Einladung an die Waghalsigen - Dorothee Elmiger - E-Book

Einladung an die Waghalsigen E-Book

Dorothee Elmiger

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Beschreibung

In den Stollen eines Kohlereviers ist vor Jahrzehnten ein Feuer ausgebrochen – und noch immer lodern unter Tage die Flammen. Margarete und Fritzi sind die übrig gebliebene Jugend einer verschwindenden Stadt. Ihr Erbe ist nichts als ein verlassenes Gebiet, in dem Verwüstung herrscht. Frühere Ereignisse sind nur bruchstückhaft überliefert. Doch die beiden Schwestern wollen diesen Zustand nicht hinnehmen. Entschlossen brechen sie auf zu einer Expedition, um ihre eigene Herkunft zu erforschen. Denn nur wer seine Geschichte kennt, kann sich eine hoffnungsvolle Zukunft aufbauen … Mit der Wiederentdeckung eines längst vergessenen Flusses wird für Margarete und Fritzi nicht nur ein neues Leben greifbar. Endlich gibt es auch einen Anlass, Einladungen für ein großes Fest zu verschicken: »Kommt auf euren Fahrrädern gefahren! Kommt auf euren weißen Pferden geritten!« »Dorothee Elmiger wagt das größte Abenteuer: jenes der poetischen Weltverwandlung. Ein Wunderwerk der Intonation!« Peter Weber

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Seitenzahl: 92

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DOROTHEE ELMIGER

EINLADUNG

AN DIE WAGHALSIGEN

Roman

eBook 2010

© 2010 DuMont Buchverlag, Köln

Alle Rechte vorbehalten

Umschlag: Zero, München

ISBN eBook: 978-3-8321-8512-1

ISBN App: 978-3-8321-8531-2

www.dumont-buchverlag.de

Was für merkwürdige Geschehnisse im Untergrund solcher Berichte schlummern, ist heute nicht mehr mit voller Klarheit zu ermitteln. Dass aber ein Wahrheitskern darin lebt, ist sicher; denn wir kennen aus den urweltlichen Schichten der Erde zahlreiche merkwürdige Skelette und Skelettreste ganz fremdartiger Tiere.

Wunder aus aller Welt, Band 5

Wir kletterten aus dieser Tiefe hervor und waren auf dem Gipfel des Berges. Ein anmutiger Buchenwald umgab den Platz, der auf die Hohle folgte und sich ihr zu beiden Seiten verbreitete. Mehrere Bäume standen schon verdorrt, andere welkten in der Nähe von andern, die, noch ganz frisch, jene Glut nicht ahneten, welche sich auch ihren Wurzeln bedrohend näherte.

Auf dem Platze dampften verschiedene Öffnungen, andere hatten schon ausgeraucht, und so glomm dieses Feuer bereits zehn Jahre durch alte verbrochene Stollen und Schächte, mit welchen der Berg unterminiert ist.

Johann Wolfgang von Goethe, Dichtung und Wahrheit.

Zweiter Teil. Zehntes Buch.

But away, boys, look about you, and seek for anything that may be useful to us.

Johann David Wyss,

 

 

 

Meinerseits war ich oft allein mit den Büchern. Mir war nichts anzusehen.

Morgens stand ich auf und kochte Kaffee, ich stellte mich vor die Bücher, ich betrachtete sie, ich trank den Kaffee und ging weg.

Später kam ich wieder.

Ich wusste nichts über die Bücher. Seit jeher standen sie in der Wohnung über der Polizeistation. Ich wusste nicht, wer sie hergebracht hatte, ich wusste nicht, wem sie jetzt gehörten und wem sie später gehören sollten.

Ich las die Fach- und Sachbücher. Montanwissenschaftliche Schriften, Bücher über die Schifffahrt, den zweiten Band Grundriss der Geschichte von den bürgerlichen Revolutionen bis zur Gegenwart, eine Einführung in die Astronomie, Die Meere der Welt, zwei Bände über die Vögel Europas und Alaska – Mexico (9148 Miles from Anchorage to Oaxaca). Die Wüste lebt, Winston Churchill, Die Pflanze, Band 1 und 2, The Beauty of America, Inseln im Atlantik. Angers sous l’occupation. Alpenflug, mit 191 Fliegeraufnahmen und einer farbigen Tafel nach einem Gemälde von F. Hass. Wunder aus aller Welt, Band 1, 5, 6 und 7. 

