, präsentieren wir sie der Öffentlichkeit nun in neuer Gestalt, mit diesen zusätzlichen Vorzügen, in der sicheren Erwartung, dass sie einen neuen und breiten Leserkreis erobern wird.
Teil I
Kapitel I
IM Jahr 1878 machte ich meinen Abschluss als Doktor der Medizin an der University of London und ging dann nach Netley, um den Kurs zu absolvieren, der für Ärzte der Armee vorgeschrieben ist. Nachdem ich meine Ausbildung dort abgeschlossen hatte, wurde ich ordnungsgemäß den Fifth Northumberland Fusiliers als Assistenzarzt zugeteilt. Das Regiment war zu dieser Zeit in Indien stationiert, und ehe ich mich ihm anschließen konnte, war der Zweite Afghanische Krieg ausgebrochen. Bei der Seelandung in Bombay erfuhr ich, dass mein Korps durch die Gebirgspässe vorgerückt war und bereits tief im Feindesland stand. Dennoch folgte ich, zusammen mit vielen anderen Offizieren, die sich in der gleichen Situation befanden wie ich, und konnte Kandahar wohlbehalten erreichen, wo ich zu meinem Regiment stieß und sogleich meine neuen Pflichten übernahm.
Vielen brachte der Feldzug Auszeichnungen und Beförderungen ein, doch für mich gab es nichts als Unglück und Unheil. Ich wurde aus meiner Brigade abberufen und den Berkshires zugeteilt, mit denen ich in der verhängnisvollen Schlacht von Maiwand diente. Dort wurde ich an der Schulter von einer Jezail-Kugel getroffen, die den Knochen zertrümmerte und die Unterschlüsselbeinarterie streifte. Ich wäre in die Hände der mörderischen Ghāzī gefallen, wäre nicht Murray, mein Offiziersbursche, mit Treue und Mut zur Stelle gewesen, der mich über den Rücken eines Packpferds warf und mich erfolgreich sicher zu den britischen Linien brachte.
Erschöpft von Schmerzen und geschwächt von den anhaltenden Entbehrungen, die ich erlitten hatte, wurde ich mit einem großen Tross verwundeter Leidensgefährten in das Lazarett in Peschawar gebracht. Dort erholte ich mich und war bereits so weit genesen, dass ich über die Flure der Stationen gehen und mich sogar ein wenig auf der Veranda sonnen konnte, als ich vom enterischen Fieber niedergestreckt wurde, von jenem Fluch unserer indischen Besitzungen. Über Monate hing mein Leben an einem seidenen Faden, und als ich mich endlich wieder fing und zu genesen begann, war ich so geschwächt und ausgezehrt, dass ein medizinisches Gremium entschied, keinen Tag zu verlieren und mich zurück nach England zu schicken. Ich wurde dementsprechend an Bord des Truppentransporters Orontes gebracht und kam einen Monat später am Pier von Portsmouth an, mit unwiederbringlich ruinierter Gesundheit, jedoch mit der Genehmigung vonseiten einer väterlich-fürsorglichen Regierung, die nächsten neun Monate zu versuchen, meine Gesundheit zu verbessern.
Ich hatte in England weder Freunde noch Verwandte und war somit frei wie der Wind – zumindest so frei, wie es ein Einkommen von elf Shilling und einem Sixpence am Tag einem Mann zu sein erlaubt. Unter diesen Umständen zog es mich natürlich nach London, diesen großen Pfuhl, in den alle Müßiggänger und Faulenzer des Empires unweigerlich geraten. Dort wohnte ich eine Weile in einer Pension in der Strand, führte ein tristes und sinnloses Dasein und gab das bisschen Geld, über das ich verfügte, weitaus großzügiger aus, als es ratsam gewesen wäre. Der Zustand meiner Finanzen wurde schließlich derart beunruhigend, dass ich bald begriff, dass ich die Hauptstadt entweder verlassen und mich irgendwo auf dem Land häuslich einrichten oder meine Lebensweise einer grundlegenden Änderung unterziehen müsste. Ich entschied mich für letztere Möglichkeit und beschloss, die Pension zu verlassen und Quartier in einem weniger anmaßenden und weniger kostspieligen Domizil zu suchen.
Genau an dem Tag, an dem ich diesen Entschluss gefasst hatte, stand ich gerade an der Bar im Criterion, als mir jemand auf die Schulter tippte, und als ich mich umwandte, erblickte ich den jungen Stamford, der im Bart’s als Assistenzarzt unter mir gearbeitet hatte. Für einen einsamen Mann ist der Anblick eines freundlichen Gesichts in der großen Wildnis von London wahrlich sehr angenehm. Früher war Stamford nie ein ausgesprochen enger Freund von mir gewesen, doch jetzt begrüßte ich ihn mit Begeisterung, und er wiederum schien froh zu sein, mich zu sehen. Im Überschwang meiner Freude fragte ich ihn, ob er im Holborn mit mir zu Mittag essen wolle, und so fuhren wir gemeinsam in einer Droschke los.
