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Achtundvierzig Lichtjahre von der Erde entfernt steht die Crew der Alireza vor Entscheidungen, die sie auf einen unvorhersehbaren Pfad führen werden. Sylvie, wieder vereint mit ihrer Mutter, muss sich der Frage stellen, ob sie anderen Menschen vertrauen kann. Val, gegen ihren Willen in die Rolle der Kommandantin gezwungen, sieht sich mit der Möglichkeit konfrontiert, dass ihre Vergangenheit Teil dessen ist, worin sie nun verstrickt wurde. Der letzte Überlebende der Helicon erfährt die Wahrheit über das, was seiner Crew widerfahren ist und muss zugleich entscheiden, ob er bereit ist, alles hinter sich zu lassen, was er geschworen hat zu beschützen. Sie alle verbindet eine ungewisse Zukunft und einsame Entscheidungen.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
IN DIESEM BAND:
Achtundvierzig Lichtjahre von der Erde entfernt steht die Crew der Alireza vor Entscheidungen, die sie auf einen unvorhersehbaren Pfad führen werden.
Sylvie, wieder vereint mit ihrer Mutter, muss sich der Frage stellen, ob sie anderen Menschen vertrauen kann.
Val, gegen ihren Willen in die Rolle der Kommandantin gezwungen, sieht sich mit der Möglichkeit konfrontiert, dass ihre Vergangenheit Teil dessen ist, worin sie nun verstrickt wurde.
Der letzte Überlebende der Helicon erfährt die Wahrheit über das, was seiner Crew widerfahren ist und muss zugleich entscheiden, ob er bereit ist, alles hinter sich zu lassen, was er geschworen hat zu beschützen.
Sie alle verbindet eine ungewisse Zukunft und einsame Entscheidungen.
© 2024 Michael Hirtzy, c/o Autorenservice Gorischek / Am Rinnergrund 14/5 / 8101 Gratkorn / Österreich
1. Auflage 2024
Covergestaltung und Buchsatz: Catherine Strefford | www.catherine-strefford.de
Coverillustrationen der Einzelbände: Elias Stern / https://www.artstation.com/elias_stern
Serienlogo: Catherine Strefford | www.catherine-strefford.de
LizardCreek Logo: Isabel Kutscherer
Lektorat & Korrektorat: Melanie Vogltanz / lektoratvogltanz.com
Vertrieb über TOLINO MEDIA
Alle in diesem Roman vorkommenden Personen, Ereignisse und Handlungen sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen oder Ereignissen sind rein zufällig.
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
Content Notes zu diesem Buch (Information über mögliche für manche Leser*innen unangenehme bzw. triggernde Inhalte) finden Sie am Ende des Buches.
Vals Kinnlade kippte im selben Augenblick herunter, in dem die Bord-KI diesen einen Satz aussprach, mit dem sie niemals gerechnet hätte: »Willkommen an Bord, Mutter.«
Ihr Blick zuckte zu Ida, der ehemaligen Bordärztin der Gutabara, die sich nach den Ereignissen auf der Helicon nun selbst ans Bett gefesselt fand. Ihr von der Lähmung nicht betroffener Oberkörper zuckte hoch. Sie rammte ihre Arme förmlich in die weiche Matratze und versuchte krampfhaft, sich aufrecht zu halten. Im selben Moment machte Helen einen Satz zum Bett und schob ihre Hand hinter Idas Rücken, um sie zu stützen. Sie wusste um den genauen gesundheitlichen Zustand ihrer früheren Mentorin und wollte ihr sichtlich helfen.
Kaiya, Vals unfreiwillige Erste Offizierin, fand vor allen anderen die Sprache wieder: »Was für ein perfides Spiel läuft hier ab? Wenn du das für witzig hältst, bist du gewaltig auf dem Holzweg.« Das Blut schoss in Kaiyas Kopf und verdunkelte ihre sonst sanft bronzefarbene Haut. Kombiniert mit ihren funkelnden Augen glich sie in diesem Moment einer griechischen Göttin, bereit, in den Krieg zu ziehen. Zornig, aufgebracht und zu allem bereit.
