Eines Dienstags beschloss meine Mutter Deutsche zu werden - Fahimeh Farsaie - E-Book

Eines Dienstags beschloss meine Mutter Deutsche zu werden E-Book

Fahimeh Farsaie

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Beschreibung

Seit Mutter Sima Deutsche werden will, herrscht Aufruhr im Kölner Haushalt der Familie Azad. Kein Wunder, denn bei ihrer Erforschung "deutscher Mentalität und Lebensart" bestückt Sima die Wohnung mit Politikerfotos und Märchenfiguren. Und zum Kebab gibt es jetzt Senf. Während Familienoberhaupt Abbas heroisch seine Ehre und die persische Tradition zu retten versucht, entdeckt seine Gattin ihr Herz für Brahms und deutsche Kröten - alles das unter dem Einfluss des allein stehenden Nachbarn Herbert! Erschüttert vom Zerfall seines heiligen Familienhortes zieht Abbas sich in die Tiefen der islamischen Mystik zurück. Zwischen den elterlichen Fronten steht die Berichterstatterin: Tochter Roya. Sie bemüht sich nicht nur um die Wiederherstellung des Familienfriedens, sondern auch um ihre Beziehung zum blauäugigen Buchhändler Peter. Und (fast) allen entgeht, dass Sohn Reza bei seinem Freund Kai nicht bloß Chemie lernt … Fahimeh Farsaie erzählt hinreißend lakonisch die bizarre Geschichte eines Einbürgerungsversuchs.

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Fahimeh Farsaie

Eines Dienstags beschloss meine MutterDeutsche zu werden

Fahimeh Farsaie

Eines Dienstagsbeschloss meine MutterDeutsche zu werden

Roman

Bibliografische Information der DeutschenNationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diesePublikation in der Deutschen Nationalbibliografie;detaillierte bibliografische Daten sind im Internetüber >http://dnb.ddb.de< abrufbar.

ISBN 978-3-943941-56-2

© Dittrich Verlag GmbH, Berlin 2014Abbildung auf dem Buchcover:Bild der Malerin Jaleh Bagheri

Ich bedanke mich ganz herzlich bei allen, die mich, bewusst oder unbewusst, gewollt oder ungewollt, beim Verfassen dieses Romans unterstützt haben, unter anderen Helga Resch, Karin Clark, G. Kranz, Wiltrud M., Ch. Theisen und last but not least meiner heiß geliebten Tochter Golbarg!

Inhalt

Kapitel 1.

Kapitel 2.

Kapitel 3.

Kapitel 4.

Kapitel 5.

Kapitel 6.

Kapitel 7.

Kapitel 8.

Kapitel 9.

Kapitel 10.

Kapitel 11.

Kapitel 12.

Kapitel 13.

Kapitel 14.

Kapitel 15.

Kapitel 16.

Kapitel 17.

Kapitel 18.

Kapitel 19.

Kapitel 20.

Kapitel 21.

Kapitel 22.

Kapitel 23.

Kapitel 24.

Kapitel 25.

Kapitel 26.

Kapitel 27.

Kapitel 28.

Kapitel 29.

Kapitel 30.

Kapitel 31.

Kapitel 32.

Kapitel 33.

Kapitel 34.

Kapitel 35.

Kapitel 36.

Kapitel 37.

Kapitel 38.

Kapitel 39.

Kapitel 40.

Kapitel 41.

Kapitel 42.

Kapitel 43.

Kapitel 44.

Kapitel 45.

Kapitel 46.

Kapitel 47.

Kapitel 48.

Kapitel 49.

Kapitel 50.

Kapitel 51.

Kapitel 52.

GLOSSAR

FAHIMEH FARSAIE

1.

»Ich will Deutsche werden.«

Mit diesem Satz versetzte meine Mutter unsere Kleinfamilie in einen schweren, bis heute anhaltenden Aufruhr. Abbas Agha*, mein Vater, war der Erste, der die Auflehnungsflagge hisste. Denn er ist ein schrecklich stolzer Perser. Er war es immer, überall und in jeder Hinsicht. Daher ahmt er bei jeder Gelegenheit unseren aus dem Volk stammenden Nationalhelden Dash Akoll* nach. Selbst wenn er in der Morgendämmerung in seinem Restaurant hinter der Kasse sitzt und auf das trübe Tageslicht starrt, das aus dem Kölner Himmel tropft, schwelgt er in seinem persischen Stolz. Er schwebt auf einem persischen Teppich, gewoben aus Ehre und Stolz, wenn er die fette Luft seiner Kebab-Bude einatmet und, um Zeit totzuschlagen, die Kassenschublade auf- und zumacht. Ohne sein persisches Nationalgefühl verlöre Abbas Agha das Gleichgewicht wie eine Katze ohne Schnurrbart.

