Einführung in die Sexualpädagogik und Sexuelle Bildung - Heinz-Jürgen Voß - E-Book

Einführung in die Sexualpädagogik und Sexuelle Bildung E-Book

Heinz-Jürgen Voß

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Beschreibung

Sexualität will gelernt sein. Die Wichtigkeit von Sexualpädagogik für Kinder und Jugendliche und von Sexueller Bildung für alle Altersgruppen ist heute gesellschaftlich anerkannt. Internationalen Übereinkünften gemäß zielen entsprechende Bildungsangebote auf die Förderung von Selbstbestimmung. Zugleich tragen sie Erkenntnissen zur Prävention von sexualisierter Gewalt sowie zur Anerkennung von geschlechtlicher und sexueller Vielfalt Rechnung. Sexualpädagogik professionell zu vermitteln, muss ebenfalls gelernt werden. Neben Fertigkeiten und Haltung geht es um Wissen. Diese Einführung bietet eine zielgruppenübergreifende kompakte Übersicht. Sie bündelt das theoretische Wissen - Definitionen, rechtliche und psychosexuelle Grundlagen sowie Informationen zur bewegten sexualpädagogischen Geschichte - und präsentiert sie für den praxisorientierten gezielten Zugriff.

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Der Autor

Dr. Heinz-Jürgen Voß hat die Professur für Sexualwissenschaft und Sexuelle Bildung am Fachbereich Soziale Arbeit.Medien.Kultur der Hochschule Merseburg inne.

Heinz-Jürgen Voß

Einführung in die Sexualpädagogik und Sexuelle Bildung

Basisbuch für Studium und Weiterbildung

Verlag W. Kohlhammer

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1. Auflage 2023

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-034717-5

E-Book-Formate:

pdf:           ISBN 978-3-17-034718-2

epub:        ISBN 978-3-17-034719-9

Inhaltsverzeichnis

 

 

1   Einleitung

Grenzverletzungen und sexualisierte Gewalt

Geschlechtliche und sexuelle Vielfalt

Die gesellschaftliche »Banalisierung« und Pädagogisierung des Sexuellen

Reflexion stereotyper Vorstellungen – Intersektionalität

2   Einstieg: Prämissen aktueller Sexualpädagogik und Sexueller Bildung

Sexualität ist ein Grundbedürfnis für einen Teil der Menschen

Sexuelle und reproduktive Rechte

Sexuelle Bildung ist ein Prozess der Selbstaneignung, der unterstützt werden kann

Veränderungen im Sexuellen und Geschlechtlichen finden statt

Männerzentrierte Sichtweisen reflektieren

Belastungsfaktoren für trans*-, intergeschlechtliche und geschlechtlich nicht-binäre Personen, mehr noch als für cisgeschlechtliche Lesben und Schwule

3   Definitionen: Sexualerziehung, Sexualpädagogik, Sexuelle Bildung?

Sexualpädagogik

Sexualerziehung

Sexuelle Bildung

Fachlich-qualitative Einordnung von Konzepten der Sexualpädagogik

4   Kurze Geschichte des Sexuellen und seiner »Erziehung«

Ordnungsbemühungen um das sexuelle Tun in der Antike

Auswirkungen des Christentums

Weitreichende Veränderungen seit 1500

Das moderne, bürgerliche Sexualitätsverständnis: Vom sexuellen Tun zur Identität

Zur Erziehung im Sexuellen in der europäischen Moderne

Bedeutung der Debatten um Onanie

Sexualpädagogische Ratschläge für Eltern und Schule um 1900

Hirschfeld & Bohm: Eine »Sexualpädagogik der Vielfalt« um 1930

Sexualpädagogik im Nationalsozialismus

5   Sexualpädagogik wird grundlegend Thema (in der Schule)

Der Beginn der Sexualpädagogik in BRD, Westberlin und DDR – kein Neustart

In der BRD teils bis in die 1980er Jahre: Gewalt von Lehrkräften gegen Schüler*innen

Aktualisierungen: Sexualpädagogische Entwicklungen in der Bundesrepublik und Westberlin

Entwicklungen in der DDR

Schulische Sexualpädagogik heute

6   Die heutige Sexualpädagogik und ihre rechtlichen und psychosexuellen Grundlagen

Prämissen der Sexualpädagogik und die BZgA als zuständige Bundesbehörde

Weitere relevante rechtliche Grundlagen für sexualpädagogische Angebote

Zur psychosexuellen Entwicklung: Unterscheidung von Kinder- und Erwachsenensexualität

Sexualpädagogik in der Kita

Sexualpädagogik und Prävention sexualisierter Gewalt in der Schule

7   Sexuelle Bildung als lebenslanger Prozess der Selbstaneignung

8   Sexualpädagogik und Sexuelle Bildung intersektional fortentwickeln

Heterogenität wahrnehmen lernen

Intersektionalität und der wichtigste Schritt: Selbstreflexion

Das Interkulturelle und intersektionale Rahmenkonzept des Burgenlandkreises

Die historische Dimension intersektionaler Reflexion der Sexualpädagogik: Anschluss an die jüdische Theoriebildung der »Geschlechtermischung«

Literatur

1          Einleitung

 

 

Wie in kaum einem anderen Bildungsbereich zeigen sich in Sexualpädagogik und Sexueller Bildung seit Mitte der 1990er Jahre und verstärkt noch seit den 2010er Jahren weitreichende Veränderungen, die eine grundlegende inhaltliche Neubestimmung, also eine zeitgemäße Einführung in die Sexualpädagogik und die Sexuelle Bildung erforderlich machen. »Sexualpädagogik muss ihre historisch konkreten Bedingungen permanent reflektieren und damit ihre sich wandelnde Funktion. Wer heutzutage in Bezug auf Sexualität zum Beispiel schlechterdings ›mehr davon‹ fordert, mehr Aufklärung, mehr darüber reden, mehr Offenheit, mehr Unverklemmtheit etc., der ist tatsächlich von gestern« (Weller 2020: 466). Wesentliche Veränderungen, die den Rahmen des vorliegenden Bandes abstecken, sind:

