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Die HAMBURG NEWS schicken Reporter Lukas Hammerstein zurück auf die Schulbank. Im Elyseum sind ehrgeizige, zum Helikoptern neigende Eltern fast genauso präsent wie ihre pubertierenden Sprösslinge. Hier soll Lukas einen Monat lang am Unterricht teilnehmen, Klausuren inklusive, um in der Zeitung darüber zu berichten. Lukas gerät gehörig ins Schwitzen. Das Projekt erregt viel Aufmerksamkeit, die Folgen hat: Lukas erhält Hinweise, dass reiche Eltern mit Spenden die Noten ihrer Kinder dort aufbessern, wo jede Nachhilfe versagt. Dann verschwindet plötzlich die Schulleiterin. Lukas macht sich daran, zu ermitteln – und stößt in der Eliteschmiede auf finsterste Machenschaften, die nicht nur die Schullandschaft erschüttern.
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Seitenzahl: 326
Veröffentlichungsjahr: 2025
Lars Haider
Hammersteins vierter Fall
Ich geh’ meinen Weg
ob grade, ob schräg
das ist egal.
Gesendet: Donnerstag, 14.31 Uhr
»Hallo, ich könnte die fehlenden Unterlagen aus der Stunde heute Morgen nachher bei Ihnen vorbeibringen. Bin sowieso beim Sport in der Nähe, Sie wohnen doch in der Blankeneser Hauptstraße, oder? Mein Training geht bis 17 Uhr, danach Duschen, wäre gegen 17.30 Uhr da. Würde mich freuen, war mir sehr unangenehm, dass ich die Sachen im Unterricht nicht dabeihatte … Lexi«
Gesendet: Donnerstag, 14.45 Uhr
»Hallo Alexandra, das ändert aber nichts daran, dass Sie die Hausaufgaben in der Stunde nicht vorweisen konnten. Gruß, RK«
Gesendet: Donnerstag, 14.46 Uhr
»Mir wäre es trotzdem wichtig, Ihnen zu zeigen, dass ich alles gemacht habe.«
Gesendet: Donnerstag, 14.58 Uhr
»Okay, ich wohne in Hausnummer 69, dritter Stock.«
Gesendet: Donnerstag, 15.00 Uhr
»69, das kann man sich gut merken … Bis nachher und danke! Lexi«
Lukas Hammerstein hatte einen Platz direkt an der Tür zugewiesen bekommen. Die Tische in der Klasse 10 b waren wie ein U angeordnet, links neben ihm saß Saskia, die wie die meisten Mädchen im Raum ein bauchfreies Oberteil trug und diese weiten Hosen, deren englische Bezeichnung Lukas gerade nicht einfallen wollte. Rechts vor ihm lümmelte sich Johannes, den alle nur Jo nannten und dem die lockigen Haare so ins Gesicht fielen, dass Lukas sich fragte, ob er überhaupt etwas auf der Tafel erkennen konnte. Wobei Tafel das falsche Wort war für das, was da vorn an der Wand hing und Lukas an ein überdimensioniertes iPad erinnerte. Genauso ließ es sich auch bedienen, der Mathelehrer fuhrwerkte einfach mit seiner Hand auf der weißen Fläche herum. Lukas musste unwillkürlich an das Quietschen der Kreide auf der grünen Tafel denken, das seinen Klassenkameraden und ihm früher so in den Ohren wehgetan hatte.
Wo er jetzt saß, hatte er zuletzt vor etwas mehr als einem Vierteljahrhundert gesessen, und er hatte es nicht vermisst. Der junge Lukas Hammerstein war nicht gern zur Schule gegangen, er war dort eher ein Außenseiter gewesen. Um als cool durchzugehen, waren seine Noten einen Tick zu gut gewesen und er selbst zu brav. Lukas hatte weder heimlich auf dem Schulklo noch überhaupt geraucht, sein erstes Bier hatte er erst nach dem Abitur getrunken. Wenn ihn heute jemand fragte, welche Phase in seinem Leben ihm am wenigsten Spaß gemacht hatte, antwortete er, ohne lange zu überlegen: die Schulzeit.
Und trotzdem war er nun hier. Auf die Idee, als Mittvierziger noch einmal in die Schule zu gehen – wenn auch nicht auf die eigene –, war er bei einem Workshop der Hamburg News gekommen. Ein paar der besten Reporter der Zeitung hatten sich auf Geheiß des alten Keil weggeschlossen, um sich fernab des Tagesgeschäfts »wirklich einmalige und einzigartige Projekte« auszudenken. So lautete der Auftrag des Chefredakteurs, und die Kollegen hatten ihn beim Wort genommen: Die meisten Vorschläge für Reportagen oder Serien, die sie vorlegten, bewegten sich zwischen waghalsig und unmöglich; Lukas’ Idee gehörte in die zweite Kategorie. Er hatte nicht damit gerechnet, dass er so schnell eine Schule finden würde, die wirklich einen Journalisten wie ihn einen Monat lang am Unterricht teilnehmen lassen würde, Klausuren und Noten inklusive. Und wenn er ehrlich war, hatte ihm der Zufall mächtig geholfen.
Kurz nach dem Workshop war in den Hamburg News ein Interview mit dem Präsidenten der Universität erschienen, in dem der, ein Professor der Erziehungswissenschaften, Eltern davor warnte, ihre Kinder an die renommierten Schulen der Stadt zu schicken. Wörtlich hatte der Uni-Chef gesagt: »Viele Eltern träumen davon, dass ihr Sohn oder ihre Tochter zum Beispiel aufs Elyseum geht, weil diese Institution so einen großen Namen und einen noch größeren Ruf hat. Sie vergessen dabei, dass es dort viel schwerer ist, eine gute Note im Abitur zu erhalten als andernorts. Wir an der Uni schauen aber auf die Note, nicht auf das vermeintliche Prestige einer Schule, von der ein Bewerber stammt. Deshalb kann ich nur sagen: Wirklich schlau ist, wer sein Kind auf eine ganz normale Schule schickt, weil es dort viel leichter ein gutes Abitur machen wird.«
Lukas hätte das Interview kaum wahrgenommen, wenn es nicht eine Flut von Leserbriefen empörter Eltern nach sich gezogen hätte, die alle beim alten Keil landeten. Wie man denn derart herablassend über das Elyseum berichten könne, hieß es darin, und ob der Herr Uni-Präsident wisse, worüber er spreche, und dass eine Stadt wie Hamburg stolz sein müsse, so ein Gymnasium zu haben. Andere bemängelten, das Abitur ihrer Kinder werde durch die Aussagen über andere Schulen entwertet. Am Ende hatte der Chefredakteur sich zu einer Reaktion genötigt gesehen und Lukas gebeten, ein klärendes Interview mit der Direktorin des Elyseums zu führen, das »in etwa so lang sein muss wie das mit dem Herrn von der Uni«.
