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Nina Ohlandt

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Beschreibung

Eiskalte Morde an der Küste - der neue John-Benthien-Krimi von Spiegel-Bestsellerautorin Nina Ohlandt

An einem bitterkalten Februarmorgen wird John Benthien zu einem einsamen Haus in der nordfriesischen Marsch gerufen. Der Kommissar traut seinen Augen nicht: Vor der Tür des Hauses steht eine Tote, von Kopf bis Fuß in Eis gehüllt. Die geschockten Hausbewohner identifizieren sie als ihre seit Wochen vermisste Tochter. Doch warum hat der Mörder ihre Leiche auf so groteske Weise inszeniert? Benthiens Ermittlungen verlaufen zunächst ergebnislos, bis zwei weitere "Eisleichen" auftauchen, die letzte auf Amrum. Nach und nach entschlüsselt der Kommissar das bizarre Rätsel - und entdeckt eine Verbindung zu seiner eigenen Vergangenheit ...

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Seitenzahl: 530

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Inhalt

Cover

Über das Buch

Über die Autorin

Titel

Impressum

Personenliste Polizei und Staatsanwaltschaft

Die Besucherin

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Der Müßiggänger

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Die Tänzerin

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Die lütte Deern

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Pinkelfaden

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Personenverzeichnis

Anmerkung der Autorin

Über das Buch

Eiskalte Morde an der Küste – der neue John-Benthien-Krimi von Spiegel-Bestsellerautorin Nina Ohlandt An einem bitterkalten Februarmorgen wird John Benthien zu einem einsamen Haus in der nordfriesischen Marsch gerufen. Der Kommissar traut seinen Augen nicht: Vor der Tür des Hauses steht eine Tote, von Kopf bis Fuß in Eis gehüllt. Die geschockten Hausbewohner identifizieren sie als ihre seit Wochen vermisste Tochter. Später erfährt Benthien, dass die Frau ermordet wurde. Doch warum hat der Mörder ihre Leiche auf so groteske Weise inszeniert? Benthiens Ermittlungen verlaufen zunächst ergebnislos, bis zwei weitere »Eisleichen« auftauchen, die letzte auf Amrum. Nach und nach entschlüsselt der Kommissar das bizarre Rätsel – und entdeckt eine Verbindung zu seiner eigenen Vergangenheit …

Über die Autorin

Nina Ohlandt wurde in Wuppertal geboren, wuchs in Karlsruhe auf und machte in Paris eine Ausbildung zur Sprachlehrerin, daneben schrieb sie ihr erstes Kinderbuch. Später war sie als Übersetzerin, Sprachlehrerin und Marktforscherin tätig, bis sie zu ihrer wahren Berufung zurückfand: dem Krimischreiben im Land zwischen den Meeren, dem Land ihrer Vorfahren. Derzeit arbeitet sie am sechsten Krimi um den Flensburger Hauptkommissar John Benthien.

Nina Ohlandt

Eisige Flut

Nordsee-Krimi

John Benthiens fünfter Fall

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabedes in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Copyright © 2018 by Bastei Lübbe AG, KölnTitelillustration: © shutterstock/Jenny Sturm; shutterstock/Jeramey Lende; shutterstock/Jenny SturmUmschlaggestaltung: Christin Wilhelm, www.grafic4u.deE-Book-Produktion: two-up, Düsseldorf