Beim Abendessen hielt meine Mutter tapfer dem bösen Blick Abbas Aghas stand, und nachdem sie die unentbehrlichen Vorteile ihres Deutschwerdens einzeln aufgezählt hatte, fügte sie hinzu: »Es ist mir eigentlich egal, welche Nationalität ich habe; die persische, deutsche …«

»Siiiiiiiimaaaaaa!«

Mein Vater brüllte warnend ihren Namen. Seine Stimme schwoll mit jeder Silbe. Er versuchte wie Dash Akoll zu klingen, der in unserer Erinnerung wie der persische Schauspieler Behrooz Woussoghi aussah.

Sima ließ sich nicht einschüchtern, zwinkernd sagte sie: »Was ist? Ist doch wahr. Wo meine Kinder leben, bin auch ich zu Hause. Da bin ich glücklich! Ob es in Iran ist oder auf dem Planeten Mars, ist in meinem Alter völlig egal!«

So alt ist meine Mutter gar nicht. Sie ist sogar ein paar Jahre jünger als mein Vater, der immer noch glaubt, gleichaltrig mit dem jungen Omar Sharif zu sein. Als der die Rolle des Häuptlingssohns eines einflussreichen Stammes im Film »Lawrence von Arabien« spielte, selbstverständlich. Ab und zu ahmt er Omar Sharif sogar nach, wenn er uns seine Macht demonstrieren will.

Wir lernten ziemlich früh, den Bezug auf das »Alter« nicht besonders ernst zu nehmen. »Nein, sehr spät«, interveniert mein Bruder Reza, immer wenn ich das laut auszusprechen wage. Vielleicht hat er Recht. Ich begriff es erst vor kurzem, mit zwanzig, und er schon mit fünfzehn. Seitdem will er nicht mehr Reza, sondern Ryan genannt werden.

Früher versuchte Sima Khanoom* unermüdlich, unser Leben in allen Einzelheiten nach den »Geboten des Alters« zu gestalten. Sie pflegte immer zu sagen: »Jedes Alter setzt ein bestimmtes Verhalten voraus.« Sie war der Ansicht, dass man die Verhaltensweise, die für ein gewisses Alter bestimmt sei, nicht zu einem ungeeigneten Zeitpunkt an den Tag legen dürfe. Das sei fatal. Man würde ja Tag und Nacht auch nicht gegeneinander austauschen.

Nach dieser unumstrittenen Logik durfte ich mit sechzehn meine dichten Augenbrauen nicht zupfen. Ich musste mit jenen schwarzen Balken, die wie Haare an Ziegenbeinen aussahen, bis zu meinem achtzehnten Lebensjahr herumlaufen. Reza, oh sorry, Ryan wagte bis vor kurzem nicht, Ohrringe zu tragen. Und nun? Nun hängen überall allerlei goldene und silberne Ringe von seinen Ohrläppchen, an der Nase, am Hals!

Abbas Agha* sieht in Ryan das »Licht seiner Augen«. Er soll als ältester und einziger männlicher Erbe »den Hort seiner kleinen, heiligen Familie« wie einen Backofen stets warm halten. Ryan ist gleichzeitig sein Leben, seine Seele, sein »Djahn«*. Als ob Djahn ein Bestandteil von Ryans Name wäre, benutzt Abbas Agha diesen Zusatz ausnahmslos, selbst im Streit. Es wäre ein Affront, wenn Ryan Djahn einmal nicht mit dem ehrfürchtigen Namen des Augenlichts von Abbas Agha angesprochen würde. Ryan war bis zu seiner Pubertät von diesem Ausdruck der väterlichen Zuneigung völlig entzückt. Doch nun, wo er sich auf dem Weg ins Erwachsenendasein befand und dabei war, alles, unter anderem seine Unschuld und seine mädchenhafte Stimme, zu verlieren, war er nicht mehr begeistert, besonders wenn Abbas Agha die Formel »Djahn, Djahn« wie der gütige Dash Akoll chauvimäßig betonte. Ryan Djahns Verdrossenheit ließ sich an den Nuancen seiner Stimme erkennen, die ab und zu zwischen hell und dunkel wechselte, selbst in einem einzigen kurzen Satz. Ehrlich gesagt amüsierte ich mich köstlich über diesen Klangsalat.

Jedenfalls, als wir lernten, keinen allzu großen Wert mehr auf das Alter und seine Ansprüche zu legen, stellten wir zu unserem Erstaunen fest, dass die von unserer Mutter erklärten Verbotsbereiche langsam schrumpften. Selbstverständlich unterließ Sima Khanoom ihre altersbezogenen Argumentationen nicht. Sie versuchte nur ihre Ausdrucksformen entsprechend den pädagogischen Methoden, die sie sich als versierte Lehrerin über Jahre in Iran angeeignet hatte, auszubauen. Nachdem sich Ryan zum ersten Mal an der linken Augenbraue gepierct hatte, begann Sima Khanoom mit unsichtbaren Geistern zu reden. Sie tauchten stets wie auf Befehl auf und hörten ihre Beleidigungen und Erniedrigungen widerstandslos an. Als Sima Khanoom in Ryans Unterlippe einen zweiten Ring entdeckte, beschimpfte sie die fiktiven Gespenster unverhohlen, dass sie keinen Funken Menschenwürde besäßen, dass sie den Segen, als freie Wesen leben zu dürfen, nicht zu schätzen wüssten und freiwillig als niederträchtige Sklaven aufträten.

Ryan, der sich angesprochen und sichtlich beleidigt fühlte, fragte: »Tschuldigen Sie, Mutter. Sprechen Sie so mich an?«

Aufgebracht schob meine Mutter den Kebab mit gebratenen Tomaten, der aus Abbas Aghas Restaurant geliefert worden war, in die Mikrowelle und antwortete scheinheilig: »Nein, Liebes. Ich meine die Leute, die sich so benehmen.«

Selbstverständlich sprach meine Mutter uns niemals direkt an, wenn wir ihr Missfallen erregten, zielte aber mit ihrer neuen Methode darauf ab, Schuldgefühle in uns hervorzurufen. Oft gelang es ihr. In mir lösten ihre Vorhaltungen stechende Schmerzen aus, als seien Holzsplitter in mein Fleisch eingedrungen.

2.

Der Tag, an dem uns meine Mutter über ihre Entscheidung in Kenntnis setzte, war kein günstiger Tag. Es war ein regnerischer Dienstag. Dienstage sind grundsätzlich langweilig und garstig. Sie sind weder energisch wie der Montag noch ermutigend wie der Freitag, an dessen Ausklang sich die Erwartung des nahenden Wochenendes knüpft. Am Mittwoch stellt sich ein neuer Energieschub ein bei dem Gedanken daran, dass der Woche das Kreuz gebrochen ist. Dem Dienstag fehlt dieses schwache und trübe Licht, das den Mittwoch zart erhellt. An einem Dienstag in einen Unfall verwickelt zu werden, der mich lebenslang lähmt, würde mich überhaupt nicht wundern. Aus Angst vor den unheilbaren Folgen dieses Tages verabrede ich mich dienstags auch nie, mit Peter.

In der Tat, jener Dienstag war so trüb wie der Atem eines kranken Menschen. Ich stellte mir meinen Vater vor, der an diesem Tag die ganze Zeit hinter der lautlosen Kasse in einem Restaurant saß und sehnsüchtig auf das turbulente Leben starrte, das draußen wirbelte. Von ihrer Alterslast gebeugt ging höchstwahrscheinlich auch meine Mutter an diesem Tag allein in unserer Vierzimmerwohnung auf und ab und fragte sich: »Was soll ich jetzt tun?«

Es ist die Frage, die sich Sima Khanoom stets und in jeder Situation stellt. Denn sie ist meist so in Gedanken versunken, dass sie vergisst, was sie schon erledigt hat und was noch zu tun ist. Manchmal lautet die Antwort, sie solle sich nun waschen, da ihre Notdurft schon verrichtet sei. Dann wieder, sie solle sich heftig mit Abbas Agha streiten, weil für sie das alles nicht mehr zum Aushalten wäre.

Am Ende eines solchen geplanten, durch die Was-soll-ich-jetzt-tun-Frage ausgelösten Streits hatte Sima Khanoom einmal meinen Vater so massiv unter Druck gesetzt, dass er unsere wunderschönen Seidenteppiche verkaufte und Holzparkett auf dem nackten Boden verlegte. Sima Khanoom war ausgesprochen begeistert. Sie zog ihre roten Pumps an, trippelte geräuschvoll durch die Wohnung und meinte zufrieden: »Ach, wie schön! Jetzt kann ich tagsüber wenigstens meine eigenen Schritte hören, kann merken, dass ich noch lebe und meine Ohren in Ordnung sind.«

Ihre noch recht ordentlichen Ohren bereiteten jedoch Abbas Agha später große Schwierigkeiten, weil er gezwungen war, den vor etwa einem Jahr gekauften Kühlschrank Marke Siemens zu veräußern und einen neuen anzuschaffen. Das ununterbrochene Summen des alten Geräts hatte angeblich Sima Khanoom das Gehirn wie eine Bohrmaschine durchlöchert und ihre Ohren taub gemacht.

Die Tatsache, dass meine Mutter grundsätzlich mit ihren Ohren Probleme hat, stört uns mittlerweile nicht mehr. Fatal ist nur, dass sie manchmal vergisst, dass sie überhaupt welche hat. Dann schließt sie ihre Augen und redet pausenlos wie ein Wasserfall. In solchen Situationen finden weder ich noch Abbas Agha oder Ryan bei ihr Gehör.

An jenem trüben Dienstag verhielt sich meine Mutter so, als ob sie ohne Ohren auf die Welt gekommen wäre. Beim Abendessen, während sie das Tablett mit dem aromatisch duftenden Basmatireis auf den Tisch stellte, teilte sie uns mit, Deutsche werden zu wollen. Im Reisdampf, der sich ungeduldig zum Kronleuchter schwang, strich sie sich kurz durch ihre grauen Haare und fuhr fort: »Wäre super, wenn es klappen würde. Muss nur den Antrag schnell stellen. Man weiß ja nicht, was passieren wird, jetzt wo die Große Koalition dran ist. Vielleicht ändern sie das Gesetz wieder …«

Mein Vater unterbrach sie empört und brüllte mit Dash Akoll-Stimme: »Was? Willst du wirklich Deutsche werden?

Willst du unsere Kleinfamilie zerstören? Ist dir gleichgültig, was die persische Gemeinde hier sagt? Ist dir egal, wie ich meinen Kopf danach vor meinen Landsleuten, vor meinem Volk hochhalten soll?«

Meine Mutter zeigte sich erstaunt. Zuerst streifte sie mich und Ryan Djahn mit einem kurzen Blick, dann wandte sie sich höflich an Abbas Agha: »Darf ich mal fragen, welches Volk Sie meinen?«

Diese Frage versetzte Abbas Agha-Dash Akoll, der sich immer als ein Mann aus dem Volk bezeichnete und ein Leben lang für die Rechte der einfachen Leute gekämpft hatte, plötzlich in Verlegenheit. Seine Zugehörigkeit und Verbundenheit zur persischen Volksgemeinschaft lag seiner Ansicht nach unmissverständlich auf der Hand. Niemand durfte sie in Frage stellen. Verwirrt zeigte er auf die gebratenen Tomaten auf dem Tisch und sagte: »Na, das Volk eben. Ich meine diese Perser.«

Sima Khanoom ignorierte zu Recht die als Volk angesprochenen gebratenen Tomaten, blickte sich um, und da sie niemenden außer mir und Ryan entdeckte, begann sie, die haltlosen Argumente meines Vaters zu analysieren. Mit Fragen wie »Meinst du Frau X oder Herrn Y?« blätterte sie sämtliche bekannten und unbekannten Perser in ihrem Gedächtnisregister durch und schied ausnahmslos alle als nicht dem persischen Volk zugehörig aus. Der duftende Reis löste sich im Licht des Kronleuchters auf. Das Kebab-Fett gerann. Die Haut der gebratenen Tomaten platzte. Meine Mutter jedoch war immer noch damit beschäftigt, die Perser in verschiedenen Ländern und Städten der Welt auszusortieren und der Gruppe der Nicht-zum-Volk-Gehörigen zuzuordnen.

Als ich genervt von ihren Ausführungen den Fernseher einschaltete und Ryan Djahn im Begriff war, zum Kiosk um die Ecke zu gehen, um seinen Hunger wie immer mit Chips und Cola zu stillen, gelangte meine Mutter zu der abschließenden Feststellung, dass in den persischen Volksgemeinschaften im Ausland nicht ein aus dem Volk stammender Mensch existierte, vor dem Abbas Agha sein Haupt hochhalten sollte. Am Schluss fügte sie hinzu: »Außerdem, du konntest als Mitglied der Toudeh-Partei* jederzeit deinen Kopf hochhalten, auch nach dem historischen Verrat dieser Partei an der Volksbewegung* Anfang der fünfziger Jahre und nach ihrer üblen Unterstützung des Khomeini*-Regimes. Da dürfte es dir eigentlich nicht schwer fallen, es weiter zu tun, auch wenn ich Deutsche werde!«

Mein Vater, der sich wie gewöhnlich den Diskussionen über Verrat oder Nichtverrat der Toudeh-Partei zu entziehen versuchte, rettete sich in die autoritätstrotzende Stimme des Schauspielers Omar Sharif und sagte: »Nun, es ist spät. Darüber reden wir ein anderes Mal.«

Er begab sich ins Wohnzimmer, holte die Kassette von »Lawrence von Arabien« aus dem Regal und steckte sie in den Videorecorder, um sie sich zum tausendsten Mal anzuschauen.

Abbas Agha sieht dem großen Schauspieler Omar Sharif tatsächlich nicht unähnlich. Besonders seine großen braunen Augen erinnern an Sharifs Stieraugen. Vielleicht deshalb oder auch, weil er selbst vor Zeiten in Iran ein hochrangiger Offizier gewesen war, versucht Abbas Agha Sharifs Stimme und sein Verhalten als Häuptlingssohn nachzuahmen. Dann bildet er sich ein, wieder von der unwiderstehlichen Aura von Macht und Autorität umhüllt zu sein, die ihm einst sein angriffsbereiter Stierblick und der Glanz seiner nun wertlosen Militärorden verliehen hatten. Aus unerklärlichen Gründen lassen wir uns stets von seiner Omar Sharif-Pose einschüchtern und beharren nie auf der Fortsetzung unangenehmer Diskussionen. Sogar Sima Khanoom, dank ihrer gar nicht mehr so ordentlichen Ohren, zieht es vor, sich nicht mit ihrem Omar Sharif-Double anzulegen.

So blickte sie an jenem Abend auf die kalt gewordenen Speisen auf dem Tisch, die unter dem weißen Licht des Leuchters wie eingefroren wirkten, und fragte erstaunt: »Warum habt ihr nicht zugelangt? Jetzt ist das Essen kalt und ungenießbar.«

Sirna Khanoom ist grundsätzlich nicht die Art Frau, die auf die Idee käme, dass ihre allzu entbehrlichen Ausführungen eventuell unseren Appetit verdorben haben könnten. Als ich sie ganz vorsichtig darauf ansprechen wollte, war sie zutiefst beleidigt. Wie immer rief sie ihre unsichtbaren Geister herbei und begann, das Holz ihrer »mütterlichen Pflicht« und »unserer unverschämten Undankbarkeit« zu hobeln und Splitter und Späne des Tadels zu verstreuen.

»Es ist sinnlos, sich von morgens bis mitternachts für die Familie aufzuopfern. Statt sich zu bedanken, heißt es am Ende, alles sei falsch, was man getan hat.«

Je mehr ich mich bemühte, das Missverständnis auszuräumen, desto geringer war mein Erfolg. Außerdem fühlte ich mich von ihren schmerzhaft stechenden Tadel-Splittern wie gelähmt. Sie drangen so tief in meine Seele ein, dass keine Pinzette sie herausgebracht hätte. So flüchtete ich mit dem Gedanken an Peter und an seine Schutz und Trost versprechende Schulter aus der Wohnung.

3.

Peter empfing mich, obwohl unter Stress, erfreut und umarmte mich liebevoll. Als Beweis seines Mitgefühls griff er auf sein Patentrezept zurück: »Nimm endlich Abstand von deiner Familie, mein Schatz. Sie nutzen deine Schwäche für Harmonie rücksichtslos aus.«

Bei der Vorstellung, dass Abbas Agha und Sima Khanoom meine Schwäche rücksichtslos ausnutzten, brach ich in Lachen aus. Sie waren es doch, die unserer Zukunft wegen Tag und Nacht schufteten. Dennoch widersprach ich Peter nicht. Von Streitereien hatte ich für heute genug, dazu noch ein kulturelles Missverständnis aus dem Weg zu räumen ging über meine Kräfte.

Peter ist Buchhändler von Beruf. Seine internationale Krimi-Sammlung ist bundesweit einmalig. Ständig sortiert er die Bücher nach Genre und nach den Namen der Autoren in alphabetischer Reihenfolge. Dann ordnet er sie in die vorgesehenen Regale ein. Auch sein Leben arrangiert er nach einer ähnlich strikten Ordnung, nach umständlich durchdachten, nur ihm verständlichen »kurzfristigen und langfristigen Plänen«, die er sorgfältig auf Zetteln notiert, die am Kühlschrank hängen. Sein Verhalten im Alltag ist unwillkürlich davon in Mitleidenschaft gezogen, was sich auf unsere Beziehung auswirkt. Stets redet er von »meinem Problem«, »deinem Problem«, von »meinem Geld« und »deinem Geld«, was mir völlig fremd ist. Peters scharfer Verstand gleicht einem Computer, so dass für ihn Gott und die Welt allein durch die Zahlen Null und Eins darstellbar und verständlich sind, unsere Liebesbeziehung nicht ausgenommen.

Ich verkroch mich in seinen Armen, vergaß die Holzspäneschmerzen und sagte sanft: »Aber Peter, es sind meine Eltern. Du redest so, als ob sie Fremde wären.«

Peter mit seinem 0/1-Verstand wie ein Computer, den er mir übrigens gründlich erklärte, meinte, es gäbe keinen Unterschied zwischen Verwandten und Fremden, wenn »persönliche Interessen« im Spiel sind. Stolz fügte er hinzu: »Das weiß ich, seit ich siebzehn bin!«

In seinem siebzehnten Lebensjahr war Peter von zu Hause ausgezogen und in eine Wohngemeinschaft umgesiedelt. Als Nichtraucher hatte er keine großen Ausgaben. Seine allein erziehende Mutter Margrit unterstützte ihn mit einem bescheidenen monatlichen Taschengeld. Die Großmutter übernahm seine GEW-Rechnungen. Er selbst arbeitete in der Freizeit als Fensterputzer und Transporthelfer, um seine restlichen Ausgaben zu decken. Auf dem von der Umzugsfirma gestellten T-Shirt, das er aus Zeitmangel manchmal sogar in der Schule trug, stand in großen Lettern: Ihren Umzug zu erledigen, ist unsere Pflicht.

So hatte Peter am eigenen Leib erfahren, wie hart Geldverdienen sein kann. Hart lernte er auch, seine Einkünfte zu sparen.

Im Gegensatz zu Peter geht mein Vater leichtsinnig mit Geld um. Selbst während er den Tagesumsatz zählt, blickt er träumerisch in die oftmals regnerische Nacht, als sei er beauftragt, Regentropfen statt Geld zu zählen. Er vertieft sich mit so viel Ernst in jene nasse Finsternis, als sei Regen ein seltsames, jährlich nur einmal in Deutschland zu beobachtendes Ereignis und als entginge seinen Augen eines der Weltwunder, ließe er diesen bizarren Vorfall unbeachtet. Wenn Peter dagegen den Preis eines eben verkauften Buches in die Kasse tippt, konzentrieren sich all seine Sinne allein darauf; erst erfasst er die Ziffern mit den Augen, dann registriert er sie in seinem Gedächtnis. Anschließend spürt er sie förmlich in seinen geübten Fingern, wenn er die Kassentasten berührt und die Zahlen eingibt. Am Schluss errechnet sein trainiertes Gehirn nach dem 0/1-System die bis dato prozentual eingenommene Handelsspanne. Da Peters exklusive Krimi-Angebote äußerst gefragt sind, schwebt ständig ein melodisches Kassengeklingel in der Luft, als zwitschere ohne Unterlass eine Nachtigall in seinem Laden.

4.

Nach jenem düsteren Dienstag gelang es meinem Vater nicht, Sima Khanooms Entscheidung zu ändern. Auch die Autorität Dash Akolls konnte sich nicht durchsetzen. Nicht einmal von Omar Sharifs Bullenblick ließ Sima Khanoom sich einschüchtern. Ihr Entschluss blieb unüberwindbar. Als Abbas Agha sie zum tausendsten Mal mit Dash Akoll-Stimme fragte: »Warum, zum Teufel, willst du Deutsche werden?«, antwortete ich an ihrer Stelle, zermürbt von den unendlichen Streitereien: »Unseretwegen. Sie will einfach ohne Angst und Sorge um ihr Aufenthaltsrecht bei ihren Kindern bleiben dürfen. Ist das so schwer zu verstehen?«

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