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Einer muss den Job ja machen E-Book

Lars Haider

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Beschreibung

"Mein Kommissar Weller ist Fan von Hammerstein! Er wäre gerne wie er." Klaus-Peter Wolf Intrigen, Machtspiele, ein berühmter Musiker und ein durchgeknallter Dackel Hamburg, 2017: Die Elbphilharmonie ist eröffnet, die Rolling Stones spielen im Stadtpark, beim G20-Treffen brennt das Schanzenviertel – und Lukas Hammerstein kann nicht mehr. Der Reporter hat das ganze Jahr durchgearbeitet und freut sich auf ein Sabbatical. Wenn nur Dackeldame Finchen nicht wäre, die Lukas aufgenommen hat, ohne zu wissen, dass der Hund einen kleinen Schaden hat … Und es kommt noch schlimmer: Ein Journalist wird ermordet, die Polizei ist ratlos. Lukas bleibt keine Wahl, denn: »Einer muss den Job ja machen« – wie es in einem Song seines guten Freundes Udo heißt.

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Lars Haider

Einer muss den Job ja machen

Hammersteins erster Fall

Kriminalroman

Hoffmann und Campe

Bitte keine halben Sachen.

1

Emma Trautmann hatte ihr Wohnmobil in einer Seitenstraße unweit der Elbphilharmonie abgestellt. Natürlich hieß sie nicht wirklich so, weder Emma noch Trautmann, aber auf diesen Namen sollte an der Abendkasse ein Ticket hinterlegt sein. Um sie herum wimmelte es von Menschen, die aufgeregt waren, weil sie Karten für ein Konzert im Großen oder Kleinen Saal ergattert hatten, die beide für Monate ausgebucht waren. Emma hoffte, das alles hier schnell hinter sich zu bringen. Sie reihte sich in die Schlange der Wartenden ein und beschloss, auf keinen Fall durch den Haupteingang in die Elbphilharmonie zu gehen. Von Berufs wegen war sie sowieso eher der Nebeneingangs-Typ.

 

»Guten Abend. Was kann ich für Sie tun?« Die junge Frau hinter der Kasse hatte ein Piercing im linken Nasenflügel, verschiedenfarbige Fingernägel und roch nach einem Parfüm, dem Sexualhormone beigemischt waren. Emma Trautmann prägten sich solche Details sofort ein, sie konnte nicht anders, es passierte instinktiv. An sie würde sich hingegen niemand erinnern, sie hatte ihre Unauffälligkeit so perfektioniert, dass sie fast schon wieder auffällig war.

»Für mich soll eine Karte auf den Namen Trautmann hinterlegt sein.«

Die Piercing-Frau tippte etwas in ihren Computer: »Emma Trautmann?«

Sie nickte.

»Sind Sie auch Polizistin?«

Emma zuckte unprofessionell zusammen und hoffte, dass ihr Gegenüber es nicht bemerkt hatte: »Nein, wieso?«

»Weil im Großen Saal das Dankeschön-Konzert für die Polizistinnen und Polizisten ist, die beim G20-Gipfel im Einsatz waren«, Emma bekam die Karte über den Tresen geschoben, vor dem sie stand. »Also keine Polizistin? Ach, egal, die Handschellen bekommen Sie trotzdem.« Die Gepiercte reichte eine Tüte mit kleinen Weingummi-Handschellen hinterher, und Emma Trautmann dachte für einen Augenblick, dass der Hinweis, für den sie das alles hier auf sich nahm, vielleicht in der Tüte versteckt war. Sie riss sie beim Verlassen der Abendkasse auf, ein paar Handschellen fielen zu Boden, nur Weingummi, sonst nichts.

Emma knüllte die Tüte zusammen, warf sie in einen Mülleimer und bog rechts in einen Seiteneingang ab, dessen Tür sich automatisch öffnete, als sie ihre Eintrittskarte davorhielt. Ein Sicherheitsbeamter nickte ihr freundlich zu und wies auf die wartenden Fahrstühle. Der erste füllte sich gerade, der daneben war leer. Emma ging hinein, drückte auf den Knopf, neben dem »Plaza« stand, und gleich darauf auf »Tür schließen«, aber nicht schnell genug. Drei junge Männer sprangen herein, sie trugen Anzüge, und man sah ihnen an, dass sie das nicht oft taten. Polizisten, die sich schick gemacht hatten, bei einem war das Sakko im Schulterbereich ausgebeult. Sie waren bester Laune, und als sich die Tür des Fahrstuhls hin zur Plaza der Elbphilharmonie wieder öffnete und den Blick auf eine wuselnde Menge überwiegend junger Menschen freigab, sagte der Typ mit der Sakkobeule: »Ich möchte nicht wissen, wie viele Schusswaffen sich heute in der Elbphilharmonie befinden.«

 

Emma hätte Zeit gehabt für einen Rundgang auf der Plaza, aber sie war nicht hier, um die Sehenswürdigkeiten Hamburgs zu genießen. Sie zeigte ihr Ticket ein weiteres Mal vor und machte sich auf den langen Weg in den Großen Saal, der über Holztreppen führte, die so steil waren, dass sie unwillkürlich daran denken musste, wie schnell hier ein Unfall passieren konnte. Ein kleiner Rempler, ein unauffälliger Schubser … Emma musste in die 16. Etage, Reihe 4, Platz 19, und sie ahnte, dass das ganz oben sein würde, unter dem Dach der Elbphilharmonie, wo sie niemanden sehen würde und niemand sie. Es dauerte fast zehn Minuten, bis sie den richtigen Eingang gefunden hatte. Sie durfte ihren Mantel nicht mit hineinnehmen, und als sie ihn an der Garderobe abgegeben hatte, ertönte der erste Gong.

Der Große Saal hatte auf die Geräusche der Menschen den gleichen Effekt wie ein Schalldämpfer auf den Schuss aus einer Pistole. Alles war leiser, wattiger, sanfter, aber was der Mann am Klavier dort tief unten auf der Bühne spielte, klang, als würde er direkt neben Emma sitzen. Für einen Moment vergaß sie, warum sie hier war, lehnte sich in ihrem Sitz zurück, der mehr ein Sessel war, und schloss die Augen. Brahms, an so viel erinnerte sie sich aus ihrem Klavierunterricht in der Schulzeit, natürlich Brahms, war der nicht Hamburger gewesen? Das Konzert dauerte knapp siebzig Minuten, am Ende sangen alle zusammen »Auf der Reeperbahn nachts um halb eins«, und Emma griff unauffällig unter ihren Sitz. Doch dort war nichts.

Zehn Minuten später stand sie wieder vor der Elbphilharmonie, mit dem Mantel über dem Arm und dem Gefühl, auf den Arm genommen worden zu sein. Wütend stapfte sie ein paar Schritte in Richtung Parkplatz und zog ihren Mantel an, es war frisch geworden. Als sie ihr Handy in der Innentasche verstauen wollte, fühlte sie etwas, das dort vorher nicht gewesen war. Emma Trautmann, die nicht Emma Trautmann hieß, blieb stehen und holte einen gelben Briefumschlag heraus. Sie riss ihn auf und entnahm zwei gefaltete DIN-A4-Seiten, auf denen acht Namen mit Fotos, Adressen und Handynummern standen. Ein neunter Name war mit einem schwarzen Edding durchgestrichen – wenn sie das Blatt gegen das Licht hielt, konnte sie nur eine Telefonnummer erkennen. Emma grinste. Acht Männer und Frauen, jeder und jede 100000 Euro wert. Und der Neunte? Der hatte Glück gehabt. Hinterher wusste sie nicht mehr, warum sie es tat, aber sie nahm ihr Handy und wählte die Nummer, die neben dem durchgestrichenen Namen stand. Eine Mailbox ging ran: »Moin, hier spricht Lukas. Bitte hinterlasst eine Nachricht.«

»Lukas«, murmelte Emma, »Lucky Lukas.«

2

Lukas Hammerstein stand seit zehn Minuten vor dem Haupteingang der Elbphilharmonie. Das Hemd, das er trug, war das letzte saubere, das er in seinem Schrank gefunden hatte, und er hatte fast eine Handvoll Gel gebraucht, um seine Haare zu bändigen. Eigentlich befand sich Lukas seit zwei Wochen in einem lange geplanten Sabbatical und hatte nicht vorgehabt, hier zu stehen und auf den Innenminister zu warten. Aber er war der Einzige unter den Reportern der Hamburg News, der den Minister persönlich kannte, seit er ihn bei einem Kirchentag im wahrsten Sinne des Wortes über Gott und die Welt befragt hatte. Er glaubte nicht, dass sich der Politiker an das Gespräch erinnerte, aber sein Chef hatte trotzdem darauf bestanden, dass er ihn in Empfang nahm. Laut Plan sollte er jeden Moment kommen.

Lukas’ Handy klingelte. Kaja.

