Eine viel zu junge Mutter - Nina Kayser-Darius - E-Book

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Nina Kayser-Darius

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Beschreibung

Notarzt Dr. Winter ist eine großartige neue Arztserie, in der ganz nebenbei auch das kleinste medizinische Detail seriös recherchiert wurde. In der Klinik wird der Chefarzt der Unfallchirurgie mit den schwierigsten, aufregendsten Fällen konfrontiert, die einem Notarzt begegnen können. Im Leben des attraktiven jungen Arztes gibt es eigentlich nur ein Problem: Seine große Liebe bleibt ganz lange unerfüllt. Die Liebesgeschichte mit der charmanten, liebreizenden Hotelmanagerin Stefanie Wagner sorgt für manch urkomisches, erheiterndes Missverständnis zwischen diesem verhinderten Traumpaar. »Wollen Sie mir nicht erzählen, was los ist, Herzchen?« fragte Klara Jäschke, und ihr freundliches, faltiges Gesicht nahm jenen besorgten Ausdruck an, den Raphaela Canetti in der letzten Zeit öfter gesehen hatte. Es tat ihr gut, daß Frau Jäschke sich Sorgen um sie machte, und leider waren die nur allzu berechtigt. Sie nickte stumm und wickelte sich eine lange blonde Haarsträhne um den Finger, während ihre hübschen graublauen Augen zum Fenster hinaussahen, damit sie Frau Jäschkes Blick nicht begegnen mußten. »Ich bin schwanger«, sagte sie schließlich und atmete insgeheim auf, daß es nun endlich heraus war. »Ich bin im siebten Monat schwanger. Jetzt wissen Sie's, Frau Jäschke.« »Ich habe mir so etwas schon gedacht«, erwiderte die alte Dame, in deren kleiner Familienpension Raphaela ein Zimmer bewohnte, seit sie in Berlin zur Lehre ging. Das hatte sie ihrer Mutter abgetrotzt. Eine Lehre in einem zwar kleinen, aber ausgezeichneten Friseursalon in Berlin. Zwar war ihre Mutter der Ansicht gewesen, Raphaela sei zu jung, um schon allein nach Berlin zu gehen, aber sie hatte schließlich nachgegeben. War ihre Tochter nicht schon immer sehr vernünftig und selbständig gewesen? Wenn Mama wüßte, daß ich ein Kind bekomme, dachte Raphaela verzweifelt, wäre sie total enttäuscht von mir. »Sie haben es recht gut verborgen, das muß ich sagen – offenbar haben Sie Glück, daß Sie zu den Frauen gehören, die nicht besonders dick werden.« Raphaela nickte trübsinnig. »Bis jetzt, ja. Aber ich glaube, das wird sich in den letzten zwei Monaten noch ändern. Bisher ging es – im Salon weiß es noch keiner.

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Notarzt Dr. Winter – 15 –

Eine viel zu junge Mutter

Sie war süße 17 - und hatte falschen Liebesschwüren geglaubt

Nina Kayser-Darius

»Wollen Sie mir nicht erzählen, was los ist, Herzchen?« fragte Klara Jäschke, und ihr freundliches, faltiges Gesicht nahm jenen besorgten Ausdruck an, den Raphaela Canetti in der letzten Zeit öfter gesehen hatte. Es tat ihr gut, daß Frau Jäschke sich Sorgen um sie machte, und leider waren die nur allzu berechtigt.

Sie nickte stumm und wickelte sich eine lange blonde Haarsträhne um den Finger, während ihre hübschen graublauen Augen zum Fenster hinaussahen, damit sie Frau Jäschkes Blick nicht begegnen mußten. »Ich bin schwanger«, sagte sie schließlich und atmete insgeheim auf, daß es nun endlich heraus war. »Ich bin im siebten Monat schwanger. Jetzt wissen Sie’s, Frau Jäschke.«

»Ich habe mir so etwas schon gedacht«, erwiderte die alte Dame, in deren kleiner Familienpension Raphaela ein Zimmer bewohnte, seit sie in Berlin zur Lehre ging.

