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Das winterliche Altmühltal, ein aufgespießter Kopf und eine fehlende Leiche – der dritte Fall für Kommissar Dörfler. Ein gemütlich-familiärer Kurzurlaub zu zweit im vorweihnachtlichen Beilngries hätte es werden sollen, selbst wenn der ein oder andere Überraschungsgast die Wellnessstimmung des Eichstätter Hauptkommissars Frank Dörfler bereits bei der Anreise trübt. Doch damit nicht genug: Zum endgültigen Urlaubs-Crasher wird ein grausiger Fund an den Toren von Schloss Hirschberg, das über dem Erholungsort Beilngries thront. Der aufgespießte Schädel eines Unbekannten stellt Dörfler vor ein Rätsel. Mit der Hilfe seines neu zusammengestellten Teams begibt er sich auf die Suche und stößt dabei auf allerlei Fragezeichen: Wo liegt der fehlende Körper des Toten? Was will ihnen der Mörder mit seiner Tat mitteilen? Könnte es sich gar um eine historisch-motivierte Hinrichtung handeln? Und was hat der Ärztekongress, der zeitgleich im Schloss tagt, mit dem Fall zu tun?
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Seitenzahl: 262
Veröffentlichungsjahr: 2025
Großkopfert
Philipp Nadler wurde 1995 in Kösching in Oberbayern geboren. Heute lebt er als stolzer Vater eines Sohnes gemeinsam mit seiner Frau, die gebürtig aus Mittelfranken stammt, im Eichstätter Altmühltal. Als freiberuflicher Schriftsteller schreibt der studierte Sportmanager und im echten Leben als Web-Analyst arbeitende Nadler den »Altmühltal Krimi«, in welchem er seiner Leidenschaft für Kriminalgeschichten nachgehen kann. Ein großes Thema in seinen Büchern ist das humorvolle, dialektale Spannungsfeld zwischen Oberbayern und Mittelfranken, welches er selbst im Alltag erleben darf.
Mehr Infos zum Autor finden Sie unter www.philippnadler.de.
Es handelt sich bei diesem Buch um einen Roman. Sämtliche Handlungen und Personen sind frei erfunden, Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.
Philipp Nadler
Großkopfert
Ein Altmühltal Krimi
Dörflers dritter Fall
Für meine Eltern, die Ideengeber dieser Geschichte
© 2025 Philipp Nadler
Umschlaggestaltung und Umschlagmotiv: Grafikstudio Richter
unter Verwendung zweier Fotos von Philipp Nadler
Druck und Distribution im Auftrag des Autors/der Autorin:
tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland
ISBN
Paperback978-3-384-37689-3
Hardcover978-3-384-37690-9
e-Book978-3-384-37691-6
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung »Impressumservice«, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland.
Kapitelübersicht:
KAPITEL 1
KAPITEL 2
KAPITEL 3
KAPITEL 4
KAPITEL 5
KAPITEL 6
KAPITEL 7
KAPITEL 8
KAPITEL 9
KAPITEL 10
KAPITEL 11
KAPITEL 12
KAPITEL 13
KAPITEL 14
KAPITEL 15
KAPITEL 16
KAPITEL 17
KAPITEL 18
KAPITEL 19
KAPITEL 20
KAPITEL 21
KAPITEL 22
KAPITEL 23
KAPITEL 24
KAPITEL 25
KAPITEL 26
KAPITEL 27
KAPITEL 28
KAPITEL 29
KAPITEL 30
KAPITEL 31
KAPITEL 32
KAPITEL 33
KAPITEL 34
KAPITEL 35
KAPITEL 36
KAPITEL 37
KAPITEL 38
KAPITEL 39
KAPITEL 40
KAPITEL 41
KAPITEL 42
DANKSAGUNG
DÖRFLERS ERSTER FALL
DÖRFLERS ZWEITER FALL
Der Winter war über das Altmühltal eingebrochen. Ein Winter, den die Einheimischen lange nicht mehr in dieser Art erleben durften. Schnee. Und das mitten im Dezember, eine Woche vor Heiligabend. Was früher fast schon eine Selbstverständlichkeit gewesen war, stellte inzwischen die Ausnahme dar. Von weißer Weihnacht ganz zu schweigen. Der Eichstätter Hauptkommissar Frank Dörfler, einunddreißig Jahre jung, beobachtete in Erinnerungen schwelgend, wie die Schneeflocken sachte und völlig zufällig auf die Windschutzscheibe des Autos seiner Frau, einem kleinen VW, fielen. Er ließ die Eindrücke der letzten Monate noch einmal Revue passieren. Ein Serienmord, der sie im Sommer quer durch das Altmühltal gehetzt hatte. Er runzelte die Stirn und strich sich seine blonden Haare aus dem Gesicht. Die Erinnerungen an diese Zeit waren nicht allzu schön. Drei tote Frauen, fast wäre noch eine vierte dazugekommen, wenn sie nicht in allerletzter Sekunde dem Täter auf die Spur gekommen wären. Nein, er richtete seine Gedanken in eine hellere, freundlichere Richtung – und das gab dieses Jahr durchaus her. Er drehte seinen Kopf etwas nach links, wo seine Frau, Rebecca Dörfler, den Wagen maximal konzentriert durch die winterliche Gegend lenkte. Seine Frau. Das konnte er nach wie vor kaum glauben, es schien ihm irgendwie unwirklich. Die Hochzeit der beiden hatte im Sommer stattgefunden, nur wenige Tage nach der Lösung des letzten Falls. Er dachte gerne daran. Die beiden Familien, die unterschiedlicher kaum sein konnten, fröhlich tanzend auf ihrer freien Trauung. Seine Freunde, die ziemlich durstigen Fußballer seines Heimatvereins, gaben während der Partystunden nach der Zeremonie ihr letztes Hemd. Und, das nun mal Wichtigste auf einer solchen Veranstaltung, seine wunderschöne Frau Rebecca, die ihm in einer emotionalen Zeremonie, das »Ja-Wort« gab. Die extra für diesen Tag ihre Kennenlerngeschichte in mühsamer Kleinstarbeit vorbereitet hatte. Vom ersten Kuss über den ungewöhnlichen Heiratsantrag hinweg bis hin zum Tag ihrer Hochzeit. Dörfler bekam immer wieder Gänsehaut, wenn ihm diese eine Szene durch den Kopf ging. Rebecca bemerkte seinen verliebten Blick, den er in dieser Art und Weise nur höchst selten zeigte.