Endlich antwortete die Mädchenstimme. Warum fiel es Val erst jetzt auf, dass die Stimme der KI nicht wie eine erwachsene Frau klang, sondern eher den Tonfall und die Sprachmelodie einer Teenagerin wiedergab? Dieses Mal klang sie wieder streng und sachlich, trotzdem kindlich: »Ich kann Sie beruhigen, Commander Vila, ich spiele kein Spiel und scherze keineswegs. Was ich sage, entspricht der Wahrheit.«
Val bedeutete Kaiya, sich zurückzuhalten. Der stummen Anweisung folgte sie sichtlich widerwillig. In der Zwischenzeit fuhr Helen die Lehne von Idas Bett hoch, sodass diese halbwegs aufrecht sitzen konnte. Ihr Gesicht erschien kalkweiß, wie eine frisch lackierte Krankenhauswand. Die geweiteten Augen suchten den Raum ab, wie in der Hoffnung, irgendwo das Kind zu sehen, das angeblich zu ihr sprach.
Doch wie war das möglich? Val wusste, dass Ida seit bald einhundert Jahren im Dienst von Search and Rescue stand. In dieser Zeit hatte sie auf unterschiedlichen Schiffen gedient und war einst über den Rand der Heliosphäre hinaus gereist. Wie konnte auf einmal ein Kind auftauchen? Eines, das wie ein Teenager klang und sich trotzdem an Bord eines geheimen KMS-Schiffes befand? Selbst wenn sie ihre Tochter irgendwann in ferner Vergangenheit in den Kryoschlaf gebettet hätte, gab es keine logische Erklärung dafür, dass sie genau hier und jetzt wieder auftauchen sollte. Das ergab keinen Sinn und Val fühlte mit Kaiya. Handelte es sich also um einen bösen Streich? Wie konnte sich die Bord-KI einen dermaßen unpassenden und völlig empathielosen Scherz erlauben? Ida war gelähmt. Und dies, wenn Helens Prognose stimmte, für den Rest ihres Lebens. Was trieb einen Computer an, die Frau, die vor den Scherben ihrer Existenz stand, so abartig zu quälen?
»Das kann nicht sein«, drang es nun zwischen Idas bebenden Lippen hervor. »Sylvie ist gestorben. In meinem Beisein. Ich musste zusehen, wie sie ihren letzten Atemzug tat.« Der sonst völlig in sich ruhenden Frau trat die Zornesröte ins Gesicht. »Ich habe meine Tochter im Jahr 2154 an Bord der Zachrancá gebracht und sie Anfang 2155 den Sternen übergeben. Weit draußen im Leerraum.« Ida ballte die Hände zu Fäusten und vergrub sie in der Decke, so als schäme sie sich, ihre Erregung zu zeigen.
»Was willst du von uns?«, fragte Val, die sich nicht länger zurückhalten konnte.
»Ihnen helfen«, antwortete die KI.
»Und du glaubst, dies zu schaffen, indem du uns belügst?«
Kaiyas überraschter Blick signalisierte Val, dass sie nicht damit gerechnet hatte, dass ihre Kommandantin so offensiv vorgehen würde.
»Ich sage die Wahrheit, wenngleich ich verstehe, dass diese kaum zu glauben ist.«
»In Anbetracht der zurückliegenden Tage frage ich mich, was ich von dem Begriff Wahrheit überhaupt halten soll«, warf Kaiya ein. »Wir sind umgeben von Menschen und Organisationen, die lügen, betrügen und uns umbringen wollen. Da passt die KI, die versucht, uns in die Irre zu führen, ganz gut ins Bild.«
»Mum«, sagte die KI, die offensichtlich nicht vorhatte, auf den Einwurf einzugehen. »Ich kann es dir beweisen.«
»Und wie?«, antworteten Ida und Val unisono.
»Komm auf die Krankenstation, wenn es stimmt, was du erzählst«, warf Kaiya scharf ein.
»Das ist mir leider nicht möglich«, antwortete die KI und Val glaubte, in ihrer Stimme ehrliches Bedauern zu erfassen. »Ich bin an meinen derzeitigen Aufenthaltsort gebunden.«
Schlagartig schien Idas Körper alle Kraft zu entweichen.
