Intersexualität – Intersex - Heinz-Jürgen Voß - E-Book

Intersexualität – Intersex E-Book

Heinz-Jürgen Voß

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Beschreibung

Bei der Diagnose ›Intersex‹ werden in der Regel bereits im Säuglings- oder frühen Kindesalter operative und hormonelle Eingriffe vorgenommen, um ein möglichst eindeutiges Erscheinungsbild der Genitalien zu erreichen. Diese Eingriffe werden von den Interessensvertretungen der Intersexe als gewaltsam und traumatisierend beschrieben. Das Buch »ist eine Replik auf die ›Stellungnahme Intersexualität‹ des Deutschen Ethikrates zur Situation intergeschlechtlicher Menschen in Deutschland vom Februar 2012 [… und] eine Streitschrift, die sich unbedingt eignet, die Auseinandersetzung um die Menschenrechte auch für intergeschlechtliche Menschen zu bereichern. Zudem bietet das Bändchen einen kursorischen, aber nicht minder informativen Überblick über die Ereignisse und Entwicklungen um die medizinische Zurichtung intergeschlechtlicher Körper und den Widerstand dagegen.« – maedchenblog.blogsport.de

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Heinz-Jürgen Voß

Intersexualität – Intersex

Eine Intervention

geschlechterdschungel

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische

Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar

Heinz-Jürgen Voß: Intersexualität – Intersex

unrast transparent – geschlechterdschungel, Band 1

1. Auflage, August 2012

eBook UNRAST Verlag, Dezember 2023

ISBN 978-3-95405-173-1

© UNRAST Verlag, Münster

www.unrast-verlag.de | [email protected]

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Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung

sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner

Form ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert oder unter

Verwendung elektronischer Systeme vervielfältigt oder verbreitet werden.

Lektorat: Salih Alexander Wolter

Umschlag: UNRAST Verlag, Münster

Satz: UNRAST Verlag, Münster

Inhalt

Einführende Erläuterungen

Begriffliche Erläuterungen: Hermaphroditismus – Intersexualität – DSD – Intersex

Das medizinische Behandlungsprogramm

Die Formierung der Intersex-Bewegung und ihr Streiten

Die gesellschaftliche Eingebundenheit der Medizin und der Zwang zu geschlechtlicher Eindeutigkeit

Ausgangspunkte für das Ziel eindeutiger Geschlechtsfeststellung in Zweifelsfällen

Ausweitung der zweigeschlechtlichen gesellschaftlichen Norm mit dem aufkommenden Christentum

Zur Verwissenschaftlichung von Geschlecht und Sexualität

Die Angleichung an die gesellschaftliche Norm

Medizinische Diagnostik: Die Kennzeichen des Geschlechts

Zuweisung des Geschlechts

Interessen der Eltern, der betroffenen Menschen, der Mediziner

Die aktuelle Praxis – Verfahren und Evaluation der Ergebnisse und der Behandlungszufriedenheit

Verfahren

»Outcome« – Evaluation der medizinischen Behandlungsergebnisse

Zusammenfassung der Ergebnisse der Evaluation der medizinischen Eingriffe und der Behandlungszufriedenheit

Ableitungen aus den Ergebnissen zur Behandlungszufriedenheit vor dem Hintergrund einer sich pluralisierenden Gesellschaft

Medizinethische Erwägung

Sich pluralisierende Gesellschaft

Zitierte Literatur

»Etliche Betroffene sind aufgrund der früher erfolgten medizinischen Eingriffe so geschädigt, dass sie nicht in der Lage sind, einer normalen Erwerbstätigkeit nachzugehen, oder sie sind infolge der Eingriffe schwer behindert.« (Deutscher Ethikrat 2012: S.165)

