Ich lieb' dich überhaupt nicht mehr - Lars Haider - E-Book

Ich lieb' dich überhaupt nicht mehr E-Book

Lars Haider

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Beschreibung

"Amüsant geschrieben." dpa Endlich scheint Ruhe einzukehren in Lukas Hammersteins Alltag – was ist schon das bisschen Babygeschrei gegen die Mordaffäre, in die der Reporter zuletzt hineingeraten war? Doch als in Hamburg die Demonstrationen von Klimaaktivisten beginnen und sich Lukas' Freund Clemens ausgerechnet in das bekannteste Gesicht der Bewegung, Mara Altmeier, verliebt, ist es vorbei mit der Ruhe, denn offenbar lebt es sich in Aktivistenkreisen gefährlich: Erst stürzt ein Mann vom Hochhaus, dann wird Maras Freundin entführt, und schließlich entkommt sie selbst nur knapp einem Anschlag. Ehe sichs Hammerstein versieht, steckt er wieder mittendrin in einem Fall, bei dem er nur auf die Hilfe von Dackel Finchen und seinem treuen Kumpel Udo Lindenberg hoffen kann.

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Seitenzahl: 412

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Lars Haider

Ich lieb' dich überhaupt nicht mehr

Hammersteins zweiter Fall

Kriminalroman

Das ist aus, vorbei und lange her.

1

Das Erste, was sie sah, waren Augen. Riesige braune Augen. Ihre Augen. Mara starrte auf das Bild, das über ihr an der Decke hing, und das Bild starrte zurück. Es fiel ihr schwer, sich von dem Blick zu lösen, es war, als würde er fragen: Was machst du hier?

»Was mache ich hier?«, murmelte Mara und rappelte sich auf. Sie lag auf einer Matratze, in einem Raum, der ansonsten leer war. Sie hatte keine Ahnung, wie sie hierhergekommen war. Ihre Sneaker standen direkt neben der Matratze, ihre Socken mit der Aufschrift »Es gibt keinen Planet B« steckten darin. Sonst war sie vollständig angezogen, wenigstens das. Sie hatte unter einem weißen Leinentuch geschlafen. Wie lange? Auch das wusste sie nicht.

Es war so still in dem Raum, dass Mara ihre Frage laut wiederholte, als hoffte sie, von jemandem eine Antwort zu bekommen. »Was mache ich hier?« Langsam stand sie auf, zog ein Haarband aus der Hosentasche und machte sich einen Zopf. Erst dann sah sie es. Die Wände waren tapeziert mit Fotografien von ihr, Ganzkörperaufnahmen, einige fast lebensgroß, daneben Details, ihr Kopf, ihr Rücken, ihr Oberkörper, ihre Augen. Wohin sie sich auch wendete, Mara sah überall sich selbst: bei einer Demonstration vor dem Brandenburger Tor, im Gespräch mit dem französischen Präsidenten, festgekettet vor einem Kohlekraftwerk, in einer Talkshow, im Bikini am Meer. Es war, als wäre sie in ihr eigenes Fotoalbum gefallen, als wäre ihr Instagram-Kanal zu einer begehbaren Ausstellung geworden.

Mara hätte schreien können, und genau das tat sie auch. »Was! Mache! Ich! Hier!«, brüllte sie, stürzte sich wütend und verzweifelt auf das überdimensionierte Bikini-Bild und riss es mit solcher Wucht von der Wand, dass sie sich an einer scharfen Kante die Hand aufschlitzte. Blut tropfte direkt auf den fotografierten Bauchnabel, der die Attacke unbeschadet überstanden hatte. Doch Mara bemerkte die Verletzung nicht, sie starrte nur auf die Balkontür, die sie wie durch ein Wunder freigelegt hatte, zog sie auf und trat hinaus. Jetzt wusste sie, wo sie war. Vor einer Woche hatte sie genau hier oben mit Clemens gestanden und die Elbe entlanggeblickt, auf der ein Schaufelraddampfer dem Sonnenuntergang entgegen fuhr. Ein Tourist winkte in ihre Richtung, und Mara winkte instinktiv zurück.

Sie musste Clemens anrufen und den Mann vom Landeskriminalamt, der für ihre Sicherheit zuständig war, oder am besten gleich diesen Kripochef, den mit der Hypnose. Und … Wo war ihr Handy? Mara klopfte ihre Hosentasche ab, spürte eine EC-Karte, sonst nichts. Sie ging zurück ins Haus, riss das Betttuch ab, schaute unter die Matratze. Doch da war nicht einmal Staub. Das Parkett sah aus wie frisch verlegt, so wie sie es in Erinnerung hatte, seit Clemens ihr die Wohnung in der HafenCity gezeigt hatte.

Hatte er sie hierhergebracht? Und wenn ja, warum? Sie musste hier raus, so schnell wie möglich.

An der Wohnungstür hing eine Tasche, die aussah wie … Es war ihre. Wo die Tasche war, musste ihr Handy sein. Sie griff hinein, holte das Telefon heraus und wollte es einschalten, als sie Schritte in ihrem Rücken hörte. Mara traute sich nicht, sich umzudrehen. Sie griff zur Klinke und wollte die Tür aufziehen, als hinter ihr eine Stimme sagte: »Du musst keine Angst haben.«

Aber genau die hatte Mara Altmeier in diesem Moment wie noch nie in ihrem Leben.

2

Als er im Auto saß, kam es Lukas komisch vor, seine Frau im Krankenhaus zurückgelassen zu haben. Aber Lilli hatte es so gewollt. Sie hatte ihr Glücks-T-Shirt zu Hause vergessen. »Du musst es holen, ohne dieses Shirt gehe ich ganz sicher nicht in den Kreißsaal«, hatte sie verkündet und sich gleich darauf mit schmerzverzerrtem Gesicht den Bauch gehalten, den eine Wehe durchzog. »Bist du sicher?«, hatte Lukas gefragt und war, weil er die Antwort kannte, in Richtung Parkplatz losgelaufen. Wenn die Straßen an diesem milden Oktoberabend frei waren, konnte er in einer Dreiviertelstunde zurück sein.

Er war aufgeregt. Zur Beruhigung hatte er im Autoradio die Playlist mit Balladen von Udo Lindenberg angemacht. Lukas konnte es nicht messen, aber er wusste, dass Udos Stimme seinen Puls verlangsamen würde, seine Atmung wurde schon ruhiger. »Getrampt oder mit’m Moped oder schwarz mit der Bahn«, sang er und dachte, wie unfassbar schön das Leben doch war, und wie verrückt. In den nächsten Stunden würde er zum ersten Mal Vater werden, und er? Hatte nichts Besseres zu tun, als von zu Hause ein bestimmtes T-Shirt zu holen. Sein Handy piepte. Lilli. »Beeil dich. Wehen alle zehn Minuten.«

Als er zurück im Krankenhaus war, musste es schnell gehen. Lilli konnte das Glücks-T-Shirt nicht mehr allein anziehen, auf dem Weg in den Kreißsaal krümmte sie sich alle zehn Meter. »Es tut so weh!« Hinter der magischen Tür kam Lukas sich wie ein Unbeteiligter vor, er wurde vom stolzen werdenden Vater zu einem, der allen im Weg stand: der Hebamme, die Lillis Fruchtblase zum Platzen brachte, worauf sich ein Schwall grüner Flüssigkeit vor Lukas’ Füßen ergoss; dem Krankenpfleger, der seine Frau für den plötzlich erforderlichen Kaiserschnitt in den Operationssaal schob; dem Chefarzt, der ihm eine OP-Hose, ein OP-Hemd und eine Haube fürs Haar in die Hand drückte: »Ausziehen, anziehen, mitkommen.« Acht Minuten später war Jonathan auf der Welt, zweiundfünfzig Zentimeter lang, viereinhalb Kilogramm schwer. »Ein Glück«, hatte der Chefarzt gesagt, »dass Sie den nicht auf normalem Weg bekommen haben.«

 

»Lukas?«

Lukas Hammerstein schreckte auf.

