Eine Studie in Scharlachrot - Sir Arthur Conan Doyle - E-Book

Eine Studie in Scharlachrot E-Book

Sir Arthur Conan Doyle

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Beschreibung

Der erste Sherlock-Holmes-Roman der berühmten britischen Krimireihe: In Teil I geht es nicht nur um das erste Kennenlernen zwischen Sherlock Holmes und Dr. Watson in London, sondern auch um die Aufklärung des Mordes an dem reichen Drebber. Der zweite Teil geht rückblickhaft auf die Hintergründe der Tat ein und löst auf, warum es sich bei dem Mord in Teil I um einen Racheakt handelt, dessen Spuren zu einer Mormonengemeinde in Utah führen. -

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Arthur Conan Doyle

Eine Studie in Scharlachrot

Späte Rache

Saga

Eine Studie in ScharlachrotCopyright © 1887, 2019 Arthur Conan Doyle und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788726372151

1. Ebook-Auflage, 2019

Format: EPUB 2.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit Zustimmung von SAGA Egmont gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk – a part of Egmont www.egmont.com

Aus Watsons Erinnerungen.

Erstes Kapitel.

Sherlock Holmes.

Im Jahre 1878, hatte ich mein Doktorexamen an der Londoner Universität bestanden und in Nelley den für Militärärzte vorgeschriebenen medizinischen Kursus durchgemacht. Bald darauf ward ich dem fünften Füsilierregiment Northumberland zugeteilt, welches damals in Indien stand. Bevor ich jedoch an den Ort meiner Bestimmung gelangte, brach der zweite afghanische Krieg aus, und bei meiner Landung in Bombay erfuhr ich, mein Regiment, sei bereits durch die Gebirgspässe marschiert und weit in Feindesland vorgedrungen. In Gesellschaft mehrerer Offiziere, die sich in gleicher Lage befanden, folgte, ich meinem Corps, erreichte dasselbe glücklich in Kandahar und trat in meine neue Stellung ein.

Der Feldzug, in welchem andere Ehre und Auszeichnungen fanden, brachte mir indessen nur Unglück und Misserfolg. Gleich in der ersten Schlacht zerschmetterte mir eine Kugel das Schulterblatt und ich wäre sicherlich den grausamen Ghazia in die Hände gefallen, hätte mich nicht Murray, mein treuer Bursche, rasch auf ein Packpferd geworfen und mit eigener Lebensgefahr mit sich geführt, bis wir die britische Schlachtlinie erreichten.

Lange lag ich krank, und erst nachdem ich mit einer grossen Anzahl verwundeter Offiziere in das Hospital von Peshawur geschafft worden war, erholte ich mich allmählich von den ausgestandenen Leiden; ich war bereits wieder so weit, dass ich in den Krankensälen umhergehen und auf der Veranda frische Luft schöpfen durfte. Da befiel mich unglücklicherweise ein Entzündungsfieber und zwar mit solcher Heftigkeit, dass man monatelang an meinem Wiederaufkommen zweifelte. Als endlich die Macht der Krankheit gebrochen war und mein Bewusstsein zurückkehrte, befand ich mich in solchem Zustand der Kraftlosigkeit, dass die Aerzte beschlossen, mich ohne Zeitverlust wieder nach England zu schicken. Einen Monat später landete ich mit dem Truppenschiff ,Orontes‘ in Portsmouth; meine Gesundheit war völlig zerrüttet, doch erlaubte mir eine fürsorgliche Regierung, während der nächsten neun Monate den Versuch zu machen, sie wiederherzustellen.

Verwandte besass ich in England nicht; ich beschloss daher, mich in einem Privathotel einzuquartieren. Mein tägliches Einkommen belief sich auf elf und einen halben Schilling und da ich zuerst nicht sehr haushälterisch damit umging, machten mir meine Finanzen bald grosse Sorge. Ich sah ein, dass ich entweder aufs Land ziehen oder meine Lebensweise in der Hauptstadt völlig ändern müsse.

Da ich letzteres vorzog, sah ich mich genötigt, das Hotel zu verlassen und mir eine anspruchslosere und weniger kostspielige Wohnung zu suchen.