»Wo bist du?«

»Ich warte vor der Elbphilharmonie auf den Minister. Zwei Personenschützer sehe ich schon, aber …«

»… wenn die Personenschützer:innen da sind, kommt der Minister mit seinen Begleiter:innen in wenigen Augenblicken«, sagte Kaja. »Und wenn du etwas nach rechts schauen würdest, könntest du deiner Lieblingskolleg:in winken.« Lukas drehte seinen Kopf leicht und sah auf der anderen Straßenseite Kaja Woiteks Wuschelkopf inmitten eines Pulks von Polizistinnen und Polizisten. Sie winkte ihm zu und zeigte auf ihr Handy.

»Wen hast du denn schon wieder alles getroffen?«, fragte Lukas über das Telefon.

»Viele liebe Informant:innen«, sagte Kaja, die die beste Polizeireporterin war, mit der Hammerstein jemals zusammengearbeitet hatte. Aber auch die anstrengendste. Kaja Woitek war wegen ihrer Recherchen mindestens so gefürchtet wie wegen ihrer Hartnäckigkeit, wenn es um das Gendern ging. Sie sprach und schrieb grundsätzlich nur von Mörder:innen, Sexualstraftäter:innen und Betrüger:innen, als könnte sich einer der Übeltäter sonst diskriminiert fühlen. Lukas hielt das für ein Verbrechen an der Sprache. Wenn er Texte von Kaja redigierte, strich er ihr die Doppelpunkte raus und provozierte damit jedes Mal ein Grundsatzgespräch. Die »Kolleg:in« glaubte wirklich, dass die Welt erst eine bessere würde, wenn sich jeder zu jeder Zeit von jedem und jeder angesprochen fühlte.

»Ich würde gern weiter mit dir plaudern, aber jetzt kommt dein Minister wirklich«, sagte Kaja, »und ich muss mich um meine Gäst:innen kümmern.«

 

Lukas legte auf, steckte das Handy ein und ging auf die Wagenkolonne zu, die vor der Elbphilharmonie gehalten hatte. Der Minister stieg als Zweiter aus, er lief direkt auf ihn zu: »Herr Hammerstein, schön, Sie wiederzusehen.« Entweder hatte er ein sehr gutes Gedächtnis, oder er war von seinen Referenten perfekt vorbereitet worden. »Sie sagen mir, was ich machen soll.« Lukas hatte den Auftrag, den Minister in eine Garderobe auf Höhe des Großen Saals zu bringen, wo er den Hamburger Bürgermeister treffen sollte. Julius Wolff war zehn Minuten zuvor eingetroffen, nicht am Haupt-, sondern am Bühneneingang, der schwer einsehbar im hinteren Teil des Konzerthauses lag, direkt an der Elbe. Wolff hatte das, was in Zeitungen gern das »Bad in der Menge« genannt wurde, nie geschätzt, jetzt wollte er es unbedingt vermeiden. Dass der G20-Gipfel in Hamburg so ausgeartet war, wie er ausgeartet war, dass an der vornehmen Elbchaussee Autos und im alternativen Schanzenviertel Häuser gebrannt hatten, nahmen viele Hamburger dem Bürgermeister übel. Der hatte im Vorfeld gesagt, dass man auch jedes Jahr ohne Probleme den Hafengeburtstag in der Stadt ausrichten würde. Und dann das.

 

»Ich bringe Sie zum Bürgermeister, er ist schon da«, sagte Lukas zum Minister, als sie auf der langen Rolltreppe standen, die vom Haupteingang bis zur Plaza der Elbphilharmonie führte.

»Armer Julius Wolff«, sagte der Minister, obwohl er aus einer anderen Partei kam als der Bürgermeister. »Die Diskussion über seinen Rücktritt läuft noch, oder?«

Lukas nickte. Julius Wolff hatte sich bei den Hamburgern zwar für G20 entschuldigt, aber das reichte nicht. Jede Menge Reporter recherchierten, welche Fehler der Bürgermeister in der Vorbereitung und während des Gipfels gemacht hatte, kein Tag verging ohne neue Vorwürfe und Enthüllungen. Wolff war angeschlagen wie nie zuvor in seiner Karriere, und er tat Lukas leid. Die beiden kannten sich aus Studienzeiten an der Hamburger Universität, damals hatten sie mit einigen Kommilitonen die »Weltverbesserer AG« gegründet. Eine Gruppe, die im Kern aus vier jungen Männern bestand, von denen jeder auf seine Weise die Welt verändern wollte. Lukas als Journalist, Niklas Claasen, Spross einer Hamburger Reederfamilie, als Mäzen, Clemens Engel als Sänger, nein: als Stimme gegen den Kapitalismus, und Julius Wolff als Politiker. Der Kontakt der vier war nie abgebrochen, auch wenn längst nicht alles so gekommen war, wie sich die Weltverbesserer das vorgenommen hatten. Einmal im Monat gab es einen festen Termin, an dem sie dem einzigen Hobby frönten, das sie gemeinsam hatten: dem Wein. Das nächste Treffen der Vier Flaschen war in zwei Tagen geplant, und Lukas hoffte sehr, dass Julius Wolff kommen würde. Es gab viel zu besprechen.

 

»Da sind wir.« Mit einem Innenminister und seinem Gefolge war es leicht, hinter die Kulissen der Elbphilharmonie zu kommen, die Türen hatten sich wie von selbst geöffnet. Jetzt stand Lukas in einer der Garderoben, in denen normalerweise die Künstler untergebracht wurden. Es gab eine Dusche, ein Sofa und einen Flügel, der Blick aus den gewölbten Fenstern war atemberaubend. Aber der Mann, der hier auf den Minister wartete, hatte dafür keine Augen. Julius Wolff blickte versteinert auf seine Stadt und drehte sich erst um, als der Minister ihn an der Schulter berührte: »Wollen wir raus zu den Leuten, Herr Bürgermeister?« Julius nickte, drückte die ihm dargebotene Hand und wandte sich zur Tür: »Gehen wir.« Er wirkte müde und verzweifelt, Lukas hätte ihn am liebsten in den Arm genommen.

 

»So habe ich ihn noch nie gesehen«, flüsterte ihm jemand in breitem Hamburgisch ins Ohr.

»Niklas, was machst du hier?«

»Mein Freund, einer muss den Spaß schließlich bezahlen«, sagte Niklas Claasen, der sich genau das zur Lebensaufgabe gemacht hatte: Geld zu geben, wenn Geld gebraucht wurde, ohne darum viel Aufhebens zu machen.

»Du zahlt das alles hier?«, fragte Lukas.

Niklas winkte ab: »Jo, kein Ding, musste sein, nach allem, was in unserem schönen Hamburg in den letzten Wochen passiert ist. Julius tut mir echt leid, hoffe, dass ihn die Leute im Saal nicht ausbuhen. Wollen wir? Geht gleich los. Setz dich neben mich, mein Freund, meine Stammplätze sind frei.« Lukas und Niklas saßen drei Reihen hinter dem Bürgermeister und dem Minister, mitten in einem Pulk von jungen Polizistinnen und jungen Polizisten. Der Mann links neben ihm beugte sich nach dem ersten Stück, einem Klavierkonzert von Johannes Brahms, zu Lukas und zeigte zu den Sicherheitsbeamten mit den Knöpfen im Ohr, die sich rund um die Politiker platziert hatten: »Viele Waffen heute in der Elbphilharmonie.«

»Wie meinen Sie das?«, fragte Lukas.

»Na«, sagte der Mann und klopfte auf den oberen linken Teil seines Sakkos, der sich leicht ausbeulte, »viele Polizisten, viele Waffen.«

Bevor Lukas etwas dazu sagen konnte, hielt Niklas ihm ein altes Kaugummi unter die Nase: »Guck mal, was ich unter meinem Sitz gefunden habe. Das ist ein Stück Hamburger Geschichte.«

»Warum sollte ein ekliges Stück Kaugummi ein Stück Geschichte sein?«, fragte Lukas.

»Weil vor zwei Wochen auf diesem Stuhl der Spacken Trump gesessen hat.«

»Du meinst …?«

»Jo, das meine ich«, sagte Niklas. »Und jetzt sollten wir leise sein, wir kriegen schon schiefe Blicke.«

 

Das Konzert war nach etwas mehr als einer Stunde vorbei, am Ende dankten Julius Wolff und der Minister den zweitausend Polizistinnen und Polizisten im Großen Saal für ihren »heldenhaften Einsatz während G20«, wobei die Stimme des Bürgermeisters trotz Mikrofon fast nicht zu verstehen gewesen war.