Grenzverletzungen und sexualisierte Gewalt

Die Aufdeckungen von sexualisierter Gewalt an Internaten und anderen pädagogischen Einrichtungen seit dem Jahr 2010 haben weitreichende Reflexionen in der Gesellschaft über strukturelle Bedingungen, die diese sexualisierte Gewalt ermöglicht haben, angefacht (vgl. Retkowski et al. 2018; Urban 2019; Wazlawik et al. 2019; Böhm et al. 2020; Krolzik-Matthei et al. 2020). Dabei sind sowohl besonders hierarchisch geführte Einrichtungen als problematisch in den Blick gerückt, aber auch solche, die eher Laissez-faire-strukturiert waren, mitunter von einem reformpädagogischen Ausgangspunkt kommend (vgl. Enders 2012). Aus sexualpädagogischer Sicht ist etwa das Wirken von Helmut Kentler kritisch zu reflektieren, ebenso wie die aus fachlicher Sicht kaum nachvollziehbaren deutlichen Bezüge auf ihn (vgl. Nentwig 2021). Im Zuge der aktuellen gesellschaftlichen und fachwissenschaftlichen Diskussionen finden Überlegungen statt, Fragen der Prävention von sexualisierter Gewalt stärker als ein Themenfeld der Sexualpädagogik und Sexuellen Bildung zu sehen; Sexualpädagogik und Sexuelle Bildung sollen einerseits zu sexueller Selbstbestimmung befähigen, andererseits Grenzverletzungen und sexuelle Übergriffe thematisieren und ihnen vorbeugen.

Diese Veränderungen tragen auch einer allgemein in der deutschen Gesellschaft anwachsenden Sensibilität in Bezug auf Grenzverletzungen und Übergriffe Rechnung. 1997 wurde Vergewaltigung in der Ehe zum Straftatbestand; liest man heute vorherige Gerichtsurteile, ist man oft sprachlos, ob der Selbstverständlichkeit, mit der Gerichte den Geschlechtsverkehr innerhalb der Ehe auch gegen den erklärten Willen einer* Beteiligten zur Pflicht erklärten. Debatten in den Sozialen Medien wie beispielsweise #aufschrei und #metoo haben auf Männerdominanz, Sexismus und Gewalt in der deutschen Gesellschaft aufmerksam gemacht.

Geschlechtliche und sexuelle Vielfalt

Seit Beginn der 1990er Jahre sind gesellschaftliche Veränderungen im Gang, bisherige gesellschaftliche sexuelle Normsetzungen kritisch zu reflektieren und stattdessen geschlechtliche und sexuelle Selbstbestimmung zu ermöglichen (vgl. Katzer & Voß 2016). So wertet die Internationale Klassifikation der Krankheiten (International Classification of Diseases, ICD) Homosexualität seit 1992 nicht mehr als pathologisch. 1994 wurde auch in den alten Bundesländern der Bundesrepublik der § 175 des Strafgesetzbuchs abgeschafft. Er richtete sich gegen mann-männliche sexuelle Handlungen und sah zuletzt noch unterschiedliche Schutzaltergrenzen für heterosexuellen und für homosexuellen Sex vor (ebd.). Seit Beginn der 2000er Jahre betreffen die gesellschaftlichen Veränderungen auch geschlechtliche Vielfalt: Auch trans* und inter* Personen werden nun zunehmend nicht mehr als »medizinisches Problem« betrachtet, sondern als Teil einer Vielfalt menschlichen Daseins, dem mit Toleranz und Akzeptanz begegnet werden soll (vgl. u. a. Tuider et al. 2012 [2008]; Spahn & Wedl 2019a und 2019b; Böhm & Timmermanns 2020; Groß & Niedenthal 2021).

Mit diesen gesellschaftlichen Veränderungen ist verbunden, dass geschlechtliche und sexuelle Vielfalt in Lehrmaterialien nicht mehr als »Störung« oder »Abweichung« vorgestellt werden soll. Stattdessen sollen Bildungsprogramme und -materialien Toleranz und Akzeptanz und letztlich geschlechtliche und sexuelle Selbstbestimmung fördern (vgl. Tuider et al. 2012 [2008]; Spahn & Wedl 2019a und 2019b; Böhm & Timmermanns 2020). Wie in Bezug auf die gesellschaftliche Reflexion von Grenzverletzungen und sexualisierter Gewalt finden auch hinsichtlich der Förderung von geschlechtlicher und sexueller Selbstbestimmung intensive gesellschaftliche Aushandlungen statt, da Veränderungen Vermittlungsprozesse benötigen. So haben Personen, die bis 1994 zur Schule gingen (und viele selbst danach noch), in Bezug auf Homosexualität gelernt, dass es sich um eine »Störung« oder »Krankheit« handele. Damit ergeben sich selbstverständlich kritische Nachfragen, wenn die vormalige pathologisierende Gewissheit nicht mehr gelten soll und nun stattdessen die Selbstbestimmung von Menschen gefördert wird.

Die gesellschaftliche »Banalisierung« und Pädagogisierung des Sexuellen

Führende Sexualwissenschaftler*innen, namentlich Volkmar Sigusch und Rüdiger Lautmann, sehen mit der stärkeren offenen Thematisierung des Sexuellen und seiner Verwertung im Kontext der kapitalistischen Produktpalette eine »Banalisierung« dieses intimen Bereichs verbunden. Das Sexuelle werde zur »Freizeitaktivität gleich anderen« (Lautmann 2020: 43). Sigusch (2020) führt aus:

»Denn unser Alltag ist von sexuellen Reizen ebenso gesättigt wie entleert. Volle Leere, leere Fülle. Das ist eine der zentralen Paradoxien der neosexuellen Revolution […]. Offenbar wird das Begehren durch die übertriebene ökonomische und kulturelle Inszenierung der sexuellen Reize, durch deren Dauerpräsenz, beinahe lückenlose Kommerzialisierung und elektronische Zerstreuung wirksamer gedrosselt bis ausgetrieben, als es die alte Unterdrückung durch Verbote vermocht hat« (Sigusch 2020: 21).

Diese Einschätzung verbindet Sigusch bereits früh (etwa Sigusch 1984; Sigusch 2005) mit einer kapitalismuskritischen Reflexion:

»Die Freiräume waren noch nie so groß und vielgestaltig. Das Paradoxe daran ist: Je brutaler der Kapitalismus ökonomische Sicherheit und soziale Gerechtigkeit beseitigt, also Unfreiheiten produziert, desto größer werden die sexuellen und geschlechtlichen Freiräume. Offensichtlich bleibt den Mechanismen der Profit- und Rentenwirtschaft vollkommen äußerlich, was die Individuen tun, solange sie nur ihre sexuellen Orientierungen, ihre geschlechtlichen Verhaltensweisen, überhaupt ihre kleinen Lebenswelten pluralisieren. Vor allem Personen, die selbst nach den sexuellen Revolutionen des 20. Jahrhunderts als abnorm, krank, pervers und moralisch verkommen angesehen worden sind, profitieren von dieser Freistellung« (Sigusch 2005: 7).

Die Förderung des Sprechens über Sexuelles und die Aufhebung von Verboten, die der sexuellen Selbstbestimmung im Weg stehen, sind – eingebunden in Aktualisierungen der kapitalistischen gesellschaftlichen Verhältnisse (vgl. Sigusch 1984; Sigusch 2005; Voß & Wolter 2013) – mit einer Wandlung des Sexuellen verbunden. Grenzachtung, »Verhandlungsmoral«, »Ja heißt ja« – in dem Sinne, dass auch im Verlauf sexueller Handlungen der Konsens von allen Beteiligten stetig zu überwachen und zu prüfen sei – verändern grundlegend das, was gesellschaftlich als »sexuell« gilt (vgl. Torenz 2019). Sexualpädagogik und Sexuelle Bildung tragen zu diesen Veränderungen bei, nehmen sie auf und tragen ihnen Rechnung.

Reflexion stereotyper Vorstellungen – Intersektionalität

In der Vergangenheit wurden, ausgehend von Deutschland und Europa, sowohl die »Arbeitersexualität« als auch sexuelle Handlungen in verschiedenen Regionen der Welt mit teils mystischen Zuschreibungen belegt. Sie bildeten zumindest punktuell eine Gegenfolie zu den bürgerlichen Bemühungen um die »Pädagogisierung des Sexes«. Bei Arbeiter*innen und Personen of Color würden sich in größerem Maß Unvoreingenommenheiten im sexuellen Tun zeigen (vgl. Voß & Wolter 2013). Fortsetzungen solcher Überlegungen waren zuletzt Zuschreibungen an Geflüchtete, sich wenig »im Griff« zu haben und besonders sexuell übergriffig zu sein (vgl. Hark & Villa 2017). Auch Sexualwissenschaft und Sexualpädagogik benötigten einige Zeit, um festzustellen, »dass zwischen Kindern und Jugendlichen mit und ohne Flucht- und Migrationserfahrung kaum bzw. keine Unterschiede in den Themen und Anlässen Sexueller Bildung bestehen« (Haase 2017: 340; vgl. Voß 2020). An solche Einschätzungen schließen sich mittlerweile Reflexionen an, die individuell spezifische Bedarfe, die mit Flucht und Erfahrungen auf der Flucht verbunden sein können, in den Blick rücken.

Gleichwohl lassen sich Thematisierungen von Sexualität, auch in der Sexualpädagogik und der Sexuellen Bildung, erst nach und nach von stereotypen Zuschreibungen bereinigen. Aktuell findet der Prozess statt: Aktivist*innen of Color – Women und Queers of Color – kritisieren das produzierte Wissen und seine Entstehung (Çetin & Taş 2014; Saadat-Lendle & Çetin 2014; vgl. Yılmaz-Günay & Wolter 2010; Voß 2020). Meist tun sie das aufgrund struktureller Ausschlüsse – insbesondere der Wirkungen von Rassismus und von Klassenverhältnissen im Bildungssystem – von außerhalb der Disziplinen (vgl. Kilomba 2009; Heitzmann & Houda 2020). Auf diese Weise werden bisherige Gewissheiten der Sexualwissenschaft und der Sexualpädagogik in Frage gestellt (Voß 2020), gleichzeitig werden die Wissensbestände marginalisierter Gruppen auch hinsichtlich des Geschlechtlichen und Sexuellen für die »Allgemeinheit« erschlossen. Ganz im Sinne von Konrad Weller (2020: 466) wird es damit erforderlich, auch rückblickend die »historisch konkreten Bedingungen« und die »wandelnde Funktion« der Sexualpädagogik zu reflektieren, um das Aktuelle zu verstehen und gut vorankommen zu können. Die intersektionale Reflexion von Sexualpädagogik eröffnet damit eine andere Geschichte dieser Wissenschaft.

Eine zeitgemäße Einführung in Sexualpädagogik und Sexuelle Bildung ist sich der eigenen historisch konkreten Bedingungen bewusst und verortet sich in ihnen. Sie weiß um die Ausgangspunkte und setzt sich mit den aktuellen gesellschaftlichen Bedingungen auseinander. Das ist die Basis des vorliegenden Bandes.

2

Einstieg: Prämissen aktueller Sexualpädagogik und Sexueller Bildung

Im Folgenden wird ein grober Rahmen mit wichtigen Basisinformationen über das Sexuelle abgesteckt, um im weiteren Verlauf schon die explizit sexualpädagogischen Inhalte darauf gründen zu können. Reflektiert werden Fragen zu Sexualität und sexueller Gesundheit an sich, um anschließend Aspekte gesellschaftlicher Veränderungen, gerade im Hinblick auf die Anerkennung von geschlechtlicher und sexueller Vielfalt, zu skizzieren.

Sexualität ist ein Grundbedürfnis für einen Teil der Menschen

Eine verbreitete Definition von Sexualität

 

»Sexualität ist ein existenzielles Grundbedürfnis des Menschen und ein zentraler Bestandteil seiner Identität und Persönlichkeitsentwicklung. Sexualität umfasst sowohl biologische als auch psychosoziale und emotionale Dimensionen. Die Ausgestaltung von Sexualität deckt ein breites Spektrum von positiven Aspekten ab, wie beispielsweise Zärtlichkeit, Geborgenheit, Lustempfinden und Befriedigung. Menschen leben und erleben Sexualität unterschiedlich, je nach Lebensalter und Umständen« (BZgA 2016 [1994]: 5).

»Sexualität ist ein existenzielles Grundbedürfnis des Menschen« – heißt es oft. Gemeint ist damit dann in der Regel der sexuelle Umgang mit anderen Menschen. Sexualität muss sich aber nicht auf eine*n Partner*in beziehen. Es gibt auch Menschen, die kein Bedürfnis nach sexuellem Kontakt zu anderen Menschen oder nach partnerschaftlicher Sexualität empfinden, ggf. aber Solosex (Masturbation, Selbstbefriedigung, Autosexualität) haben, und es gibt Menschen, die, trotz des nicht vorhandenen Bedürfnisses, Sex mit anderen praktizieren. Wieder andere Menschen mögen zwar Sex, verspüren aber kein Bedürfnis nach Zärtlichkeit und Nähe (vgl. Profus 2016; Schlag 2016; DeWinter 2021; Baumgart & Kroschel 2022). Das Spektrum sexueller Bedürfnisse ist also weit gespannt, und es ist wichtig, dass sich jeder Mensch so entwickeln kann, wie er möchte, sofern er nicht die Grenzen anderer verletzt: Es geht um sexuelle Selbstbestimmung.

Sexualität ist vielschichtig. Sie umfasst emotionale, psychosoziale und biologische Dimensionen. Darüber hinaus kommen ihr identitätsstiftende und persönlichkeitsbildende Funktionen zu:

  Intimität

  Kommunikation

  Lustempfinden

  Zärtlichkeit

  Geborgenheit

  Fortpflanzung

  Befriedigung.

Menschen leben und erleben ihre Sexualität unterschiedlich, abhängig von ihrem Lebensalter und individuellen Lebensumständen. Sexualität ist in diesem Sinn transkulturell und ein sinnstiftendes Phänomen.

Asexualität ist eine Variante des Sexuellen. Asexuelle Personen verspüren meist kein Bedürfnis nach sexuellem Kontakt zu anderen Menschen. Aromantische Menschen verspüren zudem oder hingegen kein Bedürfnis nach intimer Geborgenheit. Auch in Bezug auf asexuelle und aromantische Menschen gilt, dass sie ihre (A)Sexualität unterschiedlich und abhängig vom Lebensalter und ihren individuellen Lebensumständen praktizieren (vgl. Profus 2016; Schlag 2016; DeWinter 2021; Baumgart & Kroschel 2022).

Definition der Weltgesundheitsorganisation zu Sexueller Gesundheit

 

»Sexuelle Gesundheit ist untrennbar mit Gesundheit insgesamt, mit Wohlbefinden und Lebensqualität verbunden. Sie ist ein Zustand des körperlichen, emotionalen, mentalen und sozialen Wohlbefindens in Bezug auf die Sexualität und nicht nur das Fehlen von Krankheit, Funktionsstörungen oder Gebrechen. Sexuelle Gesundheit setzt eine positive und respektvolle Haltung zu Sexualität und sexuellen Beziehungen voraus sowie die Möglichkeit, angenehme und sichere sexuelle Erfahrungen zu machen, und zwar frei von Zwang, Diskriminierung und Gewalt. Sexuelle Gesundheit lässt sich nur erlangen und erhalten, wenn die sexuellen Rechte aller Menschen geachtet, geschützt und erfüllt werden. Es bleibt noch viel zu tun, um sicherzustellen, dass Gesundheitspolitik und -praxis dies anerkennen und widerspiegeln« (WHO 2006; Hervorhebungen HV).

Sexuelle und reproduktive Rechte

Aus dem fundamentalen Menschenrecht auf Gesundheit, festgelegt von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) 1946, ergibt sich:

  Jeder Mensch hat das Recht, frei von Diskriminierung, Gewalt und Zwang die eigene Sexualität zu leben.

  Jeder Mensch hat das Recht, den bestmöglichen Stand sexueller Gesundheit zu erreichen.

  Das schließt einen Zugang zu sexueller und reproduktiver Gesundheitsversorgung und Sexueller Bildung ein.

Sexuelle und reproduktive Rechte sind das Recht

  auf körperliche Unversehrtheit,

  auf ein lustvolles, sicheres und befriedigendes Sexualleben,

  auf sexuelle Aufklärung und Bildung,

  auf freie Partnerwahl,

  auf freie Wahl des sexuellen Aktivseins,

  auf freie Wahl der Familienplanung und von deren Methoden (inklusive das Recht auf Abbruch einer Schwangerschaft),

  auf eine Einvernehmlichkeit bezüglich sexueller Beziehungen und Eheschließungen,

  auf die Möglichkeit, Zugang zu Informationen über Sexualität zu erhalten.

»Freie Wahl« heißt auch, nicht sexuell aktiv sein zu müssen. Gerade die sexuellen und reproduktiven Rechte sichern die Wahlmöglichkeiten von Menschen in hohem Maß ab. Nach und nach kommen auch gesellschaftliche Normen ins Wanken, die nahelegen, dass Menschen sexuell aktiv sein sollen oder nur auf eine bestimmte Art – z. B. heterosexuell, reproduktiv – aktiv sein sollen (vgl. Böhm & Timmermanns 2020; entwicklungspsychologisch: Watzlawik 2020).

Das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung leitet sich aus dem 1. Artikel des Grundgesetzes (GG) ab und basiert auf dem Menschenrecht der freien Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 Abs. 1 GG) und dem Recht auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 GG).

Es garantiert das Recht auf eine ungestörte sexuelle Entwicklung und den Schutz vor sexueller Fremdbestimmung. Um dieses Recht selbst nutzen zu können, muss man wissen, dass man es hat. Auch dazu braucht es Sexualpädagogik und Sexuelle Bildung.

Die historische Entwicklung sexueller und reproduktiver Rechte

 

Sexuelle und reproduktive Gesundheit und Rechte basieren auf dem Gesundheitsbegriff der WHO aus dem Jahr 1946: »Die Gesundheit ist ein Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens und nicht nur das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen« (WHO 1946). Hierauf aufbauend wurde 1975 der Begriff der »Sexuellen Gesundheit« erarbeitet. Sie bedeute »die Integration der somatischen, emotionalen, intellektuellen und sozialen Aspekte sexuellen Seins auf eine Weise, die positiv bereichert und Persönlichkeit, Kommunikation und Liebe stärkt« (WHO 1975).

In Bezug auf reproduktive Rechte ist die UN-Konferenz über Bevölkerung und Entwicklung 1994 in Kairo das initiale Ereignis. In Kairo wurden weitreichende Festlegungen getroffen und Forderungen formuliert, die das Recht auf Verhütung, die Entscheidung sich fortzupflanzen und die Gesundheitsversorgung auf reproduktivem Gebiet betreffen. Nach Wichterich (2015: 12) wurden in Kairo die Grundlagen gelegt, sexuelle und reproduktive Rechte als Menschenrechte zu betrachten. Die Menschenrechte bilden seitdem den internationalen Rechtsrahmen (WHO 2010). 1995 wurden die Kairoer Festlegungen von der 4. Weltfrauenkonferenz in Peking bestätigt. Damit waren die UN-Mitgliedstaaten verpflichtet, die sexuellen und reproduktiven Rechte im Rahmen der Menschenrechte zu respektieren, zu schützen und umzusetzen (vgl. Wichterich 2015: 14).

Bedeutsam für die europäischen Länder war die im Jahr 2001 in Kopenhagen beschlossene WHO-Regionalstrategie für sexuelle und reproduktive Gesundheit (WHO 2001). Sie ist die zentrale strategische Grundlage für die Umsetzung sexueller und reproduktiver Rechte in Europa. 2008 wurde in der Europäischen Union das Kairoer Programm erneut bestätigt. Die Entkriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs, die Akzeptanz der Entscheidung der Frau und die Sicherung des Rechts auf Sexualaufklärung und auf unbeschränkten Zugang zu Kontrazeptiva wurden damals als Ziele formuliert (vgl. Busch 2020: 133). Die oben angeführte Definition sexueller Gesundheit der WHO (2006) schließt hieran an, ebenso die Yogyakarta Principles (2007).

Abschließend soll auf die International Planned Parenthood Federation (IPPF) hingewiesen werden. Sie wurde 1950 in Bombay gegründet und umfasst inzwischen 189 Länder und 149 Mitgliedsorganisationen. Deutschland ist durch den Fachverband pro familia vertreten. Die zuerst in den Jahren 2006 und 2010 herausgegebene Erklärung zu sexueller Selbstbestimmung ist seit 2013 auch in deutscher Sprache verfügbar: Eine Welt voller Möglichkeiten durch Selbstbestimmung: Rahmenkonzept für umfassende Sexualaufklärung (pro familia 2013).

Sexuelle Bildung ist ein Prozess der Selbstaneignung, der unterstützt werden kann

»Bildung generell ist ein aktiver, sozialer und vor allem ein sinnlicher und manchmal auch lustvoller Prozess der Aneignung von Welt« (Wanzeck-Sielert 2009)

Sexuelle Bildung kann so als »Selbsttätigkeit« vom Säuglingsalter an begriffen werden. Durch das Lernen erleben Kinder »ihren Körper als kraftvoll, üben sinnlichen Umgang mit sich selbst und anderen, der das Selbstwertgefühl stärkt, sie erfahren und setzen dabei zugleich Grenzen, bilden Resilienz, also Widerstandsfähigkeit aus« (Ebd.).

Sexuelle Bildung, die im Säuglingsalter beginnt, setzt sich zeitlebens fort. Sie »befähigt Menschen, eigene Entscheidungen treffen zu können, und Verantwortung für sich und andere Menschen zu übernehmen. Sexuelle Bildung leistet einen wichtigen Beitrag zu selbstbestimmter Lebens- und Liebesgestaltung und zum Schutz vor (sexueller) Gewalt« (pro familia 2020).

Zwischen Kindern und Jugendlichen mit und ohne Flucht- und Migrationserfahrung bestehen dabei kaum bzw. keine Unterschiede in den Themen und Anlässen Sexueller Bildung (Haase 2017: 340). Geflüchtete junge Menschen beschäftigen sich genauso

  mit ihrem Körper und seinen Veränderungen,

  mit Gefühlen wie Liebe und Verliebtsein,

  Fragen sexuellen Verlangens,

  sexueller Orientierung,

  eigener persönlicher Identität,

  ersten Malen,

  dem äußeren Erscheinungsbild und

  der eigenen psychosexuellen Entwicklung

wie ihre Altersgenossen ohne Migrationserfahrung (vgl. Schmidt & Sielert 2012: 33f.).

Angebote der Sexualpädagogik und Sexuellen Bildung behandeln diese Inhalte. Sie tragen einem positiven Verständnis von Sexualität Rechnung und unterstützen, dass Kinder und Jugendliche lernen, sich selbst – mit ihrem Körper und seinen physiologischen Prozessen – anzunehmen, eine eigene Identität auszubilden und zu einem selbstbestimmten Umgang mit Sexualität zu finden und dabei eigene Grenzen wahrzunehmen und zu artikulieren und die Grenzen anderer zu achten.

Sexualpädagogik und Materialien zur Sexuellen Bildung berücksichtigen auch negative Aspekte des Sexuellen: Bei der Thematisierung sexualisierter Gewalt geht es darum, wie Kinder und Jugendliche sich vor Übergriffen schützen können und wo sie bei Vorfällen Hilfe bekommen. In Bezug auf sexuell übertragbare Krankheiten ist es für Jugendliche bedeutsam, dass sie Übertragungswege kennen und ein bewusstes, verantwortliches Sexualverhalten entwickeln. »Bewusst« und »verantwortlich« bedeutet dabei nicht, jedem Risiko auszuweichen – mitunter kann »ein beherzter Sprung über eine eigene Grenze« wichtig für die Persönlichkeitsbildung sein, auch im Sexuellen.

Hilfe bei sexuellen Übergriffen/sexualisierter Gewalt

Hilfeportal Sexueller Missbrauch, www.hilfeportal-missbrauch.de

  Hilfetelefon Gewalt gegen Frauen, 0800/0116016, www.hilfetelefon.de

  Kinder- und Jugendtelefon, Tel. 0800/1110333

  Elterntelefon, Tel. 0800/1110550, www.elterntelefon.de

Veränderungen im Sexuellen und Geschlechtlichen finden statt

Veränderungen im Sexuellen lassen sich unter anderem durch Reihenuntersuchungen im zeitlichen Vergleich feststellen. Im deutschsprachigen Raum sind dafür insbesondere die Studien der Hamburger Sexualforschung um Gunter Schmidt und Silja Matthiesen zur Studierendensexualität sowie die Leipziger/Merseburger Untersuchungen um Kurt Starke und Konrad Weller zur Jugendsexualität (PARTNER-Studien) erhellend.

Mit Gunter Schmidt lässt sich dabei festhalten, dass sich wesentliche Veränderungen im Zusammenhang mit der »Sexuellen Revolution« ergaben. Hatten von den vor 1950 Geborenen lediglich 20 % ihren ersten andersgeschlechtlichen Sex vor dem 18. Lebensjahr erlebt, waren es in den Folgeuntersuchungen jeweils um die 60 % (Schmidt et al. 2006; Schmidt 2008; Klein und Sager 2010: 104f.). Die Studien der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) zur Jugendsexualität stärken diese Perspektive (vgl. BZgA 2015: 113).

Die Orientierung an Liebe und Treue ist im zeitlichen Verlauf deutlich angewachsen. Bezeichneten 1970 40 % der Jungen und 47 % der Mädchen, die in einer Partnerschaft lebten, ihr Gefühl zum*zur Partner*in als »Liebe«, so waren es Anfang der 1990er Jahre jeweils über 70 %. In nahezu gleichem Maß stieg der Anteil der Jungen, die Liebe als Voraussetzung für sexuellen Verkehr betrachteten, ebenfalls auf über 70 %; bei den Mädchen, bei denen dieser Zusammenhang auch 1970 schon von 80 % bejaht wurde, stieg der Wert auf etwa 90 % an (Schmidt 1993; Klein und Sager 2010: 111; vgl. auch Weller 2013). »Sex ohne Liebe« wird als möglich betrachtet, sofern er nicht als Nebenkontakt einer Beziehung stattfindet.

Veränderungen betreffen darüber hinaus die Offenheit für sexuelle Praktiken: Gleichgeschlechtliche Fantasien und Kontakte werden bei den Jungen in konstantem Maß – um die zehn Prozent – als möglich beschrieben, bei den Mädchen hingegen in deutlich höherem Maß – im Jahr 2013 hatten 24 % der befragten Mädchen der PARTNER-Studie gleichgeschlechtliche sexuelle Kontakte schon selbst erlebt, ein deutlicher Anstieg zu den 1980 und 1990 jeweils ermittelten sieben Prozent (Weller 2013). In Bezug auf Erfahrungen mit Analverkehr ergaben sich starke Veränderungen: Von 1990 bis 2013 stieg der Anteil der Mädchen, die solche Erfahrungen angaben, von sieben auf 25 %, bei den Jungen von drei auf 16 % (ebd.).

Einige weitere bedeutsame empirische Daten

  Weitere gesellschaftliche Veränderungen: Weller et al. (2013) ermitteln mehr Patchwork: 2013 gaben 68 % der Jugendlichen an, bei »beiden leiblichen Eltern« aufgewachsen zu sein, 1990 betrug dieser Anteil noch 81 %. Mehr Zärtlichkeit: 2013 erlebten 42 % den Vater und 65 % die Mutter als »uneingeschränkt liebevoll«, 1990 waren es 30 % (Vater) und 53 % (Mutter). Angewachsene Masturbationserfahrung: Lagen die Zahlen bei den 17/18-jährigen Jungen schon länger bei deutlich über 90%, geben heute mehr Mädchen Erfahrung mit Selbstbefriedigung an – 2013: 66 %; 1990: 41 %; 1980: 17 %; 2020/21 stieg diese Zahl weiter, auf nun 80 % (Bathke et al. 2021).

  Sexualerziehung in der Schule: Nahezu alle Kinder und Jugendlichen haben einmal oder mehrmals Angebote zur Sexualaufklärung an Schulen (BZgA 2015: 34). Bei Jungen war im Jahr 2015 zum ersten Mal die Lehrkraft die wichtigste Person in Bezug auf »klassische Themen« der Sexualaufklärung (43 %), gefolgt von dem besten Freund (36 %) und den Eltern (Vater: 34 %, Mutter: 34 %). Bei den Mädchen kam die Lehrkraft immerhin an dritter Stelle (37 %), nach der Mutter (59 %) und der besten Freundin (52 %) (ebd.:14).

  Betroffenheit von sexualisierter Gewalt: Man geht davon aus, dass in jeder Schulklasse ein bis zwei Mädchen und ein Junge sitzen, die von sexualisierter Gewalt betroffen waren oder sind. Auch bei Diversgeschlechtlichen liegt eine hohe Betroffenheit vor. Von sexualisierter Gewalt mit Körperkontakt sind 10 bis 20 % der Mädchen, sogar noch mehr der Diversgeschlechtlichen und 5 bis 8 % der Jungen in ihrer Kindheit und Jugend betroffen.

Männerzentrierte Sichtweisen reflektieren

Stereotype Sichtweisen prägen Angebote der Sexualpädagogik und Materialien zur Sexuellen Bildung nach wie vor, auch wenn sich durch intensive Debatten und neue Materialien langsam Änderungen ergeben. Dabei zeigen sich Öffnungen in Bezug auf Geschlecht und vielfältige sexuelle Orientierung schon deutlicher, es werden Möglichkeitsräume für Kinder, Jugendliche sowie für Erwachsene beschrieben (vgl. Spahn & Wedl 2019a und 2019b; Böhm & Timmermanns 2020), hingegen sind rassistische und antisemitische Stereotype vielfach noch präsent (Çetin & Taş 2014; Saadat-Lendle & Çetin 2014; vgl. Yılmaz-Günay & Wolter 2010; Voß 2020).

Aber auch zu »Geschlecht« zeigen sich noch deutliche Bedarfe, selbst binärgeschlechtlich gedacht. So werden etwa im Sexualaufklärungsunterricht an Schulen in Bezug auf cisgeschlechtliche1 Jungen explizit sexuelle Themen der Erregung und Lust – mit den Punkten Erektion, Ejakulation – behandelt (vgl. Bittner 2011). Als Pendant werden für Mädchen Fragen zur Menstruation erörtert (ebd.). Dass Menstruation nichts mit sexueller Erregung und Lust zu tun hat, sondern mit einem davon losgelösten physiologischen Vorgang, gerät oft nicht in den Blick. Gewiss sollte sie im Kontext der Pubertät thematisiert werden, aber um einen wertschätzenden und selbstbestimmten Umgang mit der eigenen Sexualität bei cisgeschlechtlichen Mädchen zu befördern, ist es wichtig, auf klitorale und vaginale Erregung einzugehen – und dabei die Vulva und ihre Bestandteile in ihrer Individualität und im Hinblick auf Lustgewinn zu behandeln (vgl. Stefan 1975; Méritt 2012).

Biologie-Lehrbücher vermitteln oft noch einen funktionalisierten Blick auf cisgeschlechtliche Mädchen

 

»›Beim Geschlechtsverkehr wird das Glied durch Aufnahme von Blut in die Schwellkörper versteift und dann in die Scheide einer Frau eingeführt.‹ ›Geschlechtsverkehr: Sex, Liebe machen. Der steife Penis gleitet in die Scheide. Beim Geschlechtsverkehr gelangen Spermien des Mannes in die Scheide der Frau.‹ ›Beim Geschlechtsverkehr gleitet der Penis in die Scheide.‹

Diese Definitionen sind nicht nur heteronormativ, sie schreiben außerdem Männern beim Geschlechtsverkehr grundsätzlich eine aktive Rolle zu und Frauen eine passive Rolle. Zum Teil wird die Vagina bzw. weibliche Erregung geradezu funktionalisiert, so dass sie nur der Penetration durch einen Penis zu dienen scheint« (Bittner 2011).

Belastungsfaktoren für trans*-, intergeschlechtliche und geschlechtlich nicht-binäre Personen, mehr noch als für cisgeschlechtliche Lesben und Schwule

In Deutschland wurden in den letzten Jahrzehnten einige Gesetze erlassen, die sexuelle und geschlechtliche Vielfalt legalisieren und darauf abzielen, dass Akzeptanz und Selbstbestimmung gestärkt werden. Seit Homosexualität nicht mehr als Straftatbestand (1994) und Krankheit (1992) gilt, setzen auch Materialien der Sexualpädagogik und Sexuellen Bildung mehr auf Offenheit und Akzeptanz (vgl. Katzer & Voß 2016). Aktivistisches Streiten ging dem Voraus.

2011 erklärte das Bundesverfassungsgericht wesentliche Teile des Transsexuellengesetzes – so den Passus zur Sterilisation – für verfassungswidrig und veränderte damit die Stellung Trans*geschlechtlicher deutlich. Positive gesetzliche Veränderungen gab es auch für intergeschlechtliche Minderjährige: Geschlechtszuweisende und -vereindeutigende Eingriffe an ihnen sind seit 2021 (weitgehend) verboten; ob das Verbot trägt, muss sich allerdings noch zeigen. 2017 wurde, wiederum auf Entscheid des Bundesverfassungsgerichts, der »würdigende« und »wertschätzende« dritte Geschlechtseintrag »divers« eingeführt (vgl. u. a. Spahn & Wedl 2019a und 2019b; Böhm & Timmermanns 2020; Groß & Niedenthal 2021).

Mit dem Bundesgesetz zur Stärkung von Kindern und Jugendlichen (KJSG) wurde nun der Auftrag zum Schutz von transidenten, intergeschlechtlichen und geschlechtlich nicht-binären (kurz: tin) Kindern und Jugendlichen den Kitas, der Schulsozialarbeit, der Kinder- und Jugendhilfe und den Angeboten zur Förderung behinderter Menschen als Aufgabe zugewiesen.

Die Grundlage für an Vielfalt orientierter geschlechtlicher und sexueller Selbstbestimmung ist damit gelegt. Volkmar Sigusch bezeichnet diese Entwicklung hin zu Akzeptanz gegenüber geschlechtlichen und sexuellen Minderheiten als »neosexuelle Revolution« (vgl. Sigusch 2005). Dass daraus ein Möglichkeitsraum für alle Kinder und Jugendlichen entsteht, sich frei von Druck und von Schablonen selbstbestimmt sexuell und geschlechtlich zu verorten und zu erproben, ist Aufgabe und Ziel gegenwärtiger und künftiger gesellschaftlicher Aushandlungen und der entsprechenden pädagogischen Angebote.

Noch zeigen sich erhebliche Belastungsfaktoren bei cisgeschlechtlichen lesbischen, schwulen und bisexuellen, aber noch deutlicher bei trans*- und intergeschlechtlichen sowie geschlechtlich nicht-binären (Kindern und) Jugendlichen (gleich welcher sexuellen Orientierung): Zwei Drittel der jungen cisgeschlechtlichen Lesben und Schwulen geben an, schon von physischer oder psychischer Gewalt betroffen gewesen zu sein; die Hälfte von ihnen nutzt problematische Strategien, um mit solchen Gewalterfahrungen fertig zu werden – u. a. erhöhten Substanzkonsum; etwa 10–20 % der Lesben und Schwulen und 20–40 % der Transgender-Personen haben im Alter von 18 Jahren schon mindestens einen Suizidversuch unternommen (Council of Europe Publishing 2011; Plöderl 2020; Kleiner 2020; Timmermanns et al. 2021). In Bezug auf Beratung und Unterstützung sind hier die Arbeiten von Udo Rauchfleisch besonders relevant (Rauchfleisch 2019a, 2019b; 2020).

Diskriminierungs- und Gewalterfahrungen konkret

 

Intergeschlechtliche: Eine vom Deutschen Ethikrat initiierte Online-Umfrage ergab, dass von den 199 teilnehmenden Intergeschlechtlichen 27 % Diskriminierung und Ausgrenzung, 16 % Tabuisierung des Themas Intergeschlechtlichkeit und 10 % körperliche Gewalt wiederkehrend erlebt hatten (Deutscher Ethikrat 2012). 42 % gaben an, sich gesamtgesellschaftlich schlecht bis sehr schlecht integriert zu fühlen (ebd.). Für den internationalen europäischen Kontext liegen mit der Untersuchung Fundamental Rights Agency (2020) erstmals umfassende Ergebnisse zu den Diskriminierungserfahrungen von Intergeschlechtlichen vor: Nahezu zwei Drittel der befragten Intergeschlechtlichen haben in den letzten zwölf Monaten Diskriminierungen erlebt (Fundamental Rights Agency 2020). Suizidgedanken gaben etwa 45 % im Lebensverlauf an (vgl. Plöderl 2020).

Trans*geschlechtliche: Laut Fundamental Rights Agency (2014) hatten 58 % der befragten deutschen Trans* in den letzten zwölf Monaten Diskriminierungen oder Gewalt erlebt. In der EU-weiten Erhebung gaben 37 % der Befragten an, sich bei der Arbeitssuche diskriminiert gefühlt zu haben; 27 % fühlten sich am Arbeitsplatz, 24 % in Schule oder Hochschule diskriminiert. Die Nachfolge-Studie Fundamental Rights Agency (2020) weist keine nennenswerten Verbesserungen aus (vgl. auch Kleiner 2020; Plöderl 2020; Timmermanns et al. 2021). Die Antigewalt-Studie von LesMigras (2012) – die erste umfassende intersektionale Studie in Deutschland – ermittelte trans* Personen als am meisten diskriminierte Gruppe. Von den befragten Trans* hatten 82 % Verachtung und Demütigungen erlebt, 75 % sexualisierte Gewalt, 50 % Diskriminierung in der Ausbildung bzw. am Arbeitsplatz, 44 % Diskriminierung im Gesundheitsbereich. 63 % der befragten trans* Personen empfanden die medizinische Pathologisierung als belastend, 52 % die juristischen Verfahren zur Veränderung von Vornamen und Personenstandsänderung. Suizidversuche berichteten in den Studien ca. 30 bis 40 % der Befragten.

1     Das Präfix »cis« ist vielen bereits aus der Chemie in Bezug auf die Stellung der funktionellen Gruppe bekannt. Auch hinsichtlich des Geschlechts steht das Präfix cis für »diesseits«; Gegenstück ist der Begriff trans für »jenseits«. Cisgeschlechtlich meint damit Personen, die sich mit dem Geschlecht identifizieren, das ihnen bei Geburt zugewiesen wurde.

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Definitionen: Sexualerziehung, Sexualpädagogik, Sexuelle Bildung?

Sexualpädagogik

Sexualpädagogik bezeichnet die Theorie und Praxis, die sich mit der Bildung und Erziehung insbesondere von Kindern und Jugendlichen im Themenfeld des Sexuellen befasst.2 Historisch sind sexualpädagogische Hinweise, wie der Begriff der Pädagogik selbst,3 bis in die griechische Antike zurückzuverfolgen; die moderne Sexualpädagogik hat mit der modernen Pädagogik im 18. Jahrhundert ihren Ausgangspunkt. Mehr als bei anderen Fachrichtungen der Pädagogik ist bei der modernen Sexualpädagogik festzustellen, dass sie medizinischen Betrachtungen zum Sexuellen und Vorstellungen einer »gesunden Erziehung« entwächst. Neben der Bildung und Erziehung von Kindern und Jugendlichen wendet sich die Sexualpädagogik, wie die gesamte Pädagogik, seit dem ausgehenden 20. Jahrhundert auch Erwachsenen zu.

Die Sexualpädagogik kann bisher nur bedingt als »wissenschaftliche Disziplin der Theorie und Praxis von Bildung und Erziehung im Sexuellen« (DWDS o. J.) bezeichnet werden, da sie in der Erziehungswissenschaft bislang noch kaum etabliert ist: Professuren, die sich in Denomination oder Teildenomination mit Sexualpädagogik befassen, sind noch die Ausnahme. Dasselbe gilt für Studiengänge oder Module in Studiengängen der Erziehungswissenschaft. Am ehesten findet man Auseinandersetzungen mit dem Sexuellen als Themenfeld in den erziehungswissenschaftlichen Subdisziplinen Sozialpädagogik, Schulpädagogik, Sonderpädagogik und Vorschulpädagogik. Es handelt sich bei Sexualpädagogik also nicht um eine etablierte Subdisziplin der Pädagogik, sondern sie kann, davon abgestuft, einerseits als Fachrichtung der Pädagogik eingeordnet werden (neben beispielsweise: Freizeitpädagogik, Kulturpädagogik, Medienpädagogik, Museumspädagogik, Verkehrspädagogik, Umweltpädagogik, Friedenspädagogik), andererseits ist sie interdisziplinär Bestandteil der Sexualwissenschaft (vgl. Böhm 2019; Weller 2020).

Die von Uwe Sielert etablierte Definition von Sexualpädagogik muss entsprechend verbessert werden. Er hatte sie als »Aspektdisziplin der Pädagogik« bezeichnet, die die »Einflussnahme auf die Sexualität von Menschen erforscht und wissenschaftlich reflektiert« (Sielert 2005: 15; Schmidt & Sielert 2012: 12; Sielert 2015: 12). Dem kann so nicht gefolgt werden, weil einerseits der Begriff der »Aspektdisziplin« für die strukturelle Gliederung der Disziplin Erziehungswissenschaft ungebräuchlich ist und bislang – außer in diesem Definitionsvorschlag für die Sexualpädagogik – keine Anwendung findet. Andererseits stellt dieser Definitionsvorschlag eher einen »Wunsch« nach einer grundlegenden wissenschaftlichen Verortung der Sexualpädagogik in der Erziehungswissenschaft dar als den sich tatsächlich darstellenden historischen und aktuellen Sachstand. Die Sexualpädagogik ist derzeit in der Erziehungswissenschaft viel zu marginalisiert, um sie als etabliert zu betrachten. Wir definieren:

Sexualpädagogik

 

Sexualpädagogik