»Was haben Sie sich nur angetan, Watson?«, fragte er mit unverhohlenem Erstaunen, während wir durch die vollen Londoner Straßen ratterten. »Sie sind spindeldürr und so braun wie eine Nuss.«
Ich schilderte ihm meine Abenteuer in groben Zügen und war kaum damit fertig, als wir unser Ziel erreichten.
»Sie armer Teufel!«, sagte er mitfühlend, nachdem er meinen Missgeschicken gelauscht hatte. »Was haben Sie jetzt vor?«
»Mich nach einer Unterkunft umsehen«, erwiderte ich. »Ich gehe der Frage nach, ob es möglich ist, gemütliche Räumlichkeiten zu einem vernünftigen Preis zu bekommen.«
»Das ist eigenartig«, bemerkte mein Begleiter, »Sie sind heute schon der Zweite, der sich mir gegenüber dahingehend geäußert hat.«
»Und wer war der Erste?«, fragte ich.
»Ein Kollege, der im chemischen Labor im Krankenhaus arbeitet. Er hat sich heute Morgen beklagt, da er niemanden findet, der sich die netten Zimmer mit ihm teilen will, die er gefunden hat und die zu viel für seinen Geldbeutel sind.«
»Beim Jupiter!«, rief ich. »Wenn er tatsächlich jemanden sucht, der sich die Wohnung und die Kosten mit ihm teilt, dann bin ich genau der Richtige für ihn. Mir wäre es lieber, einen Mitbewohner zu haben, als allein zu sein.«
Der junge Stamford sah mich irgendwie seltsam über sein Weinglas hinweg an. »Sie kennen Sherlock Holmes noch nicht«, sprach er. »Vielleicht würden Sie sich nicht für ihn als ständigem Mitbewohner erwärmen wollen.«
»Warum, was spricht gegen ihn?«
»Oh, ich habe nicht gesagt, dass etwas gegen ihn spricht. Er ist ein bisschen seltsam, was seine Vorstellungen betrifft – ein Enthusiast in einigen Bereichen der Wissenschaft. Doch ist er, soweit ich weiß, ein ganz anständiger Zeitgenosse.«
»Ein Medizinstudent, nehme ich an?«, fragte ich.
»Nein – ich habe keine Ahnung, auf was er sich spezialisieren möchte. Ich glaube, er ist recht bewandert in Anatomie, und er ist ein erstklassiger Chemiker. Doch soweit ich weiß, hat er nie konsequent medizinische Vorlesungen belegt. Seine Studien sind sehr unstrukturiert und exzentrisch, doch hat er eine ganze Menge entlegenes Wissen angehäuft, das seine Professoren in Erstaunen versetzen würden.«
»Haben Sie ihn nie gefragt, auf was er sich spezialisieren möchte?«, fragte ich.
»Nein, er ist niemand, der sich leicht etwas entlocken lässt, obwohl er auch recht gesprächig sein kann, wenn er dazu aufgelegt ist.«
»Ich würde ihn gern kennenlernen«, sagte ich. »Wenn ich schon bei jemandem zur Untermiete wohnen muss, dann würde ich einen Mann mit fleißigen und ruhigen Gewohnheiten vorziehen. Ich bin noch nicht genug bei Kräften, um viel Lärm oder Aufregung zu ertragen. Von beidem hatte ich in Afghanistan so ausreichend, dass es für den Rest meines Lebens reicht. Wie kann ich Ihren Freund kennenlernen?«
»Er ist bestimmt im Labor«, entgegnete mein Begleiter. »Entweder meidet er den Ort wochenlang oder er arbeitet dort von morgens bis spätabends. Wenn Sie mögen, fahren wir nach dem Essen gemeinsam dorthin.«
»Gerne«, antwortete ich, und die Unterhaltung schweifte in andere Richtungen ab.
Nachdem wir das Holborn verlassen hatten und auf dem Weg zum Krankenhaus waren, erzählte Stamford mir einige weitere Einzelheiten über den Gentleman, den ich als Mitbewohner nehmen wollte.