ISBN 978-3-7325-4924-5

www.bastei-entertainment.dewww.lesejury.de

Personenliste Polizei und Staatsanwaltschaft

Personenliste Kripo Flensburg

John Benthien, Erster Hauptkommissar

Tommy Fitzen, Oberkommissar, alter Jugendfreund von Benthien

Lilly Velasco, Oberkommissarin

Juri Rabanus, Hauptkommissar, alleinerziehender Vater von Amélie

Lester Smythe-Fluege, Hauptkommissar, der »Neue« aus Hannover

Leon Kessler, frischgebackener Kommissar

Mikke Jessen, Kommissaranwärter

Annika Gerisch, Kommissaranwärterin

Ferner: Esther Talley, Mitarbeiterin im Innendienst

Personenliste Kriminaltechnik

Claudia Matthis, Leiterin der Kriminaltechnik

Stefano Rossi, geht mit Benthien und Fitzen manchmal ein Bierchen trinken

Staatsanwälte

Dr. Thyra Kortum, sie war eine Freundin von Benthiens Mutter

Weitere Personen siehe Anhang

Die Besucherin

Kapitel 1

Sie stand vor dem einsamen Haus, unbeweglich, die Hand an der Klingel. Aus ihrer eisigen Hülle schaute sie blicklos ins Weite, über die leere, dunkle Schneeebene. Sie konnte nicht mehr denken, sie konnte nichts mehr wahrnehmen. Jemand hatte sie, die Besucherin, vor ihrem Elternhaus abgestellt wie eine Puppe, wie ein Exponat im Museum. Gleich würde ihre Mutter kommen und die Zeitung hereinholen.

Elke Derling konnte nicht schlafen in jener Nacht, seit Stunden wälzte sie sich im Bett herum. Obwohl die Heizung im Schlafzimmer lief und das Fenster geschlossen war, fror sie erbärmlich. Irgendwann gegen vier Uhr stand sie leise auf, um Hans nicht zu wecken, und zog sich bibbernd eine Thermostrumpfhose unter ihren Flanellschlafanzug. Obenherum versuchte sie, sich mit einem Rollkragenpullover zu wärmen, und ihre eiskalten Hände steckte sie in ihre wärmsten Handschuhe.

Ein Blick aufs Thermometer verriet ihr, dass es draußen Minus 27 Grad waren – einer der eisigsten Winter, da war sich Elke sicher, seit dem Katastrophenwinter 1978/1979, in dem in Schleswig-Holstein bei Temperaturen bis zu minus 50 Grad unvorstellbare Schneestürme gewütet hatten. Siebzehn Menschen verloren damals ihr Leben.

Auch jetzt lag der Schnee meterhoch, und der eisige Wind fegte heulend wie eine gemarterte Seele ums Haus. Die Küste war nicht weit entfernt. Direkte Nachbarn hatten sie hier nicht, und so war das kleine Backsteinhaus, das allein in der weiten Landschaft stand, der Kälte und dem Sturm schutzlos ausgeliefert.

Elke holte noch zwei Wolldecken aus dem Schrank; mit der einen deckte sie Hans zu, der am Abend mit einer Wollmütze ins Bett gegangen war, die andere legte sie auf ihre Daunendecke. Sie kroch wieder ins Bett in der Hoffnung, doch noch ein bisschen warm zu werden. Sie beneidete Hans, der, egal in welcher Lebenslage, selig schlief, sobald sein Kopf ein Kissen berührte. Oft schon hatte sie gedacht, dass Sorgen und katastrophale Ereignisse ihn einfach nicht so tief berührten wie sie – doch inzwischen hatte sie ihre Meinung geändert. Schlaf war für Hans ein Allheilmittel, das ihm zu einer gewissen Ausgeglichenheit verhalf, zu einer seelischen Stärke, um die sie ihn nur beneiden konnte. Dennoch hatte sie ihn manchmal weinen sehen, vor allem in letzter Zeit, seit dem Verschwinden ihrer Tochter Anja, und das, obwohl er stets bemüht war, sich nichts anmerken zu lassen, ihr immer eine starke Schulter zu bieten. Manchmal hatte sich Elke für ihre Schwäche geschämt.

Auch jetzt musste sie wieder an Anja denken, ihre verschwundene Tochter. Seit vier Wochen, seit der zweiten Januarwoche, gab es kein Lebenszeichen mehr von ihr. Das Schlimme war, dass sie zuerst gar nichts von Anjas Verschwinden mitbekommen hatten, denn sie waren nach langer Zeit noch mal verreist, für zehn Tage nach Mallorca. Elke hatte sich zwar gewundert, dass Anja sich nicht meldete und auch telefonisch nicht erreichbar war. Doch erst, nachdem sie zurückgekehrt waren und sie Anjas leeres Haus und die verdorbenen Lebensmittel im Kühlschrank entdeckt hatten, hatten sie ihre Tochter als vermisst gemeldet. Allerdings ohne Erfolg.

