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Es sind die großen Sommerferien und Mila, Max, Luh, Arthur und Liz verstreut es in alle Himmelsrichtungen! Liz fliegt das erste Mal alleine nach Malta, und erlebt dort eine gehörige Überraschung, als in ihrer Gastfamilie nicht eine Schwester, sondern gleich drei Gastbrüder auf sie warten. Mila und Max sind ein Paar und verbringen ihre Ferien gemeinsam in Deutschland. Luh ist mit ihrem Freund bei ihrer Familie in Bali und Arthur ist das erste Mal verliebt. Kein Wunder, dass das Wiedersehen danach etwas holprig verläuft. Aber die fünf sind schließlich beste Freunde und immer füreinander da … oder etwa nicht?
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Seitenzahl: 318
Veröffentlichungsjahr: 2025
We’ve taken different paths and travelled different roadsI know we’ll always end up on the same one when we’re old
(Kodaline, »Brothers«)
Mir ist schrecklich warm in meiner Jeans. Wie bin ich nur auf die blöde Idee gekommen, auf der Reise eine lange Hose anzuziehen? Schon im Bus vom Flughafen hatte ich das Gefühl, dass alle Leute das viel zu blasse, sommersprossige Mädchen mit dem roten Kopf angucken!
Jetzt stehe ich vor der Haustür meiner Gastfamilie, auf der Mittelmeerinsel Malta. Anstatt gemütlich mit Oma und Opa, Mama und meinen kleinen Schwestern an der Ostsee Ferien zu machen, hat Papa in letzter Minute für mich Sprachferien organisiert. Und so werde ich nun schön vier Wochen lang bei irgendeinem entfernten Bekannten wohnen und Englisch lernen! Die Sache war ziemlich schnell entschieden, und so richtig Mitspracherecht hatte ich dabei gefühlt gar nicht.
In meiner Hosentasche piept es leise. Eine Nachricht von Mila: Bist du schon da? Wie sind deine Gastschwestern? Foto bitte! Ich stecke das Handy weg, gehe die drei Stufen vorm Haus hoch und recke mich zum Klingelknopf des schmalen Reihenhauses. Ich klingle und warte. Ziemlich lange.
»Hello?«, eine Stimme von drinnen, die nicht wirklich nach Gastschwester klingt.
»Hello«, meine Stimme, wie immer viel zu piepsig. Die Tür geht auf, und da steht ein Junge in meinem Alter.
»Hi«, sagt er, setzt sich die Kopfhörer wieder auf die Ohren und verschwindet ins Haus. Braune Augen, kurze Haare, ich hatte gar keine Zeit, ihn richtig anzusehen, da ist er schon wieder weg. Ich gehe hinein und bleibe im angenehm kühlen Flur stehen. Hinter mir fällt die Tür ins Schloss. Stille. Als ich ein Stück weitergehe, rattert mein Koffer über den hellen Fliesenboden. An der Wand sehe ich Familienfotos, was mir sehr stark das Gefühl gibt, ein ungewollter Eindringling in diesem Haus zu sein.
Was ist jetzt der nächste Schritt? Ich greife aus Reflex zum Handy in meiner Hosentasche, aber Mila kann mir jetzt genauso wenig helfen wie irgendjemand anderes. ICH kann mir nur helfen, sonst keiner. Aber … wo fange ich an? Wo bitte ist überhaupt die Familie hier? Genau in dem Moment klingelt mein Telefon, ich sehe Papas Nummer und – werde ganz sicher nicht drangehen. Er hat mir das hier eingebrockt, da kann ich ihn ruhig ein wenig zappeln lassen. Das Handy hallt im stillen Flur. Ich lasse es klingeln, bis …
»Hey! Liz? You arrived!«
Ich gucke mich um. Über mir auf der Treppe steht ein älterer Junge. Im Gegensatz zu dem von eben hat er sehr viel dunklere, etwas längere Haare. Er steht da in Shorts und T-Shirt und lächelt mit auffallend geraden, sehr weißen Zähnen. Dann springt er die paar Stufen herunter und nimmt mich in den Arm, als würden wir uns schon ewig kennen. »Hello, I am Jack!«, er redet auf Englisch weiter, und ich wundere mich, dass ich ihn verstehe. Dann war es wohl doch nicht umsonst, dass ich mich jahrelang durch englische Serien mit Untertiteln gequält habe. Und dass ich jeden einzelnen Taylor-Swift-Song übersetzt habe.
Ich sitze am Tisch und esse nicht ganz fertig gebackene Tiefkühlpizza. Wenn das Mama sehen würde, Tiefkühlpizza! Niemals käme ihr so etwas ins Haus. Um mich herum meine drei Gastbrüder: Jack, der älteste, Jonathan und Peter. Habe ich mir so meine Ankunft vorgestellt?
Nein.
Gefällt sie mir?
Vielleicht.
Obwohl ich mich immer noch frage, ob Papas Englisch wirklich so schlecht ist, dass er Mädchen statt Jungs verstanden hat, denn das hier sind eindeutig keine Gastschwestern.
»Magst du die Pizza?«, fragt mich Jack. Ich nicke, spüre, wie ich rot werde, und schiele zu Peter rüber. Der hat seit unserer Begegnung vorhin an der Tür noch nicht mit mir gesprochen.
Jonathan wiederum, der Mittlere, mustert mich sehr interessiert aus wasserblauen Augen. Er fährt sich durch die nassen blonden Haare und sagt auf Englisch zu mir, extra langsam und deutlich, damit ich auch alles verstehe: »Mom und Dad arbeiten noch. Unser Buchladen hat donnerstags immer bis neun offen. Aber wir zeigen dir gleich schon mal den Strand, was, Jungs? Liz muss doch gleich unsere Insel kennenlernen!«
Jack nickt mit vollem Mund, Peter guckt grimmig auf seinen Teller, auf dem Kopf jetzt statt Kopfhörern eine Kappe. »Peter hat gerade eine etwas schwierige Pubertätsphase«, erklärt mir Jonathan, woraufhin er von Peter ein Augenrollen erntet, aber immerhin verzieht sich Peters einer Mundwinkel zu einem schrägen Lächeln.