»Sie dürfen aber nicht mir die Schuld geben, falls Sie nicht mit ihm auskommen«, sagte er. »Ich weiß über ihn nicht mehr als das, was ich jeweils dann erfahren habe, wenn ich ihm gelegentlich im Labor begegnet bin. Diese Vereinbarung haben Sie vorgeschlagen, machen Sie also nicht mich dafür verantwortlich.«
»Falls wir nicht miteinander auskommen, wird es ein Leichtes sein, sich wieder zu trennen«, erwiderte ich. »Mir will scheinen, Stamford«, fügte ich hinzu und sah meinen Begleiter scharf an, »dass Sie einen bestimmten Grund haben, bei dieser Angelegenheit Ihre Hände in Unschuld zu waschen. Ist das Temperament dieses Mannes denn so furchterregend, oder was ist es sonst? Reden Sie nicht so um den heißen Brei herum.«
»Es ist nicht einfach, das Unaussprechliche auszusprechen«, antwortete er lachend. »Für meinen Geschmack ist Holmes ein wenig zu wissenschaftlich – es grenzt schon an Kaltblütigkeit. Ich könnte mir vorstellen, dass er einem Freund eine Prise des neuesten pflanzlichen Alkaloids verabreichen würde, nicht etwa aus Boshaftigkeit, Sie verstehen, sondern einzig und allein aus Forschergeist, um eine genaue Vorstellung von der Wirkung zu haben. Um ihm gerecht zu werden: Ich bin der festen Überzeugung, er würde es mit der gleichen Bereitwilligkeit selbst einnehmen. Offenbar hat er eine Leidenschaft für präzises und exaktes Wissen.«
»Sehr löblich.«
»Ja, aber man kann solches auch zu exzessiv betreiben. Wenn es so weit geht, dass man die Körper in Seziersälen mit einem Stock schlägt, nimmt die Sache doch ein bizarres Ausmaß an.«
»Die Körper schlagen!«
»Ja, um nachzuweisen, inwieweit Prellungen nach dem Tod hervorgerufen werden können. Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie er so etwas tat.«
»Und doch, sagen Sie, ist er kein Medizinstudent?«
»Nein. Weiß der Himmel, welche Ziele er mit seinen Studien verfolgt. Aber da wären wir, und Sie müssen sich Ihr eigenes Bild von ihm machen.« Während er dies sagte, bogen wir in eine schmale Gasse ein und gingen durch eine kleine Seitentür, die in einen Flügel des großen Krankenhauses führte. Ein mir vertrauter Ort, und so bedurfte ich keiner Führung, als wir die triste steinerne Treppe hinaufgingen und dem Verlauf des langen Korridors folgten, mit seiner Flucht weißgetünchter Wände und düster-brauner Türen. Unweit des anderen Endes zweigte ein niedriger gewölbter Durchgang ab und führte zum chemischen Labor.
Es handelte sich um einen hohen Raum, gesäumt und übervoll von zahllosen Glasgefäßen. Breite, niedrige Tische standen überall herum, die nur so strotzten vor Retorten, Reagenzgläsern und kleinen Bunsenbrennern mit ihren bläulich flackernden Flammen. Im Raum hielt sich nur ein Student auf, der sich über einen der hinteren Tische beugte und in seine Arbeit vertieft war. Beim Geräusch unserer Schritte blickte er sich um und sprang mit einem Freudenschrei in die Höhe. »Ich hab’s gefunden! Ich hab’s gefunden«, rief er meinem Begleiter zu und eilte mit einem Reagenzglas in der Hand in unsere Richtung. »Ich habe ein Reagens entdeckt, das durch Hämoglobin ausgefällt wird, und von nichts anderem.« Hätte er eine Goldmine entdeckt, so hätte in seinen Gesichtszügen keine größere Freude aufleuchten können.
»Dr. Watson, Mr. Sherlock Holmes«, sagte Stamford und stellte uns einander vor.
»Wie geht es Ihnen?«, sagte er herzlich und ergriff meine Hand mit einer Kraft, die ich ihm kaum zugetraut hätte. »Sie sind in Afghanistan gewesen, wie ich sehe.«
»Woher, um alles in der Welt, wissen Sie das?«, fragte ich voller Erstaunen.