So war der Kontakt zu Renate Störmer zustande gekommen. Lukas hatte sie in ihrem Büro getroffen, das ihn wie der Rest der Schule an eine Mischung aus Museum und Schloss erinnerte. Die Störmer, erste weibliche Direktorin in der langen Geschichte des Elyseums, eine zierliche Frau mit raspelkurzen Haaren und einer großen Brille mit rechteckigen Gläsern, hatte erzählt, welche Wirkung allein der imposante Säulengang auf die Schülerinnen und Schüler habe, wenn sie das Gebäude betraten: »Sie spüren die Verantwortung, sie spüren die Tradition – und sie werden ehrfürchtig, was ihre eigene Bildung angeht.« Lukas hatte an diese Worte denken müssen, als er an seinem ersten Schultag als Reporter durchs Elyseum schritt. Selbst auf ihn machte die Anlage Eindruck, das war etwas anderes als der quadratisch-praktische Schachtelbau im Süden Hamburgs, in dem er einst sein Abitur gemacht hatte.
Renate Störmer und er hatten sich gut verstanden, das Interview mit ihr war eine wirkungsvolle Replik auf die Bemerkungen des Uni-Präsidenten gewesen – und die Direktorin nach der Veröffentlichung bereit, sich den ungewöhnlichen Wunsch des Reporters anzuhören.
»Sie wollen noch einmal zur Schule gehen, zu uns aufs Elyseum?«, hatte sie gefragt.
»Ja, wenn das möglich ist«, hatte Lukas erwidert und eigentlich nicht mit einer positiven Antwort gerechnet. Aber genau die kam dann: »Warum«, sagte Renate Störmer und klang dabei ziemlich freundlich, »warum eigentlich nicht?«
Und so war der Reporter noch einmal vier Wochen lang zum Zehntklässler geworden. Die Störmer höchstpersönlich hatte für ihn die 10 b ausgesucht, was vielleicht auch daran lag, dass sie dort selbst unterrichtete: Latein, ein Fach, das Lukas immerhin bis zum Abitur gehabt hatte. Was allerdings nichts daran änderte, dass er in der Klassenarbeit, die Renate Störmer schreiben ließ, nur deshalb eine knappe Vier minus bekam, weil es die Direktorin gut mit ihm meinte.
»Mit Journalisten darf man es sich schließlich nicht verderben«, hatte sie gemurmelt, als sie ihm die korrigierte Arbeit zurückgegeben hatte. Saskia hatte eine Zwei minus, Jo eine glatte Drei.
Die Mitschüler – es waren dreizehn Mädchen und neun Jungen – hatten ganz anders auf das »seltsame Experiment« reagiert, wie Lilli Hammerstein die Wiedereinschulung ihres Mannes nannte, als Lukas zuvor angenommen hatte. Am ersten Tag war seine Anwesenheit noch etwas Besonderes gewesen und Lukas begehrtes Subjekt kleiner Filmchen, die anschließend ihren Weg auf Kanäle wie TikTok fanden. Handys waren in der zehnten Klasse des Elyseums erlaubt, solange man sie nicht im Unterricht benutzte; aber es verging keine Stunde, in der Lukas nicht irgendjemanden sah, der unter dem Tisch eine Nachricht las oder schrieb. Fabian, neben dem er im Musikunterricht saß, hatte ihm einmal gezeigt, wie viele WhatsApp er an einem einzigen Tag an seine Freundin geschickt hatte, die in die 10 a ging: Es waren hundertdreiundfünfzig.
»Telefoniert ihr auch noch miteinander?«, hatte Lukas gefragt, und Fabian hatte ihn angesehen, als hätte Lukas um seine Faxnummer gebeten.
Die Welt von Lukas’ Mitschülern zerfiel in viele kleine Schnipsel, in Nachrichten und Kurzvideos; sie hätten gar keine Zeit gehabt, sich länger um den Neuen zu kümmern. Außerdem gehörten sie zu einer Generation, die dank Internet alles schon gesehen und gehört hatte – was war da schon ein mittelalter Mann von der Zeitung, der am Unterricht teilnahm? Ab Tag zwei lief Lukas mehr oder weniger nebenher, was ihm ganz recht war. So konnte er sich auf seine eigentliche Arbeit konzentrieren, auf die große Reportage, die er über das Abenteuer schreiben würde, das die vier Wochen am Elyseum für ihn darstellten. Nicht nur, weil seine eigene Schulzeit schon so weit zurücklag, was er in nahezu allen Fächern spürte, in denen Arbeiten geschrieben wurden; vor allem war das Elyseum weder mit seinem alten Gymnasium vergleichbar noch mit dem Bild von deutschen Schulen, das Lukas sich in seiner Vorbereitung zusammenrecherchiert hatte: Die Toiletten hier waren sauberer als die in der Redaktion der Hamburg News; sämtliche Schüler waren mit Laptops und oft auch Tablets ausgestattet, WLAN gab es in den alten Gebäuden überall. Die Lehrer waren erstaunlich jung, fand Lukas und fragte sich, ob sie hier vielleicht besser bezahlt wurden als anderswo.
Am meisten überraschte ihn aber das große Engagement der Eltern. Der Reporter hatte an einem Elternabend teilnehmen dürfen, nachdem er versprochen hatte, diesen Teil in seiner Reportage auszuklammern. Was Lukas notgedrungen tat, hinterher aber schwer bereute – denn der Elternabend war nicht so abgelaufen wie die Schulelternabende, von denen Freunde von Lukas und Lilli manchmal berichteten. Während an normalen Schulen bei der Wahl der Elternvertreter quälend lange Minuten vergehen konnten, bis sich endlich jemand aufstellen ließ, hatten sich in der 10 b gleich sechs Mütter und drei Väter gemeldet. Es gab eine Stichwahl, geheim noch dazu, und Renate Störmer grinste, als sie im Gesicht des Reporters das Erstaunen darüber sah.