»Der ist wirklich fertig«, sagte Niklas. »Den müssen wir bei unserem nächsten Weinabend aufbauen, ich hab schon vier schöne Flaschen für Donnerstag kalt gestellt.«

Der Reederssohn betrieb die exklusive Alster-Lounge in unmittelbarer Nähe des Hamburger Rathauses, und er neigte dazu, auch dort alle einzuladen, die nicht schnell genug mit dem Bezahlen waren. »Ist doch nur Geld«, pflegte er zu sagen, wenn die Freunde ihn ermahnten, nicht zu großzügig zu sein, oder, wenn sich jemand bei ihm bedankte: »Dafür nich’.«

»Wir sehen uns Donnerstag«, sagte Lukas, und Niklas streckte den Daumen der rechten Hand als Zeichen seiner Vorfreude in die Luft, bevor die beiden Freunde vom herausströmenden Publikum getrennt wurden.

 

Es war kurz nach achtUhr, als Hammerstein sein Fahrrad aufschloss, um die zehn Kilometer nach Hause zu radeln. Seine Frau hatte ihm kurz zuvor eine WhatsApp geschrieben, dass sie im Bett liege, sonst sei alles in Ordnung. Lilli Hammerstein war im siebten Monat schwanger, und es war gerade in den letzten Wochen keine leichte Schwangerschaft gewesen. Doch nun hatte Lukas endlich frei, drei Monate lang, und konnte sich um seine Frau, das Baby und den dringend nötigen Umbau der Doppelhaushälfte kümmern, die sie vor einem Jahr gekauft hatten.

»Fahr jetzt los«, schrieb er zurück und sah, dass er einen Anruf in Abwesenheit hatte. Die Nummer des Anrufers (»der Anrufer:in!«, würde Kaja mahnen) wurde nicht angezeigt, aber die Mailbox war angesprungen. Er rief sie an, hörte aber nur jede Menge Rauschen und zwei Wörter, die vernuschelt waren und wie »Lucky Luke« klangen.

So nannte ihn nur einer. Und eigentlich könnte er den jetzt noch besuchen. Wach würde er auf jeden Fall sein.

3

Er liebte es, von der Elbphilharmonie kommend durch die Speicherstadt zu fahren, auch wenn das Kopfsteinpflaster hin und wieder der Federung seines Fahrrads die Grenzen aufzeigte. Wer sich nicht auskannte, fuhr achtlos an der meistbesuchten Attraktion Hamburgs vorbei, dem Miniatur Wunderland. Was als kleine Modelleisenbahnanlage begonnen hatte, deren Aufbau keine Bank finanzieren wollte, bis sich die örtliche Sparkasse erbarmte, nahm inzwischen mehrere Speicherstockwerke ein und war bei Deutschland-Touristen beliebter als das Schloss Neuschwanstein.

Lukas bog ab, um am Hauptbahnhof und der Kunsthalle vorbei in Richtung Binnenalster zu fahren. Dass man in Hamburg ständig und überall auf Wasser traf, ließ die Menschen, die hier lebten, zu dem Schluss kommen, dies müsste die schönste Stadt der Welt sein. Julius Wolff, der Bürgermeister, haderte mit dieser Einschätzung, er fand sie unhanseatisch unbescheiden, aber das war der Rummel um die Elbphilharmonie auch, und die hatte er selbst eröffnet. Beim letzten Treffen der Vier Flaschen hatte Niklas Claasen deshalb gesagt: »Leute, wir müssen gar nicht mehr behaupten, dass Hamburg die schönste Stadt der Welt ist. Seit es die Elbphilharmonie gibt, ist sie es tatsächlich.«

Jeder Hamburger hat so seinen Hamburg-Moment, bei Lukas Hammerstein waren es die Minuten, in denen er mit der Bahn oder mit dem Fahrrad über die Lombardsbrücke fuhr und sich auf der einen Seite die Binnenalster mit der sprudelnden Fontäne präsentierte. Das war sein Hamburg, und Lukas genoss den abendlichen Anblick, bevor er in Richtung Außenalster abbog und das Fahrrad vor dem Hotel Atlantic abstellte. Lange war er mit dem in die Jahre gekommenen Grandhotel nicht warmgeworden, hatte sich über die hässlichen Teppiche echauffiert und über das Essen, das weit unter dem Niveau eines Fünf-Sterne-Hauses war. Aber seit zwei, drei Jahren ging Lukas regelmäßig ins Atlantic, er hatte hier sogar ein paarmal übernachtet, einfach so. Die Zimmer waren viel schöner als der Eingangsbereich, hohe Decken, große Fenster, wenn man Glück hatte, hatte man Alsterblick. Aber das war nicht der Grund, warum Lukas vom Concierge inzwischen mit Namen begrüßt wurde.

 

»Guten Abend, Herr Hammerstein, schön, Sie zu sehen«, sagte der Mann, der hinter der Rezeption stand und den alle nur Georg nannte.

»Guten Abend, Georg«, sagte Lukas. »Ich war auf dem Weg nach Hause und dachte, ich nehme noch einen Drink an der Bar.«

»Das ist immer eine gute Idee, Herr Hammerstein«, sagte der Concierge.

»Ist Udo da?«.

»Nein«, sagte Georg. »Der ist für ein paar Tage in Berlin.«

»Ich trinke trotzdem schnell was.«

Lukas ging an die Bar und bestellte einen Sambuca auf Eis ohne Kaffeebohnen. Als das Getränk kam, schwenkte er das bauchige Glas so lange, bis die klare Flüssigkeit milchig geworden war und die Eiswürfel fast weiß aussahen. Dann schloss er die Augen und nahm einen kurzen tiefen Schluck. Sofort verbreitete der Alkohol eine beruhigende Wärme und Entspanntheit, erst in seinem Bauch, dann in seinem Kopf, und Lukas stellte sich vor, mit Udo an der Bar zu sitzen. Er hatte den berühmten Musiker bei einer Ausstellung kennengelernt, die die Stationen seines Lebens zeigten, ein altes Schlagzeug, goldene Schallplatten, Fotos mit Erich Honecker und Willy Brandt. Irgendwann war Udo auf ihn zugekommen, hatte »Bissu nich der Lucky Luke von den Hamburg News« genuschelt und ihm dann eine signierte Schallplatte in die Hand gedrückt, mit Widmung: »Für Lucky Luke von Udo, wir Glücklichen müssen zusammenhalten, Unglückliche gibt es genug. Keine Panik!«

 

Lukas war schwer gerührt gewesen, nicht nur, weil er Udo Lindenbergs Musik als Junge gehört, verehrt und mitgesungen hatte. Es war mehr passiert in dem Augenblick, in dem der Musiker seine Sonnenbrille ein Stück von der Nase gezogen und ihm tief in die Augen geblickt hatte. So musste es sich anfühlen, dachte Lukas, wenn man auf Droge war. Vielleicht konnte Udo einem dieses Gefühl vermitteln, weil er nahezu alles, was es an bewusstseinserweiternden Mitteln gab, ausprobiert hatte, »nach dem Prinzip der Mengenlehre, also mehr ist mehr, Lucky Luke«. Auf jeden Fall ging es Lukas gut wie lange nicht mehr, und das wollte damals etwas heißen. Der Reporter hatte monatelang mit Panikattacken zu kämpfen gehabt, die sich einstellten, wenn er irgendwo zu lange allein war. Er brauchte Menschen in seiner Nähe, sonst fühlte er sich unsicher und wurde ängstlich, ein Phänomen, das er in mehreren Sitzungen mit einer Psychotherapeutin in Eppendorf besprochen hatte. Die hatte ihm nicht helfen können, im Gegenteil: Als sie mitten in einer Besprechung auf Toilette gehen musste, hatte Lukas vor lauter Aufregung Nasenbluten bekommen und daraufhin erst recht Sorgen, dass mit ihm etwas nicht stimmen könnte.

Seit er Udo kannte, brauchte Lukas keine Therapeutin mehr. Sie waren nachts zusammen um die Alster gelaufen, sie hatten an der Bar des Atlantic gesessen, einmal hatte Udo ihn mit in die Präsidentensuite genommen, und sie hatten so lange geredet, bis es draußen über dem Wasser hell geworden und Lukas wunderbar relaxt gewesen war. Spätestens da wusste er: Wenn gar nichts mehr geht, gehe ich zu Udo. Oder einfach so ins Atlantic.

 

»Keine Panik«, murmelte er auch jetzt vor sich hin, schlug die Augen auf und trank in Ruhe den Sambuca aus. Lukas legte einen Zehneuroschein auf den Tresen und schickte eine SMS an Udo: »War im Atlantic, aber die Nachtigall war ausgeflogen.« Als er auf Senden drückte, sah er, dass es kurz nach Mitternacht war, es wurde höchste Zeit, dass er ins Bett kam. Er hatte Lilli versprochen, morgen die alten Tapeten in dem Zimmer abzureißen, das das Kinderzimmer werden sollte, auch wenn er dazu keinerlei Lust hatte.