»Nicht weiter von Belang«, sagte er und lachte leise in sich hinein. »Die Fragestellung bezieht sich nun auf Hämoglobin. Zweifellos erkennen Sie die Bedeutung meiner Entdeckung?«
»Sie ist interessant, chemisch betrachtet, zweifellos«, erwiderte ich, »aber praktisch gesehen –«
»Hören Sie, Mann, das ist die praktischste gerichtsmedizinische Entdeckung seit Jahren. Erkennen Sie denn nicht, dass sie uns einen unfehlbaren Test in Bezug auf Blutflecken an die Hand gibt? Kommen Sie mit!« In seinem Eifer packte er mich beim Ärmel meines Mantels und zog mich hinüber zu dem Tisch, an dem er gearbeitet hatte. »Zunächst etwas frisches Blut«, sprach er, stach sich mit einer langen Nadel in den Finger und fing den hervorquellenden Blutstropfen mit einer Pipette auf. »Jetzt gebe ich diese kleine Menge Blut in einen Liter Wasser. Wie Sie sehen, scheint die so entstandene Mischung reines Wasser zu sein. Der Anteil des Bluts kann nicht größer sein als eins zu einer Million. Gleichwohl habe ich keinerlei Zweifel daran, dass wir die typische Reaktion beobachten werden.« Während er sprach, gab er einige weiße Kristalle in das Behältnis und fügte im Anschluss ein paar Tropfen einer klaren Flüssigkeit hinzu. Augenblicklich nahm der Inhalt eine matte Mahagonifärbung an, und auf dem Boden des Glasgefäßes setzte sich ein bräunlicher Staub ab.
»Ha! Ha!«, rief er, klatschte in die Hände und wirkte so fröhlich wie ein Kind mit einem neuen Spielzeug. »Was halten Sie davon?«
»Es scheint ein sehr empfindliches Testverfahren zu sein«, bemerkte ich.
»Wundervoll! Wundervoll! Der alte Guajak-Test war sehr aufwändig und unzuverlässig. Ebenso die mikroskopische Untersuchung auf Blutkörperchen. Letztere ist wertlos, wenn die Flecken einige Stunden alt sind. Dies hingegen scheint sowohl bei altem als auch bei frischem Blut zu reagieren. Wäre dieser Test bereits erfunden gewesen, hätten Hunderte von Leuten, die jetzt auf Erden wandeln, schon längst für ihre Verbrechen gebüßt.«
»In der Tat«, murmelte ich.
»Kriminalfälle drehen sich immerzu um diesen einen Aspekt. Jemand wird eines Verbrechens verdächtigt, womöglich Monate, nachdem es begangen wurde. Seine Wäsche oder Kleidung wird untersucht, und auf dieser werden bräunliche Flecken entdeckt. Handelt es sich nun um Blutflecken oder Schlammspritzer oder Rostflecken oder Obstflecken, oder mit was hat man es zu tun? Das ist eine Frage, die viele Experten vor Rätsel gestellt hat, und warum? Weil es keinen zuverlässigen Test gab. Nun haben wir den Sherlock-Holmes-Test, und fortan wird es keine Schwierigkeiten mehr geben.«
Seine Augen funkelten regelrecht, als er sprach, und er legte sich eine Hand aufs Herz und verneigte sich, wie vor einer applaudierenden Menge, heraufbeschworen von seiner Vorstellungskraft.
»Man muss Ihnen gratulieren«, bemerkte ich, ungemein überrascht angesichts seiner Begeisterung.
»Letztes Jahr gab es den Fall Von Bischoff in Frankfurt. Er wäre bestimmt gehängt worden, wenn es diesen Test schon gegeben hätte. Dann gab es Mason aus Bradford und den berüchtigten Muller und Lefevre aus Montpellier und Samson aus New Orleans. Ich könnte zwanzig Fälle aufzählen, bei denen dieser Test entscheidend gewesen wäre.«
»Sie scheinen ja ein wandelndes Verzeichnis von Verbrechen zu sein«, sagte Stamford mit einem Lachen. »Sie könnten eine Zeitschrift zu diesem Thema gründen. Nennen Sie sie Polizeiberichte vergangener Tage.«
»Das könnte einen sehr interessanten Lesestoff bieten«, bemerkte Sherlock Holmes und klebte ein kleines Pflaster auf den Einstich an seinem Finger. »Ich muss vorsichtig sein«, fuhr er fort, wobei er sich mir mit einem Lächeln zuwandte, »denn ich beschäftige mich nebenbei ziemlich viel mit Giftstoffen.« Während er sprach, streckte er seine Hand aus, und dabei fiel mir auf, dass sie mit ähnlichen Pflastern übersät und von starken Säuren verfärbt war.
»Wir sind aus geschäftlichen Gründen hier«, sagte Stamford, setzte sich auf einen hohen, dreibeinigen Hocker und schob einen weiteren mit dem Fuß in meine Richtung. »Mein Freund hier sucht eine Bude, und da Sie sich beklagt haben, dass Sie niemanden finden konnten, der die Wohnung mit ihnen teilen würde, dachte ich, ich bringe Sie beide am besten zusammen.«
Sherlock Holmes schien von der Idee, seine Räumlichkeiten mit mir zu teilen, begeistert zu sein. »Ich habe eine Wohnung in der Baker Street ins Auge gefasst«, sagte er, »die wie für uns geschaffen ist. Ich hoffe, Sie haben nichts gegen den Geruch starken Tabaks?«
»Ich rauche selbst ›Ship’s‹«, antwortete ich.
