Schlafgänger - Dorothee Elmiger - E-Book

Schlafgänger E-Book

Dorothee Elmiger

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Beschreibung

Irgendwo tief im europäischen Wald begegnen sie sich. Grenzgänger, Schmugglerinnen, Flüchtlinge, Arbeiterinnen, Asylbewerber, Kontrolleure, Künstlerinnen, Instrumentalistinnen, Schauspieler, Journalisten, Stipendiaten, Logistiker, Studentinnen, Geister. Sie kommen von überall. Sie alle sind Stellvertreter unserer Zeit, und sie führen ein Gespräch. Über Herkunft und Gerechtigkeit, über Körper und Staat, Import und Export, Heimat und Migration, über Glück, Musik und den Tod. Dorothee Elmiger hat einen Roman geschrieben, der die brisanten Fragen unserer Gegenwart ausleuchtet. Und sie findet dafür eine Sprache, wie sie zuvor in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur noch nicht zu hören war.

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Seitenzahl: 185

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DOROTHEE ELMIGER

SCHLAFGÄNGER

ROMAN

Mit Unterstützung von Pro Helvetia, Schweizer Kulturstiftung.

Außerdem dankt die Autorin dem Kanton Appenzell Innerrhoden und der Villa Aurora, Los Angeles.

eBook 2014

© 2014 DuMont Buchverlag, Köln

Alle Rechte vorbehalten

Umschlag: Nurten Zeren/zerendesign.com

ISBN eBook: 978-3-8321-8778-1

www.dumont-buchverlag.de

und sogar die Luft erscheint mir wie eine Gespensterluft

Rolf Dieter Brinkmann, Rolltreppen im August

Il y avait quelqu’un, et, un instant plus tard, il n’y a personne.

Simone Weil, L’Iliade ou le poème de la force

Im Schlaf, sagte die Übersetzerin, sah ich einmal das ganze europäische Gebirge zusammenbrechen, wie von Sinnen lag ich da, aber still, hörte auch Geräusche in diesem Zusammenhang, die Gipfel zerbrachen vor meinen Augen, alles stürzte langsam ein und kam mir als Geröll entgegen, Gestein wurde durch die Luft geschleudert, ich sah, wie die Flanken in Bewegung gerieten, in Stücke zerfielen, alles kam auf mich zu. Später wachte ich auf, der Raum war leer, die Heizung auf höchster Stufe eingestellt. Unverändert lag die Landschaft vor den Fenstern, das ganze nächtliche Panorama, das aufgefaltete, das gestapelte Gestein.

A. L. Erika sagte, der Ort, an den sie denke, sei nicht über eine Straße zu erreichen, man gelange nur zu Fuß oder auf Pferden dorthin, dieser Ort sei eine Schlucht, durch die ein Fluss führe, relativ viel Geäst und Grün, Versteinerungen in den Felswänden, das Wasser sei ganz klar, wie in der Karibik.

Am Fenster saß Fortunat und las; den Alpstein habe er auf Tageswanderungen kennengelernt, auch die Innerschweiz und Kärnten, sagte er.

Und wiederum, rief die Übersetzerin, sah ich alles um mich einbrechen, eine plötzliche Explosion jagte die Alpen auf, langsam und still sah ich die Gipfel, Grate niedergehen in meine Richtung. Stunden später betrat jemand das dunkle Zimmer, legte sich neben mich, atmete ruhig, ich schloss die Augen, was wurde eingeläutet und wer hatte damit zu tun.