Sie hatte sich mit in den Elternabend gesetzt, was grundsätzlich möglich, aber normalerweise nicht üblich war. Lukas ahnte, dass die Direktorin seinetwegen gekommen war.
Renate Störmer behielt ihn die gesamten vier Wochen im Blick, und sie hatte klare Vorgaben gemacht, was alles nicht in der Reportage stehen durfte. Die Namen der Schüler zum Beispiel und die der Lehrer, Äußerungen, anhand derer sich bestimmte Personen identifizieren ließen, und so weiter. Am Ende wurden die Texte Ich-Geschichten, die Lukas normalerweise nicht besonders mochte. Aber in diesem Fall ging es nicht anders, und das Ergebnis sprach für sich. Der alte Keil lobte die Artikelreihe, »weil wir lange nicht mehr so nah an der Lebenswirklichkeit junger Menschen dran waren. Respekt, Lukas.« Auch von den Kollegen und aus der Leserschaft hatte er viel Resonanz oder, wie man heute wohl sagte, Feedback auf die Reportage bekommen, die am Ende insgesamt fast acht Zeitungsseiten füllte.
Wobei viele Kommentare sich, wie nicht anders zu erwarten, mit den schulischen Leistungen des Reporters beschäftigten, die maximal befriedigend ausgefallen waren. Die Fünf in Mathe hatte Lukas einkalkuliert, die Vier in Englisch war ihm peinlich; am meisten wurde aber über die Note diskutiert, die unter seinem Aufsatz über Die Leiden des jungen Werthers von Johann Wolfgang von Goethe gestanden hatte: eine Drei plus. »Und so was will ein preisgekrönter Journalist sein«, hatte ein Leser in einem langen Brief geschrieben, in dem er die Reportage insgesamt als »Verschwendung von Abo-Geldern« gebrandmarkt hatte.
Lukas selbst hatte sich über die Zensur gewundert, er kannte schließlich seinen Goethe. Aber er kannte auch die Deutschlehrer. Sein ehemaliger, Herr Dück, hatte ihm bei der Übergabe der Abiturzeugnisse vor vielen, vielen Jahren im Vorbeigehen einen »guten Tipp für die Zukunft« gegeben: »Machen Sie bloß nichts mit Sprache, lieber Lukas!«
Der Deutschlehrer am Elyseum hatte immerhin nichts dergleichen gesagt, er hatte, anders als seine Kollegen, sowieso kaum Interesse an der Anwesenheit des Reporters gezeigt. Einmal hatte Lukas in der Pause versucht, mit ihm ins Gespräch zu kommen, aber schnell gemerkt, dass Richard Kehrmann sich dabei unwohl fühlte. Vielleicht hat er keine guten Erfahrungen mit der Presse gemacht, dachte Lukas – oder er mochte die Hamburg News nicht. Viele Lehrer lasen lieber die Chronik oder den Politik Insider, eben etwas mit ausgewiesenem überregionalem Anspruch.
Lukas hatte Kehrmann trotzdem wie alle anderen, mit denen er in der 10 b zu tun gehabt hatte, am Ende der vier Wochen zu einer kleinen Abschiedsfeier eingeladen. Der alte Keil hatte Torte von Lindtner springen lassen, einem traditionsreichen Konditor aus dem feinen Eppendorf, neben Kaffee gab es auch alkoholfreien Wein. Lukas bedankte sich bei Lehrern und Schülern für die Geduld, die sie ihm gegenüber bewiesen hatten, und bei Renate Störmer dafür, dass sie das Ganze überhaupt möglich gemacht hatte. Die Torten waren innerhalb von einer halben Stunde weg, der alkoholfreie Wein blieb unberührt.
Als nach einer guten Stunde alles vorbei war, half neben der Störmer eine junge Frau Lukas beim Aufräumen, die er in den vergangenen vier Wochen im Unterricht kaum wahrgenommen hatte. Sie hatte sich wenig beteiligt, aufgefallen war sie Lukas erst, als Kehrmann ihre Deutscharbeit gelobt hatte. »Eine glatte Eins«, hatte er bei der Rückgabe so laut gesagt, dass Lukas es hören konnte. Gut möglich, dass diese Information vor allem für ihn, den Dreier-Kandidaten, bestimmt gewesen war.
»Vielen Dank für Speis und Trank«, reimte die Mitschülerin und hielt Lukas ihre Hand hin. »Das war sehr lecker.«
»Freut mich.«
»Darf ich dich was fragen?«
»Klar.«
»Meinst du, ich könnte bei den Hamburg News vielleicht mal ein Praktikum machen?«
»Warum nicht?«, sagte Lukas, dachte an die Eins in der Klausur und pfriemelte eine Visitenkarte aus seiner Brieftasche.
»Dass es die Dinger überhaupt noch gibt«, sagte das Mädchen und zeigte auf das kleine Stück Papier. »Danke! Wenn du demnächst eine Mail von einer Alexandra bekommst, weißt du also Bescheid.«
Stimmt, dachte Lukas, das war ihr Name. Alexandra. Wobei sie fast alle in der Klasse Lexi genannt hatten.
Seit ihrem vertraulichen Gespräch mit Enno sah Kaja Woitek die Talkshow von Josef Turner mit anderen Augen. Eigentlich sah sie sich die Sendung überhaupt erst seitdem richtig an, zweimal hatte sie sogar von Anfang bis Ende durchgehalten. Früher hatte sie oft weggeschaltet, weil sie es nicht ertragen konnte, wie Turner seinen Gästen ins Wort fiel. Er ließ kaum mal jemanden ausreden, drängte sich immer dazwischen. Jetzt versuchte sie, aus seiner Mimik und Gestik etwas abzuleiten, einen Hinweis auf das, worüber Enno mit ihr gesprochen hatte.