»Das ist ausreichend. Ich habe für gewöhnlich Chemikalien in meiner Reichweite und führe gelegentlich Experimente durch. Würde Sie das stören?«
»Keineswegs.«
»Lassen Sie mich nachdenken – was sind meine anderen Unzulänglichkeiten. Bisweilen bin ich niedergeschlagen und spreche tagelang kein Wort. Sie dürfen dann nicht denken, ich wäre übellaunig, wenn ich das mache. Lassen Sie mich einfach in Ruhe, und bald wird es mir wieder gutgehen. Was haben Sie zu beichten? Es ist gut, wenn zwei Menschen das Schlimmste voneinander wissen, ehe sie überlegen, zusammenzuleben.«
Bei diesem Kreuzverhör musste ich lachen. »Ich habe eine junge Bulldogge«, sagte ich, »und ich habe etwas gegen Lärm, da meine Nerven zerrüttet sind, und ich stehe zu den unmöglichsten Zeiten auf, in aller Herrgottsfrühe, und ich bin äußerst faul. Ich habe eine ganze Reihe von Lastern, wenn es mir gutgeht, aber das sind im Augenblick die wichtigsten.«
»Zählen Sie Geigespielen zu Ihrer Rubrik von Lärm hinzu?«
»Das hängt vom Spieler ab«, erwiderte ich. »Eine gut gespielte Geige ist eine Freude für die Götter – eine schlecht gespielte –«
»Dann ist es ja gut«, rief er mit einem fröhlichen Lachen. »Ich glaube, wir können die Angelegenheit als abgemacht betrachten – das heißt, wenn Ihnen die Räumlichkeiten zusagen.«
»Wann können wir sie besichtigen?«
»Kommen Sie morgen Mittag hierher, und wir gehen zusammen dorthin und regeln alles«, antwortete er.
»Abgemacht – Punkt zwölf Uhr«, sagte ich und schüttelte ihm die Hand.
Wir überließen ihn seiner Arbeit mit seinen Chemikalien und gingen zusammen in Richtung meiner Pension.
»Ach, übrigens«, fragte ich plötzlich, blieb stehen und wandte mich Stamford zu, »woher, zum Teufel, hat er gewusst, dass ich aus Afghanistan zurückgekommen bin?«
Mein Begleiter setzte ein rätselhaftes Lächeln auf. »Das ist so seine kleine Eigenart«, sprach er. »Eine ganze Reihe von Leuten hat schon wissen wollen, wie er solche Dinge herausfindet.«
»Oh! Ein Rätsel also?«, rief ich aus und rieb mir die Hände. »Das ist sehr reizvoll. Ich bin Ihnen sehr verbunden, dass Sie uns zusammengebracht haben. ›Das eigentliche Studium der Menschheit ist der Mensch‹, wie Sie wissen.«
»Dann müssen Sie ihn studieren«, sagte Stamford, als er sich von mir verabschiedete. »Sie werden jedoch feststellen, dass er ein verzwicktes Rätsel ist. Ich möchte wetten, dass er mehr über Sie erfährt als Sie über ihn. Auf Wiedersehen.«
»Auf Wiedersehen«, antwortete ich und schlenderte weiter zu meinem Hotel, ausgesprochen interessiert an meinem neuen Bekannten.
Kapitel II
WIR trafen uns am nächsten Tag, wie er es gesagt hatte, und besichtigten die Räumlichkeiten in der Nr. 221B Baker Street, von denen er bei unserer Begegnung gesprochen hatte. Sie bestanden aus zwei gemütlichen Schlafzimmern und einem großen, luftigen Wohnzimmer, das ansprechend möbliert war und von zwei breiten Fenstern erhellt wurde. Die Räume waren in jeglicher Hinsicht so liebenswert und die Konditionen erschienen uns, wenn wir die Kosten teilten, so maßvoll, dass die Verhandlungen an Ort und Stelle abgeschlossen wurden und wir die Wohnung sogleich in Beschlag nahmen. Noch an jenem Abend schaffte ich meine Habseligkeiten aus der Pension herüber, und am nächsten Morgen folgte Sherlock Holmes meinem Beispiel mit mehreren Kisten und Schrankkoffern. Einen Tag oder zwei waren wir emsig damit beschäftigt, unsere Habseligkeiten auszupacken und auf die vorteilhafteste Weise unterzubringen. Nachdem dies getan war, lebten wir uns allmählich ein und gewöhnten uns an unsere neue Umgebung.