»Wie alt ist Ihre Tochter? Zweiundfünfzig Jahre? Hat sie irgendein Gebrechen? Depressionen? Psychische Störungen? Ist sie schon häufiger verschwunden? Könnte sie selbstmordgefährdet sein? Hat sie Familie, Kinder? Nein? Dann, Frau Derling, können wir Ihnen leider nicht helfen«, hatte der ältere, väterlich wirkende Polizist gesagt und sie mitleidig angeguckt. Danach hatte er sie darüber belehrt, dass es nicht Aufgabe der Polizei war, eine Aufenthaltsermittlung durchzuführen, wenn keine Gefahr für Leib und Leben bestand, da Personen im Vollbesitz ihrer geistigen und körperlichen Kräfte das Recht hatten, ihren Aufenthaltsort frei zu bestimmen.

Der Hinweis, dass ihre Tochter ein sehr zuverlässiger Mensch war, dass sie niemals ihre Arbeit als Sekretärin in der Spedition im Stich lassen würde, ohne sich zu entschuldigen, und noch viel weniger ihr geliebtes Pferd, das sie sich erst kürzlich angeschafft hatte, hatten lange Zeit kein Gehör gefunden. Immerhin hatte man Anjas kleines Häuschen nach Spuren eines Unfalls oder einer Gewalttat durchsucht, aber nichts gefunden. Was Elke und Hans zusätzlich beunruhigte, war, dass keine Kleidung fehlte. Es gab auch keinen Brief oder einen anderen Hinweis, wo Anja hingegangen sein könnte.

Seit einigen Tagen nun ermittelte die Polizei von Niebüll tatsächlich. Inzwischen wusste man, dass seit vier Wochen kein Geld mehr vom Konto abgehoben worden war, auch Anjas Kreditkarten waren nicht belastet worden. Es gab buchstäblich kein Lebenszeichen von ihr; auch nicht im Internet, denn Anja war, was das anbelangte, ziemlich altmodisch gewesen: Sie kaufte weder online ein, noch kommunizierte sie in irgendwelchen Netzwerken. Ihr Pferd, das sie üblicherweise bis zu fünfmal pro Woche besuchte, hatte sie bei einem Bauern untergestellt, doch auch der hatte von Anja seit Wochen nichts mehr gesehen oder gehört. Genauso wenig wie ihre Freunde.

Elke fror noch immer im Bett, vielleicht auch deshalb, weil ihre Gedanken, wie so oft, um ihre Tochter kreisten und keinen Augenblick zur Ruhe kamen. War sie entführt worden? Hatte sie es warm, dort, wo sie war, bekam sie zu essen? Unter Tränen schlief Elke schließlich ein, allerdings nicht für lange. Gegen sechs Uhr stand sie auf und ging in die Küche, um Kaffee zu kochen. Weil sie auch nach dem Anziehen noch immer fror, machte sie sich eine Hühnersuppe aus der Dose. Mit einem heißen Pott Kaffee, an dem sie sich die Hände wärmte, und dem dampfenden Teller Suppe, auf die sie plötzlich gar keinen Appetit mehr hatte, saß sie am Tisch und starrte aus dem Fenster in die schwach schimmernde Schneelandschaft, so gut sie durch die zahlreichen Eisblumen überhaupt etwas sehen konnte.

Irgendwann stand sie auf, um für Hans die Zeitung reinzuholen. Sie selbst interessierte sich nicht mehr für lokale oder internationale Neuigkeiten, seit Anja verschollen war, aber für Hans war die Zeitung wichtig. Ohne sie hätte er mit sich selbst nichts anfangen können.

Sie schlüpfte in ihren dicken Wintermantel und setzte gegen den eisigen Wind ihre fellgefütterte Kosakenmütze auf den Kopf. Vor Jahren, als die Umwelt für Elke noch eine Rolle spielte, las sie von einer Frau, die an einem Wintermorgen, nur mit Schlafanzug, Pantoffeln und Morgenrock bekleidet – war ja nur ein kurzer Weg –, die Zeitung aus dem Briefkasten am Gartenzaun holen wollte. Sie rutschte auf dem vereisten Boden aus und erfror innerhalb kürzester Zeit, weil niemand sie zu dieser frühen Stunde gesehen hatte.