Ihr Freund war ungewohnt ernst gewesen, als er sie in den Fall eingeweiht hatte, so ernst wie noch nie, seit sie zusammen waren. Und das war inzwischen schon länger, als Kaja je für möglich gehalten hatte. Bevor sie Enno von Spoercken kennengelernt hatte, hatte sie ihre Beziehungen in Wochen, maximal in Monaten gemessen. Jetzt waren der Chef der Hamburger Kriminalpolizei und die Polizeireporterin der Hamburg News schon fast vier Jahre zusammen. Lukas Hammerstein, ihr Lieblingskollege bei der Zeitung, hatte neulich gefragt, ob die beiden schon mal übers Heiraten gesprochen hätten, wenigstens das ein Gedanke, der Kaja noch nicht gekommen war.
Kaja hatte aufgehört zu zählen, wie oft Enno und sie mitten in der Nacht zum selben Tatort aufgebrochen waren, manchmal sogar im selben Auto. In den Anfängen ihrer Beziehung hatte er sich sehr bemüht, Berufs- und Privatleben nicht miteinander zu vermischen. Aber je länger sie zusammen waren, desto schwieriger gestaltete sich das, auch weil sich der eine für nichts so sehr interessierte wie für den Fall, an dem der andere gerade arbeitete. Das galt in erster Linie für Kaja, die buchstäblich einen ihrer wichtigsten Informanten direkt neben sich im Bett liegen hatte; aber auch Enno hatte in der Vergangenheit öfter von den Recherchen seiner Freundin profitiert. Manchmal war sie, in Zusammenarbeit mit ihrem Lieblingskollegen, sogar schneller gewesen als seine Polizei. Was Enno einerseits ärgerte, ihm andererseits aber Respekt abrang. Auch wenn er ihr das nie so offen gesagt hätte: Er war stolz auf seine Kaja, die von Polizeiarbeit mehr verstand als der eine oder andere Kollege, mit dem sich der Kripochef auf dem Präsidium herumschlagen musste.
Diese Sache mit Josef Turner hatte Enno lange für sich behalten, vor allem, um Kaja nicht in Versuchung zu führen. So hoch und heilig sie ihm auch jedes Mal versprach, eine Information, die sie von ihm erhielt, für sich zu behalten – es war ein Risiko, ihr etwas zu erzählen, und sei es nur, weil sich Kaja in einem Gespräch mit Lukas verplappern könnte. Dass er sie in den Turner-Fall einweihte, hatte dann auch einen anderen Grund: Enno konnte nach den vielen Wochen, die sie sich intern damit beschäftigt hatten, schwierig einschätzen, ob vielleicht doch etwas von der Sache an die Medien gelangt war und deshalb demnächst eine Berichterstattung drohte. Die, das war ihm klar, für alle Beteiligten gefährlich wäre.
Also setzte er sich nach einem gemeinsamen Abendessen in der Küche neben Kaja, schob ihr Glas Wein zur Seite und sah ihr tief in die Augen: »Wir müssen etwas besprechen, und du musst schwören, dass du es für dich behältst.«
»Ich schwöre«, sagte seine Freundin, für Ennos Geschmack eine Spur zu schnell. Ihre Augen leuchteten, es war wie ein Reflex, wenn sie von einer neuen Story erfuhr.
»Kein Wort zu niemandem, auch nicht zu Lukas. Es geht um Leben und Tod.«
Kaja nickte. Sie konnte nicht erwarten, mehr zu erfahren.
»Kennst du Josef Turner?«
»Was für eine Frage. Jeder kennt Josef Turner. Er ist …«
»Ich wollte nur auf Nummer sicher gehen. Du hattest ja schließlich bis vor kurzem nicht mal einen Fernseher …«
»… weil man das alles heutzutage auch über das hier«, sie hielt ihr Handy hoch, »oder das hier«, jetzt hatte sie das iPad in der Hand, »ansehen kann.«
»Also, Josef Turner.« Enno machte eine lange Pause. »Vor knapp zwei Monaten hat sich sein Management zum ersten Mal an die Polizei gewandt. Damals erhielt Turner eine Reihe von Drohbriefen.«
»Ist das bei einem Typen, der im Fernsehen derart polarisiert, nicht normal? Mich hätte eher gewundert, wenn der nicht wild beschimpft würde. Wie viele Zuschauer hat die Sendung?«, fragte Kaja.
»In der Spitze drei Millionen.«
»Oha. Da sind garantiert immer ein paar Spinner dabei. An sich kein Grund, sich Sorgen zu machen, oder?«
»Hat der Turner bisher auch nicht. Das ist ein harter Kerl, der nicht nur seinen Interviewpartnern, sondern auch sich selbst alles abverlangt. Vier Tage bevor er das erste Mal zu uns ins Präsidium kam, war er angeblich am Knie operiert worden. Aber er arbeitete weiter, als wäre nichts gewesen: Er hasse es, hat er gesagt, wenn man bei ihm eine Schwäche erkenne.«
»Und trotzdem war er bei euch.«
»In den Briefen ging es nicht mehr um ihn.« Kaja sah Enno an, dass ihn schon jetzt ein schlechtes Gewissen plagte, weil er seiner Freundin alles erzählte.
»Sondern?«, fragte sie.
»Um seine Kinder.«
»Josef Turner hat Kinder?« Das war für Kaja eine neue Information, wahrscheinlich weil sie weder die vermischte Seite der Hamburg News noch eines dieser Klatschblätter las.
»Zwei aus seiner ersten Ehe, die erwachsen sind – eine Tochter, die in den USA studiert, und einen Sohn, der als Investmentbanker in Frankfurt arbeitet.« Enno machte eine Pause, als müsste er genau überlegen, was er als Nächstes sagen sollte. »Und zwei Kinder aus der zweiten Ehe mit Maria Turner …«
»Josef und Maria?« Kaja musste aufpassen, dass sie nicht losprustete. »Das ist ein Scherz, oder?«
»So heißen sie nun mal«, antwortete Enno, erinnerte sich aber daran, dass er genauso reagiert hatte, als er von den Vornamen der beiden erfahren hatte. »Soll ich fortfahren?«
»Natürlich, mein Schatz.« Kaja gab Enno einen Kuss und strich ihm über die Wange. Seine Bartstoppeln kitzelten an der Innenfläche ihrer Hand.
»Wieder eine Tochter und ein Sohn – was der Turner anfasst, gelingt. Der Junge ist elf Jahre alt, das Mädchen dreizehn.«
»Heißt also, dass Josef noch einmal ziemlich spät Vater geworden ist, nämlich mit Anfang beziehungsweise Mitte vierzig, richtig?«
Enno nickte.