Ich las am Küchentisch. Während Fritzi durch das Gebiet wanderte, las ich. Eine Vereinbarung, die wir nie getroffen hatten. Manchmal sah ich vom Küchentisch auf, und sie ging in dem Moment weit draußen und langsam querfeldein vorbei. Obwohl sie langsam ging, ist sie einmal bis nach St. Beinsen gelaufen. Orientierte mich an den Fördergerüsten, sagte sie nach ihrer Rückkehr.

Ich stapelte die Bücher auf dem Küchentisch. Ich betrieb Recherche. Irgendwann entdeckte ich auf einer der 191 Fliegeraufnahmen, die Walter Mittelholzer 1928 geschossen hatte, winzig kleine Blumen, die ich bereits kannte aus Die Pflanze, Band 2. Im sechsten Band der Wunder aus aller Welt erklärte man mir Bau und Funktionsweise von Flugzeugen. Die Wüste lebt war verblüffend, und Walter Mittelholzer überflog am 8. Januar 1930 den Kilimandscharo. In Band 5 der Wunder aus aller Welt ein Kapitel über den Bergbau von Hanns Günther, der auch schrieb Flugmaschinenbuch für Jungen. Darin: Die mächtigen Fördergerüste, die über den senkrecht in die Erde hinunterführenden Schächten stehen.

Alles Erinnernswerte hielt ich fest, abends erstattete ich Bericht. Fritzi hörte zu und warf ein, was auch noch gesagt werden musste. Ich sagte beispielsweise: Joseph Conrad über den Nordseelotsen: Er misstraute meiner Jugend, meinem Wirklichkeitssinn und meinen seemännischen Fähigkeiten und Fritzi sagte dann, sie sei durch trübes Wetter gewandert, habe eine Spitze im Land erreicht und kein Erstaunen gespürt.

Wir wussten wenig. Ich wusste nicht, warum ich die Bücher las. Fritzi wusste nicht, was gesagt werden musste. Im Sommer stellten wir uns zu Beginn nur vor, wie es im Winter sein würde: Wir verlieren uns in den Höhen aufgrund des heftigen Schneefalls!

Der Fall dieses Landes war ungewöhnlich, unsere Situation war unerhört, ich fand sie in keinem der Bücher wieder. Wenigstens konnte ich im Weltatlas ein Bleistiftkreuz über der Kohleebene machen, die Zeitzone ablesen, in der wir uns befanden. Ich notierte die Längen- und Breitengrade.

Ebenso unsere Geburtstage, Fritzi Ramona Stein 17. April, Margarete C. Stein 25. September, Heribert Stein 4. Juli, Rosa Stein 5. Januar.

Ich notierte in Form einer Liste die Namen von Liedern.

Das Feuer reicht mir schon bis zum Knie

Richtung Osten

Hier ist nirgends

Return To Burn

Wir wussten wenig. Es waren konspirative Abende, wir aßen hart gekochte Eier und Lauchgemüse. Eingelegte Tomaten, Rüben und Sellerie. Wir schälten Kartoffeln. Es war ein Aufruhr in der Küche.

Erst später nahm ich aus der Station eine Schreibmaschine, nahm sie vom Schreibtisch am hinteren Fenster, nahm sie und trug sie die Treppen hoch, als die Beamten in der Einfahrt neben ihren Autos Zigaretten rauchten. Der Beamte Schroeder – Sohn, sollten wir später erfahren, des Bürgermeisters Schroeder – hatte auf ihr polizeiliche Protokolle getippt.