Helen, die sich bisher zurückgehalten hatte, sah verärgert von den Monitoren auf, an denen sie Idas Werte kontrollierte. »Siehst du nicht, was du ihr antust?«
Ida hob eine bebende Hand und schüttelte den Kopf. »Nicht. Es ist …« Sie kam ins Stocken. Setzte neu an: »Was ist der Grund dafür?«
Val verstand nicht, worauf Ida hinaus wollte. Was bezweckte sie mit dieser Frage? Die Antwort lag auf der Hand. Server konnten sich nicht durch das Schiff bewegen. Wenn die KI sie, aus welchem unerfindlichen Grund auch immer, bei sich haben wollte, musste Ida den Weg durch das Schiff antreten.
Die Antwort klang kryptisch: »Der Neurolink.«
Plötzlich traten Tränen in Idas Augen und sie begann herzerweichend zu schluchzen. Bevor Helen oder Kaiya reagieren konnten, setzte sich Val auf den Bettrand und nahm die Frau in die Arme. Später konnte Val nicht sagen, was sie dazu antrieb. Doch in diesem Moment erschien es ihr die einzig richtige Reaktion. Wie ein verängstigtes Kind nahm die an Lebens- und Berufserfahrung reifere Ida ihre Geste an und ließ sich von ihr halten.
»Sie ist es«, flüsterte sie Val dabei ins Ohr. »Ich weiß nicht wie, dennoch ist sie es.«
»Leute«, drang in diesem Augenblick Mireias Stimme durch das Bordcom. »Ob ihr es glaubt oder nicht: Die KI hat alles, was ihr da gerade quatscht, im ganzen Schiff übertragen. Und soeben zeigen die Sensoren, dass sich die Schleuse, die Kaiya so gerne anbrüllt, geöffnet hat.«
Val wusste, wovon die Technikerin sprach. Die einzige unbeschriftete Tür, die sie bisher auf der Alireza gefunden hatten. Am Deck unter der Brücke, genau in der Mitte des Schiffes. Dahinter musste ein Raum liegen, der sich zwischen den beiden massiven mittleren Frontauslegern befand. Ein Bereich, der, soweit sie die Pläne der Alireza bisher einsehen konnten, somit von den beiden Hauptwaffenträgern flankiert wurde. Seit sie ihn entdeckt hatten, vermuteten sie dahinter etwas Wichtiges. Was Kaiyas Frustration darüber, gegen die bullige Panzerschleuse nicht anzukommen, ins Unermessliche verstärkte.
»Du machst Scherze?«, fragte die Erste Offizierin.
Die KI kam Mireia zuvor: »Ihre Kollegin spricht die Wahrheit. Ich habe Ihnen den Weg zu mir freigegeben. Und ich erlaube mir anzumerken, dass ich ein Eintreten ausschließlich akzeptieren werde, sofern meine Mutter Sie begleitet.«
Irritiert registrierte Val, wie nahtlos die KI zwischen der sanften Sprechweise mit Ida und der sachlich kalten mit ihnen umschaltete. Es weckte den Eindruck, dass sich zwei Personen hinter der Stimme verbargen.
Ida richtete sich mit sichtlich neu gewonnener Kraft wieder auf und schob Val sanft, jedoch bestimmt von sich. »Ich will dorthin. Sofort!« Ihre Tonlage erlaubte keinen Widerspruch.
»Ich bin unverändert dagegen«, warf Helen ein und blickte Ida in einer Weise an, die sie sonst für renitente Patienten nutzte. »Da ich deine Sturheit allerdings gut genug kenne, weiß ich, dass es zu nichts führt, dir zu widersprechen.«
»Danke«, sagte Ida, die außerordentlich erleichtert aussah.
Wie auf Kommando senkte sich der Transportarm für ihr Bett von der Decke herab.
»Ich bringe dich zu mir«, drang die nun wieder kindlich sanfte Mädchenstimme aus den Akustikfeldern. »Deine Begleiter dürfen dabei sein. Wenn du es willst.«
»Ja«, antwortete Ida. »Auf jeden Fall.«
Einer Prozession gleich, folgten sie wenig später der Liege, die vom Robotarm getragen durch das Schiff glitt. Direkt hinter dem Bett ging Val und neben ihr Kaiya, die ihr zuflüsterte: »Irgendwas stinkt hier gewaltig.«
»Ich weiß«, stimmte Val zu, darauf bedacht, dass Ida sie nicht hören konnte. »Doch was bleibt uns anderes übrig?«
Hinter ihnen ging Helen, vertieft in ihr mobiles Terminal, auf dem sie ständig Idas Gesundheitsparameter überwachte. Für Val stand außer Frage, dass die Ärztin bei der kleinsten beunruhigenden Meldung einschreiten würde. Wobei die Frage blieb, was sie gegen die KI ausrichten wollte. Denn seit sie sich an Bord befanden, machte das Bordsystem unmissverständlich klar, dass sie Gäste waren. Sie durften tun, was ihnen der Rechner erlaubte. Bisher waren sie nicht an ihre Grenzen gestoßen, doch Val bezweifelte nicht, dass die KI sich zu verteidigen wusste. Im Ernstfall vermutlich sogar mit tödlichen Mitteln. Immerhin befanden sie sich auf militärischem Besitz. Unsicher, ob sie das Schiff oder das Schiff sie entführt hatte.