»Schatz, kommst du?« Lilli klopfte an die Fensterscheibe und zeigte auf ihre Armbanduhr.

Lukas saß wieder in seinem Auto, doch das stand nicht vor der Geburtsklinik, sondern vor der St.-Michaelis-Kirche, dem Wahrzeichen Hamburgs, das die Menschen hier Michel nannten. In fünf Minuten sollte die Taufe beginnen. Lilli war vorhin mit ihren und seinen Eltern vorausgegangen, Lukas war im Auto geblieben, um Finchen zu beruhigen. Die Dackeldame seiner Schwiegereltern durfte nicht mit in die Kirche, aber zu Hause hatten sie sie auch nicht lassen wollen. Finchen sollte im Auto warten. Der Fußraum vom Beifahrersitz war ihr Lieblingsplatz, normalerweise konnte man sie dort stundenlang zurücklassen, ohne dass sie auch nur einmal jaulte. Außer heute.

Bei der Abfahrt hatte Finchen nicht ins Auto hineingewollt, jetzt wollte sie um jeden Preis wieder raus. Minutenlang bellte die Dackeldame so laut, dass Lukas befürchtete, sie würde die Michel-Glocken übertönen, die zum Gottesdienst läuteten. Dann hatte der Hund angefangen, wie wild Boden, Sitze und Türen des Wagens abzulecken, eine Marotte, von der niemand wusste, woher sie rührte, und gegen die normalerweise nur drei, vier gezielte Schüsse aus der Wasserpistole halfen. Doch diese Pistole hatte Lukas »natürlich nicht dabei« – er betonte diesen Halbsatz anders als die genervte Lilli – und musste deshalb versuchen, Finchen mit herkömmlichen Mitteln zu beruhigen: Streicheln, auf den Arm nehmen, wieder streicheln – so ging das insgesamt fünfzehn Minuten, bis Finchen sich halbwegs beruhigt hatte. Eine Zeit, in der die Gedanken von Lukas auch deshalb abschweiften, weil inzwischen Julius Wolff und Udo Lindenberg am Michel angekommen waren.

Der Bürgermeister und der Sänger waren nach der Geburt von Jonathan noch vor den Großeltern im Krankenhaus gewesen. Was auch daran lag, dass das Baby mitten in der Nacht, um kurz vor dreiundzwanzig Uhr zur Welt gekommen war, also zu einer Zeit, wo Omas und Opas schliefen, Rockstars aber nicht. Lukas hatte an Verwandte und Freunde eine SMS mit den Worten »Jonathan ist da« geschrieben. Drei Stunden später hatte eine junge Krankenschwester ihren Kopf zur Tür hereingesteckt und ungläubig gemurmelt: »Hier draußen steht einer, der aussieht wie Udo Lindenberg, er sagt, er will zu Ihnen.« Ihre Kollegin brachte am nächsten Morgen Julius Wolff, den Hamburger Bürgermeister, ins Zimmer. »Was müssen die von uns denken?«, hatte Lilli gefragt.

Udo hatte vor Lillis Bett seine dunkle Brille abgenommen und einen Handkuss angedeutet. Dann hatte er Lukas gedrückt, »Lucky Luke, Vater des Glücks« genuschelt und sich über das Bettchen gebeugt, in dem Jonathan lag. »Ein kleener Trommler«, hatte Udo gesagt, zwei winzige Trommelstöcke aus seiner Tasche gezaubert und vorsichtig auf der Matratze platziert: »Früh übt sich, wer ein Panikrocker werden will.«

Julius Wolff hatte einen Blumenstrauß für Lilli mitgebracht und für Jonathan eine Spieluhr, aus der eine Instrumentalversion von Lindenbergs »Durch die schweren Zeiten« erklang. Lukas liebte das Lied, und als er die ersten Töne hörte, glaubte er, auch in Julius’ Augen etwas Feuchtes zu erkennen. Das war der Moment, in dem er beschloss, dass der Bürgermeister wie Udo Jonathans Patenonkel werden sollte.

 

Die Glocken des Michels schlugen zwölfmal. Der Altarraum war mit Kordeln abgesperrt, an den Eingängen wachten Sicherheitsleute darüber, dass keine Fotografen hineinkamen. So gern Lukas Journalist war, so ungern wollte er, dass Klatschmagazine eine Story daraus machten, dass die Patenonkel seines Sohnes ein berühmter Rockmusiker und ein Politiker waren, der eines Tages Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland werden wollte.

Lilli hielt Jonathan über das Taufbecken, als der Hauptpastor des Michels mehrere Hände voll Wasser über die Stirn des Kleinen laufen ließ. Lukas musste schlucken, Udo zog die dunkle Sonnenbrille vorn auf die Nasenspitze und guckte darüber hinweg, und Julius zuckte erschrocken zusammen, als Jonathan laut anfing zu schreien. »Da weiß aber einer, was er will«, bemerkte der Pastor. »Wohl eher, was er nicht will«, flüsterte Lilli. »Ganz der Vater.«

Lukas hatte die Taufgemeinde zu einem Mittagessen in die Alster-Lounge einladen wollen, die seinem Freund Niklas Claasen gehörte. Er hätte den Hammersteins einen Freundschaftspreis gemacht, aber Lilli wollte nicht in dem Business-Club unweit des Rathauses feiern. Stattdessen hatte sie sich nach dem Ende der kirchlichen Zeremonie den wahrscheinlich skurrilsten Programmpunkt überlegt, den es jemals in der Geschichte christlicher Taufen gegeben hatte: Alle Gäste sollten sich der großen Demonstration gegen den Klimawandel anschließen, die für den späten Vormittag angesetzt war und direkt am Michel vorbeiführte. »Das sind wir Jonathan und allen anderen Kindern schuldig«, hatte Lilli bei der Planung der Taufe in einem Tonfall zu Lukas gesagt, der keinen Widerspruch duldete.

 

Es war Zufall, dass die Geburt des ersten Hammerstein-Sohnes mit dem Aufblühen der Fridays-for-Future-Bewegung zusammentraf, aber einer, der das Leben der Familie noch stärker verändern sollte, als es ein Baby sowieso getan hätte. Lilli und Lukas waren immer bemüht gewesen, ökologisch korrekt zu leben: Sie hatten den Müll gewissenhaft getrennt, Busse und Bahnen benutzt und wären niemals auf die Idee gekommen, von Hamburg nach München mit dem Flugzeug zu reisen. Lukas fand das ganz ordentlich, doch dann war Lilli mit Jonathan durch Zufall in eine Demonstration von Schülerinnen geraten – es waren vor allem Mädchen, die an einem Freitagvormittag den Unterricht schwänzten und stattdessen durch Eppendorf zogen, den Stadtteil, den die Hammersteins ihr Zuhause nannten. »Wir sind hier, wir sind laut, weil ihre uns die Zukunft klaut!«, hatten sie gerufen und damit bei Lilli etwas ausgelöst, das einem Erweckungserlebnis gleichkam. Sie besorgte sich Bücher über den Klimawandel und seine Folgen und blätterte darin mehr als in den Ratgebern für frischgebackene Mütter, die Lukas ihr geschenkt hatte. Eines Tages schickte sie ihm per WhatsApp das Bild einer jungen Frau, die bei mehreren Freitagsdemonstrationen als Rednerin aufgetreten war und die aus Hamburg kam. Sie hieß Mara Altmeier und plante am Tag der Taufe einen großen »Klimastreik« in der Stadt. Lilli war der festen Überzeugung, dass die Hammersteins dabei sein müssten. »Aber …«, hatte Lukas gesagt. »Kein Aber«, war ihre Antwort. »Lukas, wir sind jahrelang munter durch die Gegend gejettet, Hawaii hier, Thailand dort. Was willst du Jonathan erzählen, wenn er dich in zwanzig Jahren fragt, was wir eigentlich gegen den Klimawandel unternommen haben? Dass wir an seinem Tauftag von der Terrasse der Alster-Lounge aus mit einem Glas Wein in der Hand zugeguckt haben, wie andere versucht haben, die Welt zu retten? Ohne mich.«

Also schlossen sich die Taufgäste nach der Zeremonie mehr oder weniger begeistert der Demo an. Nur Clemens Engel war vollkommen in seinem Element.