Wie jeder Polizist in dieser Stadt trug auch Schroeder ein Remington-Repetiergewehr vom Modell 700 auf seinem Rücken, ein bewährtes Stück aus den Sechzigerjahren. Blamm. Ragadaga ratatat. Pchaka tak tak. Im Jahr 1816, las ich, hatte der dreiundzwanzigjährige Schmied Eliphalet Remington mit der Herstellung von Schrotflinten und Gewehren begonnen. Jahre später wurde außerdem die Produktion von Schreibmaschinen aufgenommen. Die Polizei dieser Stadt verfügte über vier rote Remington-Schreibmaschinen aus den Sechzigerjahren.

Das Schreiben war mit erheblichen Schwierigkeiten verknüpft, die Remington des Beamten Schroeder stand hart auf dem Küchentisch. Es kam zu unzähligen Versuchen. Ich schrieb:

Fritzi Ramona Stein und ich, wir sind sie, die Jugend der Stadt, einzige Töchter eines Polizeikommandanten und einer abtrünnigen Frau, uns zu großen Teilen unbekannt.

Unser Erbe ist ein verlassenes Gebiet.

Hier herrscht eine große Verwüstung, der wir nicht beizukommen wissen.

Wir sind seit jeher ihre Kinder.

Sie ist unsere Jugend.

Wir sind wohl zu spät gekommen.

Obwohl man uns sagt, dass früher auch nichts besser war, und obwohl der Polizeikommandant und seine Beamten sich auf nichts verstehen als auf das Patrouillieren, das halbherzige Zitieren von Paragrafen und den chronologischen Gehorsam, obwohl die Mutter sich längst solitär aufgemacht, hätten wir uns allerdings gefreut über die Überlieferung einiger Hinweise, eine Anleitung zum Handeln die Zukunft betreffend, ein Handbuch für die Arbeit, die Revolutionen und das Meer. Hebt eure kleinen Fäuste wie Antennen zu den Himmeln, hätte es heißen können.

Aber erfolgreich wurde jeder Zusammenhang zwischen den Vorfahren, allfälligen früheren Ereignissen und uns, der anwesenden Jugend, verhindert. Alles ist uns nur teilweise überliefert. Möglicherweise verwaltet der Polizeikommandant in seinem Eifer auch die Geschichte, oder sie liegt in seinen Händen brach, das ist meine Vermutung. Meldungen aus der Vergangenheit finden sich auf der Polizeistation in Aktenschränken und Karteikästen. Als Statistik, als logische Schlussfolgerung, als untrüglicher Beweis.

Die Versuche einer Chronik. Sie sollte uns helfen in diesem Schlamassel. Ich schrieb:

Versuche gehorsam zu sein!, also die Ereignisse gehorsam dem unterzuordnen, was gemeinhin als Geschichte anerkannt wird. Also die Ereignisse gehorsam einer Chronologie unterzuordnen, obwohl doch die Chronologie eine dreiste Vereinfachung der Dinge bedeutet, zusätzlich eine Relativierung und den grundsätzlichen Verzicht auf Widerspruch, auf die Bildung von nichtverwandtschaftlichen Banden und Bündnissen. Auf den unvermittelten Auftritt der Möglichkeit im Raum.

Später weitergetippt:

Über die Stellung des modernen Menschen zu seiner Vergangenheit,

über die Bedeutung der alten Markierungen im Gebiet, Fördergerüste, Schachteingänge, Eisenbahnschienen, Schutthaufen. Über die Bedeutung der neueren und neusten Markierungen: Risse im Grund, Verläufe im Nichts, Senkungen der Erdoberfläche.

Über Joseph Conrad, der einmal eine Fuhre Kohle über die Weltmeere gesegelt und außerdem Überlegungen angestellt  hat über die Jugend.

Über den Schriftsteller James Jopek, der ziemlich dünn und feingliedrig war. Er schaufelte mit zwanzig Jahren einmal, vermutet man, als Praktikant drei Wochen lang in einem Kohlebergwerk. Kurz darauf schloss er sich einem Autorenkollektiv junger Londoner Historiker an, das ein Buch zur britischen Arbeiterbewegung verfasste.

Über die argentinische Dichterin Alfonsina Storni, die sich im Oktober 1938 am Strand von La Perla ins Meer stürzte.

Das Gebiet gebiert nur Furcht und Schrecken! Es verschlingt Feldhasen, Mäuse und Frettchen mit Haut und Haar!