»Bärli, von was träumst du denn?«, wollte sie von ihrem Mann wissen, der sich in dieser Situation eher peinlich ertappt fühlte.
»Vom Aufstieg! Wie geil war das denn, als wir die depperten Heimeringer im Juni in der Relegation vom Platz gefegt haben«, flunkerte der Eichstätter Hauptkommissar, »denen ist es wahrscheinlich heute noch schwindelig! Und ich hab dabei auch noch…«
»… zwei Tore geschossen, ich weiß. Ich dachte nur, dass du einen romantischen Gedankengang hast, wenn du deine frischgebackene Frau mit einem breiten Grinsen anschaust. Aber, na ja, aus dir wird kein großer Charmeur mehr.«
»Ach, Spatzl, du weißt doch, dass ich immer nur an dich denke. So ein kleiner Scherz muss dann auch mal drin sein«, beschwichtigte er. Und irgendwo sagte er dabei die Wahrheit, nur zugeben würde er solche Dinge eben niemals.
»Und apropos schwindelig, mein lieber Aufsteiger. Auf welchem Platz in der Tabelle steht ihr denn eigentlich zur Winterpause?«
Dörfler winkte ab und drehte die Musik lauter. Er hatte keine Lust, mit »Wir sind abgeschlagener Tabellenletzter, aber immerhin eine Liga über den Heimeringern« zu antworten. Da hörte er sich lieber das Gedudel aus Rebeccas Automobil an, obwohl der Musikgeschmack der beiden kaum unterschiedlicher hätte sein können. Dörfler war großer Rock-Fan, vor allem die Balladen aus den Achtzigern hatten es ihm angetan. Rebecca hingegen himmelte Austro-Pop-Größen wie Wolfgang Ambros oder Hubert von Goisern an. Neuerdings – und das sehr zum Missfallen Dörflers – hörte sie zudem Andreas Gabalier, der sich selbst als Volks Rock 'n' Roller bezeichnete, was der Kommissar als Majestätsbeleidigung für seine Lieblingsbands verstand. Ebenjener gab in diesem Moment sein Chanson Hallihallo zum Besten. Nur kurz konnte Dörfler diesen Umstand ertragen, alsbald drehte er die Musik wieder leiser.
»Kannst du mir etz eigentlich mal sagen, warum wir bei diesem Scheißwetter nach Beilngries müssen? Du weißt doch eh, dass ich von Wellness nix halte. Und da soll ich vier Tage überleben? Da krieg ich etz scho Bauchweh, zefix«, fluchte Dörfler in seinem oberbayerischen Dialekt. Auch hierin unterschied er sich von seiner Frau, die aus Mittelfranken stammte. Diese Konstellation führte aus dialektalen Gründen immer wieder zu kleinen Spitzen, wer denn nun der bessere, stärkere oder intelligentere Regierungsbezirk war. Und irgendwie war es auch das Salz in der Suppe ihrer Beziehung, dachte sich der Kommissar. »Unsere Flitterwochen im September im Tölzer Land waren doch wunderbar, warum müssen wir scho wieder in den Urlaub?«
»Frank Dörfler!« Immer, wenn sie seinen Namen in voller Länge aussprach, dann wusste er, dass er den Bogen überspannt hatte.