»Was dafürspricht, dass Maria deutlich jünger ist als er.«
»Knapp zwanzig Jahre.«
»Ich habe die beiden noch nie zusammen gesehen«, sagte Kaja.
»Er hält seine Familie komplett aus dem öffentlichen Leben heraus«, Enno fuhr sich gedankenverloren mit der eigenen Hand über die Wange. »Selbst in sonst gut informierten Journalistenkreisen sind die Namen der jüngeren Kinder nicht bekannt.«
»Was ich richtig finde!« Kaja tat, als würde sie applaudieren.
»Umso größer war die Sorge, als diese Sache mit den Drohbriefen begann«, sagte Enno.
»Weil es darin um Turners Kinder ging?«, fragte Kaja.
»Weil der Briefeschreiber Dinge über die Kinder von Josef und Maria preisgab, die er eigentlich nicht wissen konnte.«
»Die Namen?«
»Zum Beispiel die Namen. Aber auch, was sie so in ihrer Freizeit machen, wann sie morgens das Haus verlassen …«
»Der Typ, der die Briefe verfasst hat, weiß, wo der Turner wohnt?«
»Dafür muss man kein investigativer Reporter sein«, antwortete Enno.
»Heißt was?«
»Heißt, dass du offensichtlich den Blick nicht aufmerksam liest. Der hat doch in den vergangenen Wochen mehrfach über die große Villa an der Elbe berichtet, die ein Hamburger TV-Moderator für sich und seine Familie umbauen lässt. Neunhundert Quadratmeter Wohnfläche für knapp zehn Millionen Euro. Inzwischen weiß ich, dass Turner vor ein paar Wochen dort eingezogen ist. Allerdings …«
»Was allerdings?«
»Allerdings«, Enno atmete tief durch, »ohne seine Frau. Die beiden haben sich nämlich vor zwei Monaten endgültig getrennt. Laut Turner war die Ehe seit mehr als einem Jahr zerrüttet, aber man hat alles versucht, wegen der Kinder.«
»Was hat die Trennung mit den Drohbriefen zu tun?«, fragte Kaja.
»Nichts, ich dachte einfach, es würde dich interessieren. Außerdem«, Enno räusperte sich, »weißt du ja, dass ich mir bei meinen Fällen gern ein komplettes Bild mache. Da gehört der Beziehungsstatus natürlich dazu.«
Irgendwann müssen wir vielleicht auch mal unseren klären, dachte Kaja.
»Erzähl weiter.«
»Also: Mit jedem Drohbrief, der kam, offenbarte der Absender mehr Detailwissen über Florentine und Paul …«
»Florentine und Paul?«
»So heißen die Kinder, aber das …«
»… behalte ich selbstverständlich für mich«, äffte Kaja Enno nach. »Womit droht der Briefeschreiber eigentlich?«
»Das ist ja das Seltsame. Die Drohungen sind sehr subtil. Er beschwert sich über diese Frage oder jenes Gespräch in einer Sendung, kritisiert die Einladung bestimmter Gäste und erwähnt dann fast beiläufig Paul und Florentine und wie er sie beobachtet hat.«
»Gruselig«, murmelte Kaja und dachte: Was für eine Story.
»So ist es. Die Drohung klingt mehr so mit, als dass sie offen ausgesprochen wird. Unsere Experten meinen, dass der Briefeschreiber auf diesem Weg versucht, Einfluss auf die Sendung zu nehmen, vielleicht aus politischen Motiven.«
»Das heißt, sie stufen den Kerl oder die Frau, der oder die dahintersteckt …«
»Sie gehen von einem Mann aus«, sagte Enno, und Kaja dachte: Das tun sie immer, weil sie Frauen eben nichts zutrauen, nicht einmal etwas Schlechtes.
»Also, sie stufen den Drohbriefschreibenden«, sie grinste angesichts ihrer Formulierung, »nicht als besonders gefährlich ein. Mehr Psycho- als echter Terror.«
»Bitte sag jetzt nicht: Hunde, die bellen, beißen nicht.«
»Wollte ich gerade.« Kaja steckte Enno die Zunge heraus.
»Lass es mich so sagen: Wir nehmen die Sache ernst, weil die Briefe sich lesen, als hätte sie dieser Typ aus Das Schweigen der Lämmer geschrieben, den Anthony Hopkins spielt«, Enno grübelte kurz, aber ihm fiel der Name der Figur nicht ein, »und weil es sich um Josef Turner handelt. Seine Kinder stehen unter Beobachtung, sicher ist sicher.«
»Die haben Polizeischutz?«, fragte Kaja.
»Private Bodyguards. Geld ist zum Glück bei Turner kein Problem«, antwortete Enno. »Die beiden werden von Leuten des Sicherheitsdienstes zur Schule gebracht und wieder abgeholt, wenn Turner oder seine Frau das nicht selbst machen können.«
»Natürlich gehen die beiden aufs Gymnasium, oder?«, fragte Kaja.
»Die gehen nicht nur aufs Gymnasium. Die gehen aufs Elyseum«, antwortete Enno.
Niklas Claasen konnte sich nicht daran erinnern, dass er der neuesten Ausgabe der Hamburg News jemals so entgegengefiebert hatte wie in den vergangenen Wochen. Die Alster-Lounge hatte drei Exemplare der Tageszeitung abonniert, sie lagen für die Mitglieder des exklusiven Businessclubs aus und wurden gern genutzt. Niklas warf normalerweise morgens einen Blick auf die Schlagzeilen und blätterte schnell durch den Lokalteil, zu mehr hatte er keine Zeit. Seit die Serie »Schule heute – ein Selbstversuch« von Lukas Hammerstein begonnen hatte, war das anders. Seitdem zog sich Niklas jeden Morgen mit der Zeitung und einem Cappuccino in sein Büro zurück, um dort in Ruhe lesen zu können, was sein Freund am Elyseum erlebt hatte.
