9,99 €
So etwas war noch nicht da! Im beschaulichen Eichstätter Altmühltal, das auf der Grenze des dialektalen Pulverfasses zwischen Oberbayern und Mittelfranken liegt, wird ein junger Mann brutal ermordet. Er wird auf einem Einsiedlerhof nahe eines Wandergebiets in einem Gusskessel voll von siedendem Öl zu Tode gequält. Für den jungen Hauptkommissar Frank Dörfler und sein Team ist es der erste große Fall, doch aller Anfang ist schwer: Viele Verdächtige, viele mysteriöse Hinweise, viele Geheimnisse und ebenso viel Stress mit der Presse. Durch eine Mischung aus bayerischer Gemütlichkeit und pfiffiger Ermittlungsarbeit kommt immer mehr Licht ins Dunkel. Doch je näher sie der Lösung kommen, desto gefährlicher wird es für sie selbst…
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 393
Veröffentlichungsjahr: 2023
Für Melanie
Philipp Nadler
Eingekesselt.
Ein Altmühltal Krimi
© 2023 Philipp Nadler
Umschlag, Illustration: Melanie Sophie Nadler
Druck und Distribution im Auftrag des Autors/der Autorin: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland
ISBN
Paperback
978-3-347-65523-2
Hardcover
978-3-347-65524-9
e-Book
978-3-347-65525-6
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland.
Cover
Titelblatt
Urheberrechte
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Cover
Titelblatt
Urheberrechte
Prolog
Kapitel 34
Cover
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
31
32
33
34
35
36
37
38
39
40
41
42
43
44
45
46
47
48
49
50
51
52
53
54
55
56
57
58
59
60
61
62
63
64
65
66
67
68
69
70
71
72
73
74
75
76
77
78
79
80
81
82
83
84
85
86
87
88
89
90
91
92
93
94
95
96
97
98
99
100
101
102
103
104
105
106
107
108
109
110
111
112
113
114
115
116
117
118
119
120
121
122
123
124
125
126
127
128
129
130
131
132
133
134
135
136
137
138
139
140
141
142
143
144
145
146
147
148
149
150
151
152
153
154
155
156
157
158
159
160
161
162
163
164
165
166
167
168
169
170
171
172
173
174
175
176
177
178
179
180
181
182
183
184
185
186
187
188
189
190
191
192
193
194
195
196
197
198
199
200
201
202
203
204
205
206
207
208
209
210
211
212
213
214
215
216
217
218
219
220
221
222
223
224
225
226
227
228
229
230
231
232
233
234
235
236
237
238
239
240
241
242
243
244
245
246
247
248
249
250
251
252
253
254
255
256
257
258
259
260
261
262
263
264
265
266
267
268
269
270
271
272
273
274
275
276
277
278
279
280
281
282
283
284
285
286
287
288
289
290
291
292
293
294
295
296
297
298
299
300
301
302
303
304
305
306
307
308
309
310
311
312
313
314
315
316
Prolog
Es war einer dieser Tage, an dem nichts zusammenlaufen wollte. Er kam frisch vom Urlaub zurück, zwei Wochen in der Karibik, er hatte sie genossen. Kurz vor seiner Scheidung stehend flog er allein weg, um den Kopf freizubekommen, was ihm teilweise auch gelang. Er verbrachte die Zeit hauptsächlich am Meer und in den verschiedenen Bars. Er lernte einige Deutsche dort kennen, sogar ein jüngeres Pärchen aus Mittelfranken, das nicht unweit seiner Heimat wohnte. Sie trafen sich des Öfteren auf einen gemeinsamen Drink an der Bar. Macht trotzdem mehr Spaß, sich in der Heimatsprache zu unterhalten, als sich in halbgarem Englisch durchzuschlagen. Und die beiden, Maria und Toni hießen sie, waren immer gesprächig – so wie er selbst.
Es stellte sich sogar heraus, dass sie den gleichen Rückflug gebucht hatten, daher landeten sie gemeinsam um 02.00 Uhr in Nürnberg. Maria und Toni hatten dort ihr Auto in der Tiefgarage geparkt. Ihm wäre das viel zu teuer gewesen, seinen alten Jeep dort abzustellen, noch dazu, da er für zwei Wochen hätte zahlen müssen.
„Fahrst mit uns mit, wir haben doch eh die gleiche Route, Jay!“, meinte Toni. Und er hatte Recht, ihre beide Ortschaften lagen gerade einmal fünfzehn Kilometer auseinander. Aber irgendetwas ritt ihn an diesem eiskalten Novembermorgen dazu, dieses Angebot abzulehnen. Jay, das war sein Spitzname. Seinen echten Namen mochte er nicht besonders: Johannes Günther Diechenstein. Für einen 30-jährigen Single-Mann, der er ja demnächst nach seiner anstehenden Scheidung wieder sein würde, war das kein besonders attraktiver Name, deswegen stellte er sich privat überall als Jay vor. „Nein, danke euch, lieb gemeint. Aber dann habt ihr ja gleich zwanzig Kilometer Umweg, den ihr nur wegen mir fahren müsst, das braucht es wirklich ned. Wenn ihr mich schnell zum Bahnhof bringen könntet, dann wäre mir scho g’holfen“, sagte Jay, während er den Umweg auf Google Maps in seinem alten Huawei-Handy ausgerechnet hatte. „Außerdem sagen sie Stau an, Pendlerverkehr. Da könnt ihr mich als ungeduldigen Choleriker eh ned in eurem Auto brauchen.“