Zuvor war nichts Besonderes geschehen, sagte der Logistiker, nur dass ich alle Dinge fallen ließ, alles glitt mir aus den Händen zu dieser Zeit und fiel. Ich sah den Dingen zu, wie sie fielen, ruhig stand ich da, während sie sich im Fall von mir entfernten, schließlich aufprallten, ich sagte nie ein Wort. In jenen kurzen Augenblicken wurden mir die Dinge mit zunehmender Entfernung fremd, ich sah nicht mehr die Gabel, das Glas und so weiter als Gabel und als Glas, sondern sah nur etwas vor mir liegen, ein so und so geformtes Objekt, das stand in keinerlei Beziehung zu mir selbst. Ich war darüber nicht beunruhigt, es war mir gleichgültig, dass beispielsweise das Glas auf dem Küchenboden zersprang, und auch das Klirren erschreckte mich nicht, so als hätte ich das Geräusch erwartet oder als hörte ich es nur von sehr fern, als hätte mich die Erzählung von einem solchen Geschehen längst auf alles vorbereitet. Ich schlief kaum mehr, ging unruhig durch die Zimmer, saß in der Küche, ich legte mich hin, war müde, aber schlief nicht ein.

A. L. Erika erhob sich und trat hinter ihren Stuhl, als würde sie einen wichtigen Vortrag beginnen: Wenn ich nachts hin und wieder durch die Stadt ging, sagte sie, dachte ich an die Schlafenden, die tausend, Millionen Schlafenden, die in dunklen Zimmern lagen, still und mit weichen Zügen, wie sie sich bewegten im Schlaf und atmeten, in den Vorstädten, an der Pazifikküste, am Rand der Wüste.

Das Radio, fuhr der Logistiker fort, lief rund um die Uhr, der Nachrichtensprecher sprach von zwölf Kältetoten in Westeuropa, der Himmel war blau, auf dem Alpgebirge lag der ewige Schnee, über die Grenze kamen und gingen die Leute zu dieser Zeit, zu jeder Zeit, es brach ein Tag an vor den Fenstern, dann ging er wiederum zu Ende und alles verdunkelte sich. Nachts machte ich die Lampe an, die neben der Matratze stand, oder ich fand sie brennend vor, ich hatte begonnen zu vergessen, schien die Erinnerung an die vergangenen Tage zu verlieren, sachte entglitt mir vieles, und ich war einverstanden, ich hatte keinen Einwand vorzubringen, stand auf und setzte mich, saß ruhig auf meinem Stuhl, es kümmerte mich nichts auf der Welt.

Die Vorstellung, sagte A. L. Erika, dass sich zu einer Stunde oder der anderen jeder Mensch dem Schlaf hingab, dass der Schlaf allen gleichermaßen und regelmäßig zustieß, beschäftigte mich. Ich ging manchmal durch die Stadt zum Zeitpunkt größter Dunkelheit, und wenn ich mich dann zufällig an einem erhöhten Punkt wiederfand, in Los Feliz, am Fuß der Hügel von West Hollywood, betrachtete ich die leuchtende Stadt, die weiter reichte, als mein eigenes Auge sehen konnte, die Lichter, die immerzu seltsam flimmerten.

Und war die Müdigkeit zu Beginn mit einem großen Flackern noch eingezogen und hatte mir, so rief der Logistiker, hinter den Lidern einen hellen Brand verursacht, so beruhigte sich alles in einem Augenblick und ward still. So saß ich am Fenster, wach, ich tat kein Auge zu. In der Ferne fuhren die Züge aus der Stadt hinaus auf andere Städte zu, kehrten zurück und immer weiter so.

Hin und wieder klingelte das Telefon, und ich hob ab, heiter fast. Manchmal war es meine Schwester, die anrief und fragte, wie es mir gehe, sie bestellte Grüße von ihrem Ehemann, einem Bratschisten aus Rio de Janeiro, dem es gutgehe, so sagte sie jedes Mal, und fügte dann hinzu, er habe aber Schmerzen in den Fingern der linken Hand und klage über die Zugluft im Orchestergraben. Manchmal war der Journalist am Apparat, er sprach von dem Geschehen in der Schweiz, er habe über dieses oder jenes Ereignis nachgedacht, so begann er meist das Gespräch und holte dann aus, er habe sich das so und so gedacht, er sei der Meinung, man müsse jetzt auf diese oder jene Art und Weise darüber schreiben, es sei wichtig, nun dies oder jenes dazu zu sagen und, so schloss er meist das Gespräch, das werde er jetzt tun.