»Wir haben diesen Kurzurlaub gemeinsam gebucht! Mir war es wichtig, dass wir etzadla noch mal durchschnaufen können. Wenn wir schon nicht, wie gefühlt jedes andere Ehepaar, unsere Flitterwochen irgendwo im Süden, sondern im Tölzer Land verbringen mussten. Weil für dich Stoffel alles zu weit weg ist, wohin man länger als eine Stunde Fahrtzeit rechnen muss. Da finde ich es nicht zu viel verlangt, wenn wir uns dann noch einmal zum Jahresschluss ein paar Tage gönnen. Und außerdem, sind wir dort ja nicht allein…«
»Ja, is mir scho klar, dass außer uns andere auf die Idee kommen, im Winter Urlaub zu machen. Erst recht so Wellness-Geschichten.«
»So meine ich das nicht, Bärli…«
»Wie dann? Sag bloß ned, dass da welche von deinen Kegelfreundinnen mitfahren, weil dann geh ich zu Fuß wieder heim.«
»Nein, die nicht.«
»Raus mit der Sprache, Frau Dörfler!«
»Aber nicht überreagieren!«
»Jaja«, nickte er, obwohl er ganz genau wusste, dass er in gewissen Momenten, die ihn negativ überraschten und die er wiederum nicht beeinflussen konnte, durchaus für einen Ausraster gut war. Er nahm sich fest vor, dies nun so gut es geht zu vermeiden.
»Also, ich hab Mama und Papa nach Beilngries eingeladen, deine Eltern ebenso. Nach den ganzen Hochzeitsplanungen empfand ich es als eine gute Idee, wenn wir sie mitnehmen und uns dadurch entsprechend für ihre Hilfe revanchieren.«
Dörfler schluckte. Auch das noch. Nicht genug, dass er zu diesem neumodischen Wellnessen musste. Den ganzen Tag herumhängen, scheinbar gesunde Drinks in sich hineinschütten, hier eine Massage, da ein Aufguss. Und wenn es ganz schlimm kommen würde, dann hat man in der Liege neben sich sogar noch einen preußischen Urlauber, der einen in ein unangenehmes Gespräch verwickelt. Danach abends teures, aber minimalistisches Essen, das den hungrigen Magen nur unzureichend füllen kann. Weiter zur Bar, wo man schief angeschaut wird, wenn man statt eines italienischen Markenweins ein schlichtes Weißbier trinken will. Nein, all das – was für ihn ohnehin schwer genug zu verkraften war – reichte nicht aus. Es musste die volle Dröhnung sein. Seine Eltern, die Dörflers, eine kleinbürgerliche Familie, Papa Gustav war hauptberuflich Bauer, Mama Roswitha hauptberuflich Bäuerin. Familie Biechele, Rebeccas Eltern, waren eine schwerreiche Unternehmerfamilie, in welcher Alfred lange Jahre Chef einer Firma gewesen war und diese vor einiger Zeit teuer verkauft hatte. Er und seine Frau Margot lebten seither im vorruheständlichen Privatierdasein. Zwei Welten würden also im Hotel Specht zu Beilngries erneut aufeinanderprallen. Manchmal ging das gut, meistens allerdings führte es zu Streitigkeiten, von denen sich Frank Dörfler zumeist frühzeitig räumlich verabschieden konnte. In diesen vier Tagen würde er dies nicht können. Das Wellness-Hotel, das sicherlich ebenso stark eingeschneit war wie der Rest der Region, würde ihm wie ein Gefängnis seine Grenzen aufzeigen. Er hatte keinen Rückzugsort, alles würde eng auf eng sein. Jeder würde jedem die ganze Zeit zwangsläufig begegnen. In Gespräche verwickeln. In Streitigkeiten.
»Na, dann wird das ja Erholung pur, oder?«
»Seh ned immer alles so negativ«, war Rebecca wohl freudig überrascht über den ausbleibenden cholerischen Ausbruch ihres Gatten und fasste im nächsten Moment seine Hand, »im Zweifel ziehen wir uns einfach in unser Zimmer zurück. Und da würde mir so einiges einfallen, was wir da anstellen könnten«, grinste sie ihn an. Na dann, so schoss es dem Kommissar frei nach Andreas Gabalier durch den Kopf: Hallihallo!
Sie fuhren die letzten Meter in Richtung Hotel, sofern das Navi richtig eingestellt war. Knapp fünf Minuten Fahrzeit lag noch vor ihnen. Es war insgesamt keine lange Anreise, gerade einmal eine halbe Stunde waren sie unterwegs. Vorbei an einem kleinen Flugplatz, rüber über die Brücke, welche sie die Altmühl überqueren ließ. Dörfler war erst zum zweiten Mal in seinem Leben in Beiln-gries. Das erste Mal als Kind, als er auf der Kommunion seines Cousins, der dort lebte, zu Gast war. Das war allerdings bereits über fünfzehn Jahre her, sein Gedächtnis ließ keine großen Rückschlüsse zur Stadt Beilngries zu. Das einzige, an das er sich erinnern konnte, war das Spielzeugmuseum, welches er im Anschluss an das kirchliche Fest mit seinen Eltern und seinem Bruder besucht hatte.
Umso interessierter war der Eichstätter Hauptkommissar, als er an diesem Freitagnachmittag im Marek, so hieß das Auto seiner Frau, benannt nach einem seinerzeit berühmten Angreifer des 1. FC Nürnberg, das Stadtschild passierte und zuerst ein paar Firmen zur Rechten hinter sich ließ. Sie kamen danach schnell in die Richtung ihres Ziels und Dörfler bemerkte, wie die Augen seiner Rebecca zu funkeln begannen. Nach einer großen Kreuzung fuhren sie nämlich in die Altstadt von Beilngries ein, die weihnachtlich geschmückt war und einen ganz besonderen Charme versprühte, der auch vor dem ansonsten emotional abgehärteten Kommissar nicht Halt machte. Lichterketten umgarnten die historischen Gebäude, die links und rechts neben der engen Hauptstraße emporsprossen.