Eigentlich, dachte Elke, während sie sich ihre Gummistiefel anzog, könnte es ihr ja egal sein. Aber diese Gedanken waren unrecht. Sie durfte Anja nicht aufgeben, und auch Hans brauchte sie; sie konnte ihn nicht allein lassen in dieser gnadenlosen Welt.

Sie streifte vorsichtshalber noch ein paar Spikes über die Schuhe, holte den Eimer mit dem Granulat, schaltete das Außenlicht an. Dann öffnete sie die Tür.

Und prallte entsetzt zurück.

In dieser einsamen Gegend war sie nicht allein. Draußen auf dem Treppenabsatz, dicht vor ihr, stand Anja.

Elke blinzelte, ihr Blick saugte sich an ihrer Tochter fest; sie konnte nicht fassen, was sie sah.

Ihr wurde heiß; in ihren Ohren rauschte es, ihr Kopf schien zu bersten. Sie wollte schreien, doch sie brachte nur ein heiseres Wimmern hervor, ehe ihr schwarz vor Augen wurde und sie zusammenbrach.

In dem winzigen Ort Süderlügum, mitten in der nordfriesischen Marsch nahe der dänischen Grenze, war an diesem frühen Samstagmorgen der Teufel los. Zwei Streifenwagen standen mit blinkendem Blaulicht vor dem kleinen Backsteinhaus, zwei Notarztwagen fuhren gerade ab, um das ältere Ehepaar nach Niebüll ins Klinikum Nordfriesland zu bringen. Die Frau hatte einen schweren Schock erlitten, der Ehemann aller Wahrscheinlichkeit nach einen Herzinfarkt, als er begriffen hatte, wer da vor seiner Tür stand.

Auch der Polizeifotograf, die beiden Kriminaltechniker und der Rechtsmediziner, die genau in dieser Reihenfolge aus Flensburg und Kiel eingetroffen waren, wollten ihren Augen nicht trauen. Und Claudia Matthis, die Leiterin der Spurensicherung, konnte sich nicht erinnern, so etwas jemals gesehen zu haben.

»Wir sollten unbedingt auf die Kripo warten, ehe wir anfangen«, sagte Stefano Rossi, ihr junger Kollege mit italienischen Wurzeln, und trat wegen der Kälte von einem Fuß auf den anderen. »Ich glaube, Benthien wird uns den Kopf abreißen, wenn er nicht mehr den Originalschauplatz vorfindet.« Er war gerade dabei, die forensischen Tatortleuchten aufzustellen – UV-Lampen sowie diverse Handlampen.

»Es kann auch nicht schaden, abzuwarten, bis es heller geworden ist«, ergänzte Bruno, der langbärtige Fotograf, und blies seinen warmen Atem in die Hände.

»Okay, wir warten auf die Kripo. Aber im Haus, da ist es wenigstens warm«, stimmte Claudia Matthis, eine taffe Vierzigerin, zu, nachdem alles ausgepackt worden war. Um keine etwaigen Spuren zu verwischen, hatten sie Decken abseits des Zugangsweges auf den Schnee gelegt, auf denen sie sich nun zum Haus bewegten.

Wenig später saßen sie in der Küche um den Tisch beisammen – Claudia und Stefano von der Spurensicherung, Bruno, der Fotograf, und Dr. Radtke, der Gerichtsmediziner – und tranken den Kaffee, den Elke Derling vor einer Stunde zubereitet hatte. Stefano, der eigentlich immer essen konnte, freute sich über die lauwarme Hühnersuppe, zumal er noch nicht gefrühstückt hatte.