Als er zwanzig Minuten später leise zu Hause die Tür aufschloss, hörte er ein ungewöhnliches Geräusch. Es klang wie Hundepfoten, die über Parkett tippeln. Das Nächste, was er hörte, war die Stimme von Lilli, die aus dem Schlafzimmer schrie: »Tür zu, der Hund!«

Aber da war es bereits zu spät.

4

»Du weißt ja, Schatz, das letzte Kind hat Fell.« Lilli Hammerstein hatte nicht mitgezählt, wie oft ihr Vater diesen Spruch gesagt hatte, während er zusammen mit ihrer Mutter drei Körbe, eine Tragetasche, zwei Decken, vier Leinen, diverse Kisten mit Gummibällen, Knochen, Stofftieren und anderem Hundespielzeug ins Haus gebracht hatte. Es war kaum vorstellbar, wie ihre Eltern das alles in ihrem kleinen Nissan transportiert hatten.

»Ich hoffe, ihr habt in eurem Gefrierschrank genug Platz«, sagte Elisabeth Schuster, eine robuste Frau Mitte sechzig, als sie das letzte Mal mit zwei Tiefkühltaschen vom Auto kam. Sie hatte ihr Leben lang gern gekocht, früher für Lilli und ihre zwei Brüder, heute für den Hund. Aus den Taschen holte sie unzählige Tupperdosen heraus, jede mit einem Datum versehen. »Finchen bekommt nur einmal am Tag etwas zu essen«, erklärte Elisabeth ihrer Tochter. »Das Gemüse habe ich selbst gekocht, dazu gibt es rohen Fisch oder rohes Fleisch, alles bio. Du musst am Abend vorher immer die Portion für den nächsten Tag auftauen und sie ihr am Mittag mit ordentlich Wasser geben. Und auf keinen Fall mehr!«

»Dann macht Fini auch nur einmal am Tag Kacki«, ergänzte Klaus Schuster und zog eine Rolle mit dünnen schwarzen Plastiktüten aus seiner Jackentasche: »Das sind die Beutel dafür, die dürften dicke reichen, bis wir wieder da sind. So, Elisabeth, haben wir alles?«

Vater, Mutter und Tochter standen in dem Raum, in dem in wenigen Monaten ihr erstes Kind beziehungsweise ihr erster Enkel schlafen sollte. Jetzt wäre hier allenfalls noch Platz für eine kleine Wiege gewesen. Lilli Hammerstein hatte den Eltern erlaubt, das Equipment für den Hund ins Kinderzimmer zu bringen, was sie angesichts der unglaublichen Menge an Gegenständen inzwischen für keine gute Lösung mehr hielt. Egal, Lukas könnte den ganzen Kram morgen in den Keller bringen, sie würden Finchen überzeugen, in einem Körbchen auf dem Flur zu schlafen. Die Dackeldame, die ihre Eltern im Alter von sieben Monaten bekommen hatten, nachdem sie von einer Vorbesitzerin »aus unbekannten Gründen« zur Züchterin zurückgebracht worden war, war aufgeregt durchs Haus getippelt. Jetzt lief sie ins Kinderzimmer, den Kopf nach vorn gebeugt, die Zunge weit heraushängend. Finchen leckte wie wild den Boden ab, einmal hin, dann wieder zurück, und als sie damit fertig war, ließ sie sich auf den Bauch plumpsen und begann nervös, in ihre rechte Pfote zu beißen.

»Das hat sie manchmal, wir wissen auch nicht, warum.« Klaus Schuster zog eine kleine Wasserpistole aus seiner Hosentasche. »Fini, nein«, sagte er laut, und als sie nicht reagierte, richtete er die Pistole auf das Tier und drückte ab. Zwei, drei Spritzer, dann ließ Finchen die Pfote los, hob irritiert den Kopf und fing wieder an, den Boden zu lecken. Ihr Herrchen schoss noch einmal, und der Spuk war zu Ende.

»Hier«, sagte er zu seiner Tochter und streckte ihr die Wasserpistole entgegen. »Das hilft fast immer.«

»Hat, hat …«, stotterte Lilli, »hat sie das öfter?«

»Der eine Hund macht ins Wohnzimmer, der andere bellt die ganze Nacht, und Finchen leckt manchmal Fußböden ab. So hat jeder seinen Tick.« Lillis Mutter nahm die Dackeldame auf den Arm und drückte sie an sich. »Wir werden dich vermissen, du Süße.«

»Komm, Elisabeth, machen wir ihr und uns den Abschied nicht zu schwer.« Klaus Schuster sah seine Tochter streng an: »Können wir uns auf dich verlassen?«

Lilli Hammerstein nickte.

»Hat das mit der Haustür alles so geklappt, wie wir das besprochen haben?«

Ihr Vater hatte Lilli gebeten, einen Automatismus an der Haustür anzubringen, der dafür sorgte, dass sie in Höchstgeschwindigkeit, und in der Regel mit einem ohrenbetäubenden Knall, schloss. Es hatten sich bereits leichte Setzrisse am Rahmen gebildet, aber das war Klaus Schuster egal gewesen: »Hauptsache, die Tür geht so schnell wie möglich zu, damit Fini nicht weglaufen kann.«

»Die Tür schließt so schnell, dass nicht mal eine Fliege Zeit hätte, das Haus zu verlassen«, sagte Lilli Hammerstein. »Ihr müsst euch keine Sorgen machen.«

»Das sagst du so«, sagte ihr Vater, dem als Kind ein Hund weggelaufen war. »So, nun gehen wir aber wirklich.« Er öffnete die Haustür, ließ sie los und war zufrieden, als sie sofort zuknallte. Von der Decke rieselte ein wenig Putz.

»Pass gut auf die Kleine auf, mein Schatz.« Mutter Elisabeth schniefte.

»Es ist nun mal so: Das letzte Kind hat Fell«, sagte Vater Klaus, drückte erst seiner Tochter und dann dem Dackel einen Kuss auf die Stirn. »Du kannst uns auch an Bord immer per SMS erreichen.«

 

Dann waren Lillis Eltern weg, und Finchen hatte erneut begonnen, das Parkett abzulecken. Lilli war es zu blöd gewesen, mit einer Wasserpistole hinter dem Hund herzujagen, außerdem wurde das mit ihrem Sieben-Monats-Bauch langsam anstrengend. Also ließ sie die Dackeldame machen, bis die von allein aufhörte und mit großen Augen in Richtung Lilli guckte, die sich aufs Sofa im Wohnzimmer gesetzt hatte.

Dort saßen sie dann beide, Finchen auf einer Decke mit einem Gummiknochen, Lilli mit der To-do-Liste für Lukas, die inzwischen mehrere DIN-A4-Seiten umfasste. Die ersten zwei Wochen seines Sabbaticals hatte Lilli ihren Mann in Ruhe gelassen, weil sie den Eindruck gehabt hatte, dass er diese Ruhe brauchte. Lukas Hammerstein hatte in den vergangenen Monaten so viel gearbeitet wie nie zuvor in seinem Reporterleben. Anfang des Jahres war in Hamburg nach langem Hin und Her, gewaltigen Kostensteigerungen und mit sieben Jahren Verspätung die Elbphilharmonie eröffnet worden, das Konzerthaus, um das die Stadt inzwischen in großen Teilen der Welt beneidet wurde. Hammersteins Dokumentation über die Fehler, die auf dem Weg von der Planung bis zur Vollendung des Jahrhundertprojekts gemacht worden waren, hatte sechzehn Zeitungsseiten umfasst, er hatte fast vier Monate daran gearbeitet. Als alles fertig war, hatten in Hamburgs Politik und bei den Journalisten die Vorbereitungen für G20, das Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs, begonnen, das für einen weinenden, da vom Tränengas der Polizei getroffenen Lukas Hammerstein mit einer Videoreportage aus dem Schanzenviertel endete. Jenem Teil der Stadt, den Randalierer und Chaoten für Stunden unter ihre Kontrolle gebracht, wo sie Häuser in Brand gesetzt und Geschäfte geplündert hatten. Lukas war mittendrin gewesen, und Lilli hatte zum ersten Mal in ihrem Leben Angst um ihren Mann gehabt. Sie war eine von fast 900000 Menschen gewesen, die seine fast eine Stunde dauernde Livereportage vor dem Computer verfolgt hatten.

Am Ende wusste sie, dass sie ihre Pläne ändern musste. Sie konnte Lukas nicht während der ganzen drei Monate des Sabbaticals, das sie ihm in langen Diskussionen abgerungen hatte, für Arbeiten am Haus und die Vorbereitungen auf die Geburt ihres Kindes in Beschlag nehmen. Er brauchte Zeit für sich. Sie hatte ihn deshalb in den ersten Tagen ausschlafen lassen und weder die To-do-Listen noch die fast so lange Namensliste angesprochen, an denen sie seit Wochen saß. Sie hatte nichts dagegen gesagt, als er zum Dankeschön-Konzert für die Polizistinnen und Polizisten in die Elbphilharmonie gegangen war, obwohl sie eigentlich verabredet hatten, dass Lukas mit seinem Job während des gesamten Sabbaticals nicht in Berührung kommen sollte. Vielleicht war der Abend ein guter Abschluss, bevor es morgen richtig losgehen würde, dachte sie.