Jonathan erklärt mir: »In den Sommermonaten sind wir so gut wie nur am Strand, surfen, abhängen, Eis essen, nichts tun. Man kann dort super vergessen, dass es so was wie Hausaufgaben und Klassenarbeiten gibt.« Von den drei Brüdern wirkt Jonathan am meisten wie ein Surferboy, mit seinen sonnengebleichten Haaren. »Du siehst also, Liz …«, Jonathan grinst, »so toll ist es hier gar nicht, bei dir in der Stadt ist sicher viel mehr los.«
»Not«, meldet sich Peter zu Wort. Und dann, als alle gucken. »Cooler als bei uns geht nicht.«
»Verstehe«, sage ich.
Jack runzelt die Brauen. »Und damit du gleich heute was erlebst, würde ich vorschlagen, dass wir ein bisschen mit unserem Boot fahren.«
»Au ja, das ist großartig! Jetzt gleich?«, rufe ich, selbst erstaunt über meine spontane Begeisterung, aber Boot fahren liebe ich einfach.
»Ähem … welches Boot meinst du genau? Wir haben doch gar keins!« Jonathan hat ein großes Fragezeichen auf der Stirn.
Ich spüre leichte Enttäuschung und frage daher: »Können wir nicht … irgendwo eins klauen oder so?«, und gucke daraufhin in drei verblüffte Gesichter.
»Klauen? Hey, so kriminell sahst du auf den ersten Blick gar nicht aus, Lizlo!«, sagt Jonathan. Anscheinend habe ich hiermit nun auch schon einen neuen Spitznamen.
»Na ja, oder leihen, meine ich natürlich!«, erwidere ich schnell. Borrow? Take? Lend? Diese Worte kriege ich im Englischen immer durcheinander.
»Ha! Zu spät. Du hast dich eindeutig verraten …« Jack grinst. Und ich wundere mich wirklich, dass die Eltern der drei eine Buchhandlung haben und keine Kieferorthopäden oder Zahnärzte sind, denn diese Jungs könnten in jeder Zahnpasta-Werbung mitmachen.
»Also ich wäre dabei«, meldet sich plötzlich Peter zu Wort. Alle gucken ihn überrascht an. Sogar bei ihm sehe ich nun ein winzig kleines Zahnpastalächeln.
»Super«, sagt Jonathan.
»Yeah, gute Idee, und du bist ja scheinbar sowieso so eine Art Profi, Lizlo.« Als ich abwehrend die Hände hebe und versuche, irgendetwas zu meiner Rechtfertigung zu sagen, lachen die drei nur. Die Sache mit dem Bootklauen scheint ihnen zu gefallen. Und bevor ich so richtig verstehe, was hier geschieht, stehen alle vom Tisch auf, und Jonathan nimmt mich kurz in den Arm. Ich fühle seine starken Surfer-Arme. »Mach dir keine Sorgen, Schwesterchen, wir kriegen keinen falschen Eindruck von dir. Oder wenn, nur ein kleines bisschen.«
»Haha, ich weiß Bescheid«, sage ich, verwundert darüber, wie normal es ist, mit meinen neuen Gastbrüdern zusammen zu sein und Englisch zu reden. Im Unterricht zu Hause bin ich gefühlt an jedem zweiten Wort erstickt, aber hier läuft es einfach.
Na ja, in der Schule macht man auch keine Pläne, wie man Boote klaut.
Dieser Strand ist total schön. Wir sind zu Fuß hergekommen, auf dem Weg habe ich mich noch ein bisschen von den Jungs ausfragen lassen. Sie sind ganz anders als die Typen aus meiner Klasse, viel freundlicher und netter. Und witziger. Ab und zu wirft einer ein »Süüüß« ein, wenn sie finden, dass ich ein Wort witzig ausspreche. Der Strand hat keinen schneeweißen Sand und kristallklares Wasser, eher ist er so ein Stadtstrand, aber mit total schöner Stimmung. Palmen biegen sich im Wind, bunte Bänder flattern an den Sonnenschirmen, und überall sitzen Jugendliche, die zusammen Musik hören und quatschen. Im Wasser planschen noch ein paar Eltern mit ihren kleinen Kindern. Ich mache mein erstes Foto, denn das hier ist gerade die perfekte Sonnenuntergangsstimmung.
»Hey, wir wollen mit drauf«, sagt Jonathan. Und dann stellen wir vier uns für ein Selfie zusammen, im Hintergrund erstreckt sich der rosafarbene Himmel. Das Foto werde ich nachher Mila schicken, denke ich nicht ohne Stolz. Weil ich es tatsächlich total vergessen habe, schreibe ich dann noch Papa und Mama eine kurze Nachricht, dass ich angekommen bin, das muss fürs Erste reichen.
Wir vier stehen am Wasser. Jack sagt sachlich, mit Großer-Bruder-Stimme: »Okay, Lizlo, folgender Plan: Wir holen uns eins von den alten Booten, die da bei den Palmen liegen, und damit stechen wir dann in See. Die werden sowieso nicht mehr benutzt. Du musst nichts anderes tun, als den Strandwächter abzulenken.« Er klopft mir zuversichtlich auf den Rücken. »Dir fällt schon was ein.« Alle drei schenken mir ein letztes Zahnpastalächeln – sogar Peter –, dann spazieren sie los in Richtung Palmen. Und obwohl mein Herz richtig laut klopft, bleibt mir nichts anderes übrig, als zum Strandwächter zu gehen, der vor seiner Bretterbude steht. Auf dem Weg denke ich sehr scharf nach und formuliere verschiedene Sätze auf Englisch.
»Hey, can I help you?«, fragt mich da auch schon der Typ im roten T-Shirt mit gelbem Baywatch-Aufdruck, ein bisschen wie im Film.
»Ähem, ja, ich … ich habe meine … meine Schwimmbrille hier liegen lassen … also gestern. Gibt es eine Fundkiste oder so?«, sage ich meinen vorformulierten Satz auf Englisch.