Vor der Brücke bog die Liege in einen Seitengang ab und Val winkte ihrer verbliebenen Crew, ihr zu folgen. Für den Betrieb machte es keinen Unterschied, ob sie an den Stationen saßen oder diese zurückließen. Alles, was über die Informationssuche hinausging und mit wirklichen Funktionen wie der Steuerung oder Ortung zusammenhing, blieb für sie ohnehin gesperrt. Darüber hinaus bezweifelte Val, dass die vier ruhig auf ihren Hintern sitzen würden, während sie sich auf den Weg zum unbekannten Raum machten.
Ein Frachtenaufzug am äußeren Ende der Alireza brachte sie ein Deck tiefer. Dort trafen sie auf den Gang, in dessen Mitte die nun zum ersten Mal geöffnete Schleuse lag. Mattes Licht fiel durch die offene Tür.
Der Robotarm bugsierte das Bett in den dahinterliegenden Bereich und Val beeilte sich, zu folgen. Vor ihr lag ein rechtwinkeliger Raum, dessen Wände unzählige Server bedeckten. Hunderte aneinandergereihte Rechnermodule, deren grüne Statuslämpchen den sonst dunklen Bereich kaum erhellten. An der rechten Seite wurde die Serverreihe von einer Vertiefung durchbrochen. Mangels ausreichendem Licht konnte Val keine Details erkennen, doch sie vermutete dahinter den Zugang in den angrenzenden Bereich. Das massige Podest in der Mitte trug einen Stuhl, der mit der leeren Sitzfläche zum Eingang zeigte. Er wirkte geradezu riesig, und selbst im schummrigen Licht von zwei in den breiten Armlehnen eingelassenen Holodisplays konnte Val erkennen, dass die Sitzfläche weitaus mehr Polsterung auffuhr als die bereits bequemen Stühle auf der Brücke. Wenn sie sich nicht täuschte, konnte die Konstruktion völlig flachgelegt werden und sogar die Funktion eines Bettes übernehmen.
Wer brauchte so etwas inmitten eines komplexen Rechnerverbundes?
All dies erfasste Val in den ersten Sekunden, bevor sie die Quelle des fahlen Lichtes identifizierte. Es kam von draußen. Am Ende des Raumes erfasste sie eine kreisrunde Öffnung, über der sich eine transparente, menschenhohe Kuppel in die Kälte des Weltalls hinauswölbte. Dahinter erblickte Val wie erwartet die über ein Drittel der Alireza-Kernzelle hinausragenden Waffenträger. Und dahinter das Weltall und die weit entfernte leuchtende Scheibe der Sonne Nu2_Lupi, in deren System sie sich befanden. Ihr Licht erhellte den Raum mit mattem Schein.
Endlich fand Val, wonach sie die ganze Zeit gesucht hatte. Am Rand der Aussichtskuppel, die aus transparentem Plaststahl bestehen musste, erkannte sie die Umrisse einer Gestalt. Zierlich, mit elfengleichen Gliedmaßen. Das Licht reichte kaum, um Details zu erkennen. Endlich trat die Person einen Schritt vor, direkt in die Strahlen der Sonne, und Val erkannte ein Mädchen. Sie konnte maximal sechzehn oder siebzehn Jahre alt sein. Ihr schmales Gesicht war dominiert von wachen Augen und freundlich lächelnden Lippen. Sie schien ehrlich erfreut, sie alle zu sehen. Dem Nacken des Mädchens entsprang ein breiter Kabelstrang, der über ihren Rücken hinabfiel und sich am Boden entlang schlängelte, bis er in der Dunkelheit des Raumes verschwand.