Er hatte zusammen mit Julius, Niklas und Lukas in der Studentenzeit die sogenannte Weltverbesserer AG gegründet und war schon immer der Radikalste der vier gewesen, einer der schärfsten Kritiker des Kapitalismus, den Lukas kannte. Nicht umsonst waren die anderen Weltverbesserer erstaunt gewesen, als Clemens ihnen nach dem Studium – und einer missglückten Karriere als Musiker – erklärt hatte, dass er vorhabe, Makler zu werden. »Ist Makler nicht der mit Abstand kapitalistischste Beruf, den es auf diesem Planeten gibt, gleichauf mit Investmentbanker?«, hatte Niklas gefragt. Genau deshalb werde er ihn ergreifen, hatte Clemens geantwortet: »Ich«, hatte er gesagt, »werde der Robin Hood unter den Maklern sein.«

Fridays for Future war für Clemens ein Glücksfall. Endlich war er in seinem Aufbegehren gegen den Kapitalismus nicht mehr allein. Er, der ewige Außenseiter, fand sich plötzlich inmitten vieler junger Menschen, die so redeten, dachten und handelten wie er. Seine alten Freunde hatten ihn nie euphorischer erlebt, es ging so weit, dass er der Organisation größere Teile seines Büros in der HafenCity als Kommandozentrale zur Verfügung stellte.

Dort hatte er auch Mara Altmeier kennengelernt, die die Demonstration durch die Hamburger Innenstadt anführte und hinter die sich Lilli sogleich mit der Taufgemeinde drängte, Jonathan im Kinderwagen vorneweg. Der Täufling hatte seinen Schnuller bekommen, alle Gäste eine Trillerpfeife. Clemens hielt ein Plakat mit der Aufschrift »Makler for Future« in die Höhe, Udo hatte sich mit einer Schirmmütze getarnt, und Lilli schrie die Parolen der Schülerinnen und Schüler, als würde sie nicht das Taufessen ihres Sohnes, sondern die sechste Stunde Mathe schwänzen. Lukas bewunderte die Leidenschaft seiner Frau, zugleich war es ihm unangenehm, als Journalist an vorderster Front mit denen zu marschieren, über die er eigentlich unabhängig berichten sollte. Er zog sein »Make the world green again«-Cappy tief in die Stirn und hoffte, dass er sein Foto nicht am nächsten Morgen in den Hamburg News oder einer anderen Zeitung abgedruckt finden würde. Leider marschierte er genau hinter dieser Mara, vor der ein Fotograf mit einer Jacke herlief, auf der in Großbuchstaben »Presse« stand, und der nicht aufhörte, auf den Auslöser zu drücken.

3

Er hatte als Kind gern genäht. Seine Großmutter hatte es ihm beigebracht, und sie wäre stolz gewesen, wenn sie seine Jacke gesehen hätte. Sorgfältig hatte er die Buchstaben aus Filz ausgeschnitten und dann mit der Nadel draufgenäht. P, R und E links vom Reißverschluss, S, S und E rechts. Er fand, dass das Ergebnis sehr professionell aussah, genau wie die drei kleinen F auf der Rückseite des Kragens. Seine Ausrüstung tat ihr Übriges. Die beiden Kameras, zwei Objektive und die geräumige Tasche ließen ihn wie einen Fotografen aussehen, der Bilder für eine Zeitung oder ein Nachrichtenportal machte. Was er nicht tat.

Vor zwei Monaten hatte er auf Facebook gelesen, dass die Hamburger Fridays-for-Future-Gruppe einen Fotografen suchte. Er hatte sich gemeldet und war zu einem Treffen in ein schickes Büro in der HafenCity eingeladen worden, in der so etwas wie eine Kommandozentrale der Bewegung zu entstehen schien. Alle redeten sich mit Vornamen an, also hatte er sich als Henri vorgestellt – seinen richtigen Namen fand er zu altmodisch. Henri hatte gehofft, dass er ein paar Fotoaufträge bekommen und damit etwas Geld verdienen könnte, aber Fridays for Future suchte jemanden, der den Job umsonst machte.

»Umsonst?«, hatte Henri gefragt.

»Nein, nicht umsonst. Dein Lohn ist, dass du hilfst, die Welt zu retten«, hatte eine junge Frau geantwortet, die laut Namensschild Frida hieß. Die meisten, die hier Plakate malten, Aktionen planten oder Nachrichten auf verschiedenen Plattformen posteten, waren junge Frauen, Henri zählte nur eine Handvoll Jungs. Er war mit seinen dreiunddreißig Jahren einer der Älteren und hatte auch deshalb das Gefühl, hier nicht hinzupassen.

Bis er Mara erblickte.

Sie hatte an einer Pinnwand im hinteren Teil des Raumes gestanden, zusammen mit einer Frau, die Henri auf Mitte vierzig schätzte. Vielleicht gehörte die zu den »Müttern für Fridays«, dachte er, und dann: Das ist gar keine Frau, das ist ein Mann, der mit einem Mädchen mit langen dunkelbraunen Haaren den Kopf zusammensteckte, seine Hand auf ihrer Schulter. Der Typ, Henri war sich trotz seiner hohen Stimme nach ein paar Minuten endgültig sicher, dass es sich um einen Mann handelte, redete ununterbrochen auf sie ein. Irgendwann hatten sich beide umgedreht und waren direkt auf Henri zugekommen, mit zwei Bechern in der Hand, um frischen Kaffee zu holen. Als er zum ersten Mal ihr Gesicht sah, die Augen mit den dichten Brauen, den Leberfleck auf dem rechten Nasenflügel, den gesunden Teint und die vollen, ungeschminkten Lippen, wurde Henri blass. In seinen Ohren fing es an zu pfeifen, es fühlte sich an, als würde der Raum um ihn schwanken, er hatte Angst, dass er gleich in Ohnmacht fallen würde. Das konnte nicht sein. Henri stützte sich an einem Stuhl ab, der neben ihm stand, und starrte auf die Frau, die ihren Namen auf einer Art Ausweis um den Hals trug: Mara. Mara? Mara! Henri hätten schreien können, was hier passierte, war Wahnsinn. Ein Traum.

»Alles in Ordnung mit dir?«

Mara war kurz bei Henri stehen geblieben und hatte ihn angesprochen. Als der nicht reagierte, hatte sie an seiner Schulter gerüttelt, erst leicht, dann immer stärker, und ihre Frage lauter wiederholt: »Alles in Ordnung mit dir?«

»Alles in Ordnung«, hatte Henri geantwortet und war endlich in Ohnmacht gefallen.