 

Lilli hatte die kommenden Wochen generalstabsmäßig geplant, sie plante immer alles generalstabsmäßig. Die Eltern wollten nach dem Ruhestand des Vaters auf große Kreuzfahrt gehen? Dann bitte, solange das Enkelkind noch nicht da war. Auf den Dackel konnte, weil sowieso zu Hause, während ihrer Reise Lukas aufpassen. Nebenbei würde der Hund dafür sorgen, dass ihr Mann die Bewegung erhielt, die in den vergangenen Monaten zu kurz gekommen war. Lilli, die bis vor wenigen Tagen für das Marketing eines großen Hamburger Familienunternehmens verantwortlich gewesen war, hatte parallel zu Lukas’ Sabbatical Urlaub genommen, der nahtlos in den Mutterschutz übergehen würde. Drei Monate, in denen sie Zeit hätten, die Arbeiten an der Doppelhaushälfte zu beenden, für die sie entgegen alle Wahrscheinlichkeit den Zuschlag erhalten hatten.

Sie kraulte mit der linken Hand Finchen, die sich auf den Rücken gelegt und alle Pfoten von sich gestreckt hatte, und scrollte mit der rechten Hand in ihrem Handy durch Hunderte von Einrichtungstipps auf Pinterest. Die hundertsechzig Quadratmeter in Eppendorf, einem der schönsten Stadtteile Hamburgs, erfüllten alle Voraussetzungen, ein Traumhaus für die Hammersteins zu werden. Aus dem Obergeschoss, in dem Lilli und Lukas ihr Schlafzimmer hatten, konnte man die Alster sehen, das Gewässer, das sich wenige Kilometer entfernt in der Innenstadt zu zwei großen Seen staute, der Binnen- und der Außenalster. Normalerweise wäre die Doppelhaushälfte für die zwei zu teuer gewesen. Der Quadratmeterpreis in dieser Lage lag gern bei 10000 Euro, und es gab in Hamburg viele Menschen, für die das gar nicht viel Geld war. Die Preisvorstellungen der Hammersteins lagen eher bei der Hälfte, und sie wären sicherlich nicht zu einer Besichtigung eingeladen worden, wenn der Makler, der das Haus verkaufen sollte, nicht einer der besten Freunde von Lukas gewesen wäre.

Lilli erinnerte sich genau, wie Clemens Engel ihnen das Exposé mit einer kurzen Nachricht via WhatsApp geschickt hatte: »Wäre das nicht was für euch?«

»Nicht ganz unsere Preisklasse«, hatten sie zurückgeschrieben.

»Das lasst mal meine Sorge sein«, hatte Clemens geantwortet, der einer der verrücktesten Menschen war, die Lilli in ihrem Leben kennengelernt hatte. Als sie zum ersten Mal seine Stimme am Telefon gehört hatte, dachte sie, mit einer Frau zu sprechen, ein Eindruck, der sich nicht wesentlich änderte, als sie ihm persönlich begegnete. Clemens hatte nicht nur eine hohe Stimme, sondern war klein und feingliedrig, gerade wenn er neben dem fast zwei Meter langen Lukas stand. Er träumte seit seinem zehnten Lebensjahr davon, ein großer Sänger zu werden und die Welt gerechter zu machen. Er hatte nicht nur den Kriegs-, sondern auch den Zivildienst verweigert, er hatte Musik studiert, aber den Sprung auf die Bühne nicht geschafft. Dass er Makler geworden war, begründete er damit, »dass ich das kapitalistische System von innen aushöhle, indem ich erst selbst von ihm profitiere, um es schließlich zu zerstören«. Lilli hatte nicht verstanden, was Clemens damit meinte, bis sie mit ihm, Lukas und einem Hamburger Kaufmann beim Notar saß, um ein Haus für rund 800000 Euro zu kaufen, das locker auch für das Doppelte weggegangen wäre. Wie es Clemens (»Nennt mich den Robin Hood der Makler«) gelungen war, den Verkäufer ausgerechnet von ihnen als Kaufkandidaten zu überzeugen, hatte Lilli bis heute nicht verstanden, aber es war ihr auch egal. Sie und Lukas waren glücklich.

 

Finchen zuckte, ihre Ohren stellten sich auf, und ehe Lilli reagieren konnte, war die Dackeldame vom Sofa gesprungen und in Richtung Haustür gelaufen. Sie musste den Schlüssel, den Lukas ins Schloss gesteckt hatte, gehört haben, vielleicht auch seine Schritte auf den Kieselsteinen. Lilli dachte an die Mahnung ihres Vaters und daran, dass ihr Ehemann bestimmt vergessen hatte, dass sie seit heute Hundebesitzer waren. Sie rief ihm zu, dass er die Tür schnell schließen solle, hievte sich aus dem Sofa und fiel fast hin, weil ihr rechter Fuß eingeschlafen war. Es dauert eine Minute, bis sie an der Haustür war.

»Du schläfst noch nicht?« Lukas gab ihr einen Kuss auf die Wange.

»Wo ist der Hund?«, fragte Lilli.

»Wo ist wer?« Lukas hatte es vergessen.

»Der Hund. Finchen.«

»Schatz, es tut mir leid …«, sagte Lukas, doch langsam schien er zu verstehen. »Du meinst, deine Eltern haben den Dackel heute gebracht …?«

Lilli ging an ihrem Mann vorbei, riss die Haustür auf und rief: »Fini, Fini, komm her, bei Fuß, Fini, wo bist du?«

»Ich denke, sie heißt Finchen?«, fragte Lukas.

»Wir müssen sie finden, sonst bringen meine Eltern mich um«, sagte Lilli. »Kannst du irgendetwas sehen?«

Lukas holte sein Handy heraus und schaltete die Taschenlampe an, deren Lichtkegel bis zu seinen Füßen reichte.

»Ich finde sie schon, leg du dich wieder hin. Du darfst dich nicht aufregen.« Er strich Lilli über den Bauch.

»Fini, Fini, komm her, Leckerli!«, rief sie und rannte an ihrem Mann vorbei in den Garten.

»Ich schaue mal bei den Nachbarn.« Lukas tat das, was normalerweise in dieser Gegend verpönt war. Er ging vom eigenen auf das Nachbargrundstück, das nicht durch einen Zaun, sondern nur durch eine Bambushecke abgetrennt war. Lilli sah den kleiner werdenden Schein der Handylampe und hörte die umso lauter werdenden »Finchen«-Rufe ihres Mannes, als sie eine Hand auf ihrer Schulter spürte und eine tiefe Stimme fragte: »Ist das Ihrer?«

Sie drehte sich um und blickte in die Augen von Professor Diedrichsen, einem Historiker, der neben den Hammersteins wohnte. Er hatte Finchen am Nacken gepackt, die vergeblich versuchte, sich in ihre rechte Pfote zu beißen.

»Herr Professor Diedrichsen, ja, das ist meiner, ich meine, unser Hund, zumindest zeitweise, meine Eltern sind …«, begann Lilli, aber das schien den Nachbarn nicht zu interessieren.

»Dann wäre es nett«, der Professor hielt Lilli Finchen hin, »wenn Ihr Mann mit seiner Taschenlampe den Haufen finden und entfernen könnte, den Ihr Dackel vor meiner Terrasse hinterlassen hat.«

5

Christoph Meier-Wiegand konnte nicht anders. Auf dem Weg aus der Umkleidekabine blieb er kurz vor einem Spiegel stehen und war sehr erfreut über das, was er dort zu sehen bekam. Nein, wie ein Mann, der in drei Monaten, zwei Wochen und vier Tagen 55 Jahre alt werden sollte, sah er nicht aus. Gut, das Haar war etwas dünner geworden, aber nicht so dünn, dass irgendwo die Kopfhaut zu sehen gewesen wäre. An den Armen zeichneten sich die Adern ab, aufgepumpt an zehn verschiedenen Geräten innerhalb der vergangenen Stunde. Wenn er wollte, könnte er die Brustmuskeln tanzen lassen, und sein Bauch war so schlank und straff und durchtrainiert wie eh und je.

Er sah wie ein ehemaliger Leistungsschwimmer oder zumindest wie ein Physiotherapeut aus, auf jeden Fall nicht wie ein Zeitungsreporter, schon gar nicht, wenn er sich mit den Kollegen verglich. Die waren entweder immer schon zu dick und versoffen gewesen oder hatten sich spätestens mit den Jahren gehen lassen. Er nicht. Meier-Wiegand knotete das Handtuch, das er um seine Hüften trug, so fest es ging zu, blinzelte ein letztes Mal in den Spiegel und ging Richtung Pool. Im Health Club, der unweit der Redaktion des Politik Insiders am Hamburger Hafen lag und in dem er seit über zwanzig Jahren Mitglied war, durfte man nackt baden, und Christoph Meier-Wiegand tat das gern und oft.