Der Junge, der kaum älter ist als ich, lacht mich an. »Wirklich? Das ist ja witzig, ich habe dich noch nie hier am Strand gesehen« … Er mustert mich von oben bis unten. Und als mir richtig warm wird und mir mein Herz in die Hose zu rutschen droht, schlägt er sich gegen die Stirn und sagt: »Ach … stimmt! Gestern Nachmittag hatte ich ja frei. Na, umso besser, dass wir uns jetzt kennenlernen. Ich bin James.«
Ich nehme etwas zögerlich seine ausgestreckte Hand und sage: »Liz.« Danach ist Stille. Kurz überlege ich, ob Lizlo wohl nun mein Malteser Name ist. Aber, warum war ich noch gleich hier? »Ähem, darf ich dann mal nach der Brille gucken?«
»Aber klar doch, komm mit!«, und damit winkt er mir, ihm in einen sehr muffigen Raum zu folgen, wo in einer großen Holzkiste sehr viel Zeugs liegt: Handtücher, Flipflops, Flossen, Sonnenmilch. Eine Schwimmbrille ist auch da, aber ich sage leise: »Das ist sie leider nicht.« Ob ich wohl schon genug Zeit hier verbracht habe? Auf jeden Fall wird es allmählich wirklich stickig hier, und daher sage ich, nachdem ich noch ein bisschen halbherzig durch die Sachen gesehen habe: »Danke. Dann würde ich jetzt mal wieder gehen.«
»Schön, dich kennenzulernen, Liz! Und bis morgen!«, ruft meine neue Bekanntschaft mir hinterher. Ich lächle und gehe zum Wasser vorne, wo ich meine Gastbrüder stehen sehe.
»Na, wenn das nicht die perfekte Ablenkung war!«, begrüßt mich Jonathan. Neben ihnen, halb versteckt hinter einem Felsen, liegt ein graubraunes Ruderboot. »Wie süß, er guckt immer noch rüber. Bei dem hast du Eindruck gemacht, Lizlo!«, er zeigt zum Strandwächterhäuschen und winkt James fröhlich zu, der daraufhin zurückwinkt. Ich muss lachen und murmle: »Ja, das war James. Ich habe die ganze eklige Verlorene-Sachen-Sammlung von ihm durchgeguckt. Bah, also meine Schwimmbrille war jedenfalls nicht dabei.« Ich gucke mich überrascht um, als ich ausgerechnet Peter über meinen Kommentar lachen höre.
Jack hebt die Augenbrauen. »Und habt ihr zwei euch für morgen verabredet?«
Ich spüre, wie mir die Hitze aufsteigt und ich rot werde. »Haha, natürlich nicht.«
»Also eins ist klar, wenn dich hier auf der Insel jemand belästigt, kriegt er es mit uns zu tun, was, Jungs?«, sagt Jonathan. Er fährt sich durch die blonden Haare und legt kurz einen Arm um mich.
»Danke, ich komme schon klar«, antworte ich und ärgere mich über meine leise Stimme. Lauter sage ich: »Rudern wir dann los?«
Jonathan guckt hoch in den Himmel. Dann sieht er fragend seinen großen Bruder an. »Oder lieber ein anderes Mal? Es wird bald dunkel.«
Jack nickt. »Wahrscheinlich schlauer. Wir lassen das Ding einfach hier liegen und …«
»Hey! Ihr hier? Ich dachte, ihr könnt heute nicht, ihr hattet doch irgendwas vor?«
Eine unbekannte Jungsstimme hinter mir. Jonathan ruft: »Henry! Na, so was, was machst du denn noch hier?«
Wieder jemand Neues! Ich spüre, wie mich meine alte Schüchternheit befällt, aber ich versuche hartnäckig, sie wegzuschubsen. Vorsichtig drehe ich mich um und sehe einen Jungen mit dunklen Locken und einem total netten Lächeln. Furcht einflößend sieht er auf jeden Fall nicht aus, eher irgendwie vertraut, als würde ich ihn von irgendwoher kennen.
»Stimmt! Eure Gastschwester kommt ja heute!« Henry strahlt mich an. »Hi, you must be Liz. Wie schön, dass du da bist!«, er nimmt mich, wie Jack vorhin, kurz in den Arm. Henry riecht nach Salz und Sonne. Dann sieht er mir in die Augen, und mir wird warm, aber diesmal fühlt es sich gut an.
»Kommst du noch mit auf den Jahrmarkt, Max?«, fragt mich mein Kumpel Lukas nach dem Training. »Rine, Lotte und ein paar andere Mädels kommen auch mit.« Ich lasse mir das Wasser in der Dusche bei der Umkleide über meine brennenden Beine laufen. Erst Hürdenlauf, dann Sprint und am Ende noch Weitsprung, für heute reicht’s mir.
»Ne, Mila und ich machen einen gemütlichen Abend, mit Film und so«, antworte ich gegen das gluckernde Wasser an. Tom, der sich neben Lukas anzieht, pfeift durch die Zähne. »Mila! Wow, das verstehe ich. Wenn ich so eine Freundin hätte, würde ich auch nicht auf den Jahrmarkt gehen.«
»Absolut. Wir zwei müssen gucken, was beim Autoscooter geht, was, Tom?«, sagt Lukas. Beide lachen. Ich auch, kriege aber Wasser in den Mund und fange an zu husten. Die anderen Jungs aus der Gruppe sind alle schon weg. Als wir drei fertig sind, warte ich noch draußen an der Aschebahn mit Tom und Lukas auf die Mädchen. Wie viele tiefe Momente ich hier auf diesem Sportplatz schon erlebt habe! Ich denke an den Vereinspokal, den ich im letzten Sommer in meiner Altersgruppe gewonnen habe, aber auch an Mila, wie sie zum ersten Mal mit mir hier war und wir sogenannte Physik gemacht haben – in Wirklichkeit wollten wir einfach nur zusammen sein. Wir waren gerade neu verliebt. Dann, ein paar Tage später, waren Mila und ich wieder hier, nach dem großen Streit mit Luh und den anderen. Tja, gute Tage, schlechte Tage.
Nach ziemlich langem Warten sind die zwei da. Ich muss mich immer wieder daran gewöhnen, meine Sportfreundinnen im echten Leben zu sehen, außerhalb des Vereins. Wie jetzt: Rine im kurzen Rock, Lotte im Kleid, mit Ohrringen und Sandalen.