Nach Tagen ohne Schlaf verließ ich dann das Haus, ich trat auf die Straße, das helle Licht schoss mir gewaltig in die Augen, und als ich zurückblickte, sah ich eine Person in meiner Wohnung am Fenster stehen, es schien mir für einen Augenblick, als sähe ich mich selbst im Schlaf, als stünde der eine schlafend am Fenster oder als ginge der andere schlafwandelnd aus dem Haus, aber ich schlief nicht, nein, war wach. Auch jetzt schien es mir, als wären alle Dinge gleichermaßen von mir weggerückt, als geschähe alles zur selben Zeit – die Warnlichter an den Schloten blinkten außer Takt, ein Grenzwächter bewaffnete sich, die Ampel stand auf Rot, eine Passantin näherte sich, einer schob eine singende Säge durchs Holz, einer trieb einen Stift durch einen Balken, um den Turm der Lagerhalle kreiste ein Vogel.

Auch tagsüber, sagte A. L. Erika, sah ich die Schlafenden, sie lagen an den Rändern der Straße, auf Ladeflächen, oder sie saßen auf einer Bank am Pazifik, und sie schliefen. Bei einem Treffen an der Küste hatte der Student aus Glendale unvermittelt zu mir gesagt, er habe manchmal die seltsame Hoffnung, dass sich alles zum Besseren wendete, könnten die Menschen nur ab und zu einen Blick auf die Schlafenden werfen, und er zitierte: Mit offenen Augen neige ich mich über die geschlossenen Augen der Schlafenden, hier die Busfahrerin, die die Linie 2 zuletzt bis zur Küste fuhr, da eine Familie aus Seoul, zwei Studentinnen in einem Zimmer in Echo Park.

Der Schlaf, rief die Schriftstellerin am Kopfende des Tisches, sei eine anthropologische Konstante. Der Student aus Glendale, der neben ihr saß, bemerkte, ihm sei der Fall eines Amerikaners bekannt, der vor gut fünfzig Jahren rund zweihundert Stunden ohne Schlaf zugebracht habe. Am fünften Tag habe der Mann behauptet, er sehe Spinnen, die aus seinen Schuhen kröchen, am achten Tag habe er, obwohl wach, aus medizinischer Sicht alle Merkmale eines Schlafenden aufgewiesen.

Wenn ich das beschreiben müsste, dann ungefähr so, sagte der Logistiker, als hätte ich in einem Fieber die Zeitungen gelesen, und es wäre mir alles direkt in den Kopf gestiegen, als wäre alles Mögliche tatsächlich und vor meinen eigenen Augen geschehen oder als wäre ich in ungeheurem Tempo durch die Welt gegangen und hätte alles mitangesehen. Stellen Sie sich vor, Sie verfolgten das Geschehen allein dieses Landes, der Schweiz, fuhr der Logistiker fort, aus stets unmittelbarer Nähe. Alles kam so daher aus der Welt, ging mir in einem Schwindel durch den Kopf und zog dann von der Stelle, der Lottokönig verlor sein Geld, die warmen Körper der Flüchtlinge wurden im Wald entdeckt, die Bauern kehrten ein, und das Schiff ging leck und brach entzwei. Ich ging vorbei an der Endhaltestelle der Straßenbahn Richtung Stadt, und wie ich mich von der Grenze entfernte und stadteinwärts ging, tauchten an meiner Seite plötzlich Personen auf, sie gingen scheinbar mit mir auf Wanderung, ein Mann mit einer Decke über den Schultern, Frauen mit Gepäck, dazwischen ein Kind, das fragte: Was tun? Wir gingen lange, so schien es mir, über Hügel, über ganze Kontinente gingen wir (und die Ränder der Kontinente reichten ins Meer hinein, und die Pfade lagen scheinbar harmlos da und die Wege verlassen, die Möwen hatten ihre Augen zum Schlaf geschlossen, die Wellen schlugen in der Ferne auf, ein Stück Plastik hatte sich am Straßenrand im Gras verfangen, der Wind trieb sich durch die Nacht) und durch die Zeit, es schien mir, als träumte ich, aber ich schlief nicht, nein, war wach, es brach die weiße Stunde an, und immer rascher gingen wir herum in der Welt, ich war in guter Gesellschaft und ganz heiter gestimmt, es erschien mir alles vor den Augen, die Türen der Züge schlossen sich, ein Pflücker stolperte im Feld, als der Korb erst voll war, ein Redner trat auf, und eine Frau betrat den Untergrund, es wurde Abend im TV, die Entlassenen verließen ihre angestammten Plätze, wir gingen immer weiter, aber vor Einbruch der Nacht gelangten wir wie von Geisterhand von Mulhouse her wieder über die Grenze nach Basel, in der Elsässerstraße war kein Mensch zu sehen, der Grenzübergang lag verlassen da, nur am Fenster der Wohnung stand ich selbst mit weit geöffneten Augen und stumm, als sei mir das letzte Wort im Mund noch vergangen.