 

Es verging kein Tag, an dem er nicht mehrfach an diesen Moment denken musste, der sein Leben verändert, der ihm eine zweite Chance geschenkt hatte. Eine Chance, die er nutzen wollte. Es hieß, dass Geschichte sich nicht wiederholte, aber seine Geschichte tat es, und er war fest entschlossen, dass der Ausgang diesmal ein anderer sein würde. Diesmal würde es gut ausgehen. Er lachte. Hatte ihm Mara zugezwinkert? Sie führte die Demonstration durch die Hamburger Innenstadt an, hatte Charlotta rechts untergehakt und Frida links, oder war es Anna? Henri brachte die Zwillingsschwestern immer durcheinander. Er setzte die Kamera an, blickte durch den Sucher und sah Maras Gesicht direkt vor sich. Henri drückte auf den Auslöser. Wenn er sie fotografierte, dann war das ein behutsamer, fast zärtlicher Akt. Er zog das Bild ein wenig auf und sah nun, dass der Mann, den er erst für eine Frau gehalten hatte, in der Reihe hinter Mara ging. Er hieß Clemens, war Makler, wirklich älter als vierzig, und Henri nahm ihm nicht ab, dass es ihm nur um die Sache ging. Er hatte nämlich von seiner Großmutter nicht nur den Spaß am Nähen, sondern auch eine ziemlich gute Menschenkenntnis geerbt. Seine Oma war Psychologin gewesen, Henri hatte immer das Gefühl gehabt, dass sie ihm nur in die Augen schauen musste, um zu wissen, wie es ihm ging und was ihn beschäftigte. Ähnlich war es bei ihm mit diesem Clemens: Wenn er ihn ansah, dann erkannte er einen mittelalten Mann, der in eine viel jüngere Frau verliebt war. Henri wusste nicht, ob Mara das registriert hatte, aber er nahm es an, klug wie sie war. Er glaubte nicht, dass sie die Gefühle erwiderte, vielleicht spielte sie vielmehr damit, spielte mit Clemens, weil sie bei Fridays for Future sein Büro und seine Kontakte gut gebrauchen konnten.

Er machte ein Foto, auf dem Clemens den Mund aufriss, als wollte er eine Banane in voller Breite essen, und bekam eine junge Mutter mit drauf, die einen Kinderwagen vor sich herschob. Sie sah aus, als ob sie Clemens kannte, auf jeden Fall gingen die beiden eng beieinander. Durch sein Objektiv konnte Henri beobachten, wie sie sich hin und wieder Blicke zuwarfen, die Vertrauen signalisierten. Er schwenkte mit der Kamera weiter nach rechts, was nicht leicht war, weil er die ganze Zeit rückwärtsgehen musste, um immer fünf, sechs Meter vor dem Zug zu bleiben. Neben Clemens und der Frau tauchte ein Mann vor der Linse auf, der einen Dackel auf dem Arm trug und offenbar große Schwierigkeiten hatte, diesen ruhig zu halten. Henri zoomte dichter heran. Der Mann hatte Schweißperlen auf der Stirn, das Tier war groß, bestimmt zehn, zwölf Kilogramm schwer, und es zappelte so sehr, dass es jeden Moment herunterfallen könnte. Henri machte ein paar Bilder, die Szene war witzig, dann schwenkte er zurück und suchte wieder Mara durch das Objektiv, es dauerte ein wenig, bis er sie eingefangen hatte. Der Zoom war so eingestellt, dass Henri in ihre überlebensgroßen Augen blickte, und es gab nichts, was ihn glücklicher machen konnte als dieser Anblick. Er drückte ab, immer und immer wieder, auf seiner Kamera reihte sich ein Augenpaar an das nächste. Henri würde sie auf Plakatgröße ausdrucken, nicht für Fridays for Future, für die er offiziell auch bei dieser Demonstration im Einsatz war, sondern für sein inoffizielles Projekt. Er zoomte wieder raus, bis er fast die kompletten ersten zehn Reihen der Demonstranten im Blick hatte. Die Fotos, die er machte, fand er langweilig, aber er hatte gelernt, dass die bei Fridays for Future auf diese Art Aufnahmen standen. Sie liebten es, wenn Bilder die Demos noch größer erscheinen ließen, als sie es waren, wobei das heute gar nicht nötig war. Henri konnte das Ende der Masse, die sich auf ihn zubewegte, nicht erkennen, irgendwer hatte durch ein Megaphon durchgegeben, dass es dreißigtausend Menschen seien, mindestens.

voraus.

Er wollte ein paar Bilder aus einer höheren Perspektive machen. Erfreut stellte er fest, dass auf einem Mauervorsprung direkt an der Willy-Brandt-Straße ein Platz frei war. Henri hievte sich hinauf und hatte Mühe, das Gleichgewicht zu halten, beinahe wäre er direkt auf der anderen Seite wieder heruntergefallen. Ein Kameramann vom NDR, der ebenfalls hier oben stand, hielt ihn im letzten Moment fest.

»Danke, Kollege«, sagte Henri außer Atem, und der andere nickte ihm zu. Henri setzte den Fotoapparat an und machte ein paar Großaufnahmen, bevor er die Gesichter der jungen Leute aufzog. Hatte Mara ihn gesehen? Sie winkte in Richtung der Mauer, auf der er stand, und sicherheitshalber winkte er zurück, so gut es eben mit einer Kamera in der Hand ging. Henri wollte auf die Straße zurückspringen, um erneut vor Mara zu gelangen, als er ein paar Reihen hinter ihr einen Typen erblickte, der hier eigentlich nichts zu suchen hatte. Henri wechselte sein Objektiv aus, so schnell er konnte. Mit der Tüte, die er nun draufhatte, konnte er jedes Nasenpiercing erkennen. Es dauerte ein paar Sekunden, bis er den Kerl herangezoomt hatte, dessen Gesicht er zuletzt vor einer Woche auf einem Treffen von Fridays for Future in der HafenCity gesehen hatte. Henri hatte den Namen vergessen, irgendwas mit G, aber er würde nie vergessen, wie dieser Typ ausgeflippt war, wie er rumgeschrien hatte und mit Mara aneinandergeraten war, die ihn schließlich gebeten hatte, das Büro zu verlassen und nicht wiederzukommen. Nun lief er mit verschränkten Armen zehn, fünfzehn Meter hinter ihr, und das gefiel Henri gar nicht. »Ich habe dich im Blick«, sagte er und drückte ab.

4

Lukas war um kurz vor acht Uhr einer der Ersten in der Hausarztpraxis gewesen. Die Sprechstundenhilfe hatte ihm ein Rezept in die Hand gedrückt, für das er in der Apotheke an der Straßenecke die Spritze mit dem Hinweis erhalten hatte, sie möglichst schnell zu benutzen. Das war vor einer guten Stunde gewesen. Seitdem saß Lukas im Wartezimmer. Zwischendurch hatte er unter das Pflaster an seinem Zeigefinger geguckt, in den ihn Finchen gebissen hatte. Die Wunde sah gar nicht schlimm aus, aber das hieß angeblich nichts. Hatte zumindest seine Schwiegermutter behauptet, als ihr Lukas die Verletzung zeigte, für die ihr geliebter Dackel verantwortlich war, den er bei der Fridays-for-Future-Demonstration auf den Armen getragen hatte. Finchen war von Minute zu Minute unruhiger geworden, und Lukas hatte große Schwierigkeiten gehabt, sie überhaupt festzuhalten – der Dackel hatte sich gewunden, gejault und angefangen, so hysterisch wie selten in seine Pfote zu beißen. Irgendwann konnte Lukas das nicht mehr mitansehen. Er hatte versucht, ihr die Pfote aus dem Maul zu ziehen, und dabei war es passiert: Einer von Finchens Schneidezähnen hatte sich in die Wurzel seines Zeigefingers gebohrt, Lukas hatte vor Schmerz aufgejault und hätte den Hund mit Sicherheit fallen gelassen, wenn sein Schwiegervater nicht sofort zur Stelle gewesen wäre. »Kannst du nicht aufpassen«, hatte der ihn angeschnauzt, bevor er sich wie ein Rettungssanitäter mit dem verschreckten Tier den Weg aus der Menge bahnte, seine Frau vorneweg.