Es war kurz nach acht Uhr morgens, um diese Zeit war normalerweise wenig los, nicht selten hatte er das Schwimmbad für sich allein. Dieses Mal zog nur eine Frau einsam ihre Bahnen. Sie hatte eine pinke Taucherbrille an, sonst nichts. Der Reporter ließ das Handtuch fallen, ging zur Leiter und glitt langsam ins Wasser. Die Schwimmerin schien ihn registriert zu haben, auf jeden Fall hatte sie kurz den Kopf gehoben, als er gekommen war. Meier-Wiegand kraulte los, er liebte die nasse Schwerelosigkeit nach dem harten Training an den Maschinen, und er liebte es noch mehr, wenn ihm andere Menschen dabei zusahen, wie er seinen drahtigen Körper durch das Becken schob.

 

Ein paar Minuten schwammen die beiden hin und her und immer wieder aneinander vorbei, dann bog die Frau, deren Alter Meier-Wiegand schwer schätzen konnte, Richtung Leiter ab. Unauffällig folgte er ihr mit seinen Blicken, sah erst ziemlich große, aber durchaus feste Brüste und danach Beine, die beinahe so trainiert waren wie seine eigenen. Die Frau ging zu einer Liege, auf der ein Bademantel lag, den sie in aller Ruhe anzog. Dann griff sie nach einer Tasche, die neben der Liege gestanden hatte, und nahm etwas heraus, das für Christoph Meier-Wiegand auf den ersten Blick wie eine Heckenschere aussah. Während er sich noch fragte, wozu man in einem Wellnessbereich eine Heckenschere brauchte, flackerten die Lichter an der Decke über dem Pool, plötzlich blitzte und knallte es. Das Letzte, was dem Reporter durch den Kopf ging, war, dass man bei Gewitter nicht baden durfte.

6

Es war eigentlich nicht Kajas Art, mit einem neuen Freund schon nach einer Woche ins Bett zu gehen. Aber erstens kannte sie Enno morgen seit genau acht Tagen, zweitens war ihre letzte Affäre eine Weile her, und drittens hatte sie diese Vorliebe, aus der sie kein Geheimnis machte. »Ich habe eine Schwäche für Polizist:innen«, hatte sie Lukas Hammerstein gestanden, als der sie einmal darauf angesprochen hatte, dass viele ihrer heutigen Informanten von der Hamburger Polizei zugleich ihre Exfreunde waren. Ja, sie hatte »Polizist:innen« gesagt und dabei offengelassen, ob die Wortwahl ausschließlich mit ihrem Hang zur gendergerechten Sprache zu tun hatte.

Enno war nun definitiv ein männlicher Polizist, und was für einer. Kaja hatte ihn zum ersten Mal beim Dankeschön-Konzert in der Elbphilharmonie gesehen, bei dem er neben Lukas gesessen hatte, was es ihr leicht gemacht hatte, mit ihm ins Gespräch zu kommen. Sie zogen nachher mit ein paar Polizeibeamten weiter, von denen sie mindestens die Hälfte kannte.

Es hatte lange so ausgesehen, als ob Kaja Woitek selbst Polizistin werden sollte. Ihr Opa hatte bei der Polizei gearbeitet, ihre Oma war Sekretärin des Hamburger Polizeipräsidenten gewesen, ihr Vater hatte es bis zum Pressesprecher der Innenbehörde gebracht. Seine Tochter wäre heute mit Sicherheit eine Beamtin auf Lebenszeit, wenn sie nicht Lukas Hammerstein getroffen und der ihr besonderes Talent entdeckt hätte. Kaja war keine begnadete Schreiberin, die meisten ihrer Texte schickte sie vor der Veröffentlichung an Lukas, erst danach waren sie wirklich gut lesbar. Kajas Stärke war nicht der Umgang mit Worten, es war der Umgang mit Menschen, insbesondere mit denen, die für die Hamburger Polizei arbeiteten. Ob es an ihrer Herkunft lag, womöglich an den Genen? Viele Beamtinnen und Beamte, mit denen sie in den fünf Jahren als Polizeireporterin zu tun gehabt hatte, waren Freunde geworden. Man kannte sich, man akzeptierte sich, und wenn etwas Interessantes passierte oder passieren sollte, ein großes Verbrechen, eine geplante Razzia, eine Festnahme, erfuhr es Kaja durch eine Nachricht oder einen kurzen Anruf immer rechtzeitig. Sie machte ihr Handy niemals aus und hatte sicherheitshalber immer eine Powerbank in der Tasche, falls der Akku einmal schlappmachen sollte. Nachts lag das Telefon voll auf Empfang dort, wo es niemals sein sollte: auf dem Nachtschrank, direkt neben dem Kopfkissen.

 

In dieser Nacht lagen dort zwei Handys. Enno und Kaja hatten laut lachen müssen, als sie gemeinsam in das Schlafzimmer ihrer Dreizimmerwohnung getreten waren und beide als Erstes die Telefone aus den Taschen gezogen hatten. »Ich muss …«, hatte Enno zur Entschuldigung angesetzt, und Kaja vollendete den Satz: »Ich auch.« Danach hatten sie sich ausgezogen, wobei Kaja darauf achtete, dass sie immer genauso viele Kleidungsstücke wie Enno anhatte. Als sie schließlich beide nackt waren, hatte er sie sanft in Richtung Bett gedrückt und versucht, sich auf sie zu legen. Kaja hatte sich das gefallen lassen, die Stellung aber nach ein paar Minuten gewechselt. Ihr Kampf um Gleichberechtigung beschränkte sich nicht auf die Sprache, er ging im Bett weiter. Auch wenn sie ahnte, dass diese Art der Emanzipation wahrscheinlich die war, mit der Typen wie Enno am besten leben konnten.

Er war eine gute Wahl gewesen, und zum Glück hatte in den entscheidenden Minuten weder sein noch ihr Handy vibriert. Als alles vorbei war, hatte sie verstohlen in Richtung Telefon geschielt, allerdings nicht verstohlen genug. »Was hältst du davon, wenn wir beide unsere Mails checken?«, hatte Enno gesagt, und sie hätte ihn für seinen Vorschlag küssen können. Nein, sie tat es. So lagen sie nackt nebeneinander mit ihren Handys im Bett, und vor dem Einschlafen fragte Enno, ob sie ein Ladekabel für ihn hätte, sein Akku ginge zur Neige. Als sie das Licht ausmachten, blinkten die Bildschirme der Telefone kurz auf, als wollten sie den beiden eine gute Nacht wünschen. Kaja schlief so tief wie lange nicht mehr, was in ihrer hellhörigen Altbauwohnung mitten im Schanzenviertel nicht einfach war. Sie hatte sich vor einem Jahr bewusst entschieden, in den Stadtteil zu ziehen, den sie durch ihre Arbeit als Polizeireporterin so gut kannte wie wenige andere in Hamburg. Vis-à-vis lag das Politbüro, ein mondäner Bau, der seit Jahren von der linksalternativen Szene besetzt und immer wieder Ausgangspunkt für Krawalle war, die das bürgerliche Hamburg erschütterten. Als Randalierer und Terroristen während des G20-Gipfels Häuser und Autos in Brand gesetzt hatten und die Straßen rund um das Politbüro zu einem rechtsfreien Raum mutiert waren, war Kajas Wohnung so etwas wie die Zentrale für viele Hamburger Journalisten geworden, die von hier fotografierten, filmten, Texte schrieben und das WLAN nutzten, um alles so schnell wie möglich in die Redaktionen zu schicken.

 

Kurz nach zwei Uhr in der Nacht von Freitag auf Sonnabend war damals auch Lukas in ihre Wohnung gekommen, ein Lukas, den Kaja fast nicht erkannt hätte. Die sonst so sorgfältig gegelten Haare waren zerzaust, die Augen von den Wasserwerfern rot wie bei einem Allergiker zu Beginn der Heuschnupfensaison. Sie hatte Lukas einen nassen Waschlappen auf die Stirn gedrückt, ihm einen Gin Tonic gemacht und angeboten, sich in ihr Bett zu legen. Er war seit 72 Stunden im Dauereinsatz. Das war Kaja auch, aber es machte ihr nichts aus, sie brauchte diesen Kick, dieses Adrenalin, sie konnte nicht genug davon kriegen. Lukas dagegen konnte nicht mehr, sie sah es ihm an. Als alle anderen Kollegen gegangen waren, war er längst eingeschlafen.