Während ich noch hiermit beschäftigt war, begegnete ich eines Tages auf der Strasse einem mir bekannten Gesicht, ein höchst erfreulicher Anblick für einen einsamen Menschen wie mich in der Riesenstadt London. Ich hatte mit dem jungen Stamford während meiner Studienzeit verkehrt, ohne dass wir einander besonders nahe getreten waren, jetzt aber begrüsste ich ihn mit Entzücken, und auch er schien sich über das Wiedersehen zu freuen. Bald sassen wir in einer nahen Restauration zusammen bei einem Glase Wein und tauschten unsere Erlebnisse aus.

„Was in aller Welt ist denn mit dir geschehen, Watson?“ fragte Stamford verwundert, „du siehst braun aus wie eine Nuss und bist so dürr wie eine Bohnenstange.“

„Ich gab ihm einen kurzen Abriss meiner Abenteuer und er hörte mir teilnehmend zu.

„Armer Kerl,“ sagte er mitleidig, „und was gedenkst du jetzt zu thun?“

„Ich bin auf der Wohnungssuche,“ versetzte ich; „es gilt die Aufgabe zu lösen, mir um billigen Preis ein behagliches Quartier zu verschaffen.“

„Wie sonderbar,“ rief Stamford; „du bist der zweite Mensch, der heute gegen mich diese Aeusserung thut.“

„Und wer war der erste?“

„Ein Bekannter von mir, der in dem chemischen Laboratorium des Hospitals arbeitet. Er klagte mir diesen Morgen sein Leid, dass er niemand finden könne, um mit ihm gemeinsam ein sehr preiswürdiges, hübsches Quartier zu mieten, das für seinen Beutel allein zu kostspielig sei.“

„Meiner Treu,“ rief ich, „wenn er Lust hat, die Kosten der Wohnung zu teilen, so bin ich sein Mann. Ich würde weit lieber mit einem Gefährten zusammenziehen, statt ganz allein zu hausen.“

Stamford sah mich über sein Weinglas hinweg mit bedeutsamen Blicken an. „Wer weiss, ob du Sherlock Holmes zum Stubengenossen wählen würdest, wenn du ihn kenntest,“ sagte er.

„Ist denn irgend etwas an ihm auszusetzen?“

„Das will ich nicht behaupten. Er hat in mancher Hinsicht eigentümliche Anschauungen und schwärmt für die Wissenschaft. Im übrigen ist er ein höchst anständiger Mensch, soviel ich weiss.“

„Ein Mediziner vermutlich?“

„Nein — ich habe keine Ahnung, was er eigentlich treibt. In der Anatomie ist er gut bewandert und ein vorzüglicher Chemiker. Aber meines Wissens hat er nie regelrecht Medizin studiert. Er ist überhaupt ziemlich überspannt und unmethodisch in seinen Studien, doch besitzt er auf verschiedenen Gebieten eine Menge ungewöhnlicher Kenntnisse, um die ihn mancher Professor beneiden könnte.“

„Hast du ihn nie nach seinem Beruf gefragt?“

„Nein — er ist kein Mensch, der sich leicht ausfragen lässt; doch kann er zuweilen sehr mitteilsam sein, wenn ihm gerade danach zu Mute ist.“

„Ich möchte ihn doch kennen lernen,“ sagte ich; „ein Mensch, der sich mit Vorliebe in seine Studien vertieft, wäre für mich der angenehmste Gefährte. Bei meinem schwachen Gesundheitszustand kann ich weder Lärm noch Aufregung vertragen. Ich habe beides in Afghanistan so reichlich genossen, dass ich für meine Lebenszeit genug daran habe. Bitte, sage mir, wo ich deinen Freund treffen kann.“

„Vermutlich ist er jetzt noch im Laboratorium. Manchmal lässt er sich dort wochenlang nicht sehen und zu anderen Zeiten bleibt er wieder von früh bis spät bei der Arbeit. Wenn es dir recht ist, suchen wir ihn zusammen auf.“

Ich willigte mit Freuden ein und wir machten uns sogleich auf den Weg nach dem Hospital.