Sie machten den Eindruck, als wollten sie ihre Geschichte, nein, vielmehr die Geschichten ihrer Stadt und der vielen Menschen, die darin gelebt hatten, erzählen. Für das kleine Städtchen, als welches der Kommissar es bislang angesehen hatte, war ordentlich was los. Ein Geschäft reihte sich an das nächste, Wirtschaften, Hotels, sogar Brauereien konnte er ausfindig machen. Passanten unterhielten sich, viele davon waren wohl auf der Suche nach dem perfekten Weihnachtsgeschenk für ihre Liebsten.
»Etz sagst nix mehr, oder?«, wollte seine Frau wissen, nachdem sie eine scharfe Kurve genommen hatten und schlussendlich kurz vor ihrem Ziel waren.
»Kann man so lassen«, antwortete Dörfler gewohnt lässig. Ja nix anmerken lassen, dass es einem doch besser gefiel, als man zuvor zugeben wollte. Noch bei der Planung dieses Urlaubs, genauer gesagt vollzog diese ohnehin nur Rebecca, meuterte der Kommissar. »Wenn schon Wellness-Urlaub, dann wenigstens irgendwo hin, wo man abends wirklich seine Ruhe hat und einen sicher keiner kennt«, sagte er damals, als die Wahl auf Beilngries gefallen war. Dies war immerhin eine Stadt – und Städte waren ihm im Normalfall zu groß. Doch mit dieser hier konnte er sich tatsächlich anfreunden. Eine große, imposant beleuchtete Kirche erblickten sie alsbald sowie ein kleines Café, das sich Dörfler direkt merkte – die werden dort sicher auch ein kühles Weizenbier haben, dachte er sich. Dann bogen sie in eine Seitenstraße ab. Dort war etwas weniger gut geräumt, weshalb der kleine Marek durchaus zu kämpfen hatte und nur noch im Schneckentempo vorankam. Schneeketten brauchte man zwar ob der Witterung noch nicht, doch die Winterreifen des kleinen Golfs mühten sich, ehe sie an ihr Ziel kamen. Das Hotel Specht lag mitten in der Stadt Beilngries.
»Das war ja klar, dass deine Sippschaft wieder zu früh sein muss«, zeigte Dörfler seiner Frau den silbernen Porsche mit dem Rother Kennzeichen, der Rebeccas Eltern gehören musste. »Sechse war ausgemacht. Wenn ich auf meine bescheidene Uhr schaue, dann ist es zehn vor. Da langts mir scho wieder«, grantelte er weiter.
»Urlaub! Endlich!« Rebecca ging nicht auf den Unmut ihres Mannes ein und strahlte stattdessen über beide Ohren, während sie die Koffer aus dem Auto hievte. Diese drückte sie ihm in die Hände. Einen kleinen Rucksack, dessen Inhalt Dörfler nicht kannte und der ihm darüber hinaus egal war, warf sie sich selbst über den Rücken und himmelte ihn dabei an.
***
»Herzlich Willkommen im Hotel Specht«, begrüßte sie ein junger Mann mit übertriebener Heiterkeit, als sie die Hallen des riesigen Hauses betraten. Es war nobel. Sehr nobel. Für Dörfler fast zu nobel. Das Personal war schick gekleidet, überfreundlich und maximal hilfsbereit. »So ein grantiger Wirt wäre mir lieber, Spatzl. Dann müsst ich wenigstens nicht die ganze Zeit genauso deppert grinsen wie der«, warf er Rebecca zu, als er künstlich die Mundwinkel hochziehend die schweren Koffer in Richtung der Rezeption schleppte.
»Sie müssen die junge Familie Dörfler sein, ist das richtig?«, fragte sie eine vielleicht zwanzig Jahre alte Frau, bei welcher der geneigte Mann durchaus Gefahr lief, ungebremst in ihr Dekolleté zu fallen. Dörfler versuchte krampfhaft, auf den Flyerständer zu schauen, der etwas links von der Dame aufgebaut war.
»Ja, das sind wir, die jungen Dörflers«, entgegnete Rebecca, »wir sind frisch verheiratet!«
»Ach, das muss eine wunderschöne Zeit für Sie sein! Und dann auch noch Wellness-Urlaub mit der ganzen Familie. Sie haben sich definitiv für das richtige Hotel entschieden.«
Wenn die wüsste, dachte sich Dörfler. Er zog die linke Augenbraue nach oben, als er sich zu der Dame drehte und ihr sagen wollte, dass ein solcher Familienurlaub alles andere als Wellness war. Eher so etwas wie ein Survivaltrip. Doch just, als er einen markanten Spruch loslassen wollte, fiel ihm ein, warum er nicht in ihre Richtung schauen wollte. So stand er mit halboffenem Mund da und glotzte dann eben doch – völlig ungeplant und ungewollt – in das Holz vor der Hüttn der Angestellten. Erst, als Rebecca ihm einen Stoß unterhalb der Rippengegend versetzte, löste sich seine Hypnose. Der Mensch ist halt auch nur ein Viech, schoss es ihm durch den Kopf, während er, peinlich ertappt, seinen Blick wieder zurück zum Flyerstand lenkte.