»Sie … hat … mich … gebissen«, hatte Lukas gequält hinterhergerufen und dann versucht, die Blutung mit einer Windel aus der Wickeltasche von Jonathan zu stillen. Das musste komisch ausgesehen haben – als Lilli kurz zu ihm herüberblickte, schüttelte sie den Kopf und murmelte etwas, das Lukas vor der enormen Geräuschkulisse als »Was hast du denn da schon wieder angestellt?« vernahm. Es konnte aber auch der Klassiker gewesen sein, also: »Stell dich nicht so an.«

 

Erst als sie wieder zu Hause waren, konnte Lukas die Wunde vernünftig säubern und verbinden. Seine Schwiegereltern warteten schon, und Finchen kam auf ihn zugelaufen, als wäre nichts passiert. »Sie hat dir verziehen«, sagte sein Schwiegervater gönnerhaft, und als er die Verletzung an Lukas’ Hand sah: »Die kleine Schramme ist ja nicht der Rede wert. Du bist doch gegen Tetanus geimpft, oder? Jeder Hundehalter ist gegen Tetanus geimpft, Elisabeth und ich waren erst vor einem Jahr zur Auffrischung, oder, Elisabeth?« Lukas’ Schwiegermutter beließ es nicht dabei, mit dem Kopf zu nicken, sondern zog wie zum Beweis ihren gelben Impfpass aus der Handtasche und blätterte bis zu der Seite, auf der die Tetanus-Impfung vermerkt war. »Das muss man eh alle zehn Jahre machen«, sagte sie, bevor sie den Pass wieder wegsteckte. »Ich habe ihn jetzt nur dabei, falls wir ihn auf der Reise brauchen.« Die Schusters, also Lillis Eltern und Lukas’ Schwiegereltern, waren im vergangenen Jahr zum ersten Mal auf Kreuzfahrt gewesen, und sie waren auf den Geschmack kommen: Statt sechs Wochen, wie bei der Premiere, wollten sie diesmal ein sattes halbes Jahr unterwegs sein. Das war etwas, wogegen Lukas prinzipiell nichts einzuwenden hatte, auch wenn sie die Hilfe der Großeltern seit der Geburt von Jonathan gut hatten gebrauchen können. Schwierig war nur, dass Elisabeth und Klaus wie bei Kreuzfahrt Nummer eins darauf bestanden, dass sich Lukas um ihren geliebten Dackel kümmerte. Also um den Hund, der ihm soeben, wenn er das alles richtig verstanden hatte, eine potenziell lebensgefährliche Verletzung zugefügt hatte. Denn Lukas konnte sich nicht entsinnen, in den vergangenen zehn Jahren gegen Tetanus geimpft worden zu sein, ebenso wie er keine Ahnung gehabt hatte, wo sich sein Impfausweis befinden könnte. Es hatte fast zwei Stunden gedauert, bis er das zerfledderte Teil in einem Aktenordner mit Zeugnissen aus der Grundschulzeit gefunden und mit Erschrecken festgestellt hatte, dass seine letzte Auffrischimpfung knapp zwölf Jahre zurücklag. Wahrscheinlich wäre er direkt ins Krankenhaus gefahren, wenn nicht Felix geklingelt und für Jonathan ein Taufgeschenk abgegeben hätte. Der Nachbar war Arzt und meinte, es würde genügen, wenn Lukas sich morgen früh in seiner Praxis am Klosterstern impfen lassen würde.

Dort saß Lukas nun und blickte zunehmend unruhig auf sein Handy. Es war Viertel nach neun, um 10.30 Uhr würde er in der Handelskammer neben dem Hamburger Rathaus sein müssen. Lukas hatte sich überreden lassen, eine Podiumsdiskussion mit dem Titel »Klimakollaps – übertreibt Fridays for Future?« zu moderieren. Wobei »überreden« untertrieben war. Ursprünglich hatte der alte Keil für die Podiumsdiskussion zugesagt, dann aber einmal mehr die Lust daran verloren. Er war seit fast zehn Jahren Chefredakteur der Hamburg News, für die Lukas arbeitete, und Lukas hatte viel Bewunderung für seinen Chef. Keil war ein belesener und kluger, inzwischen älterer Herr, der noch drei Jahre bis zum Ruhestand hatte. Er führte die Zeitung sehr konservativ und hanseatisch, misstraute allen Trends, zu denen er auch das Internet zählte, und ließ sich durch nichts aus der Ruhe bringen. Das hatte er mit dem Bürgermeister gemeinsam.

Was auch daran lag, dass der alte Keil, wie er von fast allen in der Redaktion genannt wurde, solange er nicht in der Nähe war, glaubte, in seinem journalistischen Leben alles gesehen zu haben. »Dinge scheinen nur denen neu, die sie noch nicht erlebt haben«, hatte er in einer Redaktionskonferenz gesagt, als es um das Aufkommen der Fridays-for-Future-Bewegung ging. Der alte Keil hatte die Angst vor dem Klimawandel in einem Leitartikel mit den Sorgen verglichen, die sich frühere Generationen wegen des sauren Regens oder des Ozonlochs gemacht hatten. »Alles schon mal dagewesen.« Kurz darauf hatte sein Vorzimmer bei Lukas angerufen und ihn gebeten, für den Chef die Moderation »dieser Klimadiskussion« zu übernehmen, ihm sei etwas Wichtiges dazwischengekommen. Lukas wusste auch, was: Der alte Keil fand Fridays for Future nicht wichtig genug, um sich persönlich damit zu beschäftigen.

 

Sollte er am Empfang nachfragen, ob man ihn vergessen hatte? Das Handy zeigte 9:29 Uhr, langsam wurde Lukas unruhig. Hatte die Frau in der Apotheke nicht gesagt, dass die Spritze gekühlt werden müsse, wenn man sie nicht sofort verbrauche? Lukas hielt sich die Packung, die vielleicht sein Leben retten würde, an die Wange. Sie fühlte sich noch leicht kühl an, vielleicht war sein Gesicht aber auch besonders warm. Es führte kein Weg daran vorbei, er musste dringend drankommen. Heute Morgen beim Aufstehen hatte er noch kurz überlegt, seine Kollegin Kaja anzurufen und zu fragen, ob sie bei der Podiumsdiskussion für ihn einspringen könnte. Er hatte den Gedanken jedoch schnell verworfen, weil sie sich für alles, was sich um Fridays for Future drehte, nicht viel mehr begeistern konnte als der alte Keil.

Kaja Woitek war Polizeireporterin geworden, weil sie das Adrenalin brauchte, das ihr Körper ausschüttete, wenn sie mitten in der Nacht zu einem Einsatz gerufen wurde, zu einer Schießerei auf der Reeperbahn oder einer Messerattacke am Jungfernstieg. Sie liebte es, nach schweren Verbrechen, von denen es in Hamburg leider mehr als genug gab, tagelang zu recherchieren, auch wenn sie das den Schlaf kostete. Mit den vielen Schlagzeilen, die Fridays for Future produzierte, konnte sie dagegen nichts anfangen. Denn das Einzige, was der alte Keil von ihr wissen wollte, wenn mal wieder eine Demonstration anstand, war, welche Straßen dafür gesperrt wurden. »Das ist eigentlich nicht mein Job«, hatte sie beim letzten Mal mit zusammengepressten Lippen in Richtung Lukas gesagt, der ihr in den Redaktionsräumen der Hamburg News schräg gegenübersaß. »Ich bin hier, um über Mörder:innen und Einbrecher:innen zu berichten und nicht über Schüler:innen, die den Unterricht schwänzen. Wo sind die Praktikant:innen, wenn man sie mal braucht?« Kaja war die erste Kollegin bei den Hamburg News gewesen, die konsequent gegendert hatte, und trieb damit all jene, die ihre Texte gegenlesen mussten, in den Wahnsinn. Lukas hatte ihr Begriffe wie »Gebärende« (statt »Mütter«), »Abgeordnet:innen«, »Hundehaltende« und »Witwer:innen« gestrichen und damit jedes Mal lange Diskussionen provoziert, selbst wenn das jeweilige Wort erwiesenermaßen kompletter Quatsch war.

 

»Herr Hammerstein, bitte.«

Endlich. Lukas sprang auf, ließ dabei die Packung mit der Spritze fallen und wäre fast draufgetreten. »Aufgeregt?«, fragte die Arzthelferin, die das Ganze mitangesehen hatte.