»Du hast also was Besseres vor, Max?«, fragt Rine. Lotte sieht mich neugierig von der Seite an. »Ist es echt immer noch cool bei euch? Ich könnte mir das nie vorstellen, Mila und du, ihr seid ja schon ewig zusammen! Wird es nicht langsam langweilig?«
»Na ja, zwei Monate«, entwaffnend hebe ich die Hände. »So lang ist es nun auch wieder nicht.«
Klar, dass ich dann noch ein paar Sprüche abkriege. »Wir wollen ja nur, dass du mitkommst«, sagt Lotte beschwichtigend, als ich gerade beginne, etwas genervt zu werden. Woraufhin ich wiederum mein charmantestes Lächeln auflege und sage: »Sorry, Girls, ein anderes Mal.« Und damit schwinge ich mich auf mein Rennrad und fahre durch die warme Sommerluft davon. Hinter mir höre ich es pfeifen und lachen.
Ich lächle über meinem Lenker. Wie lucky bin ich bitte, mit so einer Freundin wie Mila! Wenn das hier Hollywood wäre, wären Mila und ich so was wie das It-Couple. Das soll jetzt nicht eingebildet klingen oder so, aber seit wir zusammen sind, geht so eine krasse Energie von uns aus. Ich spüre das richtig. Ein elektrisierendes Kribbeln liegt in der Luft, schon vom ersten Tag an. Auch wenn wir echt eine Scheißzeit am Anfang hatten, als unsere gesamte Freundesgruppe dagegen war, dass wir zusammenkommen: Art, Luh und Liz.
Aber jetzt ist alles entspannt. Hinzu kommt, dass unsere Freundin Luh nun mit meinem älteren Bruder Albert zusammen ist. Hilft auch irgendwie.
Und während in den Sommerferien alle anderen an verschiedene Orte und Urlaubsziele gefahren sind, haben Mila und ich einfach nur uns – also neben dem Training. Jeden Tag, ab nachmittags. Mila und Sport, that’s my life.
Weil mir vorne an der Haustür niemand aufmacht, gehe ich an der Seite vorbei in den Garten. Ich bin mir nämlich fast hundertprozentig sicher, dass Mila hier in der Sonne liegt. Und genau so ist es: Mila im orangefarbenen Bikini mit Kopfhörern auf der Liege, die lockigen Haare zum Dutt hochgebunden, Augen geschlossen, sie summt leise mit.
Ich schleiche mich an sie heran und will ihr meine Hände auf die Schultern legen, aber genau in dem Moment sehe ich sie lächeln. Sie hat auch unsere elektrisierende Energie gespürt, denke ich grinsend.
»Hi, Schatz«, sage ich übertrieben, als würde ich von der Arbeit heimkommen.
Mila setzt sich auf, zieht sich schnell ein T-Shirt über den hübschen Bikini und gibt mir einen Kuss auf den Mund. »Hi«, sagt sie. Und dann: »Max, mir ist kalt. Ich hätte doch mit Mama und Carla nach Mallorca fliegen sollen, dieser Sommer hier ist doch doof. Die paar Sonnenstunden am Tag reichen einer Halbbrasilianerin ganz und gar nicht.« Sie zieht einen Schmollmund.
»Hä? Warum das denn? Es war superheiß heute, ich habe so geschwitzt beim Sprint. Und außerdem: Nix da Mallorca, wir haben doch uns. Weißt du noch? Die magischen Mila-Max-Wochen, nur wir beide.«
»Ich weiß«, sagt Mila und schmiegt sich an mich. Ich habe mich neben ihre Liege gehockt, damit ich ihr besser in ihre immer wieder verblüffend grünen Augen gucken kann. »Ich verspreche dir, dass unsere Ferien unvergesslich werden. Und ganz sicher nicht langweilig. Komm, lass uns was einkaufen. Dann machen wir nachher Nudeln … und gucken einen Film«, sage ich und setze dabei mein schönstes Lächeln auf, in der Hoffnung, den Film auswählen zu dürfen.
Mila fährt mir durch die Haare. »Okay«, sagt sie dann gedehnt. »Aber nur, wenn wir meinen Film gucken.«
»Deinen Film?«, sage ich mit gespieltem Erstaunen.
»Ja, und du weißt schon was …«
»Oh no, bitte nicht Harry Potter! Dafür ist Art zuständig!« Unser gemeinsamer Kumpel Art ist neben Mila immer der größte Potter-Fan gewesen, anders als Luh und ich, wir finden diese Story mal so richtig scheiße. Das ist ein ewiger Streit zwischen uns.
»Nein! Wir gucken die Taylor-Swift-Doku und … Hey! War ein Scherz!«, ruft Mila mit erhobenen Händen. »Schon gut, schon gut, wir gucken Notebook.«
»Ryan Gosling …«, stöhne ich gequält. »Aber nur, wenn wir dann wenigstens meine scharfen Nudeln machen!«
»Ferien sind doch einfach megacool«, sage ich zu Mila auf dem Weg in den Supermarkt. Inzwischen trägt sie ein grün gepunktetes Sommerkleid und Sandalen, in denen sie neben mir über den Fußweg tänzelt. Mila geht oder spaziert nie, sie hüpft oder balanciert immer irgendwo herum. Das war schon im Kindergarten so. Übrigens war auch ihre Kleiderwahl bereits damals so – und das meine ich nicht negativ. Mila hatte schon früher das Talent, die wildesten, buntesten Klamotten zusammen anzuziehen, oftmals auch über- und untereinander, und auf faszinierende Weise matcht es dann immer irgendwie. Wenn andere Mädchen in dicken Pullis in die Grundschule kamen, hat Mila sich einfach eine Bluse und zwei schreiend bunte Pullis übereinander angezogen. Im Winter hatte sie oft Kleider und Sommerschuhe mit gestrickten Wollstrümpfen an, ihre Mutter konnte sie unmöglich davon abbringen. Mila ist eine Individualistin, und darum ist sie auch so lässig.