„Du darfst mir aber keine Vorwürfe machen, wenn ihr nicht miteinander auskommt,“ sagte Stamford, als wir in die Droschke stiegen; „ich möchte dir weder zu- noch abraten.“

„Wenn wir nicht zu einander passen, können wir uns ja leicht wieder trennen. Deine Vorsicht scheint mir fast übertrieben, es muss noch etwas anderes dahinter stecken. Heraus mit der Sprache, was hast du gegen den Menschen einzuwenden?“

„Nichts, gar nichts; er ist nur nach meinem Geschmack seiner Wissenschaft allzusehr ergeben. — Das grenzt schon an Gefühllosigkeit. Ich halte es nicht für undenkbar, dass er einem guten Freunde eine Priese des neuesten vegetabilischen Alkaloids eingeben würde — nicht etwa aus Bosheit, nein, aus Forschungstrieb — um die Wirkung genau zu beobachten. Ebenso gern würde er freilich die Probe an sich selber machen, die Gerechtigkeit muss man ihm widerfahren lassen. Ueberhaupt ist Klarheit und Genauigkeit des Wissens seine grösste Leidenschaft; aber zu welchem Zweck er alle seine Studien betreibt, weiss der liebe Himmel.“

Vor dem Hospital angekommen, stiegen wir aus, gingen ein Gässchen hinunter und traten durch eine Thür in den Nebenflügel des weitläufigen Gebäudes. Hier war mir alles wohl bekannt und ich brauchte keinen Führer mehr. Es ging die kahle Steintreppe hinauf, durch den langen, weissgetünchten Korridor, mit den Thüren auf beiden Seiten, an den sich der niedrige Bogengang anschloss, welcher nach dem chemischen Laboratorium führte.

In dem grossen Saal, den wir betraten, waren sämtliche Tische mit Retorten, Reagensgläsern und kleinen Weingeistlampen besetzt, während rings an den Wänden und überhaupt, wohin man blickte, Flaschen von allen Grössen und Formen umherstanden. Wir dachten zuerst, der Raum sei leer, bis wir an dem andern Ende einen jungen Mann gewahrten, der, in seine Beobachtungen versunken, über einen Tisch gebeugt dasass. Beim Schall unserer Fusstritte blickte er von seinem Experiment auf und sprang mit einem Freudenruf in die Höhe. „Viktoria, Viktoria,“ jubelte er, und kam uns, mit der Retorte in der Hand, entgegen. „Ich habe das Reagens gefunden, das sich mit Hämoglobin zu einem Niederschlag verbindet und sonst mit keinem Stoff.“

Er sah so glückstrahlend aus, als hätte er eine Goldmine entdeckt.

„Mein Freund, Doktor Watson — Herr Sherlock Holmes,“ sagte Stamford uns einander vorstellend.

„Sehr erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen,“ erwiderte Holmes in herzlichem Ton und mit kräftigem Händedruck. „Sie kommen aus Afghanistan, wie ich sehe.“

Ich blickte ihn verwundert an. „Wieso wissen Sie denn das?“

„O, das thut nichts zur Sache,“ rief er, sich vergnügt die Hände reibend; „ich denke jetzt nur an Hämoglobin. Sicherlich werden Sie die Tragweite meiner Erfindung begreifen.“

„Es mag wohl als chemisches Experiment sehr interessant sein, aber für die Praxis —“

„Gerade in der Praxis ist es von grösster Wichtigkeit für die Gerichtschemie, weil es dazu dient, das etwaige Vorhandensein von Blutflecken zu beweisen. — Bitte, kommen Sie doch einmal her.“ In seinem Eifer ergriff er meinen Rockärmel und zog mich nach dem Tische hin, an welchem er experimentiert hatte. „Wir müssen etwas frisches Blut haben,“ sagte er und stach sich mit einer grossen Stopfnadel in den Finger, worauf er das herabtropfende Blut in einem Saugröhrchen auffing. „Jetzt mische ich diese kleine Blutmenge mit einem Liter Wasser — das Verhältnis ist etwa wie eins zu einer Million — und die Flüssigkeit sieht ganz aus wie reines Wasser. Trotzdem wird sich, denke ich, die gewünschte Reaktion herstellen lassen.“ Er hatte, während er sprach, einige weisse Krystalle in das Gefäss geworfen und goss jetzt noch mehrere Tropfen einer durchsichtigen Flüssigkeit hinzu. Sofort nahm das Wasser eine dunkle Färbung an und ein bräunlicher Niederschlag erschien auf dem Boden des Glases.