Es war für ihn wie eine Reise zurück in die eigene Vergangenheit, in jene Zeit, in der er selbst das Gymnasium besucht hatte. Lukas’ Beobachtungen lasen sich wie Niklas’ Erinnerungen. Er war einerseits stolz gewesen, auf eine Schule zu gehen, die sich dem humanistischen Bildungsideal verschrieben hatte, so als könnte man auch im 20. Jahrhundert ohne Altgriechisch und großes Latinum nicht überleben. Andererseits hatten ihn, den Sohn des wahrscheinlich reichsten Unternehmers Deutschlands, die Hybris und der Snobismus vieler Mitschüler stets abgeschreckt. Die meisten waren wie er selbst »etwas Besseres«, wenn man denn Wert legte auf familiäre Abstammung und einen prall gefüllten Geldbeutel. Aber Niklas fand es ekelhaft, dass sie sich anderen gegenüber auch so verhielten. Dass es viel um Geld und Status, um Hockey und Polo und um die Frage ging, ob man im richtigen Verein Mitglied war. Er wäre gern auf eine andere, auf eine normale Schule gegangen, aber sein Vater hatte darauf bestanden, dass es das Elyseum sein sollte. Schließlich war auch er schon dort gewesen, sein Foto führte im Internet die Liste der »erfolgreichsten ehemaligen Schüler« an. Es waren, bis auf zwei Ausnahmen, nur Männer zu sehen, neben Niklas’ Vater auch Julius Wolff.
Der war heute mit Lukas Hammerstein und Clemens Engel einer der besten Freunde von Niklas. Einmal im Monat trafen sie sich in der Alster-Lounge zu den Vier Flaschen, einer Art Stammtisch, nur mit Wein statt Bier. Am Elyseum hatte Niklas mit Julius, der eine Stufe über ihm gewesen war, erstaunlicherweise nichts zu tun gehabt. Erstmals aufgefallen war er ihm, als Julius Schulsprecher geworden war. Niklas hatte imponiert, wie selbstbewusst der nicht einmal 1,70 Meter große Typ mit den langen Haaren aufgetreten war. Es hieß damals von seinen Mitstreitern im Schülerrat, dass Julius zwar ziemlich schlau sei, man aber nicht schlau aus ihm werde. Sein Ruf als Besserwisser stammte aus dieser Zeit, aber das hatte Niklas am Ende nicht abgeschreckt, Julius bei der Schulsprecherwahl seine Stimme zu geben. Auch wenn der so weit links war, wie man in der Familie Claasen nicht einmal denken konnte.
Julius hatte damals in einem Interview mit der Schülerzeitung gesagt, dass er vorhabe, eines Tages Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland zu werden. Das hatte niemand ernst genommen, natürlich nicht. Aber inzwischen wusste Niklas, dass es ernst gemeint gewesen war. Beim letzten Treffen der Vier Flaschen hatte es fast kein anderes Gesprächsthema gegeben: Julius hatte den Freunden offenbart, dass er als erfolgreicher Hamburger Bürgermeister große Chancen habe, für seine Partei Kanzlerkandidat bei der nächsten Bundestagswahl zu werden.
Weil Julius’ politische Ambitionen an diesem Abend im Mittelpunkt standen, hatten die Freunde so gut wie gar nicht über Lukas’ Elyseum-Projekt gesprochen. Das würden sie heute nachholen, dachte Niklas. Wobei es nicht nur darum ging, das Früher mit dem Heute zu vergleichen. Seit die Hamburg News begonnen hatten, Lukas’ Reportage in mehreren Teilen zu veröffentlichen, quollen die Leserbriefspalten der Zeitung mit Zuschriften über, in denen sich am Elyseum abgearbeitet wurde. Wie man dieser elitären und abgehobenen Schule so viel Platz einräumen könne, war zu lesen, ob es nicht wichtigere Themen in einer Stadt wie Hamburg gebe, »in der jedes vierte Kind von Armut bedroht ist«. Und immer wieder hieß es, dass sich wohlhabende Eltern womöglich eine gute Schulbildung ihrer Kinder mit »großzügigen Spenden« erkaufen konnten. Genau dazu wollte Niklas heute Abend Lukas etwas erzählen.
Er hatte für die Vier Flaschen diesmal Portweine ausgesucht und war gespannt, was die Freunde dazu sagen würden. Julius als Fan schwerer Rotweine würden die Ports gefallen, Clemens dürfte die Süße mögen, bei Lukas war sich Niklas nicht sicher. Der Reporter liebte Rieslinge, danach kamen andere Weißweine wie Sauvignon blanc oder Chardonnay. Aber je dunkler und alkoholischer es wurde, desto weniger war Lukas zu begeistern.
Für die Portweine hatte Niklas im Kaminzimmer der Alster-Lounge, die seit Jahren immer am letzten Donnerstag im Monat für die Vier Flaschen reserviert war, kleine Gläser eindecken lassen, auch das eine Premiere. Dazu würde es mehr Wasser als sonst geben, weil die schweren Weine mit einem vorgeschriebenen Alkoholgehalt von mindestens siebzehn Prozent die Freunde sonst zu schnell müde machen würden. Und dafür, fand Niklas, gab es wirklich zu viel zu besprechen.
Clemens war wie immer der Erste, der kam. Er war um Viertel vor acht da. Lukas erschien gut zwanzig Minuten später, Julius war wie so oft der Letzte, was ihm aber niemand übelnahm. Einem Bürgermeister, der Bundeskanzler werden wollte und nicht nur deswegen sieben Tage die Woche fast rund um die Uhr arbeitete, verzieh man natürlich, dass er Termine nicht exakt einhielt.
»Jungs«, sagte Niklas, nachdem sich alle zur Begrüßung umarmt hatten, »heute haben wir zwei Themen.« Er zeigte zu den Flaschen, die auf dem Kaminsims aufgereiht waren: »Das eine sind Portweine …«, dann wies er auf Lukas und Julius, die in zwei Sesseln nebeneinandersaßen, »… und das andere ist das Elyseum.«
»Das Elyseum?« Clemens streckte Niklas erwartungsvoll sein Glas entgegen. »Du meinst, diese Elite-Penne?« Niklas musste grinsen. Clemens war wahrscheinlich einer der letzten Menschen, die im 21. Jahrhundert solch einen angestaubten Ausdruck benutzten.
»Du hast also nicht gelesen, was unser lieber Freund Lukas bei seiner Rückkehr auf die Schulbank erlebt hat?« Niklas schüttelte mit dem Kopf, als sei das ein schweres Versäumnis.
»Du bist noch mal zur Schule gegangen?« Clemens sah verwirrt erst zu Lukas, dann zu Julius und Niklas, die fast zeitgleich in Gelächter ausbrachen.