Holmes war bestimmt kein schwieriger Mensch, wenn es darum ging, mit ihm zusammenzuleben. Er war ruhig in seinem Verhalten, und seine Gewohnheiten waren verlässlich. Selten blieb er nach zehn Uhr abends noch auf, und stets hatte er gefrühstückt und das Haus verlassen, ehe ich meinerseits morgens aufstand. Manchmal verbrachte er seinen Tag im chemischen Labor, manchmal in den Seziersälen und gelegentlich auf langen Spaziergängen, die ihn in die niedersten Bereiche der Stadt zu führen schienen. Nichts vermochte seine Energie zu übertreffen, wenn ihn der Arbeitseifer überkam; doch erfasste ihn ab und an ein bestimmtes Verhalten, und tagelang lag er auf dem Sofa im Wohnzimmer, sagte vom Morgen bis zum Abend kaum ein Wort oder rührte kaum einen Muskel. Bei diesen Gelegenheiten ist mir in seinen Augen ein derart verträumter, leerer Ausdruck aufgefallen, dass ich ihn hätte verdächtigen mögen, süchtig nach dem Gebrauch von irgendwelchen Rauschmitteln zu sein, wenn die Mäßigkeit und Reinlichkeit seines ganzen Lebenswandels eine solche Annahme zu haben nicht verboten hätten.
Als die Wochen vergingen, vertieften und intensivierten sich mein Interesse an ihm und meine Neugier mit Blick auf seine Lebensziele. Seine ganze Gestalt und Erscheinung waren von der Art, die Aufmerksamkeit des oberflächlichsten Betrachters zu erregen. Er war mehr als sechs Fuß groß und so überaus hager, dass er beträchtlich größer zu sein schien. Seine Augen waren wach und durchdringend, abgesehen von jenen Zeiten der Starre, auf die ich bereits angespielt habe; und seine schmale habichtartige Nase verlieh seinem ganzen Gesichtsausdruck eine Aura von Wachsamkeit und Entschlossenheit. Auch sein Kinn besaß die Ausgeprägtheit und die kantige Erscheinung, die den entscheidungsfreudigen Menschen kennzeichnen. Seine Hände waren immer von Tinte verschmiert und von Chemikalien befleckt, und doch besaß er eine außerordentliche Fingerfertigkeit, wie ich häufig feststellen konnte, wenn ich ihm dabei zusah, wie er seine zerbrechlichen wissenschaftlichen Instrumente handhabte.
Der Leser mag mich für einen hoffnungslosen Wichtigtuer halten, wenn ich bekenne, wie sehr dieser Mann meine Neugier weckte und wie oft ich mich bemühte, die Schweigsamkeit zu durchbrechen, die er in Bezug auf alles an den Tag legte, was ihn betraf. Bevor dieses Urteil jedoch gefällt werden sollte, sollte man nicht vergessen, wie ziellos mein Leben war und wie wenig es gab, das meine Aufmerksamkeit hätte fesseln mögen. Meine Gesundheit gestattete es mir nicht, mich hinauszuwagen, es sei denn, das Wetter war außergewöhnlich mild, und ich hatte keine Freunde, die mich besucht und die Eintönigkeit meines Alltagslebens unterbrochen hätten. Unter diesen Umständen hieß ich das kleine Mysterium willkommen, das meinen Mitbewohner umgab, und verbrachte einen Großteil meiner Zeit in dem Bemühen, es zu enträtseln.
Er studierte nicht Medizin. Er selbst hatte durch die Beantwortung einer Frage Stamfords Ansicht in diesem Punkt bestätigt. Er schien auch keine Vorlesungen belegt zu haben, die ihn zu einem Abschluss in den Wissenschaften oder irgendeiner anderen Zulassung befähigt hätten, die ihm einen Zugang in die gelehrte Welt gegeben hätten. Dennoch erwies sich sein Eifer für bestimmte Studien als bemerkenswert, und innerhalb exzentrischer Grenzen waren seine Kenntnisse so außergewöhnlich umfassend und exakt, dass mich seine Beobachtungen durchaus erstaunt haben. Gewiss würde niemand so hart arbeiten oder derart präzise Informationen erlangen, ohne dabei ein bestimmtes Ziel vor Augen zu haben. Oberflächliche Leser fallen selten durch die Genauigkeit ihrer Kenntnisse auf. Niemand würde seinen Geist mit kleinen Details befrachten, es sei denn, man hat dafür einen sehr guten Grund.