Kaja hatte ihre Jeans ausgezogen und sich vorsichtig und leise neben ihn gelegt. »Schlaf gut, Lukas«, hatte sie geflüstert und für einen Moment überlegt, ob sie ihm einen Kuss geben sollte, wenigstens auf die Stirn. Lukas war durch ihre Bewegungen wach geworden. Er hatte die Augen aufgeschlagen, sich aufgerichtet und gesagt: »Was für ein Wahnsinn.« Dann hatten die beiden Reporter aus dem Schlafzimmerfenster hinaus in das Schanzenviertel gesehen, in dem es immer noch knallte und rauchte und brannte wie sonst in der Silvesternacht.

 

Irgendetwas piepte, und irgendetwas klingelte. Kaja griff instinktiv nach ihrem Handy und erwischte die Hand von Enno, der genauso automatisch nach seinem Telefon gesucht hatte. Er hatte einen Anruf, sie eine Nachricht.

»Enno hier«, sagte er. »Ja, verstanden, ich kann in einer Viertelstunde da sein. Hast du die Kollegen von der Spurensicherung benachrichtigt? Habe ich das richtig verstanden: Der Mann ist durch einen Stromschlag im Pool des Health Club ums Leben gekommen? Alles klar, bis gleich.«

Er sprang auf, was lustig aussah, weil er nichts außer dem Handy am Körper trug. »Ich muss …«, setzte er an, und Kaja vollendete erneut den Satz: »Ich auch«, sagte sie und zeigte ihm die WhatsApp, die sie bekommen hatte, so, dass er nicht sehen konnte, von wem: »Unklare Todesursache, Health Club, offenbar jemand, den man kennt.«

Enno grinste: »Dann können wir uns ja ein Taxi teilen.«

7

Der Sommelier hatte die Flasche ganz hinten in den Weinschrank gestellt, einen alten Korken fest in den Hals gedrückt und einen Zettel mit Tesafilm quer über das Etikett geklebt: »Nur für den Chef!« Der Wein war gestern bei der Feier einer Werbeagentur übrig geblieben, die offenbar gute Monate hinter sich hatte. Am Ende hatten fast 26000 Euro auf der Rechnung gestanden, und der Inhaber der Agentur hatte auf 30000 Euro aufgerundet, »Trinkgeld, ist doch selbstverständlich«. Nicht selbstverständlich war, dass am Ende des Abends eine nicht vollständig ausgetrunkene Flasche Château Lafite aus dem Jahr 1998 zurückgeblieben war. Niklas Claasen hatte sich entschieden, den exklusiven Wein mit seinen drei besten Freunden zu teilen. Nun war es nicht so, dass er eine Flasche dieser Preisklasse – in der Karte der Alster-Lounge wurde der Château Lafite mit zweitausend Euro geführt – oft getrunken hätte, und die Verlockung war groß. Aber Niklas liebte es zu teilen, großzügig zu sein war für ihn eine Art Lebensziel, und seine größte Sorge war, dass jemand ihm Knauserigkeit vorwerfen könnte.

Der Château Lafite würde deshalb eine der vier Flaschen sein, die Niklas an diesem Abend servieren würde, auch weil das Treffen mit Lukas, Julius und Clemens ein besonderes war. Wegen des G20-Gipfels, der Julius als Bürgermeister und Lukas als Reporter an die Grenzen ihrer Belastbarkeit gebracht und Niklas’ Alster-Lounge mehr Veranstaltungen als sonst beschert hatte, waren die Vier Flaschen seit zwei Monaten nicht mehr zusammenkommen. Das hatte es nicht gegeben, seit diese Variante eines Stammtisches existierte. Der Termin war grundsätzlich unumstößlich, auch für Julius, und mochte er zehnmal Erster Bürgermeister der Freien und Hansestadt Hamburg sein. Das Prozedere war simpel: Niklas suchte vier Flaschen aus, und die Freunde saßen so lange im Kaminzimmer der Alster-Lounge zusammen, bis der letzte Tropfen getrunken war. Weine zu finden, die allen schmeckten, war dabei nicht einfach. Lukas mochte vor allem Rieslinge, mit weniger Alkohol und etwas mehr Süße. Julius trank gern schwere Rotweine, mit vierzehn Prozent Alkohol aufwärts. Clemens war über die Jahre ein fanatischer Sauvignon-blanc-Fan geworden und deshalb dazu übergegangen, bei seinen Essen mit potenziellen Hauskäufern oder Hausverkäufern in der Alster-Lounge ausschließlich Cloudy Bay zu bestellen. Das war zwar der wahrscheinlich bekannteste Sauvignon blanc aus dem Mutterland der Rebsorte, also aus Neuseeland, aber auch ein ziemlich teurer. Niklas hatte Clemens verschiedene andere Weine empfohlen, die aus seiner Sicht mindestens so gut waren, aber deutlich günstiger. Doch Clemens blieb bei seiner Weinwahl so stur wie sonst im Leben, was auch daran lag, dass er die vielen Rechnungen, die er in der Alster-Lounge sammelte, von der Steuer absetzen konnte.

Niklas selbst hatte, seit er zusammen mit seinem Vater den exklusiven Club mit einem ebenso exklusiven Weinkeller gegründet hatte, so viele Weine probiert, dass er sie kaum richtig trank. Bei den Vier Flaschen stand für ihn immer ein Spucknapf auf dem Tisch, und wenn die Freunde den Gastgeber neckten, dass er ruhig das runterschlucken könne, was er für sie ausgesucht hatte, schüttelte Niklas meist den Kopf: »Leute, am Ende ist das immer noch Alkohol, auch wenn er fantastisch schmeckt.«

Neben dem Château Lafite hatte er für das Comeback der Vier Flaschen nach acht Wochen Pause einen Riesling von Eva Fricke ausgesucht, einer Winzerin, die aus Bremen kam und die er trotzdem für eine der besten Weinmacherinnen in Deutschland hielt, dazu einen »Männer-Rosé« aus der Provence und einen Sauvignon blanc aus Deutschland, von Eric Manz. Niklas gab nicht auf, obwohl er gesehen hatte, dass Clemens vor anderthalb Stunden mit einem Gast in die Alster-Lounge gekommen war und sich zu einem Caesar Salad wieder eine Flasche Cloudy Bay bestellt hatte. »Er lernt es nicht«, hatte Niklas vor sich hin gemurmelt, als er aus alter Gewohnheit den Wein probiert hatte, bevor der zu seinem Freund an den Tisch gebracht wurde. Am liebsten hätte er die Flasche nicht berechnet, aber darauf reagierte Clemens allergisch, zumindest wenn er einen Wein nicht zusammen mit Niklas und den anderen trank. »Wir wissen, dass du das Geld nicht brauchst«, hatte Clemens Niklas einmal gesagt. »Aber wir wollen nicht Typen sein, die ihren Freund ausnutzen. Selbst dann nicht, wenn er der einzige Sohn des drittreichsten Unternehmers Deutschlands ist.« Niklas’ Vater, Niklas Claasen senior, hatte mit seinen Reedereien und Speditionen ein unvorstellbares Vermögen gemacht, das das Manager Magazin auf 14 Milliarden Euro schätzte. Niklas junior wusste nicht, ob die Zahl stimmte, sie schien ihm absurd hoch zu sein. »Haben kommt von Behalten«, hatte Niklas senior seinem Sohn so oft gesagt, bis dieser den Satz nicht mehr hören konnte und beschloss, dass einer in der Familie damit anfangen musste, die Milliarden auszugeben. Das war er.

Auch deshalb hatte er die Alster-Lounge übernommen, ohne das, was sein Vater einen Business-Plan nannte. In den ersten beiden Jahren hatte der Club hohe Verluste gemacht, inzwischen war die Zahl der Mitglieder auf knapp eintausend gestiegen, mehr wollte Niklas nicht. Sechshundert standen auf einer Warteliste, und wenn die zweite Hälfte des Jahres 2017 so weiterlief wie die erste, und Niklas sah nichts, was dagegensprach, würde er es mit einem Rekordgewinn abschließen. Das war nicht sein Ziel gewesen, aber sein Vater hatte stolz befunden: »Einmal Claasen, immer Claasen«, und ihn gefragt, ob er nicht doch ins Familienimperium einsteigen wolle. Doch das hatte der Junior für alle Zeiten ausgeschlossen, selbst wenn der Vater damit drohte, sein gesamtes Vermögen in eine Stiftung zu überführen. Geld war nun einmal nichts, was seinen Sohn interessierte.