»Ihre Eltern«, die Dame zeigte auf Rebecca, »haben bereits vor über einer halben Stunde eingecheckt in der Suite della Casa. Moment…«
Suite della Casa? War das nicht eigentlich ihr Luxuszimmer für diese Urlaubstage? Dörfler wusste es nicht mehr, doch der Grant entflammte in ihm, als die attraktive Frau hinter dem Tresen weitersprach. »Es tut mir unglaublich leid, aber da ist mir ein Fehler unterlaufen. Die Suite war ja ursprünglich für Sie beide gebucht gewesen, da bin ich vorhin durcheinandergekommen.«
»Ach, halb so wild«, beschwichtige Rebecca, für die das anscheinend keine große Rolle spielte. Für Dörfler indes sehr wohl, wollte er doch keineswegs das feinste Zimmer des Hauses an seine Schwiegereltern abtreten, immerhin hatten sie sich bewusst dafür entschieden.
»Doch, schon so wild. Ist ja unser Urlaub. Und da würde ich wirklich lieber in der Suite della… dalla… Na, in der Suite da halt nächtigen, wenn wir sie doch gebucht haben.« Er sah, wie Rebecca Luft ausstieß und den Kopf leicht schüttelte.
»Nun, das ist durchaus möglich«, antwortete die Frau. »Allerdings müssten wir dann morgen Ihr Zimmer und das Ihrer Schwiegereltern reinigen, bevor sie es tauschen können.«
»Warum reinigen? Die sind da grad eine halbe Stunde drin, so viele Schweinereien können die gar nicht anstellen, dass…«
»Das sind die Regeln, Herr Dörfler! Sauberkeit und Hygiene wird bei uns großgeschrieben, erst recht nach der Pandemie. Tut mir leid, aber ich kann Ihnen keine befriedigendere Antwort als diese geben.«
»Wir überlegen uns das in Ruhe und melden uns morgen bei Ihnen«, zog Rebecca ihren Hauptkommissar samt dessen Koffer von der Rezeption weg. Die Schlüssel für das – im Grundsatz – falsche Zimmer hatten sie immerhin bereits. Dörfler folgte die nächsten Meter stillschweigend seiner Gattin und bemerkte dabei, woher das Hotel seine Fünf-Sterne-Bewertung hatte. Hochwertige Einrichtung, wohin das Auge reichte. Mit einem Auge konnte der Kommissar zudem in den Speisesaal blicken, in welchem einige, dem Anschein nach gut situierte Gäste sich zum abendlichen Dinner eingefunden hatten.
Ihm schmerzte der Magen bereits jetzt, wenn er nur daran dachte, dass er in wenigen Momenten ebenfalls dort Platz nehmen musste, eingekleidet in seinem unangenehmen Anzug. Und neben ihm die gesamte Familie.
Wenig später kamen sie zu ihrem Zimmer. Nun ja, prinzipiell wäre es das der Biecheles gewesen, doch die unglückliche Verkettung von noch unglücklicheren Umständen führte nun einmal zum ungewollten Tausch. Als er die Koffer vor dem Zimmer abgestellt hatte, holte er kurz Luft – besonders leicht waren die nicht. Man hätte meinen können, Rebecca hatte für einen fünfwöchigen Trip durch Asien gepackt, nicht aber für ein Wellness-Wochenende. Immerhin hatte er einen kurzen Augenblick, um sich und seine Gedanken mitsamt seiner angestauten Wut abzukühlen.
***
»Zefix, ich sag dir gleich eins, Roswitha, ich bleib da herin höchstens bis morgen! Die können mich am Arsch lecken mit ihrer feinen Mode«, schallte es durch den Gang. Dörfler erschrak. Er hatte sich vor wenigen Momenten kurz im durchaus bequemen Schlafgemach hingelegt und war dabei wohl etwas eingenickt. Doch man konnte kaum überhören, wer da nur wenige Meter entfernt von ihrem Zimmer soeben das Hotel erreicht hatte und mit der Anweisung der Rezeption, die jedem Gast eine adäquate Abendkleidung für das Restaurant und die Lobby empfahl, nicht sonderlich einverstanden war. Niemand Geringeres als sein Vater Gustav Dörfler. Der Kommissar dachte kurz darüber nach, ob er möglicherweise zu seinem Papa hinausgehen sollte, um diesen zu beruhigen.
Doch das würde diesen wohl eher noch etwas aufgeregter machen, als dieser ohnehin war. Immerhin konnte er nicht verleugnen, dass er den Sturschädel von ihm vererbt bekommen hatte. Er entschloss sich, vor diesem ganzen Familienchaos, das ihm mit großer Sicherheit gleich beim Abendessen bevorstehen würde, noch etwas durchzuschnaufen und wollte die Augen wieder schließen.
»Kann ich so gehen?«, weckte ihn Rebecca aus seinen Träumen, während er in seinem Anzug auf dem Bett döste. Sie trug ein schickes Cocktailkleid, das dunkelgrün gehalten war und perfekt zu ihren braunen Haaren passte. Sie hatte einiges an Make-up aufgetragen, was sie normalerweise nicht in dieser Art tat. Dörflers noch etwas verschlafener Blick rutschte am Kleid hinunter. Es war kurz. Ziemlich kurz sogar.