»Nur etwas in zeitlichem Stress«, antwortete Lukas wahrheitsgemäß, zog sich das Hemd aus und setzt sich auf den Stuhl, den ihm die junge Frau zugewiesen hatte.

»Linker Arm?«

Lukas nickte.

»Ganz locker lassen, bitte.«

Der Einstich war kaum zu spüren, die Arzthelferin drückte anschließend ein kleines Stück Watte auf die Stelle. »Da sind Sie ja gerade noch rechtzeitig gekommen.«

»Kann man gegen Tetanus denn wirklich nichts mehr machen, wenn man sich einmal infiziert hat?« Lukas steckte den zerfledderten Impfpass zurück in seine Gesäßtasche.

»Nein. Leider sind die meisten Krankheiten, gegen die wir Sie hier impfen, potenziell tödlich.« Die Arzthelferin zog die Tür zum Wartezimmer auf. »Schönen Tag noch.«

Sie hatte auch noch gesagt, dass er heute besser keinen Sport treiben und aufpassen solle, nicht zu viel Sonne abzubekommen (in Hamburg!). Aber von Fahrradfahren war keine Rede gewesen. Lukas brauchte knapp fünfundzwanzig Minuten von Eppendorf in die Innenstadt, um zehn Minuten nach zehn Uhr war er in der Handelskammer. Clemens wartete schon auf ihn. »Ich wollte dich gerade anrufen.« Der Freund umarmte Lukas zur Begrüßung und drückte dabei etwas zu doll auf die Impfstelle. Lukas entfuhr ein »Aua!«, Clemens fragte: »Rücken?«, und Lukas antwortete: »Tetanus.« Sie gingen gemeinsam in einen Saal, in dem rund zweihundert Menschen warteten.

»Julius ist noch nicht da, oder?« Lukas sah zwar einen der Sicherheitsleute des Bürgermeisters, diesen selbst aber nicht.

»Er kommt um Punkt 10.30 Uhr«, Clemens senkte die Stimme, »und vorher würden wir gern noch mit dir etwas vertraulich besprechen.«

»Warum flüsterst du?«, fragte Lukas. »Und wen meinst du mit ›wir‹?«

»Mara und ich und die anderen«, sagte Clemens.

»Das heißt, du bist mit denen hier?« Lukas blieb kurz stehen. »In welcher Funktion?«

»Nennen wir es einmal Berater«, Clemens gab Lukas ein Zeichen, dass er ihm hinter die Bühne folgen möge, »und außerdem bin ich ja das wichtigste Gesicht von Makler for Future.«

»Und das einzige«, murmelte Lukas, als sie einen kleinen Raum betraten, in dem sechs junge Frauen standen. »Darf ich vorstellen: Mara, Frida, Laura, Anna, Karla und Clara.« Clemens zeigte von einer zur anderen, und Lukas musste unwillkürlich an das A-Team denken. Gab es heute keine Eltern mehr, die sich trauten, ihren Töchtern Namen zu geben, die nicht auf a endeten? Hatten Sophie und Kathrin das Rennen gegen Sophia und Katharina endgültig verloren? Lukas beschloss, dass mal Kaja als Thema vorzuschlagen, wobei: Kaja …

»Das ist Lukas Hammerstein von den Hamburg News, der heute freundlicherweise die Podiumsdiskussion moderieren wird«, sagte Clemens, als ob er selbst das eingefädelt hätte. »Wir sagen du, oder, Lukas?«

»Meinetwegen.« Seine Antwort hörte sich brummeliger an, als Lukas sie gemeint hatte.

»Hi, ich bin Mara, ich bin gleich mit auf der Bühne.« Das bekannteste Gesicht aus dem A-Team war einen Schritt auf Lukas zugetreten und streckte ihm die Hand entgegen.

»Hi, ich bin Lukas.« Er nahm die Hand, drückte sie leicht und blickte in die Augen einer Frau, die haargenau wusste, was sie tat und wie sie wirkte. Selbstbewusst und souverän.

»Mara hat eine Bitte an dich.« Clemens ging dazwischen. Die Art, wie er die junge Frau ansah, gefiel Lukas nicht. Sie war ihm zu schwärmerisch.

»Kein Problem, worum geht es?« Lukas wandte sich von Clemens wieder der Anführerin von Fridays for Future zu.

»Im Publikum sitzt ein Typ, mit dem wir in der vergangenen Woche einige Probleme hatten …«, sagte Mara.

»Links, vierte Reihe, direkt am Gang«, ergänzte eine andere Aktivistin, die, wenn Lukas sich richtig erinnerte, Frida hieß. Es konnte aber auch Anna sein, die beiden sahen sich sehr ähnlich. Zwillinge, dachte Lukas. »Hat die ganze Zeit die Arme verschränkt und guckt extrem böse. Ein mieser Kerl.«

»Es wäre schön, wenn du ihm nachher nicht die Gelegenheit geben würdest, Fragen zu stellen.« Mara hatte gewartet, bis Frida oder Anna fertig war. »Dem Gregor geht es nur darum, Ärger zu provozieren und uns und unserer Sache zu schaden. Der ist unberechenbar, und deshalb müssen wir vorsichtig sein.«

»Ich werde tun, was nötig ist«, sagte Lukas, der sich bei aller Sympathie für die Anliegen von Fridays for Future nicht vorschreiben lassen wollte, wie er eine Diskussion zu leiten hatte, noch dazu eine, an der er ursprünglich gar nicht hatte teilnehmen wollen.

»Sind Fragen aus dem Publikum überhaupt nötig?«, fragte Clemens.

»Ich finde, wir sollten sie schon zulassen, gerade bei diesem Thema und gerade, wenn es um Fridays for Future geht«, antwortete Lukas.

Dass am Ende kaum Zeit dafür blieb, lag an dem Rededuell, das sich Julius Wolff und Mara Altmeier auf der Bühne lieferten. Lukas hatte den Bürgermeister mehrfach in Diskussionen mit anderen Politikern oder mit Unternehmern erlebt, aber selten hatte ihn jemand so aus der Reserve gelockt wie die junge Frau. Was daran lag, dass Mara ihm rhetorisch weit überlegen und in puncto Sachkenntnis mindestens ebenbürtig war. Die anderen Mitdiskutanten, eine Klimaexpertin der Handelskammer und der Vorsitzende der Jungen Union, waren kaum wahrnehmbar. Lukas hatte Probleme, sie vernünftig ins Gespräch einzubeziehen, aber er gab sich auch keine besondere Mühe. Zu interessant, zu kontrovers war die Auseinandersetzung zwischen den beiden Hauptakteuren, die nach einer Dreiviertelstunde abrupt endete, weil Julius Wolff zu einem wichtigen Anschlusstermin eilen musste. »Wir können das gern fortsetzen«, sagte er beim Hinausgehen zu Mara gewandt, die klang wie ein Boxer im Ring, als sie erwiderte: »Jederzeit.«

»Das hört sich nach einer baldigen Neuauflage an«, Lukas übernahm die Moderation wieder. »Aber jetzt wollen wir die restlichen uns verbleibenden Minuten für Fragen aus dem Publikum nutzen.« Er sah, wie in der vierten Reihe am Gang ein Arm nach oben schnellte. »Auch wenn der Bürgermeister sie leider nicht mehr beantworten kann und wir wirklich nicht mehr viel Zeit haben. Wer will den Anfang machen?«