»So was hatten wir noch nie, dass wir fünf uns so lange nicht sehen, alle sind irgendwie überall hin verstreut. Selbst Art und Liz«, sagt Mila. Für einen Moment sieht sie nachdenklich aus.
Ich lächle. »Nur uns hat’s zusammen verstreut. Zum Glück.«
Mila sagt dazu nichts, dann aber: »Ich bin gespannt auf Arts Reise mit seiner Patchworkfamilie nach England. Ach, ich vermisse Arty, er ist einfach cool.«
Ich ziehe die Augenbrauen hoch. »Cool?«
Mila nickt. »Arty ist der Coolste. Er ist irgendwie so unabhängig und hat schon immer sein eigenes Ding gemacht.«
»Hmm«, ich hoffe stark, dass sie mich auch cool findet. Ich wechsle das Thema: »Und unsere Lizzy hockt auf Malta. Hast du was von ihr gehört?«
Mila nickt. »Sie hat mir geschrieben. Überraschung! Sie hat gar keine Gastschwester – das war irgendwie ein Missverständnis – sondern gleich drei Gastbrüder!«, breites Grinsen, dann verdunkelt sich ihr Gesicht. »Wenn Liz hier wäre, wäre mir nicht langweilig. Dann könnten wir so schön zusammen Quatsch machen.«
»Was für Quatsch denn?«
»Na ja, im Planschbecken herumspritzen, uns mit Kuchenteig bewerfen, so Sachen.«
»Wenn du willst, können wir uns auch gerne mal mit Kuchenteig bewerfen! Ich will dich wirklich nicht von irgendwas abhalten. Oder langweilen.«
Mila bleibt stehen und stemmt die Hände in die Seiten. »Nein. Das meine ich doch gar nicht. Aber mit Liz sind so Sachen eben besonders witzig.«
Okay. Nun schlage ich zurück. »Ich vermisse Luh«, sage ich grinsend. »Keiner hier zum Physikaufgabenmachen und Mathequizlösen. Und Luh ist echt hammerattraktiv, stimmt’s?« Seitenblick zu Mila, die mir, wie erwartet, einen Klaps auf den Arm versetzt. Sie rollt übertrieben die Augen und antwortet, genau wie ich erwartet habe: »Ja, Luh ist eine balinesische Schönheit, megaintelligent und supersportlich.« Punkt für mich! Es ist ein offenes Geheimnis, dass Mila wohl immer ein bisschen eifersüchtig auf Luh sein wird, auch wenn Luh so krass in meinen Bruder verknallt ist. Aber das liegt an unserer Geschichte. Wir kennen uns alle fünf, seit wir auf der Welt sind oder eigentlich schon von davor – aus dem Bauch. Wissenschaftlich schwierig zu erklären und äußerst fragwürdig, wie man durch die Bauchwand befreundet sein kann, aber das haben unsere Mütter immer so gesagt. Dabei waren es eigentlich unsere Väter, die sich schon vor der Bauch-Zeit kannten. Die fünf waren Schulfreunde, wie wir. Trotz unserer großartigen und langwährenden Freundschaft gab es immer auch Teams – und Luh und ich waren lange eins: Die zwei Sportfanatiker, die Jahrgangsbesten, die Physikgenies, die Forscher. Seit ich mit Mila zusammen bin, haben sich die Gewichtungen ein bisschen verändert.
»Du weißt, dass ich das nicht ernst meine, oder?« Mila sieht mich an, und ich nicke. »Ich könnte mir keine bessere, ehrlichere, tollere Freundin als Luh vorstellen«, sagt Mila.
»Weiß ich. Aber, wenn wir schon beim Thema sind, wie würdest du mich denn beschreiben?«
Mila zieht die Stirn in Falten. Dann sagt sie: »Coole Haare, tollste Grübchen der Welt.« Sie lacht. »Enormes Sixpack.«
»Hey! Und wo sind meine Charaktereigenschaften?«
Mila grinst durchtrieben. »Ich dachte, du freust dich über den Sixpack-Kommentar. Sei doch froh, dass du so eine Wirkung auf mich hast.« Sie sieht mir dabei sehr tief in die Augen, sodass wir auf dem Fußweg stehen bleiben müssen. Weiter dieser Blick. Ich beuge mich langsam zu ihr herunter, und dann küssen wir uns. Als Mila mir dabei durch die Haare fährt, weiß ich genau, was sie eben meinte. Auch ich liebe meine Haare – aber nur, wenn sie von Mila durchgewühlt werden.
Später liegen wir zusammen auf dem Sofa im Wohnzimmer. Durch die offene Terassentür von Milas traumhaft schönem villaähnlichem Haus hört man die Vögel zwitschern, und es liegen diese besonderen Sommer-Vibes in der Luft.
»Die Nudeln waren zu scharf«, murmelt Mila in meine Armbeuge. Entspannterweise macht Milas Vater als Anwalt meistens Überstunden, sodass wir uns fast hundertprozentig sicher sein können, dass er uns nicht plötzlich im Wohnzimmer auf dem Sofa überrascht, wobei ihn das wahrscheinlich nicht mal stören würde. Ihr Vater Nik ist extrem lässig. Wenn ich groß bin, wäre ich auch gerne so: Er ist enorm erfolgreich, hat eine Bilderbuchfamilie und den Charme eines George Clooney. Ich streiche Mila über die Locken, während sie, wie immer, fast den ganzen Film über durchheult.
»Du fühlst schon sehr mit bei Filmen, was?«
»Lass mich«, sagt sie schluchzend. »Ich habe eben ein großes Herz.«
»I know«, sage ich. »Das weiß ich schon seit Romeo und Julia.«
»Du kannst froh sein, dass ich nicht so ein gefühlloser Felsen bin«, schnieft Mila.
»Bin ich auch«, flüstere ich und drücke sie noch fester an mich. »Wenn Arts Romeo und Julia-Aufführung nicht so romantisch gewesen wäre, wärst du vielleicht nie auf die Idee gekommen, dich in mich zu verlieben.«
»Siehst du«, sagt Mila mit einem zufriedenen Schluchzer. Dann sagen wir nichts mehr. Vielleicht hängen wir beide unseren Gedanken nach, der Erinnerung an den magischen Abend, als wir draußen vor der dunklen Schule auf der Bank saßen und auf einmal wussten, dass wir verliebt sind.