»Wir haben doch bei unserem letzten Treffen darüber gesprochen«, sagte Lukas und nippte vorsichtig an seinem Glas, als könnte es zu heiß sein.
»Aber viel zu kurz.« Niklas nahm einen Stapel Hamburg News zur Hand, die er auf den Tisch neben seinem Sessel gelegt hatte.
»Ich habe verschlungen, was du über deine Zeit am Elyseum geschrieben hast, und ich habe mich sehr oft an früher erinnert gefühlt. Oder, Julius?«
»Ich glaube, ich werde ein Portwein-Fan.« Der Bürgermeister hatte nur mit halbem Ohr zugehört, so intensiv war er mit dem Niepoort Dry White beschäftigt. »Warum haben wir bisher eigentlich keine Portweine probiert?«
»Ein, zwei waren schon mal dabei, aber damals wart ihr so medium begeistert«, antwortete Niklas.
»Was sich ab heute ändern wird.« Julius schenkte sich fast andächtig etwas nach. »Den hier mag ich sehr. Und deine Serie über das Elyseum hat mir auch gut gefallen, Lukas. Auf jeden Fall besser als die Jahre, die ich dort verbracht habe.«
»Wieso?« Lukas tat sich anders als Julius, Niklas und Clemens, der bei jedem Schluck genießerisch die Augen schloss, mit dem Ausflug in die Welt der Portweine schwer.
»Wenn du als junger Marxist mit langen Haaren und kruden Ideen auf einem Gymnasium bist, auf dem ansonsten vor allem Unternehmersöhne und -töchter sind und jeder zweite einen Nachnamen hat, zu dem es in Hamburg auch eine Straße gibt, hast du es nicht leicht.« Julius kicherte sein Julius-Lachen, eine Mischung aus Glucksen und Verschlucken.
»Warum bist du dann überhaupt aufs Elyseum gegangen?«, fragte Clemens, der den Kapitalismus und seine Vertreter bis heute hasste.
»Weil wir um die Ecke gewohnt haben, weil ich in der vierten Klasse nur Einsen hatte …«
»… außer im Sport«, warf Lukas ein, mehr um Julius zu ärgern, als dass er es tatsächlich gewusst hätte.
»Außer im Sport«, gluckste der Bürgermeister. »Und weil ich es den ganzen Schnöseln und Von-und-zus zeigen wollte.«
»Also so Leuten wie mir.« Niklas fing an, die zweite Flasche auszuschenken, den Graham’s Six Grapes Reserve Port.
»Meine Elyseum-Lektion Nummer eins: Es gibt Menschen, die sehr viel Geld haben, und es gibt Menschen, die wissen, dass sehr viel Geld auch sehr viel Verantwortung bedeutet. Dein Vater und deine Familie und du sowieso gehören glücklicherweise in die zweite Kategorie.«
»Das hast du schön gesagt.« Niklas stoppte bei Lukas, weil der sein Glas noch nicht ausgetrunken hatte. »Wobei Geld am Elyseum immer eine große Rolle gespielt hat. Meine Mutter war eine Zeit lang Vorsitzende des Schulvereins, der gar nicht wusste, wohin mit den ganzen Spenden. Als damals die alte Bibliothek restauriert werden sollte, kam schnell mehr als eine halbe Million Euro zusammen – doppelt so viel, wie benötig wurde.«
»Die finanzielle Ausstattung des Elyseums wird nach der Reportage von Lukas jetzt wieder ein Thema werden.« Julius hatte das erste Glas mit dem zweiten Port geleert. »Das wird ja immer besser, Niklas.«
»Wie meinst du das?«, fragte Lukas.
»Dass der Port immer besser wird?« Julius gluckste zum dritten Mal, er war ob der Weine bester Stimmung.
»Du meinst, weil einige Leser in den Hamburg News Eltern von Elyseum-Schülern unterstellen, viel Geld zu spenden, damit ihre Kinder dort ihren Weg machen?« Niklas sah fragend zum Bürgermeister.
»Ich meine, dass die Linken-Fraktion in der Bürgerschaft in einer sogenannten kleinen Anfrage von meinem Senat detailliert wissen will, wie viel Geld dem Elyseum in den vergangenen zehn Jahren aus staatlichen wie aus privaten Quellen zur Verfügung stand.« Julius trank sein Glas aus und leckte sich mit der Zunge über die Lippen. »Und das sind Zahlen, die für jede Menge Aufregung sorgen könnten.«
»Shitstorms nennt man das heute«, sagte Clemens, um sich überhaupt am Gespräch zu beteiligen.
»Wie auch immer: Die Zahlen werden Futter für all diejenigen sein, die behaupten, dass man sich am Elyseum sogar gute Noten kaufen kann.«
»Was nach meiner Erfahrung mehr als eine Behauptung ist.« Niklas sah in die Runde und hatte sofort die Aufmerksamkeit aller.
Lukas hatte die Diskussion in den vergangenen Minuten verfolgt wie sonst nur Pressekonferenzen im Rathaus nach Wahlen oder großen Polizeieinsätzen. »Meinst du etwa«, fragte er, »dass du ernsthaft erlebt hast, wie Schüler am Elyseum bessere Noten bekommen haben, weil ihre Eltern der Schule Geld überwiesen haben?«
»So plump macht man das in den Kreisen nicht, aus denen ich komme.« Niklas setzte sein verschmitztes Ich-kann-nichts-dafür-dass-ich-der-Sohn-eines-Milliardärs-bin-Lächeln auf. »Und wenn ich von meiner Erfahrung spreche, dann meine ich wirklich meine Erfahrung: Ich war ein extrem fauler Schüler, ich habe nur das Allernötigste gemacht, und Mathe hat mich spätestens überfordert, als die Sache mit den Winkeln losging. Trotzdem bin ich nie Gefahr gelaufen sitzenzubleiben. Wenn ich zwischen zwei Noten stand, haben sich meine Lehrer fast immer für die bessere entschieden.«
»Die mochten dich halt«, sagte Clemens.
»Das ist lieb von dir.« Niklas ließ die dritte Flasche kreisen, einen Fonseca 10 years old Rich Tawny. »Aber ich bin mir sicher, dass ich es in der Schule nur deshalb so einfach hatte, weil ich der Sohn des großen Niklas Claasen war …«
»Der auch kräftig gespendet hat?«, fragte Lukas.