In diesem Moment keuchte Ida laut auf.
Die Lippen des Mädchens bewegten sich und es dauerte, bis Val die Worte in der Stimme der KI verstand: »Hallo, Mum! Herzlich willkommen, Captain Korzsha, Commander Vila und Doktor Laurent. Ich bin Ihnen allen für die Rettung meiner Mutter zu Dank verpflichtet. Kommen Sie herein. Es ist an der Zeit, dass Sie erfahren, warum Sie hier sind.«
Sie durchmaß den Raum mit festen Schritten, bis sie an die Seite des Bettes trat. Sie wirkte dabei wie ein Engel, der sich zu Ida vorbeugte und ihr einen sanften Kuss auf die Wange drückte. »Ich denke, ich sollte Ihnen die ganze Geschichte erzählen. Ist das in Ordnung, wenn du dich bis zum Ende gedulden musst, damit du erfährst, warum ich hier bin?«
Wortlos nickte Ida, die wieder weinte. Doch dieses Mal schienen es Tränen der Freude zu sein.
»Was können wir tun?«, fragte Sylvie laut in die Stille ihres Zimmers. Sie stand vor der riesigen Glaskuppel, die sich am vorderen Ende ihres Domizils befand. Das Gebilde mit genau dreihundertzweiundzwanzig Zentimetern Durchmesser erlaubte ihr im Flug den freien Ausblick auf die Wunder des Universums. Nicht, dass es dort viel zu sehen gab. Die fantastischen Bilder von vielfärbigen Wolken, Sternenclustern und unzähligen weiteren atemberaubenden Szenen, die in den Schulen gezeigt wurden, bekam man hier draußen nicht zu sehen. Meist präsentierte sich ihr langweilige Schwärze, hie und da von nicht minder langweiligen Asteroiden, Monden oder Planeten durchbrochen. Was dies anging, verliefen ihre bisherigen Reisen weitaus unspektakulärer denn erwartet. Manchmal fragte sie sich, ob es sich bei der Glaskuppel um einen bösartigen Scherz der Konstrukteure handelte. Oder ob diese den Raum für ganz andere Zwecke vorgesehen hatten. Vielleicht sollte er der Observationskuppel für Außeneinsätze Platz bieten? Ihr aktueller Ausblick verhielt sich keineswegs interessanter. Am Ende der weit ausragenden Bugausläufer der Alireza, die sich links und rechts der Kuppel wie gewaltige Arme vorwärts reckten, präsentierte sich ihr die Trübsal erweckende Langweiligkeit der Hangarinnenwände.
Graue Wände.
Graue Böden.
Graue Decken.
Ein wenig erinnerte es sie an die Zimmer auf Skryvat. Wobei dort alles in cremefarbenem Weiß geleuchtet hatte. Da stellte dieses uniforme Grau nicht gerade eine Verbesserung dar. Doch das war es nicht, was ihr Sorgen bereitete.
Sylvies Worte verhallten ungehört und trotzdem erhielt sie Antwort.
»Du kennst die Antwort bereits. Wenn es dir allerdings hilft, sage ich es gerne laut: Nichts.«
Sie hörte die Antwort nicht und vernahm sie trotzdem deutlich. Es hatte lange gedauert, sich an diese Art der Kommunikation zu gewöhnen. Dafür fiel es ihr inzwischen schwer, normale Gespräche mit Menschen zu führen. Die Verzögerung, die es verlangte, Sätze auszusprechen und sich die Reaktion anzuhören, zehrte an ihren Nerven. Der einzige Grund, warum sie daran festhielt, immer wieder von ihre Seite aus Gespräche mit Rez laut zu führen, lag darin, die verbale Kommunikation nicht völlig zu verlernen.
Der nonverbale Austausch mit Rez ging ihr inzwischen leicht von der Hand. Ganz im Gegensatz zu den Anfangstagen. Heute, beinahe einhundert Jahre später, war er ihr in Fleisch und Blut übergegangen. Rez zeigte in derselben Zeit ebenfalls Entwicklungen. Zu Beginn waren von dem Quantenrechner ausschließlich knappe, sachliche Antworten gekommen. Meist einzelne Worte, denen sie selbst den Sinn entreißen musste, bis schleichende Veränderungen eintraten. Je weiter sie miteinander zu einer Einheit verschmolzen, umso menschlicher wurde Rez´ Art, sich auszudrücken. Zumindest im Austausch mit ihr. Im Gegenzug dazu schien der Quantenverbund in der Kommunikation mit den Technikern und Wissenschaftlern auf Skryvat sogar noch kryptischer zu werden. Wie um einen Verteidigungswall aufzubauen und klarzustellen, dass der Verbund aus Sylvie und ihm sich ihnen nicht offenbaren würde.