Vielleicht guckt Mila aber auch einfach nur den Film. Als sie plötzlich so erbärmlich schluchzt, dass ihr ganzer Körper vibriert, hoffe ich inständig, dass sie nicht an den Abend auf der Bank gedacht hat.
»Sie haben sich so gelieeeebt! Das ist wahre Liebe«, krächzt sie und kuschelt sich noch fester an mich.
»Ich weiß, Romeo und Julia auch.«
Als Mila mich verständnislos anguckt, kommt mir endgültig der Gedanke, dass die Wahrnehmungen der Menschen wahrscheinlich wohl wirklich verschieden sind.
Die Überschrift, die ich heute Abend in mein Reisetagebuch schreiben würde: So sieht Familie aus. Voller Liebe gucke ich mich um in unserem treuen, alten Auto, mit dem wir durch die englischen grünen Hügel cruisen. Meine Heimat! Ich weiß nicht, ob es daran liegt, dass meine Mum Engländerin ist, denn obwohl ich sie seit über zehn Jahren nicht gesehen und kaum Erinnerungen an sie habe – spüre ich hier ganz deutlich meine englischen Wurzeln. British roots, yeah! Nicht erstaunlich, dass viele meiner Lieblingsbücher und Filme hier, auf dieser verrückten Insel, spielen. Und ebenso wenig verwunderlich, dass ich hier, in diesem genialen, inspirierenden Land später einmal leben will.
Mein Blick schweift durchs Auto. Vorne: Dad, mein leiblicher Vater, Best Friend, Stütze und Fixpunkt in meinem Leben. Daneben: Steffi, seine ziemlich neue Freundin – von mir liebevoll auch Emma Watson genannt (die Ähnlichkeit fand ich am Anfang verblüffend – vom Alter abgesehen, aber auch Emma Watson wird schließlich älter). Steffi ist Schweizerin, eine superentspannte Frau und Besitzerin eines Gourmetrestaurants. Sie kocht göttlich – Steffi auf die Eins!
Links neben mir: Karl, mein absolut schräger, durchgeknallter, intellektueller neuer Stiefbruder. Zugegebenermaßen ist die Bezeichnung nicht ganz korrekt, denn ich habe Karl vor dieser Reise erst zweimal gesehen, aber faktisch ist er so was in der Art.
Rechts von mir, auf meiner Schokoladenseite: Charly, Karls Zwillingsschwester und … wie soll ich sie beschreiben … Ist das irgendwie schriftlich fixiert, was genau man für Gefühle für seine Stiefschwester hegen darf? Überhaupt sträubt sich in mir etwas sehr heftig gegen das Wort Stiefschwester. Also, ich versuche es sachlich. Charly: Stepptänzerin, quirliger, eigensinniger Kopf mit blonden Engelslocken und … absolut liebenswert.
»Mum! Bitte! Du musst die Musik ändern. Mir ist sowieso schon schlecht von den Kurven. Ich kriege Ohrenschmerzen von dem Zeugs! Die halbe Stunde ist um, ich bin dran!«, plärrt Karl durch den Innenraum des Autos. Theatralisch hält er sich die Ohren zu und krümmt sich, als wäre ihm ernsthaft übel.
Charly grinst. »Nein, Bruderherz, ich habe den Timer gestellt, sieben Minuten habe ich noch. Du Glückspilz kannst noch ein wenig Queen genießen, bevor du deinen Lana del Rey-Depri-Kram anmachen darfst.«
»Und wann genau bin ich eigentlich dran?«, melde ich mich zu Wort.
»Nach der Pause.« Charly wirft mir einen strengen Lehrerinnenblick zu, aber ihre blitzenden Augen verraten sie. »Lieber Art, wir sind hier eine Demokratie. Du hältst dich bitte, wie wir alle, an die Regeln.«
Aus Karls Ecke des Autos höre ich es stöhnen. Dad und Steffi vorne scheint unser Gespräch nicht im Geringsten zu interessieren. Vollkommen unbeeindruckt unterhalten sie sich angeregt über die Geschichte des Schlosses, das wir eben besichtigt haben. Plötzlich fühle ich ein Gewicht auf mir, und Charly lehnt sich quer über die Rückbank zu Karl rüber. »Hier, Karl, iss mal ein Rosinenbrötchen, das wird dich beruhigen.«
Karl, zu dessen Besonderheiten gehört, dass er sich ausschließlich von Nudeln ohne Soße und Kinderriegeln ernährt, rümpft angewidert die Nase. »Bah! Geh weg damit!«
Die zwei diskutieren eine Weile über Vor- und Nachteile eines Rosinenbrötchens, und ich frage mich, ob ich Charlys Körper auf meinem Schoß als romantisch oder eher als lebensbedrohlich empfinden soll, denn allmählich geht mir die Luft aus.
»Komm schon, iss was Leckeres!« Charly reißt verschwörerisch die Augen auf und erinnert mich dabei stark an die böse Hexe aus dem Kindermärchen früher. Charly kann durchaus Furcht einflößend sein. Ich ächze unter ihrem Gewicht: »Karl, bitte iss jetzt das Ding oder auch nicht, mir egal, aber mach, dass deine Schwester sich wieder normal hinsetzt. Charly, wenn du mich bitte wieder atmen lassen würdest?«
Für einen Moment sehe ich Charlys freche Augen direkt vor meiner Nase, breites Grinsen, dann verzieht sie sich brav wieder auf ihre Seite des Autos.
Wohltuende Stille. Erstaunliche Stille. Verdächtige Stille. Nur Charlys Musik dudelt leise weiter. Ich höre Karl neben mir: »Pah, dann esse ich das Ding halt. Ihr werdet schon sehen, dass ich das kann.« Danach höre ich es neben mir leise kauen.