Die Hand, die zu dem Arm in der vierten Reihe gehörte, begann zu schnipsen. Drei weitere Arme gingen hoch, und Lukas beschloss, genauso viele Fragen zuzulassen. Er nahm erst eine mittelalte Frau in einer der hinteren Reihen dran, dann einen Mann, der am Rand stand. Als dessen Frage beantwortet war, tat Lukas so, als würde er auf eine Uhr am Handgelenk gucken, die er nicht trug, und sagte: »Eine letzte Frage noch.« Er blickte in den Saal, aber die Frau, die er hatte drannehmen wollen, hatte ihren Arm inzwischen runtergenommen. Dafür war der Typ in der vierten Reihe nun aufgestanden und schnipste wie verrückt. Was bleibt mir übrig, dachte Lukas, holte tief Luft und wollte gerade dem vermeintlichen Querulanten das Wort erteilen, als in der ersten Reihe Frida, oder war es Anna?, aufstand und einem Helfer, der in der Nähe stand, signalisierte, ihr das Mikrophon zu bringen. Als Lukas in ihre Richtung zeigte, sprang der Typ aus Reihe vier endgültig auf den Gang und schrie: »Wollt ihr mich verarschen? Was ist das alles nur für ein abgekarterter Schwachsinn hier! Aber damit kommt ihr nicht durch, das verspreche ich euch!« Gregor – Lukas war der Name wieder eingefallen – spuckte demonstrativ auf den Boden, drehte sich um und stapfte aus dem Saal. Frida oder Anna sah Lukas an, Lukas guckte zu Mara. Beide zuckten mit den Schultern, als wollten sie sagen: Wir haben dich doch gewarnt. Lukas brauchte drei, vier Sekunden, dann hatte er sich gefangen: »Wir sehen, nicht nur das Klima, auch die Gemüter sind erhitzt, und wir sollten gemeinsam alles dafür tun, dass sich das schnell ändert.« Mara begann zu klatschen, dann fielen nach und nach die anderen im Saal ein. »Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit«, sagte Lukas und folgte der Bitte eines Fotografen, sich mit Mara und den verbliebenen Teilnehmern der Podiumsdiskussion für ein Bild zusammenzustellen. Das Gesicht des Fotografen kam ihm bekannt vor, vielleicht hatte der alte Keil ihn geschickt.

5

Bevor er zum Meteorologiestudium nach Hamburg gezogen war, hatte Gregor in einer kleinen Gemeinde in Baden-Württemberg gelebt, wo seine Familie in der vierten Generation ein Weingut betrieb. Mit sechs Jahren hatte Gregor zum ersten Mal einen Schluck probieren dürfen, mit sieben hatte er begonnen, im Betrieb zu helfen, mit acht war er jedes Jahr im Frühherbst zur Weinlese eingeteilt. Je älter er wurde, desto mehr konnte und musste er mitarbeiten, mit vierzehn hatte der Vater ihm zum ersten Mal Geld dafür bezahlt. Viel weniger als den Saisonkräften, die er beschäftigte, aber immerhin. Gregor war der einzige Sohn der Familie, seine drei Schwestern waren zwei, vier und sechs Jahre jünger, und seine Eltern waren enttäuscht, als er ihnen nach dem Abitur mitteilte, dass er vorerst nicht am Weingut bleiben würde. Das lag nicht daran, dass ihm die Arbeit zu hart war, wie der Vater vermutete, und es hatte auch viel weniger mit dessen Dominanz tun, als die Mutter dachte. Gregor wollte einfach raus aus dem Dorf, er wollte von den Bergen ans Meer, nach Norden, dorthin, wo sein größtes Vorbild lebte: Als kleiner Junge hatte er Mojib Latif das erste Mal in einer Kindersendung im Fernsehen gesehen, und seitdem stand für Gregor fest, dass er Klimaforscher werden wollte. Was wiederum damit zu tun hatte, dass er all das, vor dem der Herr Latif aus dem hohen Norden warnte, tief im Süden bei der Arbeit in den Weinbergen selbst erlebte, wo sich die Ernte immer weiter nach vorn verschob. Auf einmal gediehen in Baden-Württemberg Rebsorten, für die es in der Toskana oder im Bordeaux zu warm geworden war. Mojib Latif hatte seit Jahren vor dieser Entwicklung gewarnt, aber leider hatten ihm zu wenig Leute zugehört. Als der Klimaforscher zu einem Vortrag nach Stuttgart kam, hatte Gregor mit seinem Vater in der ersten Reihe gesessen und den Wissenschaftler hinterher sowohl um ein Autogramm als auch um ein gemeinsames Foto gebeten. Als der Papa die Bilder machte, hatte sich Latif zu Gregor heruntergebeugt und gefragt: »Na, und weißt du schon, was du werden willst?«

»Ich«, hatte Gregor Vögele geantwortet, der damals zwölf Jahre alt war, »will so werden wie du.«

 

Seit zwei Semestern studierte er nun Meteorologie an der Universität Hamburg, genauso wie es Latif auch getan hatte. Die kleine, halbwegs bezahlbare Wohnung teilte er sich mit einem Kommilitonen. Dem hatte er auch den Kontakt zu Fridays for Future zu verdanken, für die Menschen wie er ein Geschenk sein musste, dachte Gregor. Als er das erste Mal bei einem Treffen gewesen war und sich vorstellte, war das Hallo groß gewesen, und er hatte mehrfach gehört, wie gut sie hier einen Meteorologen gebrauchen konnten. Die Begeisterung war aber in den Wochen und Monaten danach abgeklungen, und zwar auf beiden Seiten. Gregors Meinung zu aktuellen Themen wurde zwar angehört, doch wenn es um die Planung von Maßnahmen ging, übernahmen andere die Führung. Das Sagen hatten, so nahm es der Zugereiste wahr, ausgerechnet junge Frauen, die aus den sogenannten Elbvororten kamen, also aus sozial verwöhnten Stadtteilen, die Nienstedten, Blankenese oder Othmarschen hießen. Sie hatten vielleicht gerade ihr Abi gemacht oder studierten Betriebswirtschaftslehre, kannten sich mit dem Klimawandel und seinen dramatischen Folgen jedenfalls niemals so gut aus wie er, der Student. Doch dafür konnten Mara, Frida, Anna und Laura sehr souverän und selbstbewusst darüber sprechen, ihre Auftritte waren beeindruckend, als hätten sie niemals etwas anderes gemacht. Dass sie aus bildungsbürgerlichen und wohlhabenden Familien stammten, ließ sich nicht verbergen. Manchmal dachte Gregor, wie absurd es war, dass ausgerechnet diese Töchter reicher Eltern, die wahrscheinlich Ferienhäuser auf Ibiza, in London und Südafrika hatten und wie selbstverständlich mehrmals im Jahr in den Urlaub flogen, jene Bewegung anführten, die unter anderem genau das verdammte.

Dass er nach und nach mit den Anführerinnen aneinandergeriet, zuallererst mit Mara, die durch die schnell steigende Zahl ihrer Fernsehauftritte zum Gesicht von Fridays for Future werden sollte, lag jedoch an etwas ganz anderem. Gregor war das, was die Gruppe gegen den Klimawandel tat, nicht radikal, nicht konsequent genug. Ihm ging es um zivilen Ungehorsam, doch drang er damit im Rest der Gruppe nicht durch. Dabei fühlte er sich durch all das, was er im Studium über den Klimawandel lernte, bestätigt. »Wir haben keine Zeit mehr, es reicht nicht, mit lustigen Sprüchen auf Plakaten durch Hamburg zu laufen. Wir brauchen viel radikalere Maßnahmen«, hatte er zu Anna gesagt, als sie beide nach einem langen Planungswochenende in der HafenCity versackt und bei ihm zu Hause im Bett gelandet waren. Gregor hatte die ältere der beiden Zwillingsschwestern, die zu den Wortführerinnen der Gruppe gehörten, von Anfang an attraktiv gefunden, sich aber keine Chancen bei ihr ausgerechnet. Ein Irrtum, wie sich an diesem Samstagabend und nach mehreren Cocktails herausstellte, die die beiden in einem Club in den Tanzenden Türmen getrunken hatten. Das Gebäude am Anfang der weltberühmten Reeperbahn hatte seinen Namen bekommen, weil es aussah wie ein Paar im Hüftschwung. Gregor liebte die Aussicht von der Dachterrasse vom ersten Moment an, und er liebte sie noch mehr, als Anna seinen Kopf in beide Hände nahm und ihren Mund auf seinen drückte. Sie knutschten eine Viertelstunde, bevor sie sagte: »Lass uns besser zu dir gehen. Meine Schwester schläft bestimmt schon.«