Schließlich versuchte ich mich einfach zu erklären.

Das ist die Erzählung von einer Stadt, die dabei ist zu verschwinden. Nachdem vor Jahrzehnten im Grund nichts anderes als ein Feuer ausgebrochen ist und weiterhin brennt in den Stollen unter Tag.

Weiter wird erzählt von den wenigen Häusern, die nun übrig bleiben im wüsten Land, von ihren Bewohnern und Bewohnerinnen.

Die Beschreibung des Lebens der Töchter Stein. Wo und welcher Gestalt sie nämlich in diese Welt kommen, was sie darin sehen, lernen, erfahren und ausstehen.

Die Jugend liest Bücher und sucht einen Fluss. Die Jugend denkt daran, sich in Zukunft am Fluss zu treffen. Sie kann sich nicht an die Zeit vor dem Feuer erinnern, aber sie versucht es trotzdem. Reisen werden unternommen. Ein Pferd stößt dazu.

An der ganzen Geschichte ist nichts Geheimnisvolles, wenngleich sie stellenweise für Verwirrung sorgen und dadurch schreckhafte Gemüter beunruhigen mag, wie es das Leben auch oft tut. Dies kann leider nicht verhindert werden.

Es erzählen die Töchter Stein, wobei Margarete Stein dem Erzählen stärker zugeneigt, Fritzi Stein hingegen oft mit Forschungen im Feld beschäftigt ist.

Florida

 

 

 

Es war ein früher Abend. Unten standen zwei Polizeibeamte an die Hauswand gelehnt und sprachen leise. Ich betrachtete sie lange Zeit.

An diesem Abend hatte ich zum ersten Mal von dem Fluss gelesen.

Meine Freunde in Missouri rieten mir an, Werkzeuge mitzunehmen, um Kanus zu bauen, damit ich auf diesem Fluss zum Pazifik gelangen könnte.

Der Fluss breitete sich sichtbar vor mir aus. Sein Name war Buenaventura. Er floss ruhig und breit dahin, nicht ungefährlich trotzdem. Manchmal schien er mir rau, kaum der Ostflanke des Gebirges entsprungen, durchquerte er südliche Hitze, subtropische Regionen, Florida.

Ich befand mich allein. Fritzi war unterwegs. Der Vater H. Stein saß unten in der Polizeistation. Noch hatte ich Fritzi nicht von dem Fluss erzählt. Ich aß ein Stück Brot, dann setzte ich mich wieder an den Tisch.

Zwei Padres und ein alter Kartograf hatten den Fluss 1776 auf ihrer Expedition entdeckt. Das war an einem frühen Herbsttag, und der Kartograf ging wahrscheinlich leicht gebeugt, denn sein Magen schmerzte. Per Handzeichen stimmten die drei ab, um sich auf einen Namen zu einigen. Rasch vermerkte der Kartograf den Fluss und seinen Standort in seinen Aufzeichnungen, dann gingen sie weiter.

Ich hatte bei den Berichten in den Büchern eine Karte gefunden aus dem Jahr 1823, darauf mündete ein Fluss mit dem Namen Buenaventura in einen See. In gesperrten Tuschelettern links davon UNERFORSCHTES LAND.

Als ich aus dem Fenster schaute, standen die Beamten noch immer da. Ich konnte sie nicht sehen, die Dunkelheit war zu groß geworden, aber ihre Stimmen hörte ich.

Die westlichen Grenzen dieses Sees sind unbekannt.

Ich verschob den Lichtkegel der Schreibtischlampe. Auf weiteren Expeditionen Jahre später hatten sie das unerforschte Land erschlossen. Den Fluss hatte man verfehlt, dann nicht mehr gefunden, dann wiederum zu weit südlich gesucht. Man vermutete ihn weiter östlich, man glaubte ihn im Norden, man zweifelte an ihm, buena ventura.

1844 schloss J. C. Le-Mont die Existenz des Flusses endgültig aus. Auch seine geografische Vermessungsexpedition hatte ihn nicht gefunden. Als er dem Präsidenten des Landes Bericht erstattete, nannte dieser ihn jung und sprach vom