Seine Unwissenheit war genauso bemerkenswert wie seine Kenntnisse. Über zeitgenössische Literatur, Philosophie und Politik schien er so gut wie nichts zu wissen. Als ich Thomas Carlyle zitierte, erkundigte er sich auf naivste Weise, wer das sei und was er vorzuweisen habe. Mein Erstaunen erreichte indes seinen Höhepunkt, als ich zufällig herausfand, dass er keine Ahnung von der kopernikanischen Theorie und der Beschaffenheit des Sonnensystems hatte. Dass ein zivilisierter Mensch im neunzehnten Jahrhundert nicht wusste, dass die Erde um die Sonne kreist, kam mir wie eine derart außerordentliche Tatsache vor, dass ich es kaum begreifen konnte.
»Sie wirken erstaunt«, sagte er und lächelte angesichts meines Ausdrucks der Überraschung. »Da ich es jetzt weiß, werde ich mein Bestes tun, es zu vergessen.«
»Es zu vergessen!«
»Wissen Sie«, erklärte er, »ich bin der Ansicht, dass das Gehirn eines Menschen wie eine kleine leere Dachkammer ist, und man muss sie mit den Möbeln seiner Wahl ausstatten. Ein Narr schafft allerlei Gerümpel jeglicher Art, das er findet, hinein, so dass das Wissen, das ihm nützlich sein könnte, verdrängt oder bestenfalls mit vielen anderen Dingen durcheinandergewürfelt wird, so dass er Mühe hat, seines Wissens habhaft zu werden. Der geschickte Arbeiter aber wird sehr genau darauf achten, was er in seine Gehirnkammer schafft. Er wird nur die Werkzeuge zulassen, die ihm womöglich dabei helfen, seine Arbeit zu verrichten, aber bei diesen Werkzeugen verfügt er über ein großes Sortiment, und alle sind in perfekter Anordnung. Es ist ein Irrtum, zu glauben, dieser kleine Raum habe elastische Wände und könne beliebig weit ausgedehnt werden. Verlassen Sie sich darauf, es kommt eine Zeit, in der Sie bei jedem Wissenszuwachs etwas vergessen, das Sie vorher wussten. Deshalb ist es von größter Bedeutung, dass die nutzlosen Fakten nicht die nützlichen hinausdrängen.«
»Aber das Sonnensystem!«, protestierte ich.
»Was, zum Teufel, geht mich das an?«, unterbrach er mich ungeduldig: »Sie sagen, wir bewegen uns um die Sonne. Wenn wir uns um den Mond bewegten, würde das für mich oder meine Arbeit nicht den geringsten Unterschied machen.«
Ich war kurz davor, ihn zu fragen, was diese Arbeit sein mochte, doch etwas in seinem Verhalten verriet mir, dass diese Frage nicht willkommen wäre. Ich sann jedoch über unsere kurze Unterhaltung nach und versuchte, meine Schlüsse zu ziehen. Er sagte, er wolle kein Wissen erwerben, das keinen Bezug zu seinem Gegenstand aufweise. Deshalb war all das Wissen, das er besaß, so beschaffen, dass es ihm nützlich war. Ich zählte in Gedanken all die verschiedenen Punkte auf, bei denen er mir bewiesen hatte, dass er außergewöhnlich gut informiert war. Ich nahm sogar einen Bleistift und notierte sie. Ich konnte nicht anders, ich musste lächelnd auf das Dokument schauen, nachdem ich es fertiggestellt hatte. Es lautete wie folgt:
Kenntnisse in Literatur: Null.
" " Philosophie: Null.
" " Astronomie: Null.
" " Politik: Schwach.
" " Botanik: Unterschiedlich. Gut bewandert in Belladonna, Opium und Giften im Allgemeinen. Weiß nichts über praktische Gartenarbeit.
" " Geologie: praxisorientiert, aber begrenzt. Kann auf einen Blick verschiedene Böden voneinander unterscheiden. Hat mir nach Spaziergängen Spritzer auf seiner Hose gezeigt und erzählte mir anhand ihrer Farbe und Beschaffenheit, in welchem Teil Londons er sie erhalten hatte.
" " Chemie: Fundiert.
" " Anatomie: Exakt, doch unsystematisch.
" " Sensationsliteratur: Immens. Er scheint jedes Detail jeder Schreckenstat zu kennen, die in diesem Jahrhundert begangen wurde.
Spielt gut Geige.
Ist ein ausgezeichneter Singlestickkämpfer, Boxer und Fechter.
Verfügt über gute, praxistaugliche Kenntnisse der britischen Gesetze.