»Ob du so gehen kannst? Wegen mir kannst gerne auch so bleiben. Bei mir im Bett, da wäre noch ein Platzerl frei.« Dörfler grinste.
»Du kleiner Dorfcasanova, etzadla gibts erst amal was zum Essen. Und wenn du artig bist, dann bekommst du vielleicht später noch eine spezielle Nachspeise«, lachte sie ihn in ihrer unnachahmlich verschmitzten Art an, nestelte in ihrem Rucksack herum und zog ihn dann selbstbewusst aus dem Schlafgemach.
»Bonsoir! Da kommt ja unsere Jugend endlich«, sprach Margot Biechele halb zum Kellner, halb zu Rebecca und Dörfler. Dieser wiederum gab nach einem kurzen Blick auf seine Alemannia-Aachen-Fanuhr zurück, dass sie gerade einmal sieben Minuten zu spät waren, fand allerdings kein Gehör. Ja, Alemannia-Aachen-Fanuhr. Mit seinem damals jugendlichen Drang, alles anders zu machen als alle anderen, konnte und wollte der Oberbayer Dörfler kein Fan einer der gängigen Clubs aus seinem Bundesland werden. Nein, schon früh hatte er sich aufgrund des sympathischen Logos der Aachener für diesen westdeutschen Fußballverein entschieden und erntete für seine Wahl, in Kombination mit seiner dazu völlig unpassenden Mundart, immer wieder schräge Blicke.
Da saßen sie nun also an einem dunkelbraunen, langgezogenen Tisch, der mit dazu passenden Holzstühlen ausgestattet war, die beinahe als Schalen hätten durchgehen können, und starrten sich in den ersten, quälend langen Sekunden an und schwiegen. Auf der einen Seite die Biecheles mit ihrer Tochter Rebecca. Margot und Al-fred waren schick angezogen, in Dörflers Augen etwas overdressed mit ihren Designergarderoben. Auf der anderen Seite des Tischs saßen er und seine Eltern Roswitha und Gustav. Roswitha hatte immerhin ein Kleid an, das sie, wie sie später erzählen sollte, bei einem Sommerschlussverkauf eines bekannten Textil-Discounters hatte ergattern können. Gustav, seines Zeichens einer der einflussreichsten Bauern im Raum Eichstätt, trug eine ausgewaschene Jeans, die er zu jeder etwas ernsteren Angelegenheit nutzte, wie Geburtstage, Feste und andere gesellschaftliche Anlässe. Darüber ein kurzes, grünes T-Shirt, das mit dem Schriftzug »I bin a Bauernbua« geziert wurde. Man konnte recht schnell erkennen, dass es zwischen Gustav und seiner Frau wohl aufgrund dessen Kleiderwahl kräftig gekracht haben musste.
Und wenn sich Dörfler so umschaute, dann passte das Outfit seines Vaters so gut hier her wie die Schlagersänger von Zillertal Pur, die Urheber seines T-Shirts, auf Rock am Ring. Dörfler hatte es im Gefühl, dass die nächsten Minuten sehr unangenehm werden könnten, seinen zweifelnden Blick erwiderte Rebecca allerdings nicht.
»Schön, dass wir mal wieder so zusammen sind«, frohlockte sie in die sichtlich eingefrorene Runde, in welcher sich anfangs niemand traute, etwas zu sagen. Sie strich sich dabei ihre dunkelbraunen Haare von der Wange und kramte in ihrer Handtasche umher. Es schien, als würde sie nach etwas Bestimmtem suchen.
»Was kruschelst denn in deiner Tasche?«, wollte Dörfler die angespannte Stimmung etwas lösen. »Suchst nach unserem verlorenen Zimmerschüssel? Apropos, Margot, wie findest du eigentlich unsere Suite?«, schoss er sogleich eine Spitze in Richtung seiner Schwiegermutter. Diese verstand diese jedoch nicht als solche. Ganz im Gegenteil. Sie fühlte sich anscheinend dazu angehalten, das Thema ausführlich zu erörtern: »Mein Mann und ich waren schon in vielen solcher Suites. Ich würde meinen, die Suite della Casa in diesem Hotel ist dafür, dass man hier sehr offensiv mit ihr wirbt, im Mittelmaß von gehobenen Zimmern zu verorten. Erst vor wenigen Wochen waren wir in einem wunderbaren Chalet in Südtirol, da war die Suite um einiges größer. Darüber hinaus gab es im Bad ein extra dafür angefertigtes…«
Dörfler lehnte sich zurück und schaltete gedanklich ab. Einen Monolog seiner neureichen Schwiegermama über Hotels und Dinge, die sich eben nur solche Personengruppen leisten konnten, nicht aber er, geschweige denn seine Eltern, wollte er sich gerne ersparen. Im Grunde mochte er Margot und Alfred eigentlich, vor allem mit Alfred hatte er inzwischen ein inniges Verhältnis. Die beiden stießen in den letzten Monaten immer wieder auf gemeinsame, bislang unbekannte Hobbys, wie die Rockmusik oder das Sammeln von Weißbiergläsern. Mit Margot hatte er umzugehen gelernt. Und das bedeutete konkret, dass er sich bei solchen Dingen, die ihm wie Protz und Selbstdarstellung vorkamen, inzwischen lieber zurückhielt. Er wusste sehr wohl, dass sie diese Eigenschaft in der Eichstätter Hautevolee gelernt hatte und, trotz der oftmaligen Ermahnungen ihres Gatten und ihrer Tochter, ihre liebe Mühe hatte, diese Gewohnheit abzulegen.