»Schade«, sagte er kauend, »dass die Derlings im Krankenhaus sind. Wir hätten ein paar Auskünfte gut gebrauchen können.«

»Die Polizei in Niebüll hat eine Vermisstenmeldung aufgenommen«, erklärte Claudia. »Soweit ich weiß, haben sie erst in der letzten Woche angefangen, die Sache ernst zu nehmen. Sie wollen uns die Akte mailen.«

Dr. Radtke, der bärbeißige Rechtsmediziner, sagte gar nichts. Er erntete Proteste, als er seine Zigaretten hervorzog, doch am Ende saßen alle vier rauchend um den Tisch – in dieser Küche wurde ohnehin geraucht, wie ein voller Aschenbecher verriet – und gaben sich der Illusion hin, ein wenig Zigarettenrauch könnte für eine gemütlichere Atmosphäre in dieser klammen Küche sorgen, während um die Hausecken der eisige Nordwind heulte.

Endlich vernahmen sie Motorenlärm, Reifen auf einer knirschenden Schneedecke, zuschlagende Autotüren. »Die Herren von der Kripo sind im Anmarsch«, sagte Stefano zufrieden. »Wir können loslegen.«

John Benthien, Erster Hauptkommissar bei der Flensburger Kripo, und sein Freund und Kollege, Oberkommissar Tommy Fitzen, standen mit offenen Mündern vor dem Treppenaufgang der Derlings. Oben, auf dem überdachten Treppenabsatz, versperrte ihnen jemand den Weg zur Haustür. Eine Figur aus Eis stand dort und hatte den Arm zur Klingel erhoben. Ein gefrorener Mensch, nein, ein gewesener Mensch, jetzt eine Leiche, eingeschlossen in Eis. Sie war unter der dünnen, klaren Eisschicht recht gut zu erkennen, zumal, wenn wie jetzt, das Licht der Haustürlampe darauf fiel. Es war eindeutig Anja Derling, der man den Anschein gegeben hatte, sie wolle nach Hause kommen. Aber sie war tot, sorgfältig arrangiert von ihrem Mörder, seltsam lebendig aussehend unter der Eisschicht, die sie umgab wie ein eiskalter, aber schützender Kokon. Nur, dass dort nie ein Schmetterling schlüpfen würde, nicht jetzt und auch nicht im Frühling …

Ja, schoss es Benthien durch den Kopf, Anja Derling war zurück, war zu Besuch bei ihren Eltern. Welch krankes Hirn dachte sich nur so etwas aus?

»Das muss man sich mal vorstellen«, sagte Benthien nun laut, »die Mutter öffnet die Tür und steht ihrer toten Tochter gegenüber, die sie durch eine Eisschicht ansieht. Kein Wunder, dass die Derlings jetzt in ärztlicher Obhut sind.«

Fitzen, sonst durchaus redegewandt, hatte es offenbar die Sprache verschlagen. Er schüttelte nur ungläubig den Kopf.

Dann nahm die übliche Routine ihren Lauf.

Bruno machte mit der digitalen Spiegelreflexkamera Fotos des sorgsam ausgeleuchteten Tatortes. Da die Leiche im gefrorenen Zustand nicht untersucht werden konnte, wurde sie sehr schnell abtransportiert in die Gerichtsmedizin. Fitzen, der es nicht lassen konnte und dem brummigen Gerichtsmediziner trotz allem ein paar Auskünfte entlocken wollte, bekam das, was jeder, einschließlich ihm selbst, erwartet hatte: keine Antwort, dafür aber einen zornigen Blick.

»Sie glauben doch nicht im Ernst, dass ich mir vom bloßen Hinsehen eine Meinung bilden kann, noch dazu durch eine Eisschicht hindurch?«, blaffte der Arzt, intern auch bekannt als Dr. No. »Immerhin, eins kann ich Ihnen sagen …« Er zog an seinem Zigarillo und paffte ein paar Rauchringe in die Luft.

»Ja, was?«, fragte Fitzen eifrig.

»Die Frau ist tot. Kalt und mausetot!« Er grinste und winkte ihnen zu. »Arrivederci.«

»Seine italienische Aussprache ist grauenhaft«, bemerkte Stefano, nachdem der Wagen des Arztes hinter einer hohen Schneewehe verschwunden war.