Fortunat sagte, der Ort, an den er denke, sei eine Meerenge, er lese dazu bei Bebi Suso, Zitat, Während wir die Meerenge durchquerten, hoffte ich, die Drift der Kontinentalplatten beschleunigte sich endlich; dann wiederum wünschte ich, die Teile hätten sich gar nicht erst von der Stelle bewegt. Susos ausgezeichnetes Tagebuch einer Passagierin habe sie ebenfalls gelesen, bemerkte die Schriftstellerin, sie erinnere sich vor allem an die Schilderung einer langen Wanderung, die die Protagonistin über eine Hochebene oder durch eine Art Wüste führte.

Als ich meine Küche betrat, sagte der Logistiker, saß dort der Mann mit der Decke über den Schultern, er las die Zeitung und nickte mir zu, am Fenster standen drei Frauen und tranken Kaffee, ich sah die Schlagzeilen, eine Frau schmuggelte Kokain im Intimbereich, Frau mit 152 Gramm Kokain in Vagina von Grenzwächtern geschnappt, 152 Gramm! Frau (20) schmuggelt Kokain in Vagina, Schmuggel-Trick: Kokain in der Vagina, eine Nigerianerin trug den Stoff zwischen ihren Beinen, auf der Strecke Biel–Konstanz, las ich, habe man die Frau im Zug entdeckt, am Bahnhof von Baden habe man sie verhaftet, und in diesem Moment erinnerte ich mich daran, wie ich selbst einmal von Biel nach Konstanz gefahren war, dabei den Pass auf meinem Schreibtisch vergessen und während meines Aufenthalts in Deutschland befürchtet hatte, die Wiedereinreise in die Schweiz würde mir verweigert, in Wahrheit aber hatte man mir die Passage ohne Weiteres gewährt.

Frage, sagte die Übersetzerin: Waren Sie als Logistiker im Bereich Export tätig? Seefracht-Import, antwortete der Logistiker.

Die Schriftstellerin stand auf und sagte, sie sei müde, der Student aus Glendale, Los Angeles habe A. L. Erika nachts die langen Gedichte Walt Whitmans vorgetragen, sie habe seine Stimme durch die Wand gehört. Whitmans Sätze enden oft mit Ausrufezeichen, fügte sie an und verließ den Saal, erschien aber kurz darauf noch einmal in der Tür und ließ ihren Blick über die Anwesenden schweifen: Was ging Ihnen, fragte sie den Logistiker, durch den Kopf, da Sie, wie Sie selbst sagen, diesen Personen zuletzt in Ihrer eigenen Wohnung begegneten? Wie ich schon sagte, ging mir alles Mögliche durch den Kopf, erklärte der Logistiker. Ich war aber keineswegs überrascht, diese Leute in meiner Wohnung anzutreffen, und es beunruhigte mich nicht. Sie waren mir unbekannt, sie waren undurchsichtig und schattig, fürwahr. Aber verhält es sich nicht ebenso mit meiner eigenen Person? Oft schon verließ ich einen Raum voller Freunde ohne ein Wort und unauffällig, so als würde ich nur eine vergessene Schachtel Zigaretten aus dem Auto holen, und ging in Wahrheit nach Hause, ohne mich zu verabschieden, weil ich nicht verstand, was sie sagten und was sie mir bedeuten wollten.