„Sehen Sie,“ rief er und klatschte in die Hände, wie ein Kind vor Freude über ein neues Spielzeug. „Was sagen Sie dazu?“

„Es scheint mir ein sehr gelungenes Experiment.“

„Wundervoll, wundervoll! Die alte Methode, die Probe mit Guajacum anzustellen, war sehr umständlich und unsicher, die mikroskopische Untersuchung der Blutkügelchen aber ist wertlos, sobald die Flecken ein paar Stunden alt sind. Meine Erfindung wird sich dagegen ebenso gut bei altem wie bei frischem Blut bewähren. Wäre sie schon früher gemacht worden, so hätte man Hunderte von Verbrechern zur Rechenschaft ziehen können, die straflos davongekommen sind.“

„Meinen Sie wirklich?“

„Ohne Frage. Bei der Kriminaljustiz dreht sich ja meist alles um diesen einen Punkt. Vielleicht Monate, nachdem die Missethat begangen ist, fällt der Verdacht auf einen Menschen, man untersucht seine Kleider und findet braune Flecke am Rock oder in der Wäsche. Das können Blutspuren sein, aber auch Rostflecke, Obstflecke oder Schmutzflecke. Mancher Sachverständige hat sich darüber schon den Kopf zerbrochen und zwar bloss, weil es an einer zuverlässigen Beweismethode fehlte. Nun man aber das Sherlock Holmessche Mittel besitzt, ist jede Schwierigkeit beseitigt.“

Seine Augen funkelten, während er sprach, er legte die Hand aufs Herz und machte eine feierliche Verbeugung, als sähe er sich im Geist einer Beifall klatschenden, Menge gegenüber.

„Da kann man Ihnen ja Glück wünschen,“ sagte ich, verwundert über seinen Feuereifer.

„Hätte man die Probe schon letztes Jahr anstellen können,“ fuhr er fort, „es wäre dem Mason aus Bradford sicherlich an den Hals gegangen; auch der berüchtigte Müller, sowie Lefevre aus Montpellier und Samson aus New-Orleans wären überführt worden. Ich könnte Ihnen Dutzende von Fällen nennen, bei denen meine Erfindung den Ausschlag gegeben hätte.“

„Sie scheinen ja ein wandelnder Verbrecheralmanach zu sein,“ meinte Stamford lachend; „schreiben Sie doch ein Buch über Kriminalstatistik.“

„Das möchte wohl des Lesens wert sein,“ erwiderte Holmes, der sich eben ein Pflaster auf den verwundeten Finger klebte. „Ich muss sehr vorsichtig sein,“ fügte er erklärend hinzu, „denn ich mache mir viel mit Giften zu schaffen.“ Als er die Hand in die Höhe hielt, sah ich, dass sie an vielen Stellen bepflastert war und von scharfen Säuren gefärbt.

„Wir kommen in Geschäften,“ sagte Stamford, und schob mir einen dreibeinigen Schemel zum Sitzen hin, während er ebenfalls Platz nahm. „Mein Freund hier sucht eine Wohnung, und da Sie gern mit jemand zusammenziehen möchten, dachte ich, es wäre Ihnen vielleicht beiden geholfen.“

Sherlock Holmes ging mit Freuden auf den Vorschlag ein. „Ich habe ein Auge des Wohlgefallens auf ein Quartier in der Baker-Strasse geworfen, das vortrefflich für uns passen würde,“ sagte er. „Sie haben doch nicht etwa eine Abneigung gegen Tabaksdampf?“

„O nein, ich bin selbst ein starker Raucher.“

,„Das trifft sich gut. Ferner habe ich häufig Chemikalien bei mir herumstehen, die ich zu meinen Experimenten brauche. Würde Sie das belästigen?“

„Durchaus nicht.“

„Warten Sie — was habe ich sonst noch für Fehler? Manchmal bekomme ich Anfälle von Schwermut und thue dann tagelang den Mund nicht auf. Sie müssen mir das nicht übel nehmen. Kümmern Sie sich nur dann gar nicht um mich, und die Anwandlung wird bald vorüber sein. So — nun ist die Reihe an Ihnen, mir Bekenntnisse zu machen. Wenn zwei Menschen zusammen leben wollen, ist es gut, wenn sie im voraus wissen, was sie von einander zu erwarten haben.“

Ich musste über diese Generalbeichte lachen. „Ich halte mir einen jungen Bullenbeisser,“ gestand ich, „und kann keinen Lärm vertragen, weil meine Nerven angegriffen sind; auch schlafe ich oft in den Tag hinein und bin überhaupt sehr träge. In gesunden Zeiten fröhne ich noch Lastern anderer Art, aber für jetzt sind dies die hauptsächlichsten.“

„Würden Sie unter „Lärm‘ auch das Spielen auf einer Violine verstehen?“ fragte er besorgt.