Das hatte sie ihrer Mutter abgetrotzt. Eine Lehre in einem zwar kleinen, aber ausgezeichneten Friseursalon in Berlin. Zwar war ihre Mutter der Ansicht gewesen, Raphaela sei zu jung, um schon allein nach Berlin zu gehen, aber sie hatte schließlich nachgegeben. War ihre Tochter nicht schon immer sehr vernünftig und selbständig gewesen?

Wenn Mama wüßte, daß ich ein Kind bekomme, dachte Raphaela verzweifelt, wäre sie total enttäuscht von mir.

»Sie haben es recht gut verborgen, das muß ich sagen – offenbar haben Sie Glück, daß Sie zu den Frauen gehören, die nicht besonders dick werden.«

Raphaela nickte trübsinnig. »Bis jetzt, ja. Aber ich glaube, das wird sich in den letzten zwei Monaten noch ändern. Bisher ging es – im Salon weiß es noch keiner. Aber ich muß es ihnen wohl bald sagen.« Sie ließ den Kopf hängen und versuchte, die Tränen zurückzudrängen. »Und dann werde ich rausfliegen, Frau Jäschke. Ich weiß gar nicht, was ich Mama erzählen soll, warum ich nicht mehr im Salon arbeite.«

»Wer ist denn der Vater?« erkundigte sich Frau Jäschke vorsichtig, ohne auf Raphaelas letzte Bemerkung einzugehen. »Ich wußte gar nicht, daß Sie einen Freund haben, Herzchen. Sie sind doch noch nie mit einem jungen Mann hier gewesen, soweit ich weiß.«

»Junger Mann!« stieß Raphaela hervor. »Er ist ja gar nicht jung! Über vierzig ist er, hat mir im Salon immer Komplimente gemacht und mich zum Essen eingeladen, bis ich endlich mal mitgegangen bin. Dann hat er mir erzählt, daß er mir den Himmel auf Erden bereiten wird. Ich weiß gar nicht, wie ich so blöd sein konnte, auf ihn hereinzufallen. Seit ich ihm mitgeteilt habe, daß ich schwanger bin, ist er auf einmal verschwunden. Wie vom Erdboden verschluckt. Da war es für eine Abtreibung schon zu spät. Ich hatte nicht damit gerechnet, daß er so mies ist, wissen Sie?«

»Er war also Kunde im Salon?« fragte Frau Jäschke.

»Ein sehr guter Kunde sogar. Ich hatte immer den Eindruck, er und mein Chef seien Freunde – oder zumindest sehr gute Bekannte. Deshalb hatte ich wohl auch gleich Vertrauen zu ihm.«

»Was sagt denn Ihr Chef dazu, daß der Kunde auf einmal weggeblieben ist? Das muß ihm doch aufgefallen sein!«

Raphaela starrte vor sich hin und kniff ein wenig die Augen zusammen. »Neulich hat er eine Bemerkung darüber gemacht. Längerer Auslandsaufenthalt oder so – offenbar haben sie miteinander gesprochen. Mir hat er jedenfalls nichts mitgeteilt – der Vater des Kindes, meine ich. Mein Chef hat ja keine Ahnung, was da gelaufen ist.«

Frau Jäschke bezweifelte das, denn nach allem, was sie über Bruno Dormann, Raphaelas Chef, wußte, war er ein kluger und vernünftiger Mann.

Diesen Eindruck hatte sie jedenfalls von ihm bekommen, als sie ihn einmal kurz getroffen hatte, und alles, was Raphaela über ihn erzählte, bestätigte ihr Bild von ihm.

Herr Dormann hatte sich bestimmt schon seine eigenen Gedanken gemacht – vielleicht sogar eins und eins zusammengezählt.

»Was wollen Sie denn nun machen?« fragte sie behutsam. »Mit dem Kind, meine ich? Sie sind jetzt siebzehn, nicht wahr?«

Das Mädchen ihr gegenüber nickte und hatte nun doch Tränen in den Augen.