»Hey, Kumpel, mach keinen Mist, du musst das doch nicht«, versuche ich, aber Karl grinst nur. »Ich kann das!«
Ich sehe sehr viel Grün draußen, neben uns die Steilküste und das Meer. Über allem hängt Nebel. Die Straße, auf der wir fahren, ist sehr eng und umsäumt von dicken, üppigen Hecken. Wie im Film! Ich spüre Charlys Schulter an meiner und höre sie ruhig atmen, scheinbar ist sie eingeschlafen, zumindest fühlt sich ihr Kopf auf einmal sehr schwer an. Als ich gerade überlege, ob ich diese Nähe irgendwie interpretieren muss, ein unterdrücktes Wimmern.
»Stopp! Anhalten! Sofort! Ich … Tüte! Hat wer eine Tüte!«, Karls klägliche Stimme.
Vollkommen routiniert, wie es nur eine mehrfache Mutter kann, reicht Steffi ihrem Sohn, der tatsächlich blass-grün im Gesicht ist, eine Plastiktüte nach hinten. »Min Schnügel, ganz ruhig, ruhig atmen, hier ist die Tüte. Alles ist gut. Die kurvige Strecke müsste auch gleich vorbei sein. Paul hält gleich an …« In dieser kritischen Situation strahlt ihr Schweizer Akzent besondere Ruhe aus, auch wenn ich mich frage, was wohl genau ein Schnäggli ist. Steffi redet mit Karl wie mit einem Fünfjährigen, aber es scheint zu helfen. Karl atmet hörbar tief ein und schafft es zu meinem maßlosen Glück, sich tatsächlich erst am Straßenrand, neben dem Auto, zu erbrechen, anstatt auf meinem Schoß. Während Steffi ihm beruhigend den Rücken streichelt und Dad sich in Google Maps auf seinem Handy vertieft, stehen Charly und ich ein Stück weit entfernt nebeneinander an einer Lücke im Gebüsch und gucken aufs Meer. Für einen Moment kommt wundersamerweise die Sonne an diesem grauen Tag heraus, das Wasser glitzert total irre.
»Als hätte sich plötzlich der Himmel geöffnet«, sage ich mehr zu mir selbst.
»Wie, wenn das Himmelszelt aufbricht und seine magischen Strahlen auf die Erde schickt«, höre ich Charlys Stimme. Vorsichtig wende ich meinen Blick zur Seite, weil ich mir nicht ganz sicher bin, ob ich mich nicht verhört habe. Die Worte hallen in meinem Kopf nach. Diese freche, absolut extrovertierte, vor Selbstbewusstsein sprudelnde Charly überrascht mich immer wieder. Da ist diese Zartheit unter der harten Schale. Ohne meinen Blick zu bemerken, redet sie weiter:
»Das hier erinnert mich an ein Kinderbuch, das ich früher so geliebt habe. Papa hat es mir vor dem Einschlafen vorgelesen. Es geht um ein Zirkuskind, das weiterziehen muss und unglaublich traurig ist, weil sie in dem Ort eine Freundin gefunden hat, und dann guckt sie in den Himmel, und dann …« Ihre Stimme bricht. Ich höre sie schlucken. Sie streicht sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und starrt aufs Meer.
Und Arthur Trautmann? Wie reagiert der darauf? Eine ausgezeichnete Frage. Ernsthaft, was macht man bitte in so einer Situation? Seine Liebste, sorry … seine Stiefschwester in den Arm nehmen? Etwas Schlaues, Tröstendes sagen? Als ich gerade einen kleinen Schritt zur Seite mache und meinen Arm ausstrecke, höre ich Dads Stimme von hinten. »Kommt! Wir fahren weiter. Steffi kennt ein Café hier, nur ein paar Kilometer entfernt, wo es angeblich die besten Scones gibt, mit Clotted Cream und …«
»Paul! Bitte! Guck doch«, als Charly und ich uns dem Auto nähern, klingt Steffis warnende Stimme von der offenen Beifahrertür aus. Sie zeigt auf Karl, der sich schon wieder zu seiner Tüte reckt. »Alles gut, Schnäggli, wir machen jetzt eine entspannte Pause und ruhen uns alle aus.« Sie wirft Paul einen warnenden, aber auch leicht verschmitzten Blick zu. Beim Einsteigen raunt sie mir zu: »Art, das gilt auch für dich: Erwähn nie mehr das Wort Rosinenbrötchen, bitte. Es wandert ab sofort auf die Liste der verbotenen Wörter!«
»Alles klar«, sage ich, denn tatsächlich kommt mir das sehr gelegen. Ich nehme mir vor, aus reinem Selbstschutz, keinen Gedanken mehr an Milchbrötchen mit Rosinen zu verschwenden. Zu Karl sage ich: »Geht’s wieder?«
Karl nickt, aber er grinst: »Ich lasse mich nie wieder dazu verleiten, so einen Schrott zu essen. Ich hole mir meine Nährwerte schön weiter aus meinen Hartweizennudeln.«
»Echt jetzt? Müssen es wirklich Hartweizennudeln sein? Keine Eiernudeln? Keine Spätzle?«, frage ich ehrlich erstaunt. Dafür ernte ich von Charly einen warnenden Blick. »Halt die Klappe, oder willst du den Rest des Rosinenbrötchens auf dem Schoß haben?« Bah! Schon wieder dieses Wort. Ich zucke zusammen.
»Okay, Bro, alles gut, ich liebe Hartweizen. Genau wie du!«, sage ich daher laut nach links gerichtet, und unter allgemeinem Gelächter setzt sich das Auto wieder in Bewegung. Zum Glück lacht Karl mit.
Dieses Café ist wohnzimmerlike genial. Während Karl sich etwas entfernt von uns auf das gemütliche Sofa mit Blumenmuster legt und sein Buch vor der Nase platziert, sitzen wir vier an einem niedrigen Holztisch und trinken Tee. Auf dem Tisch stehen kleine Tellerchen mit Scones mit Clotted Cream und Lemon Curd, aber auch Blueberry Muffins und Mangotarte in Miniaturform. Jeder hat eine Gabel, und jeder darf hineinpicken, wo er will. Unser Gespräch klingt in etwa so:
»Mmmmh, diese Mangotarte, wie kriegen sie das nur hin, dass sie trotz Butter so fluffig ist? Ich habe mich gerade wieder im Restaurant daran versucht« (Steffi).