„Das kommt auf den Musiker an. Gutes Violinspiel ist ein Genuss für Götter — aber schlechtes —“

„Freilich, freilich,“ rief er vergnügt. „Nun, ich denke, die Sache ist abgemacht — das heisst, wenn Ihnen das Quartier gefällt.“

„Wann können wir es besichtigen?“

„Holen Sie mich morgen mittag hier ab, dann gehen wir zusammen hin und bringen gleich alles ins reine.“

„Sehr wohl, also Punkt zwölf Uhr,“ sagte ich, ihm zum Abschied die Hand schüttelnd.

Wir liessen ihn dort bei seinen Chemikalien und gingen nach meinem Hotel zurück. „Erkläre mir nur,“ wandte ich mich, plötzlich stehend bleibend, an Stamford, „was ihn auf die Idee gebracht haben kann, dass ich aus Afghanistan komme?“

Mein Gefährte lachte geheimnisvoll. „Schon mancher hat gern wissen wollen, wie Sherlock Holmes gewisse Dinge ausfindig macht. Er besitzt eben eine besondere Gabe.“

„Aha, es steckt ein Rätsel dahinter,“ rief ich beluftigt; „das ist ja höchst interessant. Ich bin dir sehr verbunden für die neue Bekanntschaft. Das beste Studium für den Menschen bleibt ja doch immer der Mensch.“

„Studiere ihn nur,“ entgegnete Stamford. „Du wirst dabei manche Nuss zu knacken finden. Ich wette darauf, er kennt dich bald besser als du ihn.“

An der nächsten Strassenecke verabschiedeten wir uns und ich schlenderte allein nach Hause.

–––––––

Zweites Kapitel.

Die Kunst der Schlussfolgerung.

Unsere verabredete Besichtigung des Quartiers in der Bakerstrasse Nr. 221b fand am nächsten Tage statt. Es gefiel mir ausserordentlich; das grosse, luftige Wohnzimmer, welches sich an zwei behagliche Schlafstuben anschloss, war freundlich möbliert und sehr hell, da es sein Licht durch zwei grosse Fenster erhielt. Unter uns beide geteilt, erschien auch der Preis der Wohnung so gering, dass wir sie auf der Stelle mieteten und sogleich einzuziehen beschlossen. Noch am selben Abend liess ich meine Besitztümer vom Hotel hinüberschaffen und Sherlock Holmes folgte bald darauf mit verschiedenen Koffern und Reisetaschen. In den ersten Tagen waren wir eifrig beschäftigt, auszupacken und unsere Sachen auf das vorteilhafteste unterzubringen. Als dann die Einrichtung fertig war, begannen wir uns in Ruhe an unsere neue Umgebung zu gewöhnen.

Holmes war ein Mensch, mit dem sich leicht leben liess, von stillem Wesen und regelmässig in seinen Gewohnheiten. Selten blieb er abends nach zehn Uhr auf, und wenn ich morgens zum Vorschein kam, hatte er immer schon gefrühstückt und war ausgegangen. Den Tag über war er meist im chemischen Laboratorium oder im Seziersaal, zuweilen machte er auch weite Ausflüge, welche ihn bis in die verrufensten Gegenden der Stadt zu führen schienen. Seine Thatkraft war unverwüstlich, so lange die Arbeitswut bei ihm dauerte; von Zeit zu Zeit trat jedoch ein Rückschlag ein, dann lag er den ganzen Tag im Wohnzimmer auf dem Sofa, fast ohne ein Glied zu rühren oder ein Wort zu reden. Dabei nahmen seine Augen einen so traumhaften, verschwommenen Ausdruck an, dass sicher der Verdacht in mir aufgestiegen wäre, er müsse, irgend ein Betäubungsmittel gebrauchen, hätte nicht seine Mässigkeit und Nüchternheit im gewöhnlichen Leben diese Annahme völlig ausgeschlossen.