Sylvie schnaubte und sprach laut weiter. Selbst wenn dies bedeutete, Zeit zu verlieren. Im Augenblick tat es ihr gut, ihre eigene Stimme in der sonstigen Stille zu vernehmen: »Ja. Ich bin mir dessen bewusst. Dennoch will ich es nicht wahrhaben. All unsere Möglichkeiten, und wir sind trotzdem dazu verdammt zuzusehen, wie sie in ihr Verderben laufen? Immerhin sind wir der Auslöser all dessen.«
»Du solltest davon Abstand nehmen, die Schuld bei dir - uns - zu suchen. Die Besatzung der Helicon hat eigenständig entschieden, sich in zwei Lager zu spalten. Mit siebenundneunzigprozentiger Wahrscheinlichkeit sind unsere Anwesenheit und Testflüge ein zusätzlicher Beitrag zu dem bereits seit Langem schwelenden Konflikt. Wir prognostizierten dies von Anfang an. Menschen durch Befehle und Appelle an ihre Loyalität dazu zu zwingen, sich für beinahe vier Jahrzehnte von ihrem Umfeld zu trennen, muss unweigerlich in einer Katastrophe enden. Die Geschichte der Generationsschiffe beweist dies deutlich.«
»Trotzdem sind wir der Auslöser.«
»Einer von vielen. Die Simulationen kommen zu eindeutigen Ergebnissen. Im besten Fall beschleunigt unsere Anwesenheit den endgültigen Kollaps des sozialen Gefüges auf der Helicon. Muss ich dich daran erinnern, dass Ms. Darian unsere diesbezüglichen Warnungen ignoriert hat?«
»Nein. Natürlich nicht. Allerdings wussten wir beide im Vorfeld schon, dass sie so reagieren würde. Niemals hätten wir ohne die Sperren und Bewachung Skryvat verlassen dürfen.«
»Können wir die fruchtlose Diskussion mit dieser Feststellung beenden?«
Sylvie wandte sich vom trostlosen Anblick des leblosen Hangars ab und legte den Kopf in den Nacken. Eine Bewegung, die sie viel zu selten zu Ende führen konnte. Meist behinderte sie ihre Lebenslinie. Der beinahe handgelenksdicke Kabelstrang, der sie mit dem Quantenrechner verband. Sie konnte ohne ihn leben. Vorübergehend. Doch je älter sie wurde und je weiter ihre Krankheit fortschritt, umso umfangreichere Unterstützung benötigte ihr Nervensystem, um die Funktion aufrechterhalten zu können. Ihre letzte Wiedergeburt in ihrem aktuellen Klonkörper lag reale achtzehn Jahre zurück. Dank der Kryophase auf dem Weg zu Proxima Centauri war sie in dieser Zeit nur um wenige Monate gealtert. Das brachte den positiven Effekt mit sich, dass es die MLS einbremste. Einzig deswegen konnte sie es sich derzeit erlauben, Stunden - wenn sie wollte, sogar Tage - ohne die lästige Einschränkung des klobigen Kabelstranges auszukommen. Theoretisch konnte sie sich frei im Schiff bewegen.
Doch was gab es in der Alireza, das sie interessieren sollte? Ein leeres Schiff ohne Besatzung lud nicht unbedingt zur Erkundung ein. Vor allem, da sie es völlig verinnerlicht hatte.
Sie war das Schiff.
Sie war Sylvie, die für immer in ihrem sterbenden jugendlichen Körper gefangene Tochter von Ida Chadad.
Sie war Rez, der Quantenrechnerverbund, der dieses Schiff - ihren Lebensraum - kontrollierte und steuerte. Ohne sie konnte Rez genauso wenig überleben wie Sylvie ohne es.
Und sie war Alireza, das Schiff, das ohne die biologisch-künstliche Intelligenz, die sie und Rez darstellten, nicht einmal fähig wäre, den Hangar zu verlassen.