»Intersexualität – Überleben zwischen den Geschlechtern« lautete im Sommer 2000 der Titel von Heft acht der GiGi – Zeitschrift für sexuelle Emanzipation. Um ein Überleben ging und geht es für die Intersexe in der aktuellen Gesellschaft tatsächlich. Bei ihnen treten weibliche und männliche Bestandteile des Genitaltraktes gemeinsam, also an ein und demselben Menschen, auf. Vom Überleben muss gesprochen werden, nicht etwa weil die körperliche Besonderheit lebens- oder gesundheitsbedrohlich wäre. Das ist sie nicht, und nur in wenigen Fällen liegen tatsächlich die Gesundheit bzw. das Leben bedrohende Begleiterscheinungen wie Salzverlust vor, die medizinisch behandelt werden müssen. Eine eindeutige Zuweisung zu weiblichem oder männlichem Geschlecht ist aber selbst dann medizinisch nicht notwendig. Dennoch wird sie, verbunden mit massiven chirurgischen und hormonellen Eingriffen, bei Intersexen weiterhin verbreitet im Säuglings- und frühen Kindesalter vorgenommen. Seit den 1990er Jahren gibt es gegen diese Praxis, die auf eine Angleichung an die gesellschaftliche Norm zielt, Widerstand der so behandelten Menschen. Sie beschreiben, dass und wie diese Behandlungen für sie gewaltvoll und traumatisierend waren. Vom Überleben von Intersexen muss also auf Grund zweigeschlechtlicher gesellschaftlicher Norm und der auf ihr basierenden medizinischen Interventionen gesprochen werden.

Ende Februar 2012 veröffentlichte der Deutsche Ethikrat – ein vom Deutschen Bundestag und der Bundesregierung eingesetztes Gremium – seine Stellungnahme »Intersexualität«. Darin kritisiert er die gesellschaftliche zweigeschlechtliche Normierung. Er empfiehlt der gesetzgebenden Gewalt, von der bisherigen Regelung zum Geschlechtseintrag im Personenstandsgesetz abzugehen, in der lediglich die Optionen »weiblich« oder »männlich« vorgesehen sind. Der Ethikrat plädiert dafür, eine dritte Option hinzuzufügen, die auf Intersexe angewendet werden könnte. Als Geschlecht könnte damit bei einem Kind »weiblich«, »männlich« oder beispielsweise »anderes« vermerkt werden. Damit nimmt der Ethikrat eines der Anliegen der Intersex-Bewegung auf, wenn auch ihre Forderungen in dieser Frage weitergehen. Eine zu schaffende dritte Kategorie müsse diskriminierungsfrei sein und für sich allein als eigenes Geschlecht bestehen können, so die Intersex-Verbände. Begriffe wie »anderes« oder »dazwischen«, die über die gesellschaftlich dominanten Geschlechter »Mann« und »Frau« bestimmt werden, scheiden damit als Möglichkeiten aus. Stattdessen könnte die dritte Kategorie beispielsweise »Zwitter« oder »Intersex« lauten. Aus anderen Positionen zum Geschlechtseintrag wird dafür argumentiert, diesen als überflüssig zu erkennen und vollständig entfallen zu lassen.

Der zentralen Forderung der Intersex-Verbände nach dem Ende der chirurgischen und hormonellen medizinischen Eingriffe im frühen Kindesalter folgte der Ethikrat dagegen nicht. Zwar diskutierte auch er die unterschiedlichen Positionen in der Debatte. Auch beschrieb er das Leid und die Unzufriedenheit eines großen Teils der befragten Intersexe mit den Behandlungen. Zu einer grundsätzlichen Abkehr von den medizinisch nicht notwendigen Interventionen im frühen Kindesalter mochte er sich in seiner Empfehlung hingegen nicht durchringen. Auch bezog er die aktuellen internationalen wissenschaftlichen Erkenntnisse, die die medizinischen Behandlungen evaluierten (so genannte »Outcome-Studien«), in seine Stellungnahme nicht ein, sondern stützte sich lediglich auf zwei weiter zurückliegende deutschsprachige Arbeiten und eine kleinere eigene Online-Befragung. Aber auch diese Studien beschreiben Leid, Traumatisierungen und Behandlungsunzufriedenheit der behandelten Intersexe. Gleichzeitig blieb der Ethikrat einseitig bei einer medizinisch geprägten Terminologie und Darstellung von Intersex, die von den Intersex-Verbänden kritisiert wird. Die Verbände fordern, dass von der Darstellung von Intersex als Krankheit abgegangen und stattdessen von Varianzen und Besonderheiten des Geschlechts und der Geschlechtsentwicklung gesprochen werden solle. Für eine unparteiische Stellungnahme des Ethikrates wäre es notwendig gewesen, die vertretenen Positionen gleichberechtigt zu berücksichtigen.

Über diese Versäumnisse kann nicht hinweggegangen werden, weil dem Deutschen Ethikrat die Funktion eines Beratungsgremiums des Bundestages und der Bundesregierung zukommt. Demokratisch gewählte Abgeordnete verlassen sich, selbst meist nur unzureichend mit der Materie vertraut, oft auf die vermeintlich unabhängigen und gut informierten Stellungnahmen dieses Gremiums. Seine Veröffentlichungen erhalten damit ein erhebliches Gewicht in der Debatte. Die weitere Aushandlung in gesellschaftlichen Diskussionen wird erschwert, weil eine Stellungnahme des Ethikrates als gut begründet und allseitig informiert erscheint, quasi als »Schlusspunkt in der Debatte«.

Doch die Debatte wird weitergehen. Dieser Band soll dafür den Beitrag leisten, die Erkenntnisse aus neueren Studien zu den Ergebnissen der medizinischen Behandlungen von Intersex und der Zufriedenheit von Intersex-Personen einzubeziehen. Entsprechend werden die Studienergebnisse ausführlich dargestellt und – unüblich für die Reihe Unrast transparent – die Einzelstudien in einem Literaturverzeichnis aufgeführt.

Ein weiterer Punkt, der in diesem Band behandelt wird, ist nicht weniger wichtig, weil damit die gesellschaftliche Eingebundenheit der medizinischen Behandlungen klar wird. In vielen der aktuellen wissenschaftlichen Publikationen zu Intersex erscheint es so, als wäre die medizinische Behandlungspraxis, Geschlecht chirurgisch im Säuglings- oder frühen Kindesalter zu vereindeutigen, in den 1950er Jahren quasi »vom Himmel gefallen«. Das ist sie keineswegs, vielmehr ist sie ein weiteres Ergebnis gesellschaftlicher Geschlechterordnung, in der ein Zwang zu eindeutiger Geschlechtlichkeit »weiblich« oder »männlich« besteht. Daher wird in diesem Band die Genese der europäischen Geschlechterordnung mit ihrem Zwang zu geschlechtlicher Eindeutigkeit und Widerspruchsfreiheit nachgezeichnet. Es wird sich zeigen, dass der gesellschaftliche Rahmen auch die Forschungsfragen und die fortentwickelten Techniken der Medizin prägte und prägt. Das medizinische Einschneiden in den Körper sowie sein physisches und physiologisches Verändern erweisen sich damit als direkte Fortsetzung zweigeschlechtlicher gesellschaftlicher Norm.

Da sich aktuell zeigt, dass die strukturell verankerte Intoleranz gegenüber geschlechtlicher und sexueller Vielfalt abnimmt und vielfältige und individuelle geschlechtliche Identitäten gesellschaftlich anerkannt werden, zerfällt auch der Begründungszusammenhang für die geschlechtszuweisenden medizinischen Interventionen gegen Intersexe.

Einführende Erläuterungen

Begriffliche Erläuterungen: Hermaphroditismus – Intersexualität – DSD – Intersex

Schon die Terminologie stellt in der Debatte um Intersex eine Herausforderung dar. Daher sollen hier die wichtigsten Fachausdrücke erläutert werden.

Hermaphroditismus ist der historisch älteste Begriff, der im Zusammenhang mit uneindeutigem Geschlecht verwendet wird. Er geht bis auf sehr alte Mythen zurück. So breitete sich im 4. Jahrhundert unserer Zeitrechnung ein über Zypern kommender religiöser Kult in Griechenland aus, in dem Hermaphroditos verehrt wurde. Bei Hermaphroditos handelte es sich der griechischen Sage nach um den Sohn der Gottheiten Aphrodite und Hermes. Als Hermaphroditos auf Wanderschaft bei Halikarnassos in einer Quelle badete, erblickte ihn dort die Nymphe mit dem Namen Salmakis. Sie verliebte sich augenblicklich in ihn. Da er ihre Liebe nicht erwiderte, rief sie die Götter an, sie mit Hermaphroditos zu vereinigen. Das geschah, und sie und Hermaphroditos wurden zu einem zweigeschlechtlichen Wesen. Die Mythe ist ausführlich in Ovids Metamorphosen nachzulesen. Der Begriff Hermaphroditismus wurde die zentrale Bezeichnung uneindeutigen Geschlechts in den historischen literarischen und wissenschaftlichen Betrachtungen. Bis zum beginnenden 20. Jahrhundert war es, neben Zwitter und Zwittrigkeit, der wichtigste Begriff, mit dem geschlechtliche Uneindeutigkeit bezeichnet wurde. In der medizinischen Klassifikation war Hermaphroditismus bis vor wenigen Jahren gebräuchlich.

Anders als der Begriff Hermaphroditismus, der so gelesen werden kann, dass ein Mensch Merkmale beider Geschlechter trägt, aber auch so, dass seine geschlechtlichen Merkmale keins von beiden, sondern ein Dazwischen darstellten, wird der Interpretationsspielraum bei den Begriffen Intersexualität und Intersex enger. Hier zeigt bereits die Begriffsbildung mit der Vorsilbe »Inter-« an, dass lediglich ein Dazwischen zugelassen wird. Die Begriffe Intersexualität und Intersex wurden in den Jahren 1915/16 von Richard Goldschmidt geprägt. Goldschmidt verband mit ihnen die Auffassung, dass es bei der Ausbildung geschlechtlicher Merkmale auch beim Menschen eine »lückenlose Reihe« geschlechtlicher Zwischenstufen – zwischen »weiblich« und »männlich« – gebe. Obwohl er als Genetiker auf der Basis der Erbanlagen (Chromosomen) lediglich zwei geschlechtliche Ausprägungsformen zu Grunde legte, kam er so dennoch bei einer vielfältigen und individuellen Ausgestaltung von Geschlecht bei den ausgebildeten körperlichen Merkmalen an. Intersexualität und Intersex wurden zu medizinisch gebräuchlichen Begriffen, und sie sind zentrale Begriffe, mit denen sich Intersexe bezeichnen und die medizinische Behandlungspraxis problematisieren.

Die Abkürzung DSD steht für die englische Bezeichnung Disorders of Sex Development. Übersetzt in deutsche Sprache bedeutet sie »Störungen der Geschlechtsentwicklung«. Diese Bezeichnung geht auf eine internationale Konferenz im Jahr 2005 in Chicago zurück. Sie wurde eingeführt, um die zum Teil sehr unterschiedliche Begriffsverwendung in medizinischen Kontexten zu vereinheitlichen und zu vereinfachen. Auch die medizinische Klassifikation wurde auf Grundlage von DSD verändert. In diese wurden nun die als Geschlechtschromosomen bezeichneten Chromosomen X und Y einbezogen. Beispielsweise soll die Bezeichnung XX, DSD nun benennen, dass ein Mensch über einen als »typisch weiblich« betrachteten Chromosomenbestand (XX) verfüge, sich aber die ausgeprägten körperlichen Merkmale mehr oder weniger deutlich »in männlicher Richtung« ausgeprägt hätten. Der Begriff DSD wurde rasch von Intersex-Verbänden kritisiert, weil mit ihm das Gewicht auf »Störung« gelegt und damit die Einordnung geschlechtlicher Uneindeutigkeit als Krankheit weiter zementiert werde. Während die Begriffe Intersexualität und Intersex ein positives Identifizieren und gemeinsames politisches Streiten durchaus möglich machten, sei es nur schwer denkbar, sich unter der Syndrom-Bezeichnung DSD zusammenzufinden.

Intersex-Verbände orientierten sich entsprechend weiterhin an den Begriffen Intersexualität und Intersex für ihre Selbstbezeichnung. Unterdessen wird nun auch verschiedentlich angeregt, von dem Begriff Intersexualität abzugehen, da er im deutschen Sprachraum im Sinne einer sexuellen Orientierung oder sexuellen Identität missverstanden werden könne. Diese Möglichkeit zum Missverständnis kommt im Zuge der mittlerweile verbreiteten medialen Betrachtungen und populären Diskussionen um Intersex auf. In diesen Debatten sind auch häufig interessierte Menschen präsent, die sich nur wenig mit Intersex beschäftigt haben und damit den Begriff missverstehen können. Aus den Intersex-Verbänden wird daher heute vermehrt angeregt, auf den Begriff Intersexualität zu verzichten und durch die Verwendung der Begriffe Intersex und Intergeschlechtlichkeit