 

»Bin gespannt, wann die beiden heute Abend kommen.« Es war 19.45 Uhr, als Clemens zu Niklas ins Kaminzimmer trat, ein Glas mit einem Schluck Cloudy Bay in der Hand, und auf einem der Ledersessel Platz nahm. So war es immer: Niklas und Clemens waren die Ersten, sie machten den oder die Rotweine auf und dekantierten sie, manchmal taten sie das auch mit den Weißweinen. Niklas stellte vier Gläser auf den kleinen Holztisch zwischen den Sesseln, Clemens füllte das Eis in den Weinkühlern nach, und dann erzählte der eine von den Häusern, die er verkaufen wollte, und der andere überlegte, welches Mitglied der Alster-Lounge daran Interesse haben könnte. Wenn Niklas für jeden Kunden, den er Clemens vermittelt hatte, eine Provision kassiert hätte, wäre er ein reicher Mann – wenn er nicht schon ein sehr reicher Mann gewesen wäre.

Die beiden waren es gewohnt, die ersten fünfzehn Minuten, manchmal eine halbe Stunde unter sich zu sein, bis Lukas und Julius eintrafen, meist in dieser Reihenfolge. Der Tag eines Journalisten war ebenso schwer planbar wie der eines Bürgermeisters, deshalb hatten Niklas und Clemens Verständnis dafür, dass die Freunde so gut wie nie pünktlich kamen. Und deshalb waren sie auch sehr überrascht, als Lukas Hammerstein um eine Minute nach 20 Uhr plötzlich im Kaminzimmer stand.

»Alter …«, sagte Niklas.

»… was machst du denn schon hier?«, beendete Clemens den Satz, und es klang, als würde zwischen der tiefen Stimme des einen und der quietschigen Stimme des anderen mehr als eine Oktave liegen.

»Man nennt es Sabbatical.« Lukas drückte erst Clemens und dann Niklas an sich und nahm in dem Sessel direkt neben dem Alster-Lounge-Chef Platz. »Und ich kann noch nicht sagen, ob es weniger anstrengend ist als ein Reportereinsatz während G20.«

»Was ist mit deinen Haaren los? Biste über Nacht weiß geworden?«, fragte Niklas und zeigte auf eine Reihe Flecken und Strähnen auf Lukas’ Kopf.

»Ich habe die vergangenen Tage damit verbracht, Tapeten abzureißen und Wände zu verputzen und zu streichen. Dazwischen habe ich einen Dackel ausgeführt, der auf jeden Hund losgeht, der größer ist als er selbst, also auf jeden.« Lukas trank einen Schluck Wasser. »Jetzt komme ich direkt von der vorletzten Sitzung des Geburtsvorbereitungskurses, in dem uns die Hebamme eröffnet hat, dass wir uns an all das, was sie in den vergangenen Wochen erzählt hat, während der entscheidenden Stunden sowieso nicht erinnern werden. Weil man zu aufgeregt sei und weil sowieso alles ganz anders komme, als wir das gelernt haben. Das Einzige, was ich mir gemerkt habe, ist: Wenn plötzlich ein Arzt in den Kreißsaal kommt, ist das kein gutes Zeichen …«

»Dein Sabbatical hat schon begonnen?«, unterbrach ihn Clemens.

»Wie rührend du über das Leben eines der besten Freunde Bescheid weißt«, sagte Lukas. »Ein Drittel ist fast rum.«

»Krass«, sagte Clemens, »und vermisst du die Arbeit?«

»Wie gesagt: Ich habe nicht das Gefühl, dass ich weniger tue, und ich weiß nicht, wie ich die To-do-Listen von Lilli abarbeiten soll, ohne das Sabbatical um mindestens zwei Monate zu verlängern … Aber zu den wichtigen Fragen des Lebens, meine Freunde: Was trinken wir heute?«

Niklas zeigte drei der vier Weine: den Riesling, den Rosé aus der Provence, der von dem Weingut stammte, das der Schauspieler Brad Pitt gekauft hatte, und den Sauvignon blanc.

»Hatten wir nicht immer vier Flaschen?«, fragte Lukas spöttisch.

»Überraschung«, antwortete Niklas. »Wollen wir mit dem Rosé starten, oder wollen wir noch auf den Bürgermeister warten?«

»Der Herr Bürgermeister wird ein paar Minuten brauchen«, sagte wie aufs Stichwort ein Mann, dessen Eintreffen keiner der drei Freunde bemerkt hatte. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Landeskriminalamtes, kurz LKA, die für die Sicherheit von Julius Wolff sorgten, hatten die Eigenheit, wie aus dem Nichts aufzutauchen und in Gebäude zu gelangen, obwohl sich niemand erinnern konnte, sie hereingelassen zu haben. Manchmal machten sich Clemens, Niklas und Lukas einen Spaß und beobachteten von der Dachterrasse der Alster-Lounge aus, wie ihr Studienfreund, der inzwischen zu den wichtigsten und bekanntesten Politikern Deutschlands gehörte, den kurzen Weg vom gegenüberliegenden Rathaus in den Club zurücklegte. Vor ihm zwei Sicherheitsbeamte, hinter ihm zwei Sicherheitsbeamte und in der Mitte Julius selbst, der aussah, als würde er in einem unsichtbaren Panzer sitzen. Er brachte die Beamten des Landeskriminalamtes immer mit in die Alster-Lounge. Einer postierte sich vor der Tür des Kaminzimmers, die anderen saßen in einem Nachbarraum, in den Niklas stets etwas zu essen, ein paar Flaschen Wasser, einen Rot- und einen Weißwein stellen ließ. Die Weine waren noch nie angerührt worden.

»Vielen Dank, wir warten«, sagte Niklas zu dem Sicherheitsmann, der genauso lautlos verschwand, wie er gekommen war. Eine Viertelstunde später wurde es unruhig auf dem Flur. Man konnte jedes Mal hören, wenn der Bürgermeister sich näherte, Türen wurden lauter als sonst aufgerissen, schnelle Schritte klangen über das Parkett, und dann war Julius da, oder zumindest das, was die G20-Tage und ihre politischen Nachwehen von dem Julius übrig gelassen hatten, den Niklas, Clemens und Lukas seit mehr als zwei Jahrzehnten kannten.

Wie euphorisch er gewesen war, als die Bundeskanzlerin ihn gefragt hatte, ob er sich vorstellen könne, mit Hamburg Gastgeber des Treffens der Staats- und Regierungschefs zu sein. Der amerikanische Präsident würde kommen, der französische auch, die Premierministerin Großbritanniens, die Herrscher von China und Russland, dieser unglaublich attraktive Premierminister Kanadas – und mittendrin Julius Wolff, für den sich G20 wie ein Vorgeschmack auf all das angefühlt haben musste, was in seiner politischen Karriere noch kommen konnte. Er hatte den Freunden bei einem sehr, sehr langen Weinabend vor drei oder vier Jahren verraten, dass er damit rechnete, eines Tages Kanzlerkandidat seiner Partei zu werden und dann, natürlich, Kanzler. Es hatte damals nur Rotweine gegeben und Julius deutlich mehr getrunken als sonst, gegen Mitternacht hatte er bis auf seinen Fahrer alle Sicherheitsbeamten nach Hause geschickt. Das Treffen dauerte bis vier Uhr morgens, was daran lag, dass Julius seine Pläne bis ins kleinste Detail ausbreitete und Niklas gegen die Regeln zwei zusätzliche Flaschen aufmachen musste. Am Ende waren alle betrunken, und Niklas, Clemens und Lukas verbuchten das, was Julius ihnen erzählt hatte, unter der Rubrik Weinlaune – »Schnapsidee passt nicht«, hatte Clemens gesagt und gegluckst.

Dabei hatte Julius die Sache mit dem Kanzler ernst gemeint, wie ernst, hatte die Begeisterung gezeigt, mit der er sich in die Planungen des Gipfels gestürzt hatte, und später die Bilder, die ihn mit dem US-Präsidenten auf dem Hamburger Flughafen zeigten. Julius sah aus, als wäre er bereits der Bundeskanzler. Die Freunde konnten nur ahnen, wie brutal die drei Tage für ihn gewesen sein mussten, die zwischen den Bildern vor der Air Force One und jenen der brennenden Autos und zerstörten Häuser in Hamburg lagen, nach denen es nur eine Frage gab: Wer trug daran die Schuld? Die Antwort war für viele: der Bürgermeister, der vor G20 versprochen hatte, dass sich niemand in der Stadt Sorgen um die Sicherheit machen müsse, dass viele gar nicht merken würden, dass es das Treffen gegeben hatte.

Es war ein Wunder, dass Julius diese Sätze und G20 bis heute politisch überlebt hatte, und es war nicht ausgemacht, dass das so bleiben würde. Mindestens ein Dutzend Journalistinnen und Journalisten recherchierten weiter, was vor und an den Tagen des Gipfeltreffens schiefgegangen war und welchen Anteil der Bürgermeister daran gehabt hatte. Julius Wolff sah aus, als hätte er seit Wochen nicht geschlafen, die sonst so stolzen, geraden Schultern hingen herab, am rechten Auge hatte sich ein unschöner Tränensack gebildet, vielleicht war es auch ein Gerstenkorn.