Ob sich unter den Pflanzen wohl auch eine tropische befinde, fragte A. L. Erika und wies mit dem Kopf zum Fenster, Fortunat habe ja kürzlich erst bemerkt, er stamme aus einer Familie berühmter Botaniker, ihre eigene Familie verfüge über keine herausragenden Persönlichkeiten. Die Übersetzerin schüttelte den Kopf, Pflanzen interessierten sie nicht besonders, sagte sie, auch Tiere nicht.

Kurz vor Mitternacht, so fuhr der Logistiker fort, klingelte das Telefon, und am Apparat war der Journalist, er sprach vom Geschehen in der Schweiz, er sagte, in einem Wald bei Basel habe ein ihm bekannter Spaziergänger an einem der letzten Abende des vergangenen Jahres eine Familie angetroffen, die dabei gewesen sei, sich für die Nacht im Gebüsch einzurichten, ihre Mitglieder hätten soeben eine Decke an ihren vier Ecken genommen und auf dem Waldboden ausgebreitet, er habe im schwindenden Licht noch die Atemwolken gesehen, die aus ihren Mündern stiegen und durchs Geäst zogen. Er, der Journalist, habe gehört, das sogenannte Empfangszentrum an der Grenze sei zu dieser Zeit zum wiederholten Male voll gewesen. Er habe außerdem vor Kurzem gelesen, dass sich Fingerkuppen, die mit Schleifpapier oder an rauen Wänden abgeschliffen werden, innerhalb von zwei bis drei Wochen wieder erholen, dass man in den Empfangszentren also oft zwei bis drei Wochen warte, um dann die Leute anhand ihrer Fingerkuppen zu identifizieren. Er frage sich, ob solch abgeschliffene Fingerkuppen bluteten oder nur aufgeraut seien, er frage sich, ob dieses Schleifen der Kuppen nicht dann jeden Gebrauch der Hände verhindere, es müssten ja sämtliche zehn Fingerkuppen abgeschliffen werden, damit keine Abdrücke genommen werden könnten, sagte er, und, wenn er sich jetzt einen Mann oder eine Frau vorstelle, eine Person, die sich also den Körper auf diese Art und Weise verletze, an einer Hauswand vielleicht, nach einer mehrwöchigen Reise, dann müsse dieser Person, ja, etwas Gewaltiges doch im Nacken sitzen. Er habe selbst kurz im Flur seiner Wohnung innegehalten und den rauen Verputz betrachtet, er habe seine Finger auf diesen Verputz gelegt und sich dann gefürchtet, einen solchen Versuch zu machen, auch mit nur einem Finger. Ich bin Journalist, rief der Journalist am Apparat, und als Journalist habe ich mich gefürchtet, auch nur einen meiner Finger an der Wand aufzureiben, obwohl dies offensichtlich Teil meiner Recherche gewesen wäre, etwas Gewaltiges muss einem doch im Nacken sitzen. Er setzte ab, und ich hörte, wie er am anderen Ende der Leitung aß und atmete. In allen Zimmern der Wohnung brannte Licht, es war ein angenehmes Licht, das plötzlich brannte, ganz ohne Flackern, aber ich hatte es nicht selbst angemacht, ich war müde und schlief nicht, lauschte den entfernten Geräuschen des Journalisten. Schließlich, sagte dieser nach einer langen Zeit, könne man vielleicht sagen, es handle sich hier um den Versuch, den Körper, sich selbst also, zum Verschwinden zu bringen, vorübergehend zumindest, um die Grenze zu überqueren, und so, fuhr der Journalist fort, führten diese Personen eigentlich ganz präzise und eigenhändig aus, was von ihnen verlangt werde. Als der Journalist sich endlich verabschiedete mit der Ankündigung, er werde mir die