Frau Jäschke setzte sich neben Raphaela und legte ihr einen Arm um die Schultern. »Sie sollten mit diesem Problem nicht allein durch die Welt laufen, Herzchen. Ihre Mutter muß es irgendwann ja doch erfahren – warum sagen Sie es ihr nicht gleich? Dann haben Sie es hinter sich und fühlen sich bestimmt viel besser.«

Aber Raphaela schüttelte heftig den Kopf. »Alles, nur das nicht!« sagte sie. »Mama würde sich nur Vorwürfe machen, daß sie mich allein nach Berlin gelassen hat – sie wollte ja zuerst nichts davon wissen. Aber ich kenne sie: Sie würde denken, daß es ihre Schuld ist. Und sie würde enttäuscht von mir sein. Das will ich nicht. Ich meine, es wird schon schlimm genug sein, ihr zu erzählen, daß mich Herr Dormann rauswirft. Als mein Papa uns damals verlassen hat, da war es sehr schwer für sie – mit mir ganz allein, aber irgendwie hat sie das hingekriegt. Ich will sie nicht enttäuschen, gerade jetzt nicht.«

Frau Jäschke nickte verständnisvoll. Sie wußte, daß Raphaels Mutter vor anderthalb Jahren zum zweiten Mal geheiratet hatte, einen sehr netten Mann, den auch Raphaela gern hatte. »Endlich ist sie mal glücklich«, fuhr das Mädchen fort, »und das will ich ihr nicht gleich wieder kaputtmachen. Ich werde das Kind bekommen und zur Adoption freigeben, dann muß sie gar nichts davon erfahren.«

»Aber Sie sind nicht volljährig«, gab Frau Jäschke zu bedenken. »Ich glaube nicht, daß das so einfach geht, wie Sie sich das denken.«

»Meinen Sie?« Raphaela machte ein erschrockenes Gesicht. »Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht.«

»Und Ihr Chef?« forschte die alte Dame behutsam weiter. »Wollen Sie nicht wenigstens mit ihm reden? Sie haben doch Vertrauen zu ihm. Er wird sowieso bald merken, was los ist. Ich halte es für ausgeschlossen, daß Sie die Wahrheit noch lange vor ihm verbergen können.«

Die schmalen Schultern des Mädchens zuckten jetzt vor unterdrücktem Schluchzen, und Frau Jäschke verstummte, während sie darüber nachdachte, wie sie Raphaela wohl am besten helfen könnte.

Sie hatte ihren jüngsten Gast sofort ins Herz geschlossen, als Raphaela seinerzeit mit ihrer Mutter Ruth Wehrmann und deren zweitem Mann Wolfgang gekommen war und sich die Pension angesehen hatte. Sehr nette Leute, alle drei, das hatte sie sofort gedacht, und seitdem fühlte sie sich für das Mädchen irgendwie verantwortlich. Warum nur hatte sie nicht gleich nachgefragt, als sie zum ersten Mal das Gefühl gehabt hatte, etwas sei nicht in Ordnung? Aber das war nun nicht mehr zu ändern, für solche Überlegungen war es eindeutig zu spät.

»Ich schäme mich so, Frau Jäschke«, flüsterte Raphaela. »Alle haben mich immer vor so etwas gewarnt – und was mache ich? Ich falle auf so einen miesen Typ herein! Ich hab’ ihm einfach geglaubt, daß wir zusammenbleiben, aber er hat mich nur benutzt. Das ist so demütigend.«

»Wir machen alle Fehler«, erwiderte die alte Dame ruhig. »Und solange wir daraus lernen, ist das völlig in Ordnung. Nun trocknen Sie mal Ihre Tränen, Herzchen, und dann überlegen wir, ob ich Ihnen nicht vielleicht doch irgendwie helfen kann.«

Raphaela nickte und putzte sich die Nase. »Ist gut«, sagte sie schließlich. »Aber versprechen Sie mir, daß Sie nicht hinter meinem Rücken meine Mutter anrufen, Frau Jäschke. Das könnte ich nicht ertragen.«

Genau darüber hatte ihre Wirtin gerade nachgedacht, doch als sie jetzt in Raphaelas offene und vertrauensvolle Augen blickte, nickte sie und sagte: »Ich verspreche es.«

Sie drückte das Mädchen liebevoll an sich und erhob sich mühsam. Sie würde ihr Versprechen halten, auch wenn es ihr schwerfiel.