»Du hörst dich an, als wärest du schon wieder auf Recherche«, antwortete Niklas. »Na klar hat mein Vater auch Geld rausgetan, dafür hat allein meine Mutter als Schulvereinsvorsitzende gesorgt. Außerdem willst du dir als erfolgreicher Unternehmer bei so etwas keine Blöße geben.«
»Das ist das Prinzip, nach dem auch die ganzen Charitydinner in Hamburg funktionieren«, fiel Julius ein, der schon nach der vierten Flasche schielte, dem Taylor’s Late Bottled Vintage.
»Heißt was?«, wollte Lukas wissen.
Jetzt konnte Clemens etwas beitragen, schließlich beschäftigte er sich inzwischen hauptberuflich damit, Geld für Fridays for Future und andere Organisationen einzuwerben: »Wenn du zu einem Wohltätigkeitsdinner mehrere reiche Menschen einlädst, die Geld spenden sollen, überbieten die sich in ihrer Großzügigkeit – aus Angst, es könnte später herauskommen, dass ein anderer mehr gegeben hat als sie.«
»Verrückt.« Lukas schüttelte den Kopf und entsorgte einen Rest Portwein unauffällig in dem Spucknapf, der neben seinem Sessel stand.
»Aber die Realität«, sagte Niklas. »Und genauso lief es im Elyseum ab: Man überbot sich mit Spenden. Und nicht nur das: Ich bin mir sicher, dass einige Eltern ganz gezielt versucht haben und bis heute versuchen, ihren Kindern auf diese Weise zu helfen. Diese Leute sind es gewohnt, sich mit Geld alles kaufen zu können, warum dann nicht auch gute Noten?«
»Was zu beweisen wäre«, sagten Clemens und Julius im Chor, bevor sie wie Niklas in Richtung Lukas guckten.
Liebes Tagebuch,
Wahnsinn, wie lange ich nichts geschrieben habe, aber es ging nicht anders. Die neunte Klasse hat mir alles abverlangt, ich musste lernen, lernen, lernen, und trotzdem war mein Zeugnis eine einzige Katastrophe. Meine Deutsch- und Mathelehrerin hat mir vor den Sommerferien in ihrer widerlichen Art schon vorhergesagt, dass ich niemals das Abi schaffen werde. Blöde Hexe, die alte Rusche! Meint, dass ich schon in der zehnten Klasse scheitern werde! Sie hätte auf jeden Fall keine Scheu, mir auch eine Sechs in Mathe zu geben, wenn ich so weitermachen würde. Ich hätte am liebsten angefangen zu heulen, aber dafür bin ich dann doch zu stolz. So what, dass ich halt nicht aus einer wohlhabenden Familie komme wie die anderen, die auch nicht viel besser sind als ich und die von der Rusche trotzdem eine Drei bekommen, weil deren Eltern ihr in den Arsch kriechen oder sonst was. Mom war auch beim Elternsprechtag, aber sie hatte das Gefühl, dass die Rusche sie gar nicht ernst genommen hat. Was bestimmt ganz anders gewesen wäre, wenn Mom nicht bloß Altenpflegerin, sondern gleich die Besitzerin einer Seniorenresidenz wäre, so wie der Vater von Leonhard. Die Rusche hat Mom geraten, mich freiwillig vom Elyseum zu nehmen, bevor man mich am Ende der zehnten Klasse sowieso rausschmeißen würde.
Aber die Rusche ist erstens eine dämliche Kuh – und zweitens nicht mehr da. Offiziell irgendwas mit Burn-out, ich sage: Karma! Dieses Schuljahr haben wir einen neuen Deutsch- und Mathelehrer, und auf einmal sehen meine Noten ganz anders aus. Ha!! Soll noch einer sagen, ich wüsste nicht, wie das Spiel funktioniert. Geld ist eben doch nicht alles, da hat Mom schon recht. Auch wenn sie ziemlich mit mir schimpfen würde, wenn sie wüsste, wie das Ganze hier abläuft. Aber: Wer nicht wagt, der nicht gewinnt. Ja, die Sache ist nicht ohne Risiko, aber was ist das schon? Wie Mom immer sagt: Im Krieg und in der Liebe ist alles erlaubt. Oder so ähnlich.
Lukas hatte gehofft, die Zahlen zur Finanzlage des Elyseums exklusiv oder wenigstens vorab bekommen zu können. Aber die Linken-Fraktion streute die Antwort des Senats auf ihre Anfrage sehr breit. Die Hamburg News waren am Ende eine von zehn Redaktionen, die das Material erhielten. Das allerdings hatte es in sich: Nicht nur, dass das Elyseum in den vergangenen zehn Jahren private Spenden in Höhe von fast zehn Millionen Euro erhalten hatte; gleichzeitig war die Schule wie keine andere in ihrem Bezirk mit Investitionsmitteln von der Stadt bedacht worden. Letzteres hing mit dem Alter der Gebäude und deren dringendem Sanierungsbedarf zusammen, verstärkte aber den Eindruck einer durch und durch privilegierten oder, wie es ein Leserbriefschreiber nannte, »bis zum Hals gestopften« Schule.
Die Veröffentlichung der Zahlen sorgte für eine Welle der Empörung, deren Wucht sogar einen erfahrenen Reporter wie Lukas überraschte. Über dem Elyseum entlud sich die Wut all derer, für die Hamburg, die vermeintlich schönste Stadt der Welt, ein Paradebeispiel sozialer Ungleichheit im 21. Jahrhundert war. Hier Schulen, bei denen die Toiletten entweder defekt oder unzumutbar schmutzig waren, dort ein Gymnasium, das sich um nichts Gedanken machen musste, schon gar nicht um Geld. Hier ein Anteil von Schülern mit Migrationshintergrund von sechzig und mehr Prozent, dort das vermeintlich bessere Hamburg, das unter sich blieb: »In ist, wer drin ist«, hatte es in einem anderen Leserbrief in den Hamburg News geheißen, und das war nicht freundlich gemeint.
Lukas hatte sich bemüht, in seinem Text die Zahlen so nüchtern und sachlich wie möglich aufzubereiten, doch es nützte nichts: Die Informationen verselbstständigten sich, und sie wurden von anderen Medien viel schärfer intoniert. Allen voran vom Blick
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