Dann machte er sich ans Werk. Zusammen mit seiner Chefin Claudia Matthis untersuchte er den Treppenabsatz, die fünf Treppenstufen, die Zufahrt zum Haus, schnaufend, aufstapfend, sich die Hände reibend, denn draußen war es immer noch weit unter null Grad, während Benthien und Fitzen sich in der Küche an dem jetzt nicht mehr so warmen Kaffee labten. Benthien telefonierte mit dem Krankenhaus, in das man die Derlings gebracht hatte, und erfuhr, dass Frau Derling unbedingt mit der Polizei reden wollte.

»Dann mal nichts wie hin!«, sagte Fitzen, stülpte sich seine Mütze über die verwuschelten Haare, die bis über den Kragen reichten, und war abmarschbereit, gerade, als Stefano und Claudia ins Haus kamen.

»Sieht schlecht aus«, berichtete Claudia. »Der Neuschnee, die Feuchtigkeit und die Kälte haben alle etwaigen Spuren zerstört. Reifenspuren oder Fußspuren sind auch nicht zu erkennen. Der Täter kann sich wirklich beim Wettergott bedanken. «

»Was ist mit Blut, Speichel, Schweiß? Hautschuppen oder Haaren?«, beharrte Benthien, der die Hoffnung noch nicht ganz aufgegeben hatte. »Könnt ihr wenigstens sagen, ob es ein, zwei oder mehrere Leute waren, die die Leiche hier abgeladen haben?«

Stefano schüttelte den Kopf. »Keine Chance, Amigo. Selbst mit dem Polilight haben wir nichts gefunden. Durch Polilight können verschiedene Arten von Beweisstücken zum Fluoreszieren gebracht und dadurch erkennbar gemacht werden, aber durch den andauernden Schneefall sind sie entweder zerstört worden – oder es hat nie welche gegeben.«

»Wir werden die Leiche natürlich auch im Leichenschauhaus untersuchen, wenn sie aufgetaut ist. Ihre Kleidung ist ja zum Glück noch da«, warf Claudia ein. »Vielleicht finden wir dann etwas. Fürs Erste kann ich nur sagen, dass der oder die Täter die Leiche hier vor Ort mit Wasser übergossen haben. Bei den krassen Temperaturen in der letzten Nacht hat sich sehr schnell eine Eisschicht gebildet. Aber vorher muss die Leiche irgendwo eingefroren gewesen sein, und zwar genau in dieser Stellung.«

»Was meinst du mit ›in dieser Stellung‹?«, wollte Fitzen wissen.

»Der oder die Täter haben ihre Beine so ausgerichtet, dass sie, mithilfe des Exponatständers, den sie in sie hineingebohrt haben, stehen konnte, dann wurden der rechte Arm und der Zeigefinger so positioniert, dass es aussieht, als wollte sie auf den Klingelknopf drücken.«

»Mein Gott, wie krank ist das denn?«, entfuhr es Fitzen nicht zum ersten Mal.

»Er hatte also einen Plan, ein Szenario«, sagte Benthien und strich sich durch die dichten braunen Haare, sodass sie in alle Richtungen standen, wie er es oft zu tun pflegte, wenn er nachdachte oder angespannt war.

»Die Rückschlüsse müsst ihr ziehen«, bemerkte Claudia, »das ist euer Job. Wir fahren jetzt zurück, im Haus müssen wir ja nichts weiter untersuchen. Bis später!«

Kurz darauf saßen auch Benthien und Fitzen im Auto auf dem Weg nach Niebüll, ins Klinikum Nordfriesland, um mit der bedauernswerten Mutter über ihre Tochter zu sprechen.

Kapitel 2

»Was ist eigentlich ein Exponatständer?«, fragte Fitzen eine gute Stunde später, nachdem sie die Klinik in Niebüll verlassen hatten. »Ist es das, was ich denke? So ein Ständer für Museumsstücke?«

Benthien saß am Steuer und lenkte den Wagen vorsichtig über die schnell vereisende Straße in Richtung Langenhorn, einem kleinen Ort zwischen Niebüll und Husum, wo Anja Derling ein Häuschen gemietet hatte.