»Danke, dass ihr alle da seid«, unterbrach Rebecca entschlossen ihre Mutter, als diese mitten in einer Erzählung zu englischen Gärten und den dortigen Blumen war. »Und nochmals danke, dass ihr uns bei den Planungen der Hochzeit so unter die Arme gegriffen habt. Das war wirklich top!« Das top sprach sie gewohnt mittelfränkisch eher »dobb« aus, was Dörfler zu einem kleinen Grinsen verleitete. Er liebte es, wenn sie tief in ihren Dialekt abdriftete. Es war eben das Besondere am Altmühltal rund um Eichstätt, dass diese beiden Mundarten in ihrer schönsten mittelfränkischen und oberbayerischen Ausprägung ungebremst aufeinandertrafen.
»Wir waren wahrscheinlich besser eingespannt als dein Herr Gemahl hier«, klopfte Gustav seinem Sohn auf die Schulter. »Der muss ja das ganze Jahr über Detektiv spielen, statt dass er was Gscheites gelernt hätte. Und komischerweise findet er immer zu den unpassendsten Zeiten eine Leich. Gell, Bua?«
»Aber das soll nicht der einzige schöne Grund sein, warum wir hier sind. Ich habe euch allen etwas Wunderbares zu verkünden, meine Lieben«, fuhr Rebecca ungeachtet der Wortscharmützel der Männer fort. Sie holte drei Briefe aus ihrer Handtasche, auf der »Dörflers«, »Biecheles« und zu guter Letzt »Bärli« standen.
Mit Bärli war Dörfler selbst gemeint, dies war sein liebgewonnener Kosename. Er nahm den Brief mit einem Blick, der irgendwo zwischen Begeisterung und Überraschtheit lag, entgegen. Was konnte so brisant sein, dass Rebecca die ganze Familie zu einem Wellness-Urlaub einlud? Dass sie eigens Briefe für alle Beteiligten schrieb? Und vor allem, dass sie es zuvor ihm, nun war er ja immerhin ihr Mann, nicht sagen wollte? Er wusste es nicht. Und doch ratterte es wie wild in seinem Kopf. Hatte sie einen beruflichen Aufstieg geschafft? Sie träumte schon lange von einer eigenen Kanzlei, das war ihr großes Ziel. Ihre Eltern hätten ihr jederzeit eine solche finanzieren können, doch sie wollte sich diese mit eigenem Fleiß erarbeiten und aufbauen. Oder hatte sie ihren großen Wunsch nach einem eingebauten Pool im Garten der Dörflers auf eigene Faust finanziert und erfüllt? Hoffentlich nicht, dachte er sich. Nicht, dass er das nicht gut finden würde. Doch wie würde er dann dastehen, wenn seine Frau ein solches Projekt wirtschaftlich und planerisch stemmen, er aber wie ein begossener Pudel daneben sitzen würde, vor vollendete Tatsachen gestellt? Ein letzter Grund kam ihm noch in den Sinn. Vielleicht hatte sie sich auch endlich ein neues Auto gekauft und in diesem Umschlag steckte ein Bild des neuen Kraftfahrzeugs. Ihr alter VW, den sie über zehn Jahre besaß, hatte seine besten Zeiten längst hinter sich. Vielleicht war die Fahrt nach Beilngries seine vorerst letzte und sie holten hier einen neuen Wagen ab, Zeit war es. Dörfler hatte ihr mehrmals Prospekte für Neuwagen untergejubelt, in der Hoffnung, dass sie auf eines davon anspringen würde. Ihm war nicht wohl, wenn sie – vor allem im Winter – mit dieser alten Laube durch Schnee und Wetter fuhr. Weiß Gott, was dort alles passieren konnte. Und ein wenig Mut schöpfte er. Bei ihrer Fahrt in die Stadt hatte er das ein oder andere Autohaus gesehen. Ja, das konnte gut sein, dass dies der Grund für den vorweihnachtlichen Besuch in Beilngries war.
Wahrscheinlich war in diesem Umschlag ein Bild eines Mitsu-bishis, Audis oder BMWs versteckt. Egal, Hauptsache Vierradantrieb und ein sicherer Begleiter für seine Frau.
»Aber noch nicht reinschauen! Erst nach dem Essen«, hielt Rebecca die inzwischen freudige Spannung am Tisch hoch.
Das Mahl war äußerst lecker, so war zumindest Dörflers Eindruck. Ein Vier-Gänge-Menü war für seinen Standard nicht üblich, weshalb er als guter Esser seine große Freude an der Rinderkraftbrühe, dem ausgewachsenen bayerischen Salat, dem zarten Reh mit Rotwein-Jus sowie der Nachspeise, einem zur Jahreszeit passenden Lebkuchen-Tiramisu, hatte. Es wurde zusehends angenehmer am Tisch, denn nach und nach kamen auch andere Personen als Margot Biechele zu ihren Redeanteilen.