*

»Herr Dr. Winter, guten Tag!« sagte Bruno Dormann freundlich und begutachtete die dunkelblonde Mähne des jungen Arztes. »Wie ich sehe, haben Sie beschlossen, dieses Mal so lange mit einem Besuch bei uns zu warten, bis sich ein Haarschnitt auch wirklich lohnt!«

Dr. Adrian Winter lachte. »Nein, nein, Herr Dormann, das wirklich nicht. Ich hatte einfach keine Zeit, zum Friseur zu gehen. Aber jetzt bin ich ja da, und Sie dürfen die Haare so kurz schneiden, wie Sie möchten.«

Bruno Dormann schüttelte den Kopf.

Er war ein mittelgroßer, sehr fülliger Mann mit einem runden Kopf und einem gemütlichen Doppelkinn. Er entsprach der landläufigen Vorstellung von einem modernen Haarkünstler überhaupt nicht. Trotzdem kamen immer mehr junge Leute zu ihm, um sich »stylen« zu lassen, weil sie glaubten, wer sich so selbstverständlich über die herrschende Mode hinwegsetzte, der müsse einfach ein Künstler sein.

Bruno Dormann war es recht, denn sein kleiner Salon lief so gut wie kaum ein anderer dieser Größenordnung. »Ich schneide nicht, wie ich möchte«, stellte er nun fest, »sondern wie es Ihnen gefällt. Sie müssen sich schließlich mit Ihrem Haarschnitt wohl fühlen.«

Adrian Winter ließ ein jungenhaftes Lächeln sehen. »So wie immer, Herr Dormann«, sagte er. »Auch wenn es Sie schrecklich langweilt.«

In diesem Augenblick kam Simon Wiesner zur Tür herein. Er war, wie Bruno Dormann immer sagte, ein großes Talent. Gerade hatte er seine Lehre mit den besten Noten seines Jahrgangs beendet.

»Guten Tag, Herr Dr. Winter!« sagte Simon vergnügt. Er war ein hochgewachsener, sehr schlanker und immer gut gelaunter junger Mann von Anfang zwanzig mit ständig wechselnden Haarfarben und -schnitten.

Noch nie hatte es im Salon Dormann jemanden gegeben, der mit seinem eigenen Kopf so viele Experimente angerichtet hatte. Im Augenblick hatte er tiefschwarzes Haar mit einer einzelnen graublauen Strähne. Es stand ihm ausgezeichnet.

»Hallo, Simon! Na, sind Sie froh, daß Sie jetzt kein Lehrling mehr sind?«

Simon grinste von einem Ohr zum anderen. »Das können Sie laut sagen! Aber viel geändert hat sich ja leider nicht. Der Chef ist immer noch der Chef.«

Er warf Bruno Dormann einen schnellen Blick zu, und dieser lächelte amüsiert in sich hinein. Er war jetzt sechsundfünfzig Jahre alt und dachte daran, sich in nicht allzu ferner Zukunft zur Ruhe zu setzen.

Da seine Kinder den Salon nicht übernehmen wollten, hielt er schon seit einiger Zeit Ausschau nach geeigneten Nachfolgern. Simon kam dafür durchaus in Frage – und eigentlich hatte er auch auf Raphaela gehofft, obwohl das Mädchen ja noch mitten in der Lehre steckte, aber sie war begabt, das wußte er jetzt schon. Doch allem Anschein nach hatte Raphaela sich in Schwierigkeiten gebracht, und was daraus wurde, mußte man erst einmal abwarten.

Bruno seufzte und wandte sich dann wieder seinem Kunden zu. »Bitte zuerst zum Waschen, Herr Dr. Winter«, sagte er.

Der Arzt nahm an einem der Waschbecken Platz, und der Friseur machte sich schwungvoll an die Arbeit.

»Heute wäscht der Chef selbst?« fragte Adrian Winter erstaunt. »Wo haben Sie denn Ihren reizenden Lehrling gelassen?«

»In der Berufsschule«, seufzte Bruno. »Ich hoffe nur, da bringen sie den jungen Leuten soviel bei, daß sich unser Verzicht auf sie auch lohnt. Manchmal, wenn hier die Hölle los ist, ist es nämlich nicht einfach, ohne sie auszukommen, das können Sie mir glauben.«

»Aber Sie haben doch großes Glück gehabt mit Raphaela, nicht wahr?« stellte Adrian fest.