Nach den ersten Wochen unseres Beisammenseins war mein Interesse für ihn und der Wunsch zu ergründen, welche Zwecke er eigentlich verfolgte, in hohem Masse gestiegen. Schon seine äussere Erscheinung fiel ungemein auf. Er war über sechs Fuss gross und sehr hager; sein scharfkantig vorstehendes Kinn drückte Festigkeit des Charakters aus, der Blick seiner Augen war lebhaft und durchdringend, ausser in den schon erwähnten Zeiten völliger Erschlaffung, und eine spitze Habichtsnase gab seinem Gesicht etwas Aufgewecktes und Entschlossenes. Die Hände schonte er nicht, sie trugen fortwährend Spuren von Tinten und Chemikalien, auch hatte ich oft Gelegenheit, seine grosse Geschicklichkeit bei allen Handgriffen zu bewundern, wenn er mit seinen feinen physikalischen Instrumenten experimentierte.

Kein Wunder, dass meine Neugier in hohem Grade rege war und ich immer wieder versuchte, die strenge Zurückhaltung zu durchbrechen, die er in allem beobachtete, was ihn selbst betraf. Das Geheimnis, welches meinen Gefährten umgab, beschäftigte mich um so mehr, als mein eigenes Leben damals völlig zweck- und ziellos war und wenige Zerstreuungen bot. Mein Gesundheitszustand erlaubte mir nur bei besonders günstiger Witterung auszugehen, und Freunde, die mich hätten besuchen können, um etwas Abwechslung in mein einförmiges Dasein zu bringen, besass ich nicht.

Dass Holmes nicht Medizin studiere, wusste ich aus seinem eigenen Munde. Auch schien er keinen bestimmten Kursus in irgend einer andern Wissenschaft durchgemacht zu haben, der ihm auf herkömmliche Weise die Eingangspforte in die Gelehrtenwelt geöffnet hätte. Trotzdem verfolgte er gewisse Studien mit wahrem Feuereifer und besass innerhalb ihrer Grenzen ein so ausgedehntes und umfassendes. Wissen, dass er mich oft höchlich dadurch überraschte. — War es denkbar, dass ein Mensch so angestrengt arbeitete, sich so genau zu unterrichten suchte, ohne einen bestimmten Zweck vor Augen zu haben? — Ein planloses Studium ist meist auch oberflächlich, und wer sich den Kopf mit hunderterlei Einzelheiten anfüllt, thut dies schwerlich ohne einen triftigen Grund.

Merkwürdigerweise war seine Unwissenheit auf manchen Gebieten ebenso erstaunlich, als seine Kenntnisse in anderen Fächern. Von Astronomie und Philosophie z. B. wusste er so viel wie gar nichts. Musste es mir schon auffallen, als er sagte, er habe noch nie etwas von Thomas Carlyle gelesen, so erreichte meine Verwunderung doch den Gipfelpunkt, als sich zufällig herausstellte, dass er sich über unser Sonnensystem ganz falsche Vorstellungen machte. Wie in unserem neunzehnten Jahrhundert irgend ein zivilisiertes menschliches Wesen darüber im unklaren sein kann, dass die Erde sich um die Sonne dreht, war mir völlig unbegreiflich.

„Setzt Sie das in Erstaunen?“ fragte er lächelnd. „Nun Sie es mir gesagt haben, werde ich suchen, es so schnell wie möglich wieder zu vergessen.“

„Es zu vergessen?!“

„Ja. — Sehen Sie, meiner Ansicht nach gleicht ein Menschenhirn ursprünglich einer leeren Dachkammer, die man nach eigener Wahl mit Möbeln und Geräten ausstatten kann. Nur ein Thor füllt sie mit allerlei Gerümpel an, wie es ihm gerade in den Weg kommt und versperrt sich damit den Raum, welchen er für die Dinge, braucht, die ihm nützlich sind. Ein Verständiger giebt wohl acht, was er in seine Hirnkammer einschachtelt. Er beschränkt sich auf die Werkzeuge, deren er bei der Arbeit bedarf, aber von diesen schafft er sich eine grosse Auswahl an und hält sie in bester Ordnung. Es ist ein Irrtum, wenn man denkt, die kleine Kammer habe dehnbare Wände und könne sich nach Belieben ausweiten. Glauben Sie mit, es kommt eine Zeit, da wir für alles Neuhinzugelernte etwas von dem vergessen, was wir früher gewusst haben. Daher ist es von höchster Wichtigkeit, dass unsere nützlichen Kenntnisse nicht durch unnützen Ballast verdrängt werden.“

„Aber das Sonnensystem —“ warf ich ein.