In seinem WG-Zimmer merkte Gregor schnell, dass seine Partnerin das, was sie lange und ausgiebig taten, anders als er schon öfter gemacht hatte. Er ging davon aus, dass es bei dieser einen Nacht bleiben und aus Anna und ihm kein Paar werden würde. Aber das stimmte nur für den zweiten Teil, denn sie kam in der darauffolgenden Zeit noch ein paarmal vorbei. Entweder hatte ihr die erste Nacht besser gefallen, als Gregor gedacht hatte, oder es fand sich gerade kein anderer. Er nahm es, wie es kam, und war nicht einmal beleidigt, als Anna ihm direkt sagte, dass es ihr um Sex ging und sie hoffe, dass er auch keine weiteren Ambitionen habe. Sie hatte wirklich von »Ambitionen« gesprochen, ein Wort, das Gregor in diesem Zusammenhang niemals eingefallen wäre. Die beiden trafen sich zunächst einmal die Woche, dann wurden die Abstände größer, bis sie sich schließlich nicht mehr bei ihm meldete. Gregor war nicht besonders überrascht, er hatte eher früher damit gerechnet. Enttäuscht war er bloß, dass Anna ihm nicht zur Seite sprang, wenn er bei einem Fridays-for-Future-Treffen wieder einmal versuchte, die anderen von seinem radikaleren Kurs zu überzeugen. Mit jeder neuen Sitzung spürte Gregor, dass er zu einem Außenseiter wurde, was sich zunächst darin äußerte, dass Mara die Augen rollte, sobald er sich zu Wort meldete, und Frida, Laura und die anderen es ihr gleichtaten. Irgendwann begannen sie, ihn zu ignorieren, wenn er sich meldete, und als er eines Abends lauthals rief, dass »ich auch nicht mehr kommen muss, wenn ich euch so nerve«, hatte Mara ihm zum ersten Mal seit Wochen direkt in die Augen geguckt: »Schön, Gregor, dass du es selber merkst.« Es war daraufhin still geworden im Büro in der HafenCity, das Maras Lover – Gregor war fest überzeugt, dass Clemens Engel das war – der Gruppe zur Verfügung gestellt hatte. Alle hatten ihn angesehen, nur Anna hatte verschämt zu Boden geguckt. Gregor wusste nicht, wie lange er den Blicken würde standhalten können, wahrscheinlich viel länger als diese verwöhnten Schnepfen aus den Elbvororten, die von nichts eine Ahnung hatten. Trotzdem stand er nach einer Minute auf, warf dabei seinen Stuhl um und zischte: »Ihr könnt mich mal, ihr Klimaaktivisten«, wobei er mit Zeige- und Mittelfinger Anführungsstriche in der Luft zeichnete. Er war wütend in Richtung Ausgang gestapft und hatte sich kurz vor der Tür noch einmal umgedreht: »Wenn ihr glaubt, dass ihr mich jetzt los seid, habt ihr euch geschnitten!«

 

Seitdem war Gregor bei jeder Aktion der Gruppe aufgetaucht, als »Störenfried Nummer eins«, wie er in den Chatverläufen genannt wurde, die er noch einsehen konnte. Er genoss seine neue Rolle und registrierte mit zunehmender Genugtuung, dass er Mara und ihren Getreuen offenbar Angst machte. Dass er bei der Podiumsdiskussion mit dem Bürgermeister nicht zu Wort gekommen war, war sicherlich Maras Verdienst gewesen. Sie musste diesen Journalisten von den Hamburg News, der die Runde moderiert hatte, um den Finger gewickelt haben wie so viele andere Menschen vorher. Für Gregor hatte sich sein Auftritt trotzdem wie ein Triumph angefühlt, weil er kurz davor war, eine Aktion zu starten, die die Klimaproteste auf ein neues Niveau heben würde.

Die Vorbereitungen hatten länger gedauert, als er gedacht hatte, aber jetzt war es so weit. Eine der größten Fragen war gewesen, wie er das Material, das er für seine Aktion benötigte, an den Türstehern der Tanzenden Türme vorbeibekommen würde. Am Ende ging das ganz leicht, die gelangweilten Typen an der Tür winkten ihn durch und bemerkten gar nicht, dass er sich seltsam steif bewegte. Gregor ging gleich auf die Dachterrasse und wäre auf dem Weg dorthin fast mit Anna zusammengestoßen, ausgerechnet. »Hi.« Er blickte ihr schüchtern in die Augen. »Hi«, sagte sie und ging einfach weiter, als würden sie sich gar nicht kennen. Aus den Augenwinkeln sah Gregor, dass sie auf einen Typen zusteuerte, der an der Bar stand und deutlich älter war als er. Er schätzte ihn auf Ende dreißig und fragte sich, ob der Kerl der Grund war, warum sich Anna nicht mehr bei ihm meldete. Egal, dachte er und schob sich durch die Menschenmenge auf der Dachterrasse, bis zu einer Ecke, die nur schwach beleuchtet und deshalb für das, was er vorhatte, ideal war. Gregor beugte sich über die Brüstung und sah nach unten. Die Menschen, die wie er vor einer Viertelstunde am Eingang zu den Tanzenden Türmen gestanden und darauf gewartet hatten, eingelassen zu werden, waren kaum als solche zu erkennen. Die beiden Haken, die er bei seinem letzten Besuch gesehen hatte, waren genau dort, wo er sie in Erinnerung hatte. »Es kann losgehen«, murmelte Gregor, als er zwei Hände in seinem Rücken spürte und daran denken musste, wie sein Vater ihn bei ihren Bergtouren immer erschreckt hatte, wenn er zu nah am Abgrund stand: »Hätte ich dich nicht festgehalten!«, hatte der Vater dann gerufen und ihn mit seinen Händen kräftig an den Schultern gepackt. Gregor traf es jedes Mal bis ins Mark. Aber das war nichts gegen den Schrecken, der ihn jetzt durchfuhr.

6

Für die Treffen der Vier Flaschen gab es im Prinzip nur eine Regel: Niklas Claasen, Lukas Hammerstein, Julius Wolff und Clemens Engel tranken vier verschiedene Sorten Wein und sprachen darüber und über das Leben im Allgemeinen. Es war offiziell nicht verboten, jemanden mitzubringen, aber meistens blieben die Freunde unter sich. Einmal war Niklas Claasen senior dabei gewesen, was vor allem daran lag, dass er aus seinem privaten Weinkeller eine uralte Flasche Château Pétrus mitgebracht hatte, die selten, sehr teuer und bei den VierFlaschen deshalb hochwillkommen war. Und einmal hatte Julius die anderen mit einem Gast überrascht, den sie nicht hätten wegschicken können, selbst wenn sie es gewollt hätten: Der Bürgermeister hatte sich in der Alster-Lounge zu einem Arbeitsessen mit der Bundeskanzlerin getroffen und sie anschließend einfach in das Kaminzimmer geführt, das einmal im Monat für die Vier Flaschen reserviert war. Der Abend begann etwas stockend, aber als die erste von vier Rotweinflaschen geleert war, hatte sich die Stimmung entspannt, zuerst bei den Freunden und dann auch bei der Kanzlerin, die plötzlich zum Du überging. Nach der zweiten Flasche duzten die Freunde zurück. »Wein verbindet«, hatte Clemens damals gesagt und sich über sich selbst gewundert. Wenn es eins gab, das er in seinem Leben für ausgeschlossen gehalten hatte, dann war es ein weinseliger Abend mit der Bundeskanzlerin ausgerechnet jener Partei, die er für fast