neuen Nummern der Zeitung fortan zusenden und was ihm außerdem in die Hände falle, blieb ich einen Moment lang stehen und sah mich um, als wären mir die Räume plötzlich unbekannt, als sähe ich sie zum ersten Mal, ich duckte mich, als hätte ich dieses Telefonat unerlaubt und heimlich geführt, und als ich den Hörer auf die Gabel legte und die Küche verließ, schwankte ich, streifte die Wand mit meinem Arm, aber fand dazu kaum ein Gefühl vor. Es stiegen mir noch immer Bilder im Kopf herum, aber ich sorgte mich nicht, ich war nur ein stiller Zuschauer, hier bog eine Passantin um die Ecke, ein Ortskundiger wies mir den Weg zum Hafen, ein Spaziergänger ging im Wald mit einem Stock. Ich las in der Zeitung: Wenn sie merken, dass es ohne Fingerabdruck nicht weitergeht, kooperieren sie in aller Regel, ich sah die warmen Körper der Flüchtlinge unterwegs, sah einen Frachter unter belgischer Flagge rheinabwärts fahren, vor ein paar Wochen standen die Container noch in den USA, Australien, Shanghai, und heute stehen sie hier, erklärte der Kranführer am Hafen, ich sah den Ehemann meiner Schwester, der die Bratsche in einem Koffer durch St.Gallen trug, ich las in der Zeitung, Ipecacuanha-Sirup werde gefertigt aus der giftigen Wurzel einer Pflanze, die in den tropischen Tieflandregenwäldern heimisch sei, sie trage weiße Blüten und purpurrote Früchte, dieser Sirup, las ich, löse Krämpfe und Brechreiz aus, es sei nun zehn Jahre her, dass eine Rechtsmedizinerin im benachbarten Ausland einem Neunzehnjährigen aus Nigeria oder Kamerun eine Magensonde durch die Nase gelegt und so den Sirup eingeflößt habe, der Beamte: Nachdem der Kollege D. und ich die Positionen getauscht hatten – die anderen Kollegen fixierten unverändert die Beine –, wurde von Frau Prof.L. ein weiterer Versuch unternommen, die Sonde einzuführen. Ich fixierte zu diesem Zweck den Kopf des John mit meinem linken Knie und meiner linken Hand sowie mit dem rechten Knie die rechte Schulter des John, man habe dem Mann einundvierzig Kokainkügelchen aus dem Magen geholt, nach dem Einflößen des Ipecacuanha-Sirups fiel er zu Boden, schrieb die Zeitung, ein Rechtsmediziner: Eigentlich keine ungewöhnliche Reaktion, aber dann setzten Atmung und Puls aus, so starb Achidi John, und ich, ich legte mich hin, aber ich schlief nicht ein, hinter geschlossenen Lidern sah ich die Stadt, den ganzen Grenzverlauf, es zerlegte sich eine Wärmebildkamera von selbst in ihre Teile vor meinen Augen, ein Flugzeug flog über die Flughafenstraße, und Achidi John erzählte: Im Alter von fünf Jahren hat meine Mutter mich nach Won gebracht, das liegt in der Nähe von Bata. Seit meinem siebten Lebensjahr diente ich König Eze von Won, bis er 1999 starb. Dann sperrten mich die Leute in einen Käfig ein und sagten, ich solle geopfert werden. Ich konnte fliehen, mit einem Kanu kam ich zu einem großen Schiff, wo ich mich im Laderaum versteckte. Als die Leute mich entdeckten, gab ich ihnen das Gold, das ich vom König mitgenommen hatte. Da behandelten sie mich gut. In einem Hafen sagten sie, ich solle in die Stadt gehen. Später erfuhr ich, dass dies Hamburg war.

Die Schriftstellerin sagte an diesem Abend, sie sei keine Lügnerin, auch nie eine gewesen, und die Anwesenden lachten.