»Ich liiiebe diese Scones. Oh Arty, bitte lern solche Scones backen, und ich heirate dich« (Charly).
»Dieser Lemon Curd wird mein täglicher Frühstücksaufstrich, wenn ich hier lebe« (ich, mit etwas belegter Stimme und roten Ohren, wegen Charlys Kommentar von eben).
»Für diese Scones würde ich sogar dein Tiramisu stehen lassen« (Dad).
»Nein! Never!« (Charly und ich wie aus einem Mund, wirklich, literally aus einem Mund!).
Charly und ich gucken uns an und fangen an zu lachen. Und dann ist da wieder dieses Ding in ihrem Blick, das ich nicht beschreiben kann. Es war schon am ersten Abend da, als ich sie mit dem Rad zu ihrer Party begleitet habe. Ein Funken Ernsthaftigkeit in diesem unermesslichen Strahlen. Und wie schon beim ersten Mal habe ich das Gefühl, dieser Funke würde mir zuflüstern: »Küss sie! Ja, du, genau du. Küss sie. Genau jetzt!«
»Wow …«, mache ich.
»Was ist los?«, fragt mich Dad. Er wirft mir einen besorgten Blick zu. Alles gut, my son?«
»Ich glaube ja …«, sage ich langsam. »Ja, klar, logisch, alles gut.« Ich werfe noch einen verstohlenen Blick zu Charly rüber, aber weil sie sich gerade ein neues Stück Gebäck in den Mund schiebt, kann ich ihre Augen nicht sehen.
Tief durchatmen, Art. Relax. Bild dir nichts ein. Wenn Charly dich küssen wollte, hätte sie es längst getan, du kennst sie ja jetzt auch ein bisschen. Wenn Charly etwas will, nimmt sie es sich. Was auch immer es ist.
Auf eine seltsame Weise beruhigt, gieße ich mir Tee aus diesem herrlichen, altmodischen Teekännchen nach und frage Charly höflich: »Möchtest du auch noch Tee, Mylady?«
Charly nickt. Beim Eingießen spüre ich ein Augenpaar auf mir und sehe auf. Ich sehe Karls neugierigen Blick, wie er mich, an seinem Buch vorbei, mustert. Mir kommt es so vor, als könnten mich diese Augen durchleuchten und bis in meine innerste Seele blicken. Im nächsten Moment duckt Karl sich wieder hinter seinem Buch weg, und ich versuche, meinen verwirrten Gesichtsausdruck zu verbergen.
Schräge Familie.
Schräge Familie. Schräg schön.
Schräge Familie. Schräg schön, liebenswert und wunderbar.
Schräge Familie. Schräg schön, liebenswert und wunderbar und … einzigartig.
Oh boy, bin ich happy!
Ich stehe auf der Hauptstraße unseres kleinen Ortes, vor dem Greenhouse Café, das ist der verabredete Treffpunkt. Die Luft auf Bali fühlt sich an wie warmes Badewasser, als würde sie einen ständig wie ein wohliger, unsichtbarer Mantel umhüllen. Irgendwie bin ich in diesem Jahr im Sommer-Familienurlaub viel mehr zu Hause als sonst. Als wären meine balinesischen Wurzeln im letzten Jahr kräftiger und fester geworden. Vielleicht liegt es auch daran, dass ich Albert so viel davon erzählt habe. Bis dahin hatte ich gar nicht gewusst, dass jemanden das interessieren könnte.
Ich recke den Hals und gucke wieder auf mein Handy. Wo ist nur Albert? Auf der App habe ich gesehen, dass er gelandet ist. Er wollte ein Tuk-Tuk vom Flughafen nehmen, aber er müsste längst hier sein. So lange dauert das doch nicht? Natürlich hat er unterwegs seine Daten nicht an, aber ich würde wirklich gerne wissen, wo er steckt. Um mich herum wuselt das balinesische Leben. Hier in den Ort kommen seit ein paar Jahren immer mehr Touristen, die sich auf die Läden, Cafés und Galerien stürzen. Aber dort, wo meine Großmutter wohnt, ist es total ruhig. Dort hört man nur Hühnergegacker und Tempelglöckchen. Wenn ich hier auf der Insel bin, ziehe ich mich immer möglichst lokal an, das mag ich. Und so bleibe ich zum Glück meistens verschont von Einheimischen, die mir Postkarten und irgendwelches Zeugs verkaufen wollen. Spätestens wenn ich in relativ akzentlosem Balinesisch mit ihnen rede, gehen sie lächelnd weiter. Ich gucke an mir herunter, an meinem eng anliegenden bunten Rock und dem Top.
Wo ist nur Albert? Ob er das Café nicht findet? Aber Albert ist in solchen Dinge eigentlich ziemlich patent, ich hoffe nur nicht, dass er auf irgendwelche schrägen Ideen gekommen ist, wie zum Beispiel gleich dem erstbesten Typen etwas abzukaufen …
»Luh! Hi, Beauty! Los! Steig auf, die Sonne putzen!«, höre ich eine vertraute Stimme ein Stück vom Treffpunkt entfernt.
»Hä?«, ich mache eine Dreihundertsechzig-Grad-Drehung, aber ein Tuk-Tuk sehe ich nicht. Ich recke den Kopf, und da sehe ich jemanden herüberwinken – sehr begeistert winken. Dieser jemand hüpft dabei so aufgeregt auf und ab, dass ich lachen muss. Groß, dunkelbraune Haare, und auf dem Arm erkenne ich sogar aus der Entfernung dieses besondere Drachen-Tattoo. Als ich zu ihm gucke, winkt Albert noch doller. »Hiiier, Bali-Girl!«
»Albert!«, rufe ich. Ich renne auf ihn zu, so schnell mich meine Flipflops tragen. Albert ist vom Moped gestiegen und umschlingt mich mit ausgebreiteten Armen, den Helm hält er in der Hand. Ich atme den vertrauten Geruch ein, nach Pfefferminzseife und immer auch ein bisschen nach Kaffeebohnen, obwohl Albert schon lange keinen Job mehr im Café hat. Eines von vielen Rätseln.
»Oh no! Ist es das, was ich denke?«, murmle ich in seinen Arm.
Keine Antwort.