Nachdem ich mit meiner Liste so weit gekommen war, warf ich sie verzweifelt ins Feuer. »Wenn ich nur herausfinden könnte, auf was der Kerl hinauswill, indem ich all diese Errungenschaften miteinander in Einklang bringe und einen Beruf ausfindig mache, für den sie alle erforderlich wären«, sagte ich zu mir selbst, »dann könnte ich den Versuch auch gleich aufgeben.«
Wie ich feststelle, habe ich weiter oben seine Fähigkeiten auf der Geige erwähnt. Diese waren sehr bemerkenswert, jedoch genauso exzentrisch wie all seine anderen Fähigkeiten. Dass er Stücke spielen konnte, und schwierige Stücke, wusste ich wohl, denn auf meinen Wunsch hin hat er mir einige von Mendelssohns Liedern und andere Lieblingsstücke vorgespielt. Wenn er jedoch sich selbst überlassen war, pflegte er nur selten Musik hervorzubringen oder versuchte sich gar nicht erst an einer wiedererkennbaren Melodie. Wenn er sich abends in seinem Sessel zurücklehnte, schloss er die Augen und kratzte achtlos auf seiner Fiedel herum, die er sich über die Knie gelegt hatte. Manchmal waren die Akkorde klangvoll und melancholisch. Gelegentlich waren sie phantasievoll und fröhlich. Offensichtlich spiegelten sie die Gedanken wider, die ihn beschäftigten, aber ob die Musik nun diesen Gedanken förderlich war oder ob das Spielen schlichtweg das Ergebnis einer Marotte oder einer Laune war, überstieg, was ich festzustellen vermochte. Ich hätte womöglich gegen diese nervtötenden Soli protestiert, wenn er sie nicht gewöhnlich damit beendet hätte, indem er in rascher Folge eine ganze Reihe meiner Lieblingsmelodien spielte, als kleine Entschädigung dafür, meine Geduld derart auf die Probe gestellt zu haben.
Während der ersten Woche oder so hatten wir keine Besucher, und allmählich glaubte ich, dass mein Mitbewohner ein ähnlicher Mann ohne Freunde war wie ich. Doch schon bald stellte ich fest, dass er viele Bekannte hatte, und zwar aus den unterschiedlichsten Schichten der Gesellschaft. Da gab es einen kleinen blassen, rattengesichtigen, dunkeläugigen Kerl, der mir als Mr. Lestrade vorgestellt wurde und der drei- oder viermal innerhalb einer Woche kam. Eines Morgens meldete sich eine junge Frau, elegant gekleidet, und blieb für eine halbe Stunde oder etwas länger. Derselbe Nachmittag bescherte uns einen grauhaarigen, verwahrlosten Besucher, der wie ein jüdischer Hausierer aussah und der auf mich sehr erregt wirkte, und ihm folgte unmittelbar eine schlampige, ältere Frau. Ein anderes Mal hatte ein alter, weißhaariger Gentleman eine Unterredung mit meinem Mitbewohner, und ein weiteres Mal handelte es sich um einen Gepäckträger in seiner Uniform aus Velveton. Wann immer eines dieser schwer einzuordnenden Individuen in Erscheinung trat, bat Sherlock Holmes mich, das Wohnzimmer nutzen zu dürfen, und daraufhin zog ich mich in mein Schlafzimmer zurück. Er entschuldigte sich stets bei mir, mir diese Unannehmlichkeit zuzumuten. »Ich muss dieses Zimmer als Geschäftsraum nutzen«, sprach er, »und diese Leute sind meine Klienten.« Erneut hätte ich die Gelegenheit gehabt, ihm eine direkte Frage zu stellen, und erneut hielt mich mein Feingefühl davon ab, einen anderen Menschen zu zwingen, sich mir anzuvertrauen. Zu jener Zeit glaubte ich, er habe einen triftigen Grund, nicht auf das Thema anzuspielen, doch er zerstreute diese Vermutung bald, indem er aus eigenem Antrieb darauf zu sprechen kam.
Es war am 4. März, wie ich mich aus gutem Grund erinnern kann, dass ich ein wenig früher als gewöhnlich aufstand und feststellte, dass Sherlock Holmes sein Frühstück noch nicht beendet hatte. Die Hauswirtin hatte sich so an meine Gepflogenheit, spät aufzustehen, gewöhnt, dass weder mein Platz gedeckt noch mein Kaffee zubereitet war. Mit der unangemessenen Gereiztheit von Männern läutete ich die Glocke und gab ihr mit einer knappen Andeutung zu verstehen, dass ich bereit sei. Dann nahm ich ein Magazin