»Genau, darauf fixiert man Exponate, zum Beispiel in Museen und Ausstellungen«, erklärte Benthien. »So wie es hier am Tatort beziehungsweise Fundort aussah, hat der Täter einen stockähnlichen Ständer mit einem schweren Fuß benutzt, vielleicht aus Beton. Oben muss er zugespitzt gewesen sein.«

»Und er hat ihn der Frau offensichtlich in den Leib gerammt, um sie zu stabilisieren, wie widerlich ist das denn?«, sagte Fitzen, während er in ein Krabbenbrötchen biss. Manchmal wünschte sich Benthien, Fitzens Nervenkostüm zu haben. Obwohl man nicht sagen konnte, dass Tommy Fitzen unsensibel war. Er konnte nur wunderbar eine Grenze ziehen zwischen seiner Arbeit im Polizeidienst und seinem Privatleben. Benthien gelang das nicht immer so einfach. Oft träumte er nachts von den Tatorten, besonders den grausamen, blutigen. Nach dem Anschlag auf das World Trade Center hatte er nächtelang von den Verzweifelten geträumt, die sich aus den Fenstern gestürzt hatten und im Traum immer vor seinen Füßen gelandet waren. Er sollte versuchen, in dieser Hinsicht von seinem Freund zu lernen.

»Ich frage mich«, sagte Fitzen in seine Gedanken hinein, »ob das der erste Mord unseres Täters war. Wenn ja, hat er das ziemlich perfekt gemacht, wie nach einem Drehbuch. Ich frage mich außerdem, ob wir hier den Anfang einer Mordserie erleben …« – Benthien stöhnte leise auf – »oder ob es ein Täter aus dem nahen Umfeld des Opfers ist, der es genau auf Anja Derling und niemand anderen abgesehen hat. Was glaubst du?«

»Das kann ich doch jetzt noch nicht sagen, Tommy. Lass uns erst mal Derlings Haus durchsuchen, ihr Handy, ihren Computer, die Nachbarn befragen, dann wissen wir mehr. Nach dem, was ihre Mutter erzählt hat, kann ich mir allerdings kaum vorstellen, dass sie sich Feinde gemacht hat. Sie war zu unauffällig, um überhaupt irgendwo anzuecken.«

»Mütter wissen nicht immer alles von ihren Töchtern«, sagte Fitzen weise und sammelte ein paar Krabben ein, die von seinem Brötchen gefallen waren.

Benthien dachte darüber nach, was ihnen Frau Derling eben in der Klinik über ihre Tochter erzählt hatte.

Anja war ein schwieriges Kind gewesen, in der Schule nur mittelmäßig, für das Gymnasium hatte es nicht gereicht. Eigentlich hatte sie sich immer benachteiligt gefühlt, zumal ihre beiden älteren Brüder beruflich erfolgreicher waren. Der eine war ein renommierter Theaterschauspieler in Düsseldorf, der andere hatte Medizin studiert und lebte in den USA, wo er in der Zellforschung tätig war.

»Aber sie hat es trotzdem geschafft, einen guten Abschluss zu machen, ist auf eine Berufsfachschule gegangen und hat sich bis zur Sekretärin hochgearbeitet, oder, wie man heute sagt, zur Wirtschaftsassistentin«, hatte Frau Derling mit einem gewissen Stolz in der Stimme erzählt.

Doch auch dann war Anja nie so richtig zufrieden mit ihrem Leben gewesen. Zumal sie lange Zeit keinen Freund hatte. Bis sie sich, vor über zwanzig Jahren, in einen hübschen jungen Thailänder verliebte, der ihre Liebe zu erwidern schien, sie jedoch nicht heiratete. Stattdessen ging er zurück in seine Provinz, und Anja, die gerade so von ihrem Gehalt leben konnte, beschwatzte ihre Mutter, ihr Geld zu leihen – was diese auch tat –, um ihrem Kim nach Thailand zu folgen. Dummerweise war der, als sie zwei Jahre später dort ankam, bereits verheiratet und Vater eines vier Monate alten Babys.

»Anja war am Boden zerstört«, hatte ihnen Frau Derling erzählt. »Sie liebte diesen Menschen nun mal und hat alles versucht, um ihn zurückzugewinnen. Eineinhalb Jahre ist sie in Thailand geblieben. Als sie zurückkam, war sie schwanger