Bruno Dormann nickte. »O ja, das kann man wohl sagen.« Er behielt die Sorgen, die er sich seit einiger Zeit um Raphaela machte, für sich. Das war nichts, was man mit einem Kunden besprach.

Aber vielleicht sollte er sich einmal mit Simon beraten? Wenn ihn nicht alles täuschte, dann hatte der fröhliche junge Mann mehr als nur ein Auge auf die hübsche Raphaela geworfen. Und wenn seine Laune in der letzten Zeit manchmal ein wenig getrübt gewesen war, hatte auch das nur mit dem niedlichen blonden Lehrling zu tun – davon war Bruno Dormann fest überzeugt.

Er spülte die dichten blonden Haare des Arztes sorgfältig aus, trocknete sie behutsam und ließ ihn wieder vor einem der großen Spiegel Platz nehmen.

»Ich schneide sie nicht wie immer«, sagte er nach einem kritischen Blick in den Spiegel. »Wir versuchen es mal mit einem etwas anderen Haarschnitt, Herr Dr. Winter.«

»Aber nicht so einen modischen Kurzhaarschnitt, bei dem alle Haare wie Stacheln vom Kopf abstehen!« wehrte dieser entsetzt ab. »Meine Patienten müssen Vertrauen zu mir haben, Herr Dormann. Das ist für mich wichtiger, als jung und modern auszusehen.«

Der Friseur lachte.

»Also gut, ich schneide es Ihnen doch wie immer. Sie schaffen es aber auch wirklich jedesmal, Herr Dr. Winter. Weiß der Himmel, wie Sie das machen!«

Sie lachten beide, dann machte sich Bruno Dormann an die Arbeit. Dabei sprach er nicht. Ein Haarschnitt, pflegte er zu sagen, ist ein Kunstwerk, und um das herzustellen, braucht man außer Können vor allem eines: Konzentration.

*

»Es gefällt mir nicht, daß Raphaela überhaupt keine Zeit mehr hat, uns zu besuchen«, sagte Ruth Wehrmann an diesem Morgen zu ihrem Mann.

Dieser nickte und warf ihr einen liebevollen Blick zu, während er sich im stillen wieder einmal beglückwünschte, daß sie vor anderthalb Jahren endlich eingewilligt hatte, ihn zu heiraten.

Ruths erster Mann, Marco Canetti, war vor acht Jahren in seine Heimat Italien zurückgekehrt. Er hatte die kalten Winter in Mecklenburg-Vorpommern nicht ertragen können, und sie hatte ihm nicht nach Italien folgen wollen. So war eine Trennung schließlich unvermeidlich geworden, zumal sie einander auch nicht mehr viel zu sagen hatten. Ihre Scheidung war einvernehmlich erfolgt, sie telefonierten gelegentlich miteinander, aber sonst gab es nur noch wenig Verbindungen. Raphaela hatte ihren Vater vor drei Jahren zum letzten Mal gesehen.

»Ich hoffe nur, dieser Herr Dormann nutzt sie nicht aus und läßt sie Tag und Nacht schuften«, fuhr Ruth nachdenklich fort, während sich eine tiefe Furcht in der Mitte ihrer Stirn bildete. Sie sah aus wie eine ältere Ausgabe ihrer Tochter, und es freute sie, daß manche Menschen sie eher für die große Schwester als für Raphaelas Mutter hielten. »Solche Geschichten hört man ja ab und zu.«

Wolfgang Wehrmann war ein kräftiger Mann mit breiten Schultern und einem klugen, nachdenklichen Gesicht. »Das glaube ich nicht«, meinte er. »Wir haben ihn doch beide kennengelernt, und er hat einen guten Eindruck auf uns gemacht. Sie scheint sich doch auch wohl zu fühlen dort, jedenfalls hat sie noch nie etwas anderes gesagt. Und bei Frau Jäschke gefällt es ihr auch.«

»Du hast recht«, stimmte Ruth zu. »Aber trotzdem…«