Der Logistiker fuhr fort: Es baute sich in Basel ein Mann vor mir auf, die ganze Hafenanlage baute sich plötzlich vor mir auf, die Kräne und die Türme türmten sich auf, die Container wurden gelöscht, die Schiffe machten los, die Silos schoben sich empor vor meinen Augen, und der Mann begann zu sprechen am Hafen im TV, So, guten Tag, meine Damen und Herren, mein Name ist Martin Affeltranger, ich bin heute ihr Hafenführer, wir stehen hier auf dem Silo Nummer 1, der ist 53 Meter hoch, wurde 1924 gebaut und ist immer noch in Betrieb. Von hier haben wir einen guten Rundblick auf die Gegend: Wir sind am südlichen Rand der oberrheinischen Tiefebene, und wir sind umgeben von drei Gebirgszügen, wenn wir da anfangen auf dieser Seite, schwach erkennbar wegen des Nebels, der Jura. Er zieht sich dann entlang der deutsch-französischen Grenze bis runter in die Gegend von Genf. Die andere Rheinseite ist das französische Ufer, die Stadt Hüningen oder Huningue auf Französisch, nicht erkennbar jetzt wegen des Nebels da hinten, das sind die Vogesen. Und dann auf dieser Seite sehen wir den Schwarzwald, er beginnt beim Isteiner Klotz und endet beim Grenzacher Horn. Der Rhein, der kommt zwischen Schwarzwald und Jura durch, also von Osten her, macht hier in der Stadt so einen Bogen und geht nach Norden weg, und die Türme versanken im Boden, und die Kontinente reichten ins Meer hinein, meine Augen öffneten und schlossen sich, als atmeten sie mitsamt dem Körper, als sei ich im Begriff, für eine lange Zeit zu verschwinden, und der Isteiner Klotz zerbrach in viele Stücke. Frage: Wie viele Straßen und Wege stehen für die Einreise in die Schweiz zur Verfügung? Antwort: Dafür stehen mehrere Hundert Straßen und Wege zur Verfügung.

Am Tag zuvor, sagte die Übersetzerin, habe sie ihr Zimmer betreten und sich hingelegt, ich lag da mit geschlossenen Augen, sagte sie, und es wurde leise, nur vereinzelte Geräusche stellten sich aber geradezu klar und deutlich heraus. Kurz bevor ich einschlief, hörte ich ein leises Läuten, oder täuschte ich mich, es war ungefähr dreizehn Uhr.

A. L. Erika: Oft versuchte ich während meiner Zeit an jener Küste, deren äußerste Teile in der Vergangenheit immer wieder ins Meer gebrochen waren, Briefe an meine Eltern zu schreiben, aber es gelang mir nie, die Dinge, die ich ihnen mitteilen wollte, in Worte zu fassen. Mutter, Vater, ich bin in der Stadt – so begann ich jeden Brief und fuhr dann fort mit der Schilderung eines Tages, der so oder so verlaufen war, oder mit der Beschreibung der Stadt am frühen Morgen und der Hitze, mit der Beschreibung des Lichts, das einem die Augen entzündete, sodass sie brannten, als hätte man alle Nächte nicht geschlafen oder angesichts eines irren Schauspiels die Lider kaum gesenkt, dabei unversehens direkt in die Sonne geblickt. Jedes Mal, wenn ich einen Brief so begann, drängte sich mir aber nach wenigen Zeilen das Gefühl auf, die tatsächlichen Ereignisse, die Aussichten, das Panorama ganz falsch darzustellen, und ich legte den Stift beiseite.

Die Schriftstellerin war am Kopfende des Tisches eingenickt, der Logistiker saß daneben und sagte, er habe vor vier oder fünf Jahren eine junge Übersetzerin kennengelernt, die damals eben ihr Studium abgeschlossen hatte und für unbestimmte Zeit nach Europa gekommen war. Nach ihrer Ankunft habe sie, Winnie, einige Wochen in Frankfurt gelebt und dort einen großen Teil ihres Geldes für ein Zimmer ausgegeben, das sie zur Untermiete genommen hatte.