»Wie hat es Ihnen denn geschmeckt, wenn ich fragen darf?«, räumte der Chefkellner des Hauses höchstpersönlich ihren Nachtisch ab.
»Bassd scho«, kam es wie aus der Pistole geschossen aus Gustav Dörflers Mund.
»Oh, das tut uns leid, wenn Sie nicht zufrieden waren. Geben Sie uns gerne Kritik, dann können wir es beim nächsten Mal…«
»Bassd scho heißt bei uns, dass es gut war«, unterbrach Gustav. »Ned gschimpft ist globt genug.« Der Kellner sah mit einem gequälten Lächeln in die Runde und zog von dannen. Anscheinend konnte er dieser urbayerischen Logik nicht ganz folgen.
»Warum müssen wir bei so was eigentlich immer auffallen, Gustl?«, rügte Roswitha ihren Mann. »Die verstehen hier deine Späße ned! Die meinen, du bist ein grantiger Bauer!«
»Na, und wenn scho. Ein Bayer muss grantig sein. Sonst hätte er auch ein Preuße werden können, nicht wahr?«
»Etz is aber Ruhe! Ich würde sagen, dass wir nach diesem wirklich wunderbaren Essen das Wort an die liebe Rebecca übergeben. Immerhin war sie es, die uns hierher eingeladen hat. Und mit uns ein Geheimnis teilen will«, hielt Roswitha den Brief nach oben. »Dürfen wir öffnen?«
Rebecca hatte das »Ja« schon auf den Lippen, da stürmte ein älterer Mann in den Speisesaal herein. Dieser war locker über siebzig Jahre alt, hatte an den Seiten weißes Haar, oben eine Glatze. Er trug Tracht und kam Dörfler bekannt vor. Wenn er sich nicht täuschte, hatte er diesen Mann auf einem Bild im Gang des Hotels zuvor gesehen. Es musste sich also um eines der Mitglieder der Inhaberfamilie dieser gastronomischen Einrichtung handeln. Schnurstracks stürmte er auf ihren Tisch zu, dabei fing er schwer zu schnaufen an.
»Sie sind doch dieser… Städtler?«, klopfte er außer Atem dem Kommissar auf die Schulter, als würden sie sich jahrzehntelang kennen.
»Ein bisserl kleiner. Dörfler ist mein Name.«
»Wurscht. Aber Sie sind doch der Gendarm aus Eichstätt, oder?«
Dörfler nickte. Was wollte der Mann von ihm? Woher wusste er, wie er hieß und was er hauptberuflich machte? Noch ehe der Kommissar reagieren konnte, zog ihn der Mann – fast schon brachial – von seinem Holzstuhl herab und machte ihm mit den Worten »Sie müssen unbedingt mitkommen, aber schnell!« klar, dass sein Abendessen hiermit ein unsanftes Ende nahm.
***
Ehe er wusste, wie ihm geschah, saß Dörfler in dem Jeep, der dem älteren Herrn gehörte. Dieser sagte in den ersten Minuten kein Wort, sondern bretterte mit dem Wagen los, sie schossen durch die Beiln-grieser Hauptstraße.
»Sie können froh sein, dass ich Kriminaler bin und mich daher wenig für Geschwindigkeiten innerorts interessiere. Ansonsten wären Sie etz Ihren Schein los«, wies Dörfler ihn auf seine Tachoanzeige hin, die weit über der Fünfzig zu verorten war.
»Es pressiert. Übrigens, Specht ist mein Name«, gab er ihm trotz Kurvenlage die Hand. Dörfler hoffte, lebendig dort anzukommen, wo der Mann ihn hinfahren wollte. »WissenS«, fuhr er fort mit aufgeregter Stimme, »ich bin der Senior im Hotel. Übergeben hab ich längst alles an meine Tochter, manchmal helfe ich ein bisserl mit. Zufällig hab ich gsehen, dass Sie bei uns eingecheckt sind. Und da wusste ich, dass ich Sie aus der Zeitung kenne.«
»Aha«, Dörfler verstand nach wie vor nicht, was Specht von ihm wollte.
»Und da hab ich direkt gehandelt. WissenS scho, ich war den ganzen Abend auf dem Wattturnier von unserem Jagdverein. Wir haben da eine Hütte am Hirschberg droben. Und auf der Heimfahrt komme ich immer am Schloss vorbei, des schaut in der Nacht so schön aus und ist für mich kein großer Umweg.« Specht machte eine kurze Pause, in der er mit dem Kopf schüttelte. »Ich hab als Jäger sicherlich viel erlebt, glaubenS mir. Aber das…«
»Was das?«
»Das werdenS gleich sehen.«
»Und Sie sind sicher, dass Sie dafür einen Kommissar brauchen? Ich hab ja eigentlich Urlaub.«
»Todsicher«, beendete Specht die Unterhaltung, indem er das Radio laut aufdrehte. Dort schallte Taximann von Westernhagen durch die Membrane und dies schien Specht gut zu gefallen. Und irgendwie passte es zur Situation und vor allem zur an den Tag gelegten Fahrweise.