„Was zum Kuckuck kümmert mich das?“ unterbrech er mich ungeduldig. „Sie sagen, die Erde dreht sich um die Sonne. Wenn sie sich um den Mond drehte, so würde das für meine Zwecke nicht den geringsten Unterschied machen.“

Mir schwebte schon die Frage auf der Zunge, was denn eigentlich seine Zwecke wären, doch behielt ich sie für mich, um ihn nicht zu verdriessen. Unser Gespräch gab mir indessen viel zu denken, und ich begann meine Schlüsse daraus zu ziehen. Wenn er, sich nur Kenntnisse aneignete, die ihm für seine Arbeit Nutzen brachten, so musste man ja aus den Zweigen des Wissens, mit denen er am vertrautesten war, auf den Beruf schliessen können, dem er sich gewidmet hatte. Ich zählte mir nun alles auf, was er mit besonderer Gründlichkeit studierte, ja, ich machte mir ein Verzeichnis von der einzelnen Fächern. Lächelnd überlas ich das Schriftstück noch einmal, es lautete:

Geistiger Horizont und Kenntnisse von Sherlock Holmes.

Litteratur — Mit Unterschied. Philosophie — Null. Astronomie — Null. Politik — Schwach. Botanik — Mit Unterschied. Wohl bewandert in allen vegetabilischen Giften, Belladona, Opium u. drgl. Eigentliche Pflanzenkunde — Null. Geologie — Viel praktische Erfahrung, aber nur auf beschränktem Gebiet. Er unterscheidet sämtliche Erdarten auf den ersten Blick. Von Ausgängen zurückgekehrt, weiss er nach Stoff und Farbe der Schmutzflecke auf seinen bespritzten Beinkleidern die Stadtgegend von London anzugeben, aus welcher die Flecken stammen. Chemie — Sehr gründlich. Anatomie — Genau, aber unmethodisch. Kriminalstatistik — Erstaunlich umfassend. Er scheint alle Einzelheiten jeder Greuelthat, die in unserem Jahrhundert verübt worden ist, zu kennen. Ist ein guter Violinspieler. Ein gewandter Boxer und Fechter. Ein gründlicher Kenner der britischen Gesetze.

Weiter las ich nicht; ich zerriss meine Liste und warf sie ärgerlich ins Feuer. „Wie kann der Mensch behaupten, dass es einen Beruf giebt, in dem sich alle diese verschiedenartigen Kenntnisse verwerten und unter einen Hut bringen lassen,“ rief ich. „Es ist vergebliche Mühe, dies Rätsel lösen zu wollen.“

Holmes’ Fertigkeit auf der Violine war gross, aber ganz eigener Art, wie alles bei diesem ungewöhnlichen Menschen. Gelegentlich spielte er mit wohl des Abends von meinen Lieblingsstücken vor, was ich verlangte; war er aber sich selbst überlassen, so liess er selten eine bekannte Melodie hören. Er lehnte sich dann in den Armstuhl zurück, schloss die Augen und fuhr mechanisch mit dem Bogen über das Instrument, welches auf seinen Knieen lag. Die Töne, die er dann den Saiten entlockte, waren stets der Ausdruck seiner augenblicklichen Empfindung, bald leise und klagend, bald heiter, bald schwärmerisch. Ob er dabei nur den wechselnden Launen seiner Einbildung folgte oder durch die Musik die Gedanken, welche ihn gerade beschäftigten, besser in Fluss bringen wollte, vermochte ich nicht zu sagen. Ich hätte sicherlich gegen seine herzzerreissenden Solovorträge Einspruch erhoben, allein, um mich einigermassen für die Geduldsprobe zu entschädigen, die er mir auferlegte, endigte er gewöhnlich damit, dass er rasch hintereinander eine ganze Reihe meiner Lieblingsmelodien spielte und das versöhnte mich wieder.