Also fuhren Maria und Toni ihre Urlaubsbekanntschaft zum Nürnberger Hauptbahnhof, wo sich die drei verabschiedeten. Sie wünschten sich gegenseitig alles Gute und „dass man sich ja mal auf ein Bier treffen kann.“ Jay dachte sich, dass das am Ende des Tages doch nur wieder Phrasen sind, die jeder in seinem Alltagstrott vergessen würde, selbst wenn man eine schöne gemeinsame Zeit in der Sonne des Paradieses verbracht hatte und bei dem ein oder anderen Caipirinha über den Sinn des Lebens philosophiert hatte. Nett waren die beiden, aber er rechnete trotzdem fest damit, dass man sich – abgesehen von vielleicht ein paar WhatsApp-Nachrichten zu Geburtstagen – in den kommenden Wochen und Monaten sicherlich wieder aus den Augen verlieren würde. Als er das Auto der beiden verließ, es war ein dunkelblauer Seat Alhambra, der schon einige Kilometer auf dem Buckel hatte und trotzdem noch beachtlich gut dastand, bemerkte Jay, dass es draußen bitterkalt war. Am Flughafen war es ihm wärmer vorgekommen, selbst der alte Kombi war trotz altmodischer Heizung temperaturmäßig noch deutlich erträglicher als die Kälte, der er jetzt am Bahnhof ausgesetzt war. Er ging mit seinem Koffer langsam zu Gleis 11, von wo aus er die Reise mit einem Umstieg verbunden in seine Heimat antreten würde. Nachdem der Zug ohnehin schon früher als erwartet eintrudelte, quartierte er sich samt Gepäck in einer relativ geräumigen Regionalbahn ein und merkte, wie er langsam müde wurde. Der lange Flug und das fehlende Essen machten ihm zu schaffen. Wenn er etwas nicht leiden konnte – in Kombination – dann Müdigkeit und Hunger. Den Hunger konnte er mit einer Bifi beseitigen, die er für solche Fälle immer dabeihatte. Den Schlaf allerdings müsste er zu Hause nachholen, da er seinen Koffer nicht unbeaufsichtigt stehen lassen wollte. Das war die letzten Reisen immer anders, dachte Jay, da wechselten sich seine Frau Rita und er bei solchen Dingen ab. Der Preis der Einsamkeit – Jay schauerte es, da es ihm nun wieder so richtig bewusstwurde. Im Urlaub konnte er das ausblenden, überspielen, weil er die meiste Zeit mit Maria und Toni abhing. Aber nun kam ihm seine Noch-Frau in den Sinn, erbarmungslos. Er hätte es durchaus verhindern können, dass dieser Zustand eintrat, auch wenn es nicht nur seine Schuld war. Jay war in den Jahren immer kälter zu Rita geworden. Romantik war noch nie sein Ding, aber nach elf Jahren Beziehung war er zum Schluss abweisend, desinteressiert, ignorant. Rita versuchte es oft im Guten mit ihm. Doch ihre Frohnatur und ihr Humor stumpften bei ihm immer mehr ab, auch wenn er dies nie zugeben würde. Es war alles zu normal, als dass es besonders wäre, ganz im Gegenteil zu den Anfangsjahren. Es gab zwar zum Schluss ihrer Beziehung immer noch manche Höhen wie sein dreißigster Geburtstag, den die beiden mit ihrer Traumreise nach Venedig feierten, aber die Tiefen überwogen immer mehr. Irgendwann war Rita nur noch genervt von ihm und seiner negativen Art, sodass sie die Ehe-Rettungsversuche einstellte, resignierte und die Scheidung wollte. Erst dann begriff Jay, dass er es wirklich verbockt hatte, dass er die Zeichen der Zeit viel zu spät erkannt hatte, dass er seine Frau jahrelang verletzt hatte, und das ganz ohne Fremdgehen oder dergleichen. Er seufzte und war sich klar, dass es so schnell auch kein Zurück für die beiden gab. Er hatte sie vor seinem Urlaub zwar getroffen, sie kamen sich jedoch nicht wirklich wieder näher und verabschiedeten sich auf unbestimmte Zeit. Er lebte weiterhin im gemeinsamen Haus, das für ihn viel zu groß und zu pflegeaufwendig war, sie zog in eine Wohnung keine zwanzig Minuten weg. Er vermietete das Obergeschoss sowie den Keller des Hauses, da er um jeden Zentimeter Wohnfläche, den er nicht pflegen musste, froh war. Zudem war das ein Batzen Geld, den er dadurch einnahm. Trotz der geringen Entfernung sahen Rita und er sich kaum noch, weil sie Abstand gewinnen wollte. Komisch, dachte er, genau jetzt wollte er keinen Abstand, sondern Nähe. Also genau das, was er zuletzt kaum noch zuließ und wofür er sich inzwischen regelrecht schämte.
Nach einem erneuten Umstieg in die Regionalbahn Richtung Eichstätt war er etwas erleichtert. In gut einer halben Stunde würde er nach einer insgesamt zehnstündigen Reise endlich sein Bett erreichen, auch wenn niemand zu Hause auf ihn wartete, und er würde regelrecht reinfallen. Er freute sich auf sein Designer-Bett mit extraweicher Matratze, auf seine offene Dusche und auf eine Halbe bayerisches Bier, das er tatsächlich während seines Urlaubs etwas vermisste. Als der Zug in Eichstätt/ Heimering, einem kleinen Vorort, anhielt, war es bereits 04.30 Uhr, aber es war nach wie vor finster und eiskalt. Er zog sich seine Mütze auf und verließ zügig die Regionalbahn, er lief regelrecht ferngesteuert durch die bekannten Straßen und Gässchen, um schnellstmöglich daheim anzukommen. Irgendwie hatte er das Gefühl, dass ihm jemand folgen würde, aber er war sich sicher, dass ihm seine Müdigkeit einen Streich spielen würde. Jay vernahm den Duft von frischen Brezen, die sein Lieblingsbäcker um diese Zeit anscheinend schon vorbereitete, um für den Ansturm in einer Stunde gewappnet zu sein. Er bog in die Vorstraße zu seinem Haus ein, befand sich auf der Zielgeraden seines Weges, und zog den schweren Koffer hinter sich her. Gleich hatte er es geschafft, dachte er sich. Just in dem Moment, als er ein erleichterndes Gähnen von sich geben wollte, spürte er, wie sich ein Schatten aus einem Gebüsch aus der Dunkelheit neben ihm löste, ihm eine Tüte über den Kopf zog und ihm mit einem leichten, aber platzierten Schlag ins Genick die Lichter ausknipste.
Als er wieder zu sich kam, sah er nichts, da seine Augen verbunden waren. Er roch auch nicht viel, allerdings kam es ihm so vor, als würde relativ viel Speiseöl in dem Auto sein, in dem er gerade von wildfremden Menschen transportiert wurde. Er versuchte sich trotz des Schocks zu konzentrieren, einen Plan zu schmieden, hier auszubrechen. Es gelang ihm nicht. Ihm kam es zudem so vor, als wäre er einige Zeit bewusstlos gewesen: Er hatte ein ganz anderes Gewand an, das konnte er zwar nicht sehen, dafür aber spüren. Es fühlte sich an wie ein Kartoffelsack, da es ihn überall juckte und die Haut reizte. Doch das war nun sein kleinstes Problem: Klamotten würde er sich neue kaufen können – ein neues Leben nicht. Er wurde nervöser und nervöser, versuchte zu schreien, was ihm aufgrund des geknebelten Mundes freilich nicht gelang. Im Auto müssten mehrere Personen sein, das spürte er, auch wenn er scheinbar auf einer Rückbank lag und niemand etwas sagte. Würden es sie sein? Würden sie ihn dafür bestrafen, was er getan hat? Für seine sicherlich nicht besonders cleveren Geschäften vor über zwei Jahren? Aber wenn es diese Leute waren, vor denen er sich seither fürchtete, warum haben sie ihn nicht einfach erschossen? Oder geschlagen und Forderungen gestellt, die er aufgrund seiner guten finanziellen Lage sicher zu leisten imstande gewesen wäre? Warum knebelten sie ihn und fuhren ihn Weiß Gott Wo hin? Diese Gedanken trugen auch nicht zu seiner Beruhigung bei, das Auto wurde langsamer, Jay immer hysterischer. Es schien so, als würden sie ihr Ziel erreichen. Seine Endstation? Würde sie ihn in den Tod schicken? Er verzweifelte an seinen Fesseln, wollte sich selbst ohrfeigen, dafür, dass er nicht mit Toni und Maria im Auto mitgefahren ist, wahrscheinlich wäre dann nichts dergleichen passiert. Aber es war zu spät, diese Leute hatten ihn in ihrer Gewalt und er war hilflos ausgesetzt. Er ist zwar nicht der Sportlichste, aufgrund seiner starken Oberarme hätte er aber durchaus eine Chance gehabt in einem fairen Kampf. Auch diese Gedankenspiele halfen nichts, die Unbekannten schleppten ihn aus dem Auto, hinein in einen größeren Raum. Niemand sagte etwas, aber der Geruch des Öls wurde immer extremer, auch wenn es möglicherweise gar kein Speiseöl war. Die Entführer zogen Jay nackt aus, einzig die Fesseln und die Augenbinde ließen sie ihm. „Ihr könnt alles von mir haben, sagt mir, was ihr wollt!“, schrie Jay nun völlig entgeistert und dem Tode vor Augen, „ich habe genug Geld, wenn es um das geht! Ja, ich habe damals einen Fehler gemacht, zefix, aber darüber kann man doch reden!“
Eine dunkle, weibliche Stimme sprach, Jay erschauerte bei den ersten Worten. „Wovon du sprichst, ist uns egal, Diechenstein. Es interessiert uns nicht. Wir wollen kein Geld. Wir wollen Bestrafung und Gerechtigkeit.“ Jay begann zu weinen, er kannte die Stimme nicht, wusste auch nicht, was gemeint war. Oder war es doch das, was er gedacht hatte? Warum aber sollten sich diese Leute so zieren, anstatt dass sie zur Sache kommen? Was sollte er tun? „Für was wollt ihr mich bestrafen?“
Die Unbekannten reagierten nicht mehr auf diese Frage. Sie schleppten ihn weiter, Jay schrie sich die Seele aus dem Leib, doch es half nichts. Er dachte komischerweise an Rita, wollte sich bei ihr entschuldigen, für das, was er ihr angetan hat. Er wusste, dass es gleich vorbeigehen würde. Es roch nach dampfendem, siedendem Öl. Jay konnte sich nicht mehr wehren, wieder fragte er sich: Warum konnten sie ihn nicht einfach erschießen? Nun erzählten sie ihm in nüchterner, fast gleichgültiger Stimme, was sie mit ihm vorhatten und warum sie ihn zur Rechenschaft zogen. Er rechnete mit dem Schlimmsten. Doch es kam schlimmer.
KAPITEL 1
„Etz gibst mir noch a Halbe, ge“, rief sein Mitspieler ihm entgegen. „Harry, du musst no Autofahrn, das ist dein drittes Weizen, Depp“, entgegnete er. Harald Stößler, der Torwart des Dorfvereins eines Eichstätter Vororts, sah dies aber komplett anders: „Ach komm, etz lass halt ned wieder den Dorfbullen raushängen, Franky. Ist scho schlimm genug, dass du bei dem Verein mitmachst, aber deine Mannschaftskameraden brauchst ned auch no hinhängen.“
Der Dorfbulle, genauer gesagt Hauptkommissar Frank Dörfler, ließ sich allerdings nicht anmerken, wie bescheuert er es fand, dass man ihn immer wieder darauf „beschränkte.“ Erst recht nicht in seiner eigenen Fußballmannschaft, die wie nach jedem Heimspiel am Sonntagabend noch ein paar gemeinsame Stunden in gemütlicher Runde miteinander verbrachte. Und als Dorfbulle fühlte er sich sowieso nicht. Als Hauptkommissar der Polizeiinspektion Eichstätt hat er trotz seines Alters von 29 Jahren schon recht früh Karriere gemacht, hat sich durch solide Arbeit sowie ein schnelles Studium der Kriminalistik seinen Rang verdient. Klar, er hatte jetzt eher weniger spektakuläre Fälle bisher zu bearbeiten gehabt. Der interessanteste Fall war vor circa einem Jahr, als man eine weibliche Leiche einer alten Frau in einem Weiher fand. Er freute sich schon auf seine ersten eigenständigen Ermittlungen in einem Mordfall, doch es stellte sich relativ schnell heraus, dass die Dame Selbstmord beging, indem sie absichtlich mit ihrem alten Ford in den kalten, und doch tiefen Weiher fuhr, um dort zu ertrinken. Sie hatte Krebs diagnostiziert bekommen und wollte sich wohl das Leiden ersparen. Nein, Hollywood-reife Fälle hatte er bisher nicht in seinem Repertoire. Ab und an unterstützte er die Kollegen aus Nürnberg oder Ingolstadt bei kleineren Delikten, die mit dem Landkreis Eichstätt Verbindungen hatten, aber im Großen und Ganzen hatte er einen unspektakulären Arbeitsalltag in seinen bisherigen zwei Jahren als leitender Hauptkommissar.
„Auf geht’s Franky, etz trink’ma alle noch a Halbe, wir ham das Derby gegen die Heimeringer gwonnen und so jung kommen wir eh nimma z’samm“, beendete der Kapitän der Truppe, Marco Liebscher, den alle wegen seines markanten Laufstils nur Tiger nannten, die Diskussion und öffnete fünf weitere Weizenbiere, um die leeren Krüge der Kameraden zu füllen. Kommissar Dörfler erwischte sich dabei, dass er über den Sinn dieser Aussage nachdachte, weil ja irgendwie jedes Spiel in dieser unteren Liga, in der sie nun mal unterwegs waren, ein Derby sei, aber er hatte keine Lust mehr, den anderen das Trinken auszureden. Nachdem zu den unzähligen Bieren dann auch die ersten Schnäpse eingeschenkt wurden, eskalierte das gemütliche Beisammensein in dem kleinen Häuschen, in welchem sich die Spieler des Öfteren zusammensetzten, zur Party. Der Kommissar allerdings verließ vorerst das Geschehen, er wollte frische Luft schnappen und setzte sich auf eine Bank vor der alten Bruchbude, die ihre besten Zeiten sicher hinter sich hatte, und nippte langsam von seinem Weißbier. Morgen müsste er schließlich ja wieder fit sein, als Hauptkommissar konnte er ja im Gegensatz zu einigen seiner Kollegen nicht unbedingt mit einer Alkoholfahne am Arbeitsplatz auftauchen.
Rund zwei Minuten nach seinem Ausriss aus dem Sportheim setzte sich sein bester Freund, der 33-jährige Metzger Hannes Brumm, neben ihn. Er wusste, was er an der Freundschaft mit Hannes hatte und schätzte diesen sehr. Beide kannten sich schon seit Kindheitstagen und wohnten inzwischen direkt nebeneinander.
„Wie geht’s so, alles guad daheim?“, begann der Kommissar das Gespräch. „Ja freilich, wie soll’s schon gehen. Weißt, meine Frau und ich wollen jetz einen Pool bauen“, antwortete Brumm, „oder besser gesagt, meine Frau will das. Des Glump ist richtig teuer und ich darf den ganzen Spaß dann wieder hegen und pflegen.“ Dörfler reagierte noch nicht darauf, er war überzeugt davon, dass sein bester Kumpel noch eine Pointe der Geschichte anfügen würde. So kam es dann auch. „Ich hab ihr jetz einen Pool gekauft und heut vor dem Spiel im Garten aufgebaut, da wird sie sich freuen. Hat mich grad mal zehn Euro kostet, mit a bissl Akrobatik bassma da auch beide rein.“ Die beiden Freunde lachten, Dörfler war schon gespannt, wie Brumms Frau auf den Spaß reagieren würde. Erst recht, da es inzwischen November und durchaus winterlich war. „Und bei euch so?“, gab Brumm die Frage an den Polizeibeamten zurück. Dörfler war seit über acht Jahren mit seiner Jugendliebe Rebecca zusammen, sie führten eine in seinen Augen sehr liebevolle und harmonische Beziehung, wohnten schon seit mehreren Jahren gemeinsam in einem Haus in einem kleinen Dorf nahe Eichstätt, in Hausdorf-Eichzell, wo er zudem für den hiesigen Fußballverein aktiv war.
„Hast du Stoffel ihr jetz endlich einen Antrag gemacht, die Rebecca wartet da doch scho seit Ewigkeiten drauf?“, schob Brumm seiner initialen Frage hinterher. Dörfler wusste, dass diese Frage kommen würde, sie kam immer und überall. Von seinen Verwandten, Bekannten, Freunden und Kollegen. Er wusste ohnehin, dass dieser Antrag eigentlich überfällig war, aber irgendwie fühlte er sich noch nicht bereit zu solchen romantischen Heldentaten. Er fand es daürüber hinaus immer schwieriger, dieser Frage auszuweichen. „Ja, Hannes, weißt eh, aber so einfach ist das ja auch ned“, erklärte der Kommissar, „mir fällt nix Gescheites ein und außerdem weiß ich ned, wann der richtige Moment wäre.“ Just in dieser Sekunde schellte das Mobiltelefon Dörflers, und Brumm kommentierte diesen Zustand mit „Jetzt könntest sie doch direkt fragen“, als auf dem Display seines Freundes „Rebecca Schatz ruft an“ aufleuchtete. Nachdem der Kommissar auf den in seinen Augen unpassenden Einwurf nur ein kurzes „Depp!“ übrighatte, nahm er den Anruf entgegen.
„Servus Spatzl“, sagte Dörfler. Er fand diesen Kosenamen cool, hatte ihn seiner Lieblingsserie aus den Achtzigern entnommen. Dort ging es auch um einen Kommissar, der es zwar mit der Liebe nicht so eng nahm, aber irgendwie fand er diese Erscheinung samt seinem Wortschatz begeisternd. Eigentlich nicht seine Zeit, aber film- und musiktechnisch war Dörfler noch nicht in den 2000ern angekommen. „Griasdi Franky“, entgegnete seine Frau ungewohnt hektisch, „du, bei uns stehen deine Kollegen an der Haustür, sie bräuchten dich dringend und haben dich am Diensthandy nicht erreicht.“ Zefix, das Diensthandy, dachte sich Dörfler. „Ou, ja, des hab ich zwar dabei, aber halt auf Lautlos“, sagte Dörfler. Er spürte, dass irgendwas nicht in Ordnung war und seiner Freundin auch nicht wohl war bei dem Telefonat, sonst hätte sie ihn nämlich längst für sein schlampiges Diensthandy-Malheur kritisiert.
„Ja, also, du müsserst auf jeden Fall so schnell wie es geht herkommen, es is dringend“, fuhr sie fort. Dörfler wollte eigentlich fragen, ob es nicht noch bis morgen warten könnte, weil er eigentlich noch gerne mit seiner Mannschaft den Derbysieg hätte feiern wollen – immerhin hatten sie die verhassten Nachbarn aus Heimering geschlagen – aber ihre Stimmlage verriet ihm, dass es wohl etwas Wichtigeres sein müsste. Er sagte Rebecca, dass er schnellstmöglich nach Hause kommen würde und sie sich keine Sorgen machen müsse. Auf dem Weg aus dem Sportheim heraus verabschiedete er sich von seinen Teamkollegen, die das aber nicht alle mitbekommen haben aufgrund der zu laut aufgedrehten Jukebox, aus der Cordula Grün schallte. Als Dörfler zu seinem Auto weiterging, sah er auch Harry, der sich lauthals an einen Baum gelehnt übergab. „Harry, geh weida, ich bring dich schnell heim“, packte Dörfler seinen Torwart am Arm und stieß ihn ins Auto. Dieser kämpfte zwar auf den knapp fünf Minuten Autofahrt immer wieder mit seinem Würgereflex, konnte sich aber im Privatwagen des Kommissars beherrschen. Als er ausstieg, bedankte er sich bei Dörfler und taumelte Richtung Hauseingang. Dörfler fuhr weiter und drehte nun „seine“ Musik auf. Er kramte eine alte CD heraus, „70er Hits“ stand darauf, und legt sie ins Fach. Er hatte sich die CD selbst gebrannt und war nicht überrascht, als mit Free Bird von Lynyrd Skynyrd das erste Lied begann, da er diese Platte sicher nicht zum ersten Mal hörte. Zu den rockigen Tönen machte sich Dörfler einige Gedanken auf seiner zehnminütigen Weiterfahrt. Zum einen dachte er an Rebecca. Sein Spatzl, eine attraktive, blonde Frau Ende zwanzig, intelligent und ehrgeizig, da sie als Rechtsanwältin arbeitete, und doch wünschte sie sich nichts mehr als eine Familie. Er musste den Heiratsantrag wirklich demnächst einmal machen, ermahnte er sich, und legte sich geistig darauf fest, dass er das bis Jahresende erledigen müsste – er hatte dann ja immerhin noch fast zwei Monate Zeit. Wie er das anstellen würde, war ihm noch nicht klar, er würde den Brumm Hannes um Rat fragen, da der das ja schon hinter sich hat und sicher einige gute und romantische Ideen beitragen kann. Und er dachte an das, was ihn gleich zu Hause, in seinem neu gebauten Haus, das ihm samt Garten riesig vorkam, erwarten würde. Dabei erwischte er sich, dass er bereits in seinem Dorf Eichzell, einem kleinen Vorort von Hausdorf mit kaum mehr als hundert Einwohnern, war und die 70 km/h nicht unbedingt angemessen waren. Er bremste und bog danach in die Seitenstraße ab, in der das traute Heim der Bald-Dörflers – er war sich sicher, dass Rebecca „Ja“ sagen würde – stand. Die Nachbarn in ihren 90er-Jahre-Häusern, die alle im Landhausstil gebaut waren, schienen alle schon zu schlafen, es musste bereits nach Mitternacht sein. Sein Wagen, ein grüner Suzuki, hatte zwar eine Uhr, die war aber seit Jahren kaputt; und auf sein Handy wollte er bei den aktuellen Straflagen im Auto auch nicht schauen. Am Ende der Waldgasse, so hieß diese Nebenstraße, war er dann angekommen. Das Haus, das da erst seit einem Jahr stand, war gänzlich weiß, hatte eine moderne Terrasse und ein graues, ebenso modernes Dach. Er wollte eigentlich eher ein Landhausstil-Haus, gab aber Rebecca nach und fand das neue Heim, als es fertig war, auch gar nicht so verkehrt – nur zugeben würde er es nie. Der Garten, der neben der Garage war, war groß, selbst für die bayerische Idylle. Fast 800 Quadratmeter, die von Rasen, Obstbäumen, Sträuchern und Gemüsebeeten bepflanzt waren – und ihm eine Menge Arbeit bereiteten. Die letzten Töne von Free Bird erklangen, Dörfler liebte dieses Solo und pfiff die Schlussminute frohlockend mit, als er in die Einfahrt fuhr, wo Rebecca neben einem Polizeiauto stand und seinen zwei Arbeitskollegen einen Kaffee eingeschenkt hatte. Er fragte sich, was ihn jetzt wohl erwarten würde.
KAPITEL 2
„Franky, stell deinen Wagen ab und fahr gleich bei uns mit“, sagte Günther Habmann, Kommissar aus der Eichstätter Inspektion. Habmann war deutlich älter als Dörfler, störte sich aber nicht daran, dass dieser sein Vorgesetzter war. Habmann war nicht sonderlich auf Karriere aus, sondern war mit seinem erreichten Status absolut zufrieden. Er war Mitte fünfzig, hatte eine Glatze, war an den Seiten sauber rasiert, und trug seinen „obligatorischen“ Schnauzbart. Seine sportliche Zeit hatte er sichtlich hinter sich gelassen; er hatte eine schwarze Jeans und eine gelbe Jacke an, die ihm etwas zu groß war. Neben Habmann, den jeder nur Günni nannte, stand die neue Kollegin, die Dörfler erst vor zwei Wochen eingestellt hatte: Patricia van Ouven, eine fünfundzwanzigjährige Niederländerin, die ihre polizeiliche Ausbildung in Aachen nahe ihrer Heimatstadt Maastricht gemacht hatte. Van Ouven war schlank, sehr sportlich, modisch schick angezogen und hatte zu ihrem schwarzen Kleid ebenso schwarze High Heels an, was den Temperaturen nicht wirklich angemessen war. „Woman in black“, sagte Habmann in gebrochenem Englisch mit seinem mittelfränkischen Akzent, da van Ouven zusätzlich lange, schwarze Haare und einen schwarzen Mantel trug. „Was ist eigentlich los?“, fragte Dörfler in die Runde. Van Ouven hatte es anscheinend die Sprache verschlagen, sie sah ebenso blass aus wie Dörflers Freundin Rebecca, die an einem Bänklein neben den Polizisten stand. Habmann war der Einzige, der nicht um eine Antwort verlegen war: „Wir haben tatsächlich einen Mord in unserem Ermittlungskreis. In Heimering haben sie einen Mann grausam ermordet.“ Der Hauptkommissar Dörfler schluckte. Sollte das sein erster Mordfall sein? Vorbei die Zeit mit vermeintlich kleineren Delikten? Würde er sich erstmals um einen prominenten Fall kümmern? Eine Chance, sich zu beweisen, sicher, aber auch ein Risiko – bei einem Versagen würde man ohne Zweifel aufgrund seines Alters an Kritik nicht sparen. Aber Angst ist ein schlechter Ratgeber, da war er sich klar. Er müsste jetzt Sicherheit und Ruhe ausstrahlen, erst recht bei einem Mord in der Provinz. Noch dazu wusste er ja nicht, was genau geschehen war. Doch es konnte nichts sonderlich Erfreuliches sein, sofern er die Mienen der anwesenden Personen richtig deutete.
Auf einmal stand Rebecca neben ihrem Hauptkommissar und sagte: „So kannst du aber nicht zu deinem ersten Mordfall antanzen.“ Unrecht hatte sie nicht, Dörfler stand in seinem gelben FC Hausdorf-Trainingsanzug da, nach dem Duschen im Anschluss an sein Fußballspiel hatte er seine kurzen, blonden Haare nicht gekämmt, zudem trug er blaue Adiletten. So konnte er nicht auftreten. Seine Bald-Frau, als diese sie Dörfler inzwischen ansah, begleitete ihn zum Schlafzimmer, in welchem sie ihm eine feine, blaue Jeans sowie ein schwarzes Hemd und ein schwarzes Sakko herrichtete. Da er nicht besonders modebewusst war, ging dieses Prozedere jeden Morgen so. „Sag mal, kannst du überhaupt ermitteln, ich mein, es is fast 8 Uhr in der Früh, und du hast sicher ned nur Apfelschorle getrunken bei eurer Fete. Und überhaupt, du kommst eh immer später heim, ihr solltet’s euch mal zammreißen!“, schimpfte sie. Da wurde Dörfler bewusst, dass es tatsächlich schon 8 Uhr morgens war und er außerordentlich müde war; getrunken hatte er in den vielen Stunden nach ihrem Spiel am Nachmittag nur drei Weizenbier, das würde ihn nicht umwerfen. „Ach Spatzl, des geht scho. Ich bin ja scho groß und außer Schlaf fehlt mir nix. Nächstes Mal machma eh wieder ruhiger“, entgegnete der Hauptkommissar in gewohnt oberbayerischem Dialekt. Da Eichstätt an der Grenze zwischen Oberbayern und Mittelfranken lag, waren hier beide Dialekte prominent vertreten. Während Dörfler der bayerischen Seite der Sprache angehörte, sprach seine Frau fränkisch. „Du wirst es scho wissen. Aber was ich von deinen Kollegen gehört hab, is des nix für einen flauen Magen, wo du gleich hinfährst“, sagte sie und wurde dabei etwas blass.
Dörfler beruhigte seine Freundin und gab ihr einen Kuss zur Verabschiedung. Er zog sich schwarze Winterstiefel an und verließ das gemeinsame Haus, wovor Habmann und van Ouven bereits in ihrem Dienstwagen auf ihn warteten. Dörfler zitierte die beiden in sein Privatauto, da sie ja „Kriminaler sind und deshalb nicht herumfahren sollten wie dahergelaufene Dorfbullen“, wie er es begründete. Als sich das Trio in Dörflers Wagen zusammengefunden hatte und er den Motor startete, fragte er seine beiden Mitarbeiter: „So, jetz sagt’s mal, was is eigentlich passiert, wo müssen wir hin?“ Um besser zuhören zu können, drehte er seine Musik leiser. Van Ouven schien es nach wie vor die Sprache verschlagen zu haben, also antwortete Habmann: „Also, Franky, als Allererstes: Wir müssen zum alten Hof vom Müllerbauer fahren, des is ein Einsiedlerhof hinter Heimering, ich sag dir, wie du fahren musst. Der Hof is aber seit Jahren verlassen, der Enkel, der vom Müllerbauer den Hof geerbt hat, der kümmert sich da nicht so drum, der wohnt ja in Berlin und dem is des ziemlich wurscht.“ Dörfler fragte sich, wie ihm diese Details zu Müllerbauers Enkel – warum auch immer jeder Hof einen eigenen Hofnamen haben musste – weiterhelfen sollen, ließ seinen gesprächigen Kollegen aber fortfahren. „Ja, und da liegt der Tote.“ Auf einmal begann auch Habmann zu schlucken, van Ouven machte nach wie vor keine Anstalten, an der Unterhaltung teilzunehmen. „Ja, Günni, jetz kenn i den Müllerbauer seinen Hof, seine halbe Lebensgeschichte und den Weg dahin, aber was zur Hölle is passiert, dass ihr mir es nicht sagen wollt?“ Er schaute zu seinem Kollegen herüber, der den linken Mundwinkel angestrengt nach oben zog, sich dann gekünstelt räusperte und dann doch mit deutlich unruhigerer Stimmlage das Wort ergriff: „Also da haben’s einen auf eine ganz bestialische Art und Weise umgebracht, des muss eine Art Hinrichtung gewesen sein.“ Habmann schluckte erneut, erklärte aber weiter die Sachlage. „Die haben da einen Mann gepackt und bei lebendigem Leibe so lange in einen Kessel von kochendem Öl gesteckt, bis er gestorben ist. Das muss ein grausamer Tod gewesen sein.“ Jetzt wusste Dörfler, warum seine junge Kollegin so blass war und sein älterer Kollege, der ansonsten durchaus gerne redete, seine liebe Mühe hatte, um die richtigen Worte zu finden. Dörfler versuchte, nach dem ersten Schock die Fassung wiederzuerlangen. Er hatte von den anderen Kommissaren aus den größeren bayerischen Städten, mit denen er teilweise zusammenarbeitete, auch mit heftigeren Morden zu tun. Dieser allerdings war eine Stufe über allem, was er bisher an Brutalität gesehen und gehört hatte. Ihm grauste vor der Tatortbesichtigung, doch er wollte Souveränität und Professionalität ausstrahlen, auch, um seine sichtlich aufgeregten Kollegen zu beruhigen.
„Also, lasst uns das mal noch so gut es geht vorbereiten. Was hamma bis jetz? Kennen wir den Namen des Toten?“, setzte Dörfler die Unterhaltung fort. Ihm war bewusst, dass ihre Autofahrt nur noch höchstens fünf Minuten dauern würde, sofern Habmanns Route stimmte. Und diese Zeit wollte er zielbringend nutzen. „Frau van Ouven, konnten Sie hier etwas ausfindig machen?“, wollte er seine Kollegin zum Auftauen bewegen. Hätte er das tun sollen? Oder hätte er der geschockten jungen Frau lieber noch etwas Zeit geben sollen, um ihre Emotionen zu ordnen? Schließlich war sie erst zwei Wochen hier und kam frisch von der Schule. Doch van Ouven antwortete ihm unerwartet prompt in gutem Deutsch, auch wenn sie ihren holländischen Akzent nicht gänzlich ausblenden konnte: „Ja, Chef. Ich habe vorhin mit der Spurensicherung telefoniert. Sie konnten aufgrund der Verbrennungen und Verätzungen durch das Öl zu Beginn keine Identifikation durchführen, haben aber Überreste einer Boarding Card vom Nürnberger Flughaben gefunden. Den Namen konnte man zwar nicht mehr lesen, allerdings war der Platz ersichtlich, den der Mann in der Maschine gebucht hatte.“ „Moment, es handelt sich sicher um einen Mann?“, wollte Dörfler wissen.
„Ja, das konnten die Kollegen schon feststellen. Er müsste zwischen 30 und 40 Jahren alt sein, meinten die Kollegen. Also alt gewesen sein. Wir haben schon Kontakt mit dem Nürnberger Flughafen aufgenommen. Ich denke, dass wir in den nächsten zwei Stunden wissen, wer der Tote ist.“ Dörfler war vorsichtig optimistisch, dass man bald den Toten identifiziert haben könnte, gab aber zu bedenken, dass es nicht zwingend der Gleiche sein musste wie die Person auf dem Flugzeugticket. Er hoffte sogar insgeheim, dass es nicht so kommen würde, da man dann über das Ticket sehr konkrete Hinweise auf den Mörder bekommen könnte. „Da vorne etz rechts, dann einfach die Saustraße hoch und dann simma scho beim Müllerbauerhof“, schaltete sich Habmann wieder ein. „Mei schad, wie sie den schönen Hof einfach verkommen lassen“, fügte er an. Dörfler bog langsam auf den Feldweg ab, der zum Hof führte. Die drei Polizisten schwiegen, sie hatten gehörigen Respekt davor, was sie gleich erwarten würde. Für Habmann war es zwar nicht der erste Mordfall, bei dem er ermitteln würde, aber auch er hatte bisher nur zwei wenig brisante Fälle, bei welchen jeweils der eine Ehepartner den anderen getötet hatte und der Mörder schnell gefasst werden konnte – allerdings bereits fünfzehn Jahre her. Dörfler sah am Ende des Feldwegs das Blinken der Polizeiautos auf dem alten Hof, der tatsächlich sehr heruntergekommen war. Die Holzbretter, die früher die Tiere einzäunten, waren modrig und fielen auseinander. Dies war links und rechts neben dem Feldweg gleichermaßen der Fall, der Rasen war nicht gemäht und konnte sich samt Unkraut frei entfalten. Im Hof selbst war zu sehen, dass es drei größere Stallungen und ein Haus gab, in dem die Müllerbauers früher gelebt haben. Einer der drei Ställe war bereits sichtbar kaputt, das Dach war eingefallen und darunter waren alte Geräte wie Pflüge oder Traktoranhänger begraben. Der zweite Stall war etwas besser erhalten, war mit Abstand der Größte des Hofs und war wohl früher dazu da, um Kühe, Schafe und Schweine zu halten. Der dritte Stall, vor dem die Spurensicherung ihr Quartier aufgeschlagen hatte, war etwas kleiner. Es schien so, als hätte man dort einst die tierischen Erzeugnisse wie Fleisch, Milch oder Felle verwertet. Dörfler parkte neben den Polizeiwagen und stieg gemeinsam mit seinen beiden Mitarbeitern aus.
KAPITEL 3
Als die ermittelnden Beamten am Tatort eintrafen, grüßten sie die Kollegen der Spurensicherung. Es war inzwischen relativ hell, Dörfler sah auf Habmanns Armbanduhr, dass es halb neun war, trotzdem war die Szenerie noch beleuchtet. Der Hauptansprechpartner für Dörflers Abteilung war Markus Vierung, ein älterer Herr, der – wie Dörfler wusste – kurz vor der Rente stand. Er bat Dörfler, van Ouven und Habmann, ihm zu folgen. Sie gingen durch einen kleinen Eingang hindurch, sahen rechts von sich einen Holztisch, auf dem Listen lagen, die teilweise aufgrund ihres Alters gar nicht mehr lesbar waren. Es handelte sich um Bestandsaufnahmen, die die Bauern dort bezüglich der Erzeugnisse gemacht haben; im Vorbeigehen konnte Dörfler „27. Mai 2016 – 13 l Milch Kuh“ und „13. Mai 2016 – 3 Sau weiblich Schlachtung gezeichnet Willi“ erspähen. Willi musste dann wohl Müllerbauer Senior gewesen sein, der den Hof bis zu seinem Tod geführt hatte. Und dieser ist dann anscheinend schon über fünf Jahre her. Sie kamen in das Innere des Stalls und sahen mehrere Zellen, in denen wohl früher Kühe gemolken, Schafe geschert, Käse hergestellt oder vielleicht auch Schweine geschlachtet wurden, da war sich der Hauptkommissar allerdings nicht so sicher. Es gab keinen gepflasterten Boden, der Stall stand größtenteils direkt auf Mutter Erde. In der letzten Zelle hinten rechts war reges Treiben der Spurensicherung. Ein unangenehmer Geruch kam nun den Beamten entgegen. „Es riecht ja grad so, als ob hier jemand frittiert wurde“, befand Habmann, was der jungen Kollegin van Ouven nicht bekam. Sie rannte heraus und musste sich übergeben, da war sich Dörfler sicher. Er schaute Habmann mit vorwurfsvollem Blick an: „Hat’s des etz braucht? Sie war doch eh scho so blass und ich glaub, wenn wir zwei das glei anschauen, werden wir auch froh sei, wenn keiner von Imbissfett daherlallt.“ Vierung gab den verbliebenen zwei Kriminalbeamten eine Maske, da der Gestank immer beißender wurde. Was sie dann sahen, verschlug beiden die Sprache. Es war ein riesiger Gusskessel, in dem ein Mann schwamm. Beziehungsweise das, was man von ihm noch erkennen konnte. Der Kessel war randvoll mit Öl gefüllt, es sah aus, als handelte es sich dabei um Speiseöl. Diese Flüssigkeit war nun kalt, doch jedem Zusehenden war klar, dass es gekocht haben musste, als der Mann in den Kessel geschmissen wurde. Der Mann war gefesselt an Armen und Beinen, die Fesseln zeigten nach oben, sodass man das Gesicht nicht sehen konnte. Unter dem Kessel, das bemerkte Dörfler erst jetzt, waren die Überreste von Holzscheiten, die den Todeskessel des Mannes angeschürt hatten. Daneben war ein kleiner Baumstumpf, den der Mörder augenscheinlich dafür nutzte, um sein Opfer von dort aus in den Kessel zu stoßen, was an den Fäkalien rund um das Holzstück erkennbar war. So oder so ähnlich musste der Tathergang gewesen sein, da war sich Dörfler sicher. Neben diesem Baumstumpf lagen die Kleidungsstücke, die dem Opfer gehört haben mussten, dieser war nämlich völlig nackt in den Kessel gestoßen worden.
„Was wissen Sie bisher zur Tat, Herr Vierung?“, fragte Dörfler, um das Schweigen aller Beteiligten zu brechen. „Lassen’s uns rausgehen, nichts für ungut, aber ich hab alles g’sehn, ich würd unsere Unterhaltung gern an der frischen Luft fortsetzen“, schaltete sich Habmann ein, woraufhin sie seinem Vorschlag folgten. Draußen angekommen kam auch van Ouven, die merklich mitgenommen aussah, zum Gespräch dazu, was Dörfler allerdings nicht für eine besonders gute Idee hielt. „Frau van Ouven, bitte rufen’s derzeit schon mal am Flughafen an, ob die was wissen. Wir sagen Ihnen dann die Details zum Tathergang, wenn es Ihrem Magen wieder besser geht“, warf er ihr verständnisvoll zu. Die junge Dame nahm seinen Vorschlag erleichtert an und verschwand in Richtung Hofmitte, wo ein verblühter Apfelbaum stand. „So, die Herren, das ist alles nichts für schwache Nerven, ich weiß. Sowas habe ich auch noch nicht gesehen in meiner bisherigen Laufbahn, und glauben Sie mir, ich war über zwanzig Jahre in Berlin tätig, da habe ich so einiges gesehen“, begann Vierung in hier fast unüblichem Hochdeutsch, „wir haben es hier mit einem Irren zu tun. Genauer gesagt: Mit mehreren Irren, wir haben die Spuren von mindestens zwei Tätern und einem Opfer gefunden. Sie müssen den Toten woanders aufgegabelt und geknebelt haben, das sagen uns die Fesseln an seinen Gelenken. Zudem haben sie mit ihm noch einen Zwischenstopp woanders gemacht, möglicherweise in einem Wald. Warum sie das getan haben: Keine Ahnung. Danach haben sie ihn mit einem PKW hierhergebracht, auch diese Spuren waren noch frisch, es muss ein mittelgroßer Geländewagen gewesen sein. Sie haben ihn zum Gusskessel gezogen, dann entkleidet, danach haben sie ihn quasi in raffiniertem Speiseöl gekocht.“ Dörfler und Habmann sahen sich gegenseitig an und schluckten, aber Vierung fuhr in neutraler Stimme fort. „Bis der Tod eintrat, sind zwischen sieben und elf Minuten vergangen, wenn wir von einer Temperatur von 140 bis 160 Grad aufgrund der Holzscheite ausgehen. Es muss ein maximal qualvoller Tod gewesen sein.“ Auch Habmann verabschiedete sich nun schnellstens und übergab sich am nächstbesten Baum. Dörfler hätte es ihm am liebsten gleichgetan, doch als Chef musste er nun standhaft bleiben. „Herr Vierung, können Sie uns sagen, wann der Mann hierhergebracht wurde und wann er starb? Kennen wir auch schon sein Alter? Meine Kollegin meinte, er sei zwischen 30 und 40.“ Vierung erklärte dem Hauptkommissar nun, dass das Opfer zwischen 05.00 und 05.30 Uhr zum Tatort gezerrt wurde und der Tod dementsprechend eine halbe Stunde später eintrat. „Eine Frage habe ich noch, Herr Vierung. Wie konnten die Täter so schnell den Kessel erhitzen? Wäre es möglich, dass ein weiterer Täter auf die anderen am Hof gewartet hat und die Holzscheite entzündet hat?“ Vierung überlegte kurz, antwortete Dörfler aber leicht überrascht: „Ja, das kann durchaus sein. Wir schauen nochmal, ob wir bei den Holzscheiten und in der Zelle was finden. Aber aus logischer Sicht müsste das so sein, da gebe ich Ihnen Recht.“ Dörfler reichten diese Informationen fürs Erste und er beschloss, seine beiden Mitarbeiter und sich selbst von diesem Ort zu erlösen. „Frau van Ouven? Günni? Auf geht’s, wir fahren etz ins Büro. Mir langt’s erstmal vom Müllerbauerhof.“
KAPITEL 4
Als das Ermittler-Trio am kleinen Parkplatz der Polizeiinspektion Eichstätt ankam, war es bereits 11.00 Uhr. Dörfler fühlte sich nach den vielen Schockmomenten am Tatort nun tatsächlich müde, die Derbysiegernacht hing ihm noch nach. Er gähnte.
„Hast a kurze Nacht g’habt, oder, Franky?“, bemerkte es auch Habmann.
„Gar keine hab i g’habt, mit unseren Deppen kommst ja ned ins Bett. Da wird jeder Sieg wie die Champions-League gefeiert.“
„Ich geh schwer davon aus, dass du heut auch ned besonders früh in die Heia kommst.“
Zefix, dachte sich Dörfler, der Mord ist zu einem für ihn denkbar ungünstigen Zeitpunkt passiert. Die drei gingen in die Inspektion, nachdem Dörfler seinen Suzuki am „Dörfler – KHK“ Parkplatz abgestellt hatte. Dass man Kriminalhauptkommissar abkürzen musste, fand Dörfler von Anfang an nicht sonderlich schön, aber er hatte es hingenommen. Die Inspektion war nicht riesig, Dörfler hatte ein eigenes, nicht besonders großes, aber dafür modernes Büro. Zwei Bildschirme, Drucker, Faxgerät, bequemer Sessel. Vor allem dieses Einrichtungsstück schätzte er an diesem Morgen am meisten. Er zitierte nach einer kurzen Kaffeepause seine beiden Kollegen zu sich, um die Geschehnisse zu ordnen und entsprechend die nächsten Schritte zu besprechen. Van Ouven war als Erstes da, sie hatte sich beruhigt und strahlte wieder das aus, was Dörfler vor gut einem Monat dazu bewog, die Holländerin einzustellen – sie war sehr gut organisiert, neugierig und zielstrebig. Sie wollte etwas aus sich machen und war sich auch nicht zu schade, ihre ersten Schritte in einer bayerischen Provinz zu gehen. Dass sie früher oder später wieder in ihre Heimat wechseln würde, war Dörfler klar, obwohl sie nie etwas in diese Richtung angedeutet hatte.
„Geht es Ihnen wieder besser?“, erkundigte er sich.
„Danke, ja. Es war schon ein kleiner Schock, wissen Sie. Das ist die erste echte Leiche, die ich gesehen habe, noch dazu eine solch brutal entstellte.“
„Ich verstehe Sie. Sie haben sich Ihren Start wahrscheinlich auch anders vorg’stellt, oder? Ein bisschen ruhiger zumindest.“
„Durchaus. Ich komme aus der Nähe von Maastricht, da ist etwas mehr los als hier. Mein Vater ist dort auch Kriminalbeamter, daher kenne ich die Fälle dort ein wenig. Das sind zwar mehr, aber alles normale Morde.“
„Normale Morde – ein interessanter Gedanke. Welcher Mord ist schon normal? Dieser hier sicherlich nicht, da gebe ich Ihnen Recht. Wir haben hier seit Jahren keinen echten Mordfall mehr gehabt. Ich muss ehrlich zugeben, Fräulein van Ouven, solch eine Brutalität hätte ich unserer Region wirklich nicht zugetraut.“
„Wissen Sie, eigentlich schäme ich mich etwas für mein Verhalten. Als Kriminalbeamtin kann man schließlich nicht einfach vorm Tatort davonlaufen, selbst wenn der noch so schäbig ist“, wollte sich die Niederländerin entschuldigen.
„Dafür brauchen Sie sich nicht zu schämen. Es war für uns alle eine Extremsituation. Selbst Günni, also Herr Habmann hat seinen Mageninhalt nicht behalten können, und der hat hier bei den meisten Morden mitermittelt.“
Just in dem Moment betrat Habmann Dörflers Büro. „Wenn ich nicht zeitig frühstücke, dann dreht sich mei Magen um, das weißt doch, Franky. Da muss auch mei Frau aufpass’n, sonst kann sie mich den ganzen Tag nicht mehr ansprechen. Das hatte mit der Leich‘ nur am Rande zu tun, das war halt der Tropfen, der das Fass überlaufen ließ“, entgegnete er.
„Ein geistreiches Wortspiel“, konterte Dörfler Habmanns Versuch, sich aus dieser Geschichte noch herauszureden, „aber wir müssen leider den Smalltalk beenden. Wir haben jetzt unseren ersten großen Fall, wir sollten uns also mit voller Kraft da reinstürzen, weil das auch der erste große Test für uns als Team ist. Fangen wir an.“
Patricia van Ouven hatte bereits eine Flipchart vorbereitet. In der Mitte stand der Name „Johannes Günther Diechenstein.“ Den Namen hatte sie wie von Dörfler angeordnet beim Nürnberger Flughafen ausfindig gemacht. Dörfler kam der Name von irgendwoher bekannt vor, er wusste aber nicht, woher. Zumindest der Nachname war ihm ein Begriff. Er wusste, dass es besser sein würde, van Ouven mit den Recherchetätigkeiten zur Person zu beauftragen anstatt Habmann, da sie mit der hiesigen Technik viel affiner war und durch ihre „Ich bin neu in der Abteilung“-Motivation ein gutes Arbeitstempo an den Tag legte. Und Habmann schien deswegen auch nicht beleidigt zu sein, ganz im Gegenteil. Er verfolgte gespannt, was die neue Kollegin in der letzten Stunde herausfinden konnte. Zuletzt gab es dahingehend immer wieder Kritik aus anderen Abteilungen und Inspektionen, warum sie überhaupt noch eine dritte Person eingestellt haben. Zwei würden ja reichen für die paar Delikte, hieß es immer. Dörfler wiegelte etwaige Vorwürfe immer ab, sein Vorgesetzter hatte die Stelle freigegeben und „der is sicher ned auf die Meinung von euch Gscheithaferln angewiesen“, sagte er