Eine Tochter Harlems - Louise Meriwether - E-Book

Eine Tochter Harlems E-Book

Louise Meriwether

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Beschreibung

Ein moderner Klassiker der amerikanischen Literatur, erstmals auf Deutsch, mit einem Vorwort von James Baldwin.  Harlem, 1934: Die 12-jährige Francie wächst in einem rauen Umfeld auf. Ihr geliebter Vater arbeitet als «Number Runner» im illegalen Lotteriegeschäft – besser als so manch denkbare Alternative. Francie ist eine Träumerin, doch Mädchen und Frauen in ihrer Welt haben nur begrenzte Möglichkeiten und sind ständig auf der Hut: vor den Männern, die ihnen auf Hausdächern, im Park oder im Kino auflauern, dem Bäcker, der für Zimtschnecken Gefälligkeiten verlangt, dem allgegenwärtigen Rassismus. Halt findet Francie im vertrauten Netz aus Nachbarn, Familie und Freunden. Aber die Gemeinschaft hat auch ihre Schattenseiten, wie die brutalen Straßengangs, die Macht und Kontrolle verheißen und in deren Sog Francies Bruder immer mehr gerät … «Louise Meriwether erzählt allen, die lesen können und über Empathie verfügen, was es bedeutet, in diesem Land schwarz und eine Frau zu sein.» (James Baldwin)

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Louise Meriwether

Eine Tochter Harlems

Roman

 

Herausgegeben von Magda Birkmann und Nicole Seifert

 

Aus dem Englischen von Andrea O'Brien

 

Vorwort von James Baldwin

Nachwort von Magda Birkmann

Über dieses Buch

«Louise Meriwether erzählt allen, die lesen können und über Empathie verfügen, was es bedeutet, in diesem Land schwarz und eine Frau zu sein.» (James Baldwin)

 

Harlem, 1934: Die 12-jährige Francie wächst in einem rauen Umfeld auf. Ihr geliebter Vater arbeitet als «Number Runner» im illegalen Lotteriegeschäft – besser als so manch denkbare Alternative. Francie ist eine Träumerin, doch Mädchen und Frauen in ihrer Welt haben nur begrenzte Möglichkeiten und sind ständig auf der Hut: vor den Männern, die ihnen auf Hausdächern, im Park oder im Kino auflauern, dem Bäcker, der für Zimtschnecken Gefälligkeiten verlangt, dem allgegenwärtigen Rassismus. Halt findet Francie im vertrauten Netz aus Nachbarn, Familie und Freunden. Aber die Gemeinschaft hat auch ihre Schattenseiten, wie die brutalen Straßengangs, die Macht und Kontrolle verheißen und in deren Sog Francies Bruder immer mehr gerät …

Vita

Louise Meriwether, geboren 1923, war eine amerikanische Autorin, Journalistin, Essayistin und Aktivistin. Sie hat unter anderem Biografien über bedeutende afroamerikanische Persönlichkeiten wie Rosa Parks für Kinder verfasst. Ihr bekanntestes Werk, «Eine Tochter Harlems», ist in Teilen autobiografisch. Louise Meriwether starb am 10. Oktober 2023.

 

Andrea O'Brien übersetzt zeitgenössische Literatur aus dem Englischen. Sie wurde bereits mehrfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Arbeitsstipendium des Freistaats Bayern (2016) und mit dem Literaturstipendium der Stadt München (2019). O’Brien lebt und arbeitet in München.

 

Magda Birkmann ist seit ihrer Jugend begeisterte Schatzsucherin in Bibliotheken, Antiquariaten und auf Bücherflohmärkten, seit 2018 teilt sie diese Begeisterung für Literatur als Buchhändlerin in der Berliner Buchhandlung Ocelot und als freiberufliche Literaturvermittlerin auch regelmäßig mit der Öffentlichkeit. 2021 war sie für den Börsenblatt Young Excellence Award nominiert.

 

Nicole Seifert ist gelernte Verlagsbuchhändlerin und promovierte Literaturwissenschaftlerin. Sie lebt in Hamburg und arbeitet frei als Autorin, Übersetzerin und Literaturkritikerin. Ihr Literaturblog nachtundtag.blog wurde 2019 vom Börsenverein des deutschen Buchhandels als bester Buchblog ausgezeichnet. Zuletzt erschien bei Kiepenheuer & Witsch ihr Buch FRAUEN LITERATUR, Abgewertet, vergessen, wiederentdeckt.

 

Impressum

Die Originalausgabe erschien 1970 unter dem Titel «Daddy Was A Number Runner» bei Prentice Hall, New Jersey.

Die deutsche Ausgabe wurde nach der Ausgabe von Feminist Press at the City University of New York übersetzt.

Das Vorwort von James Baldwin wurde übersetzt von Hannes Riffel.

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, November 2023

Copyright © 2023 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

«Daddy Was a Number Runner» Copyright © 1970 by Louise Meriwether

Vorwort Copyright © 1987 by The Beneficiaries of James Baldwin

«Trouble in Mind» words and music by Richard M. Jones © 1926, 1937 vy MCA Music, a division of MCA, Inc., New York.

«What Did I Do to Be So Black and Blue» Harry Brooks, Andy Razaf and Thomas Waller, © 1929 by Mills Music, Inc.

Covergestaltung FAVORITBUERO, München

Coverabbildung Bettmann/Getty Images

ISBN 978-3-644-01794-8

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

 

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www.rowohlt.de

Niemand ist eine Insel, deswegen möchte ich den vielen Menschen danken, die mich während der Entstehung dieses Buchs ermutigt haben, auf die eine oder andere Weise. Danke Catherine C. Hiatt, George Griffin, James Baldwin, Professor Joseph A. Brand, The Watts Writers Workshop, dessen Gründer Budd Schulbe rg und dessen Präsident Harry Dolan, The Atlantis Writers’ Workshop, Venia Martin, Junita Jackson

 

und an erster, letzter und ewiger Stelle meiner Mutter und meiner swingenden Familie, die mich immer geliebt hat.

 

Zum Andenken an meinen Vater Marion Lloyd Jenkins

Vorwort von James Baldwin

Vor Kurzem habe ich einen Fragebogen erhalten – die Demokratie bildet sich viel auf ihre Fragebögen ein, ebenso wie sie unaufhörlich bei Meinungsumfragen Bestätigung sucht und sich von ihnen in die Irre führen lässt –, und die erste Frage lautete: Warum schreiben Sie immer noch? Schriftsteller mögen diese Frage nicht, denn ebenso gut könnte man sie fragen: Warum atmen Sie immer noch? Aber manchmal genügt es beinahe, zur Antwort auf das Werk einer anderen Schriftstellerin zu deuten und triumphierend auszurufen: Seht doch, dort! Genau darum geht es – das öffnet uns die Augen – das führt uns wieder zurück zur Wirklichkeit.

Die Straßen, die Mietshäuser, die Feuertreppen, die älteren Menschen und alles, was einem als Kind wichtig ist – oder vielmehr die Heftigkeit des Schmerzes, mit dem wir, ohne etwas tun zu können, unsere Kindheit entschwinden sehen –, ist wahrlich aufs Anschaulichste von Louise Meriwether dargestellt, und zwar in ihrem ersten Roman Eine Tochter Harlems. Ein solches Leben haben wir aus dem Blickwinkel eines schwarzen Jungen betrachtet, der zum Mann heranwächst und ein oft kurzes Leben voller Gefahren führt; ich weiß nicht, ob wir es schon einmal aus dem Blickwinkel eines schwarzen Mädchens betrachtet haben, das an der Schwelle eines furchterregenden Daseins als Frau steht. Als Metapher dafür, wie diese stählernen und unüberwindlichen Schwierigkeiten in zunehmendem Maße wahrgenommen werden, steht hier das in Harlem sogenannte Nummernspiel, bei dem die Möglichkeit besteht, einen «Treffer» zu landen: der amerikanische Traum schwarz eingefärbt, der entblößte Horatio Alger, die amerikanische Erfolgsgeschichte mit weithin sichtbarem Preisschild! Wenn wir die Heldin dieses Buches – von ihrem Umfeld ganz zu schweigen – mit der Heldin des Romans Ein Baum wächst in Brooklyn[1] vergleichen, sehen wir nur allzu deutlich, dass Armut eine ganz bestimmte Farbe hat – und dass sie, wie wir es in Harlem ausdrücken, eine ganz bestimmte Haltung nach sich zieht. Mittlerweile gehört die Heldin von Ein Baum wächst in Brooklyn (die, sofern ich mich recht entsinne, ebenfalls Francie heißt) längst jener schweigenden (!) Mehrheit an, die sich fragt, was die schwarze Francie eigentlich will und warum sie als Dienstmädchen so unzuverlässig ist.

Scheiße, sagt Francie, als sie am Ende des Buches wieder mal in einem Hauseingang auf der Treppe sitzt, in das Land der unbegrenzten Möglichkeiten hinausblickt und mit einer dünnen, knochigen, schwarzen Hand versucht, den Blutfluss zu stillen, der einer beinahe tödlichen Wunde entströmt. Diese zwei Silben erklingen überall in diesem Land, überall auf der Welt: Damit ist ein Urteil über diese Zivilisation gesprochen, das umso unerbittlicher ist, weil es aus dem Mund eines Kindes kommt. Die tödliche Wunde ist nicht körperlich, und dieses Buch, weit davon entfernt, ein Melodram zu sein, ist auf brillante Weise zurückhaltend. Die Wunde ist eine Wunde, die von der Erkenntnis zugefügt wird, als wertloses menschliches Wesen angesehen zu werden, und bei ebendiesem schwarzen Mädchen darüber hinaus von der Erkenntnis, dass die Männer, auf denen alle Hoffnung ruhte, ebenfalls niedergemacht wurden und keine Rettung bringen. Louise Meriwether beendet ihr Buch klugerweise, bevor sie uns damit konfrontiert, was es heißt, über den Besenstiel zu springen. Sklavenhalter zwangen schwarze Männer und schwarze Frauen voller Häme, über einen Besenstiel zu springen, um ihre Sklaven miteinander zu verheiraten – dieselben Weißen, die sich heute beschweren, die Schwarzen wären bar jeder Moral. Das Herzstück des Buches, das ihm seine eigentliche Wucht verleiht, bildet die immer stärker werdende Einsicht eines Kindes, dass es zu den Opfern einer kollektiven Vergewaltigung zählt, denn Geschichte wird, und das gilt ganz besonders auf dem schwarz-weißen Kampfplatz, nicht in der Vergangenheit geschrieben, sondern in der Gegenwart. Diese gewaltige, allumfassende, öffentliche historische Schändung ist als unerträgliche Kränkung im Privaten gegenwärtig, und der mächtige Zwang, den diese nicht beachteten Vergewaltigungen ausüben, bedeuten den Untergang jeder Zivilisation, die so tut, als fänden diese Vergewaltigungen gar nicht statt oder als wären sie bedeutungslos oder als wäre morgen ein schöner Tag. Dieses Buch sollte ins Weiße Haus geschickt werden oder an unseren beflissenen Justizminister, an alle in diesem Land, die lesen können – was, so fürchte ich, eine zutiefst verzweifelte Äußerung sein mag. Wir lieben – und damit meine ich die weißen Amerikaner – die Vorstellung von den kleinen Frauen hinter den großen Männern: Vielleicht wird uns Louise Meriwether eines Tages mit ihrer Version von Was jede Frau weiß[2] beschenken.

Bis es hoffentlich so weit ist, hat sie, weil sie die Welt äußerst wahrheitsgemäß aus der Sicht eines schwarzen Mädchens schilderte, allen, die lesen können und über Empathie verfügen, gezeigt, was es heißt, in diesem Land ein schwarzer Mann oder eine schwarze Frau zu sein. Sie hat, mit bewusst leisen Tönen, über eine ungeheure Tragödie berichtet und geurteilt. Das ist eine bedeutende Leistung, und ich hoffe, dass Louise Meriwether sich nicht aufhalten lässt, sondern einfach immer weitermacht.

Teil IEine Tochter Harlems

Eins

«Letzte Nacht hab ich von Fisch geträumt, Francie», sagte Mrs Mackey, als sie die Kette zurückschob und die Tür öffnete, um mich hereinzulassen. «Welche Zahl steht in Madame Zoras Traumbuch bei Fisch?»

«Ich hab letzte Nacht auch von Fischen geträumt», rief ich aufgeregt. Vielleicht würde die Zahl ja heute gewinnen. «Ich hab geträumt, ein großer Katzenfisch ist vom Teller gehüpft und hat mich gebissen. In Madame Zoras Traumbuch steht bei Fisch fünf vierzehn.»

Ich lächelte Mrs Mackey glücklich an. Dass ich zu spät zur Schule kommen und Mrs Oliver mich wieder nachsitzen lassen würde, wenn ich hier noch länger rumstand und mit Mrs Mackey über Träume plauderte, war mir egal.

«Muss da einer noch lange rumdenken» – Mrs Mackey grinste – «wenn wir beide von Fischen träumen? Im Traum letzte Nacht geh ich zur Brücke, ein paar Brassen kaufen, und da fängts an zu regnen. Keine Tropfen, Francie, Fische. Brassen. Also halt ich einfach meinen Beutel auf und fang mir ein paar. Ist das ein Träumchen?»

Beim Lachen blies sie die Backen auf; sie sahen aus wie schwarze Pflaumen, und ich lachte mit. Bei Mrs Mackey musste man immer mitlachen, sie war so lustig und dick. Als sie zum Esstisch watschelte, musste ich ihr die ganze Zeit aufs hüpfende, breite Hinterteil gucken. Wenn Mrs Mackey auf der Straße vorbeiging, riefen die Jungs immer: «Muss Pudding sein, weil Mus nicht wackelt», und sie lachte glatt mit. Sie hatten recht. Ihr Hinterteil war ein wabbelndes, bebendes Wunder, und ich hoffte inständig, dass ich, wenn ich groß wäre, genug Speck auf dem mageren Po hätte, damit ich auch so schön damit schuckeln könnte.

Mrs Mackey setzte sich an den Esstisch, um ihren Schein auszufüllen.

«Mrs Mackey», sagte ich zaghaft, «mein Vater möchte, dass Sie bitte Ihre Zahlen schon vorher fertig ausfüllen, damit ich nicht warten muss. Ich komme immer zu spät zur Schule.»

«Alles schon tippitopp fertig, Schätzchen. Ich will nur noch fünf vierzehn dazuschreiben. Auf die setz ich ’nen Quarter, und sechzig Cent auf Kombination. Wie gehts deinem Daddy und deiner Mama?»

«Beiden gut.»

Sie drückte mir ihren Schein in die Hand, dazu zwei Dollarnoten, die ich in die Tasche meiner Matrosenbluse steckte.

«Die da sind meine letzten zwei Dollar, Francie, also bring mir heute Abend ’nen Gewinn ins Haus, hörst du? Ich wollt gar nicht so viel ausgeben, aber bei so ’nem Fischtraum wie unserem kann man nicht knausern, hä?»

Wir kicherten beide, dann zog ich weiter.

Mit angehaltenem Atem sauste ich die Treppe runter. Himmel, was für ein Gestank im Hausflur, alle Gerüche aus Harlem prallten da aufeinander. Gammelnder Müll im Schacht für den Lastenaufzug mischte sich mit gebratenem Fisch. Ein Säufer hatte in eine Ecke Wein erbrochen und in die andere gepinkelt, und die Fäulnis, die aus dem Keller aufstieg, sagte mir, dass da unten irgendwo eine tote Ratte lag.

Draußen war die Luft nicht viel besser. Der 2. Juni 1934 war ein heißer, drückender Tag. An den Bordsteinkanten standen lauter vollgestopfte Mülltonnen, die in den Rinnstein überquollen, und der müde Gaul, der den Gemüsekarren hinter sich herzog, hatte gerade mitten auf der Straße einen dampfenden Haufen hinterlassen.

Die plötzliche Hitze hatte alle aus den Mietblöcken getrieben. Kleinkinder, die noch zu jung waren für die Schule, spielten auf den Gehwegen, und ihre Mamas hingen aus den Fenstern, um einen kühlen Luftzug zu erhaschen, oder gönnten sich ein paar Minuten auf der Feuertreppe.

Männer hatten sich zusammengerottet, knobelten ihre Zahlen aus, saßen auf Vortreppen oder standen breitbeinig vor den Geschäften rum, die Hemden so schweißschlapp, dass man darunter ihre schwarzen Rippen sehen konnte. Die meiste Zeit schlossen sie Einfachwetten ab – tippten jede Zahl, die ausgeknobelt wurde – und blieben den ganzen Tag auf der Straße, bis die letzte feststand. Ich war froh, dass Daddy nur die Einsätze einsammelte und nicht wie diese Männer an den Straßenecken rumlümmelte. Die Leute fragten mich dauernd, ob ich schon wüsste, welche Zahl rausgekommen war, als wäre ich was Besonderes, und wahrscheinlich war ich das auch. So ein ehrlicher Mann wie Daddy, der gleich am Abend die Treffer auszahlte, war überall beliebt. Der Einsammler, der auch die Gewinne verteilt, ist so was wie der Weihnachtsmann, und am Tag, an dem deine Zahl rauskommt, ist Weihnachten.

Ich bog um die Ecke und rannte über die verbotene 118th Street, weil ich zu spät dran war und für den Umweg um den Block keine Zeit mehr hatte. Daddy wollte nicht, dass ich mich hier rumtrieb, wegen der Prostituierten, aber ich wusste wieso über alles Bescheid. Sukie hatte es mir erzählt, und die kannte sich aus. Ihre Schwester, China Doll, war eine Hure und arbeitete genau an dieser Straße. Außerdem wars noch zu früh fürs Huren, Daddy brauchte sich also keine Sorgen machen, dass ich was Verbotenes sehen könnte.

Ein halbes Dutzend Jungs machten wie immer vor dem Drugstore Faxen, taten, als würden sie mit Rasiermessern kämpfen; ihre Knickerbocker hingen ihnen unter den Kniekehlen, damit sie wie lange Hosen aussahen. Drei von ihnen gehörten zu den Ebony Earls, da war ich ganz sicher. Ich wollte mich vorbeischleichen, aber sie hatten mich schon gesehen.

«Hey, Skinny Mama», rief einer von ihnen. «Wenn du mal zwei Koteletts auf den Rippchen hast, mach ich Liebe mit dir.»

Die anderen Jungs bogen sich vor Lachen, aber ich sauste vorbei, ohne sie weiter zu beachten. An einer Horde Jungs vorbeizugehen war mir furchtbar unangenehm, weil sie mir immer irgendwelche Sprüche hinterherriefen, meist fiese, besonders jetzt, wo ich zwölf war. Ich war mager und schwarz und sah doof aus mit meinen kurzen Haaren und dem langen Hals und der ganzen nackten Haut dazwischen. Wie ein gerupftes Huhn sah ich aus.

«Hey, da läuft ein gelber Hurensohn!», rief einer der Jungs. Sie vergaßen mich und guckten stattdessen rüber zu einem dünnen Jungen, der daraufhin abzischte wie der Seventh Avenue Express. Mit wildem Geheul jagte die Bande ihm hinterher und rannte dabei jeden um, der ihnen in die Quere kam.

«Verdammtes Pack», murmelte eine Frau und rieb sich den Fuß, auf den einer von ihnen getrampelt war.

Hoffentlich konnte der hellhäutige Junge ihnen entkommen. Die Meute verschwand in der Lenox Avenue, und ihr Geheul wurde leiser.

Ich rannte weiter, aber als ich in die Fifth Avenue bog, wich ich rasch zurück, denn da war Sukie, allein vor meinem Haus beim Hüpfspiel, als wärs ihr egal, ob sie zu spät zur Schule kommt oder nicht. Diese Sukie. Sie war ein Jahr älter als ich, aber nicht viel größer. Ich wartete, bis sie sich von mir weggedreht hatte, dann sprintete ich auf unseren Hauseingang zu. Aber sie hatte mich gesehen, ihr kupfriges Gesicht wurde ganz rosa, und sie jagte mir nach wie eine Feuerhexe. Ich galoppierte um den Absatz im ersten Stock, als ich sie unten im Eingang hörte.

«Irgendwann musst du runterkommen, du Miststück, und wenn ich dich erwisch, gibt es Prügel.»

Diese Sukie. Wir waren beste Freundinnen, aber wenn sie giftig war, was oft passierte, zettelte sie Streit an, und wenn sie mir drohte, mich zu verprügeln, dann machte sie das auch.

Ich rannte weiter, bis ich ganz oben war, dann sackte ich auf der letzten Stufe zusammen und lehnte meinen Kopf ans rostige Geländer. Da hörte ich was auf der Dachtreppe, und mein Herz fing einen wilden Stepptanz an, wie immer, wenn ich Angst hatte.

Jemand flüsterte: «Hey, Kleine!»

Ich schlich ums Geländer herum und spähte nach oben, direkt ins Gesicht dieses weißen Mannes, der mir letzten Montag ins Kino gefolgt war. Als er versucht hatte, meine Beine zu betatschen, hab ich den Platz gewechselt. Aber er ist hinterher, hat sich einfach neben mich gesetzt und mir einen Dime gegeben. Dann hat er mir die Hände untern Rock geschoben, aber als er sich unter mein enges Schlüpfergummi vorfummeln wollte, hab ich mich schnell wieder umgesetzt. Ja, das war derselbe Mann, klein, vorn Glatze, hinten so ’n Kranz mit fisseligen Haaren. Er stand in der Tür zum Dach.

«Komm ein Weilchen zu mir rauf, meine Kleine», flüsterte er.

Ich schüttelte den Kopf.

«Ich hab einen Dime für dich.»

«Schmeiß runter.»

«Komm und hol ihn dir. Ich tu dir nichts. Du sollst den hier nur mal anfassen.»

Er fummelte an seiner Hose rum und holte seinen Pipimann raus. Der war richtig hässlich, lila und nass. Sukie hat erzählt, dass es alle tun. Ficken. So werden Kinder gemacht, hat sie gesagt. Dass die Huren das machten, glaubte ich schon, aber doch nicht meine Eltern. Sukie behauptete jedoch steif und fest, alle täten es, und sie hatte meist recht.

«Komm hoch zu mir, meine Kleine. Ich tu dir nichts.»

«Will aber nicht.»

«Ich geb dir einen Dime.»

«Schmeiß runter.»

«Komm hoch und hol ihn dir.»

«Ich sags meinem Daddy.»

Er warf den Dime runter. Als ich ihn aufhob, verschwand der Mann durch die Tür aufs Dach. Ich stemmte mich gegen unsere Wohnungstür, die einfach aufsprang. Daddy versprach dauernd, das Schloss zu reparieren, machte es aber nie.

Unsere Wohnung war wie ein Schlauch, jedes kleine Zimmer führte direkt ins nächste. Durch die Haustür kam man gleich ins Esszimmer, das wegen der vielen schweren Möbel kleiner wirkte, als es war. Mitten im Zimmer stand ein schwerer, runder Mahagoni-Tisch mit Drachenkopffüßen. An der Wand ragte ein passendes Büfett auf, mit Drachenköpfen an den Regalen. Vier Stühle mit fehlenden Latten standen kreuz und quer in der Gegend rum, in ihre hohen Lehnen waren auch hässliche Drachenköpfe geschnitzt. Die verkratzten Möbel hatte uns der jüdische Klempner von unten geschenkt, der war ein Jahr älter als Gott.

«Mutter», brüllte ich. «Ich bin wieder daha!»

«Brüll nich so, Francie», sagte Mutter aus der Küche, «und pack die Einsätze weg.»

Ich zog die Schublade aus dem Büfett und ertastete seitlich auf der Platte den Umschlag mit den Lottoscheinen und Einsätzen. Ich legte Mrs Mackeys Schein und das Geld dazu, schob den Umschlag auf die Platte und setzte die Schublade zurück auf die Schienen, aber sie verkeilte sich. Also zog ich sie wieder raus und schob den Umschlag ein bisschen zur Seite. Jetzt glitt die Lade leicht zu.

«Hast du den Umschlag ganz nach hinten geschoben, damit die Schublade zugeht?», fragte Mutter, als ich in die Küche kam.

«Ja, Mutter.»

Ich setzte mich an den Tisch; auf der Platte war überall das Porzellan abgeplatzt, wegen seiner ungleichen Beine stand er völlig schief. Geistesabwesend wischte ich eine Kakerlake vom Tisch und zertrat sie unter meinem Turnschuh.

«Wenn du nicht aufhörst, so die Treppe hochzurennen, fällst du mir noch mal tot um.»

«Ja, Mutter.»

Ich wollte ihr von Sukie erzählen, die mir wieder Prügel angedroht hatte, aber von Mutter käme sowieso nur wieder, dass Sukie erst mit dem Triezen aufhören würde, wenn ich nicht mehr vor ihr weglief.

Mutter war klein und pummelig, irgendwo in der Mitte gingen ihre langen Brüste in die breiten Hüften über. Das Beste an ihr war ihre Haut, ein sanftes Braun mit ein paar Sommersprossen auf der Nase. Ihre Haare waren kurz und dünn, und die paar Zähne, die sie noch hatte, gelb verfault. Ehrlich gesagt hatte sie mehr Lücken im Mund als Zähne, aber dass ihr das was ausmachte, konnte man nur erkennen, weil sie selten lächelte. Es war überhaupt schwer zu wissen, was ihr was ausmachte. Daddy brüllte und schimpfte, wenn er wütend war, und wenn es ihm gut ging, tanzte er rum und nahm einen in den Arm. Aber bei Mutter war das nie ganz klar. Sie beschimpfte einen nicht, aber küssen tat sie einen auch nicht.

Jetzt stellte sie mir ein Sandwich vor die Nase, Büchsenfleisch, mit Mayonnaise bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag gestreckt, das ich misstrauisch beäugte.

«Ich mag kein Fleisch aus der Büchse.»

«Du magst nie was. Deswegen bist du so mickrig. Wenns nicht willst, lass stehn. Was anderes gibts nicht.»

Sie stellte mir dünnen Tee hin.

«Haben wir Zucker?»

«Borg dir welchen von Mrs Caldwell.»

Ich zog eine gesprungene Tasse aus dem Schrank, ging ans Esszimmerfenster und klopfte bei unseren Nachbarn gegen den Fensterrahmen. Die Caldwells wohnten im Gebäude neben uns, und unsere Esszimmerfenster lagen praktisch Mauer an Mauer. Sie waren karibischstämmig, und Maude war meine beste Freundin, außer Sukie. Wir waren gleich alt, ich hatte lange Beine, Maudes Beine waren krumm. Maudes Vater war im Jahr davor gestorben, und Pee Wee, ihr ältester Bruder, war gerade wieder ins Gefängnis gewandert, sein zweites Zuhause. Maude kam ans Fenster.

«Kann ich ’ne halbe Tasse Zucker borgen?», fragte ich.

Sie verschwand mit der leeren Tasse und kam kurz darauf mit einer fast vollen zurück. «Habt ihr Brot?», fragte sie. «Ich brauch nur noch eine Scheibe für’n Sandwich.»

«Maude will sich ’ne Scheibe Brot borgen», sagte ich zu Mutter.

«Gib ihr zwei», sagte Mutter.

Ich gab Maude zwei Scheiben Weizenbrot.

«Elizabeth kommt heut zurück, mit den Kindern und Robert», sagte sie. «Ihr wurden die Möbel auf die Straße gestellt.»

Elizabeth war die älteste Schwester und Robert ihr Mann. Er war mal Schneider gewesen, aber jetzt arbeitete er nicht mehr.

«Das wird voll bei euch», sagte ich.

«Ja», sagte sie, dann war ihr Kopf verschwunden.

Ich kehrte zurück in die Küche und erzählte Mutter, dass Elizabeth zurückkommen würde.

«Du lieber Himmel, wo solln die alle schlafen?», fragte sie.

Maude und ihre sechzehnjährige Schwester Rebecca teilten sich ein Schlafzimmer, die Mutter hatte das andere, und ihr Bruder Vallie schlief im Wohnzimmer.

Ich setzte mich wieder an den Tisch, und während ich meinen Tee schlürfte, betrachtete ich die fettigen Wände mit ihren Dellen, wo der aufgeplatzte Putz einfach immer wieder überpinselt worden war. Kotzgrün, so hatte Daddy die Farbe genannt. Die Decke war mit braunen und gelben Wasserflecken übersät. Daddy hatte die größeren Lecks abgedichtet, aber das half nicht viel, wenn es draußen regnete, regnete es auch drinnen. Als der Vermieter das letzte Mal vor der Tür stand, um seinen Zins zu kassieren, hatte Daddy ihm gesagt, dass das Dach repariert gehört, und wenn die Decke runterkommen und eins von seinen Kindern erschlagen würd, dann würd er den Vermieter eigenhändig die Treppe runterschubsen. Der Mann ist schnell abgehauen, aber davon sind unsere Lecks auch nicht repariert worden.

Die Wohnungstür knallte, und mein Bruder Sterling kam in die Küche und ließ sich auf einen Stuhl fallen. Er war vierzehn, hatte braune Haut, war schlaksig, und sein langes, angespanntes Gesicht schaute meist finster drein. Heute war da keine Ausnahme.

«Wo ist James Junior?», fragte Mutter.

«Bin ich dem sein Aufpasser?», brummte Sterling. «In der Pause hab ich ihn nicht gesehn.»

James Junior, mein ältester Bruder, war ein Jahr älter als Sterling und sah so gut aus wie Daddy. Außerdem war er netter als Sterling, aber langsam im Lernen, und weil er ständig Ehrenrunden drehen musste, hatte Sterling ihn schon überholt; diesen Monat machte er seinen Abschluss.

Die Tür knallte wieder, und die schweren Schritte verrieten mir, dass es Daddy war. Ich sprang auf, rannte ins Esszimmer und warf mich in seine Arme. Er lachte und wirbelte mich durch die Luft. Mutter erzählte mir immer, bei Männern heißt das gut aussehend und nicht schön, aber sie hatte keine Ahnung. Gut aussehen bedeutete was anderes als schön sein, und ich wusste genau, was Daddy war: wunderschön. Erst mal war er ein echter Riese von einem Mann, breit und stämmig und muskulös. Er war dunkelbraun, eigentlich schwarz, mit dicken, krisseligen Haaren und einem breiten, lachenden, wunderschönen Mund. Daddys Mund mochte ich am liebsten.

Er setzte sich an den Esstisch und zog Tippscheine aus der Hosentasche.

«Hol mir den Umschlag, meine Süße.»

Ich zog die Schublade raus und gab ihm lächelnd den Umschlag. «Ich hab geträumt, ein großer Katzenfisch wär vom Teller gehüpft und hätte mich gebissen, Daddy. Im Traumbuch steht bei Fisch fünf vierzehn. Und Mrs Mackey hat geträumt, es regnet Fische.»

«Herrgott und Jim», rief Daddy, und wir grinsten uns an. «Nach meiner Tabelle liegt fünf heut vorn. Ich setz einen Dollar direkt auf fünf vierzehn, und sechzig Cent auf Kombination.»

Daddy sagte immer, dass meine Träume von der ganzen Familie am häufigsten Treffer landeten. Wenn heute 514 rauskäme, wären wir reich, und das wär ’ne feine Sache, weil Mutter sich immer beschwerte, wir würden unsere Kommission immer gleich wieder verspielen.

Aus Gewohnheit kuschelte ich mich an die Heizung, obwohl sie jetzt kalt war. Das grün-rot gemusterte Linoleum drumherum war so abgewetzt, dass man das Muster nicht mehr erkennen konnte, und neben dem Rohr war sogar ein Loch im Boden, so groß, dass man den Fuß durchschieben konnte. Daddy vernagelte es ständig mit Pappe und Linoleum, aber das hielt nie lange.

«Henrietta», rief Daddy, «wo sind die Jungs?»

Mutter kam an die Küchentür. «Sterling hockt hier und isst, aber James Junior is noch nicht nach Haus gekommen.»

Daddy schlug so plötzlich mit der Faust auf den Tisch, dass ich hochschreckte. «Wenn der Junge wieder nicht in der Schule war, dann versohl ich ihm den Hintern. Sterling», brüllte er, «wo ist dein Bruder?»

«Hab ihn seit heute Morgen nicht mehr gesehn», rief Sterling aus der Küche.

Daddy ging auf Mutter los. «Wenn dieser Junge sich Ärger einhandelt, lass ich ihn mit dem Hintern im Knast vergammeln, hörst du? Ich warne dich. Wie oft hab ich ihm gesagt, er soll nicht mit diesen Ebony Earls rumlümmeln, aber er hat einen verdammten Dickschädel. Die landen alle in Sing-Sing, sag ich dir, und bisher is noch nie ’n Coffin eingebuchtet worden.»

Mutter nickte. Sie wusste so gut wie ich, dass Daddy die ganze Stadt nach Junior absuchen würde, wenn ihm was passiert wäre.

Junior hatte vor ein paar Monaten angefangen, sich mit den Ebony Earls rumzutreiben, zusammen mit seinen Kumpeln Sonny und Maudes Bruder Vallejo. Sterling gehörte nicht zur Bande. Banden nannte er blöd, und Jungs, die wie sie dauernd zusammen rumlümmelten, nannte er Dummköpfe.

Daddy addierte die Einsätze auf den Tippscheinen und zählte das Geld. Mutter setzte sich neben ihn an den Tisch und erzählte nervös, sie hätte gehört, Slim Jim wäre verhaftet worden. Er war ein Einsammler wie Daddy.

«Slim Jim ist ein Schwachkopf», sagte Daddy. «Sein Banker denkt, der könnte ohne das Syndikat arbeiten, aber niemand kommt an Dutch Schultz vorbei. Die Cops nehmen jeden hoch, den seine Jungs bei ihnen anschwärzen, und genau das haben sie jetzt gemacht. Slim Jim und seinen Banker angeschwärzt.»

«Vielleicht solltest du mit dem Einsammeln aufhören, bevor …», setzte Mutter zögerlich an, aber Daddy fuhr dazwischen.

«Meine Güte, Henrietta, nicht schon wieder die alte Leier. Wie oft muss ich dir noch sagen, dass Einsätze einsammeln nicht viel gefährlicher ist als das Wetten selbst? Solange die Cops ihr Geld kriegen, lassen die mich in Ruhe. Schultz bezahlt sogar diesen dummen Esel Dodge, der sich Staatsanwalt schimpft, also hör auf, dir Sorgen zu machen.» Wie alle in Harlem wettete Mutter auf Zahlen, aber sie machte sich Sorgen, weil Daddy die Einsätze einsammelte. Daddy hatte vor ungefähr sechs Monaten für Jocko auf Kommission zu arbeiten angefangen, weil er seine Arbeit als Anstreicher verloren hatte, auf die aber auch kein Verlass gewesen war.

Jocko hieß eigentlich Jacques und war ein hochgewachsener Kreole aus Haiti mit olivfarbener Haut. Sein blaues Barett saß immer schief auf seinen schwarzen, gelockten Haaren. Dieser Jocko, der sah gut aus, aber schön war er nicht. Er verkaufte Bonbons im Süßwarenladen an der Ecke Fifth Avenue und 117th Street, aber das war nur Tarnung, jeder behauptete, er wäre ein enger Vertrauter von Big Boy Donatelli, seinem Banker, der wiederum ein enger Vertrauter von Dutch Schultz war. Daddy meinte, Jocko wär im Syndikat so weit oben, wie’s für einen Schwarzen ging, seit die Gangster das Nummernspiel übernommen hatten. Daddy meinte, die Gangster kontrollierten alles in Harlem – die Wetten, die Huren und die Zuhälter, die ihnen die weiße Kundschaft besorgte.

Mutter grummelte: «Ich dachte, Bürgermeister La Guardia wollte den ganzen Dreck aufräumen.»

«Wenn die in dieser Stadt wirklich aufräumen wollten», sagte Daddy, «würden sie nicht auf armen Negroes rumhacken, die ihren letzten Dime verwetten, damit sie nicht verhungern. Wo kann ein Schwarzer sonst aus einem Dollar sechshundert machen? Die sollten sich die Gangster schnappen, die die Einsätze horten, weil die machen den großen Reibach. Aber kein Bulle schlachtet nicht den eignen Goldesel. Jetzt hör schon auf zu jammern, Henrietta. Mir passiert schon nichts, verstanden?»

Mutter nickte langsam. Dann sah sie mich an. «Francie, steh auf und geh zur Schule, sonst kommst du wieder zu spät. Sterling!», brüllte sie.

«Jaha!», rief er aus der Küche. «Ich komm schon.»

«Francie! Ich sags nicht noch mal.»

«Jaha, Mutter. Ich geh schon. Bye, Daddy.»

«Bye, meine Süße.»

Als ich unten war, spähte ich vorsichtig aus der Tür, aber von Sukie keine Spur. Obwohl ich fast den ganzen Weg gerannt war, kam ich trotzdem viel zu spät zur Schule.

Zwei

Meine Klassenlehrerin Mrs Oliver hatte nicht mal gemeckert, als ich zu spät in die Bank rutschte. Das hat mich richtig enttäuscht. Vielleicht mochte sie mich nicht mehr.

Ich war in der ersten Klasse der Junior High Public School 81, zwischen St. Nicholas und Eighth Avenues, eine der schlimmsten Mädchenschulen in Harlem, gleich nach der richtig schlimmen P.S. 136 Uptown. Da hatten sie erst letzte Woche ein frisches Neugeborenes im Klo runtergespült. An meiner Schule gabs so was nicht, noch nicht, aber alles andere schon.

Alle waren aufgeregt, denn es gab Gerüchte, dass Saralees und Luisas Bande allen Lehrerinnen, die sie durchfallen ließen, eine Abreibung verpassen würde. Das müsste dann eigentlich jede Lehrerin an unserer Schule treffen, außer Mrs Roberts. Ich glaube, nicht mal Saralee, die Anführerin der Ebonettes, würde es wagen, sich mit Mrs Roberts anzulegen. Sie unterrichtete uns in Kunst und war die einzige schwarze Lehrerin an unserer Schule. Niemand legte sich mit ihr an. Bei ihr nahmen wir nicht mal unsere Heftchen raus, so streng war die.

Die Ebonettes waren die Mädchenbande von den Ebony Earls, die brutalsten Straßenkämpfer zwischen hier und Mt. Morris Park. Wenn sich die Earls mit ihren Rivalen, den Harlem Raiders aus Uptown, bekriegten, floss Blut die Avenue runter. Wenn sie sich nicht bekriegten, überfielen die Banden die Judenjungs, die die Synagoge in der 116th Street besuchten, oder jeden Weißen, der nach Sonnenuntergang allein in Harlem unterwegs war. Es wurde so schlimm, dass der Mann von der Metropolitan-Versicherung einen der Ebony Earls bezahlen musste, um ihn beim Beiträgeabkassieren zu beschützen. Ja, die Ebony Earls waren zähe Kerle, aber die Ebonettes waren genauso schlimm. Die Glocke schrillte, und wir marschierten alle über den Flur zur ersten Stunde. Maude war in meiner Klasse, deswegen gingen wir zusammen.

«Hoffentlich verhauen Saralee und die anderen nicht unsere Mrs Oliver», sagte sie. Maude hatte ein kantiges, schwarzes Gesicht und dicke, üppige Haare. Wenn ihre Beine nicht so krumm wären und sie nicht so komisch über den großen Zeh gehen würde, hätte sie gar nicht so übel ausgesehen.

«Hoffentlich nicht», sagte ich. Ich mochte Mrs Oliver. Sie hatte weiße Haare und sah aus wie eine Großmutter.

Bei Miss Haggerty saßen Maude und ich nebeneinander. Sie war unsere Mathelehrerin und wirklich bedauernswert, eine blasse Bohnenstange, die sich vor Angst fast in die Hose machte. Jetzt nuschelte sie vor sich hin, wir sollten unsere Bücher rausholen und auf Seite achtundfünfzig aufschlagen. Fast jede von uns, ich eingeschlossen, kramten stattdessen unsere Liebesschmonzetten und «wahren Geschichten» hervor. In Miss Haggertys Stunde bemühten wir uns nicht mal, unsere Heftchen zu verstecken, und sie hatte solche Angst, dass sie tat, als würde sie’s nicht sehen.

Das war eine gute Gelegenheit, meine Liebesgeschichten weiterzulesen, denn Daddy erlaubte mir nicht mal, die Heftchen ins Haus zu bringen. Mit diesem Schund sollte ich mich ja nicht von ihm erwischen lassen.

Normalerweise hörte ich Miss Haggerty aber die ersten fünf Minuten zu, bis ich die Rechenaufgabe verstanden hatte und lösen konnte. Deswegen meldete ich mich heute auch freiwillig, als sie eine von uns nach vorn an die Tafel holen wollte.

«Hinsetzen», knurrte Saralee mich an. Ich setzte mich wieder.

Miss Haggerty ignorierte uns. «Meldet sich jemand freiwillig?», fragte sie. Niemand rührte sich.

«Tja, dann», sagte Miss Haggerty, ging an die Tafel und nahm die Kreide, «rechne ich es euch vor. Das Wichtigste ist …»

«Nicht so laut», sagte Luisa. «Ich kann mich nicht auf meine Geschichte konzentrieren.» Die Klasse kicherte, und Miss Haggerty senkte die Stimme zu einem Flüstern.

Seufzend wandte ich mich meinem Heftchen zu. Ich konnte nichts daran ändern, denn Saralee und Luisa würde ich ganz sicher nicht ins Gehege kommen.

Luisa war Puerto Ricanerin – eine weiße Puerto Ricanerin – und ziemlich hübsch, sie trug einen Pagenkopf mit Pony wie Claudette Colbert. Ihre Kampfgefährtin Saralee hatte schwarzbraune Haut, aber rote Haare, ausgerechnet. Sie war besonders hässlich. Manche behaupteten, dass Saralee ein kesser Vater wäre. Ich weiß nicht, was dran war an diesen Gerüchten, aber auf jeden Fall war sie rabiat genug, um ein Mann zu sein.

Beide waren älter als wir, weil sie so oft sitzen geblieben waren, und alle, auch die Lehrerinnen, hatten Angst vor ihnen. Sie kämpften mit Rasiermessern, und die Ebony Earls schlugen jeden zusammen, der sich mit ihrer Mädchenbande anlegte.

Statt zu unserer zweiten Unterrichtsstunde schickte man uns früher nach Hause. Bevor Saralee ihre Bande zusammentrommeln konnte, waren die Lehrerinnen, die sie verprügeln wollten, schon längst über alle Berge.

Ich war auch froh, dass wir früher freihatten, denn so konnte ich mich nach Hause schleichen, um Sukie nicht in die Quere zu kommen. Weil sie zweimal sitzen geblieben war, ging sie noch auf die Grundschule an der Madison Avenue.

Maude wollte unbedingt über die 118th Street nach Hause, und ausgerechnet da hat uns Daddy erwischt. Wir drückten uns immer heimlich dort herum, weil wir hofften, dass die Prostituierten was Aufregendes anstellen würden. Aber die machten nichts, außer mit bis zum Bauchnabel hochgeschobenen Kleidern auf den Stufen zu hocken und den vorbeilaufenden Männern zuzurufen, also versuchten wir herauszufinden, welche das Kleid am weitesten hochgeschoben hatte und ob man wirklich ihr Dingsbums sehen konnte, die hatten nämlich keine Schlüpfer an. Daddy verjagte uns ständig aus der 118th Street, und da stand er jetzt, auf China Dolls Vortreppe, und wartete auf uns.

«Wie oft muss ich euch Mädchen sagen, dass ihr aus dieser Straße wegbleiben sollt?», fragte er, sehr wütend. «Und du, Maude, ich dachte, dir könnt ich vertrauen.»

«Das war nicht meine Schuld, Mr Coffin. Francie wollte …»

Ich trat ihr gegens Schienbein, und Daddy fiel ihr ins Wort.

«Vor seinem Tod hat mich dein Vater gebeten, auf dich aufzupassen. Wenn ich euch noch mal hier erwische, setzts ’ne Tracht Prügel, ist das klar?»

«Ja, Daddy.»

«Ja, Mr Coffin.»

Wir rannten um die Ecke Richtung Fifth Avenue.

«Was sollte das?», fragte ich Maude. «Willst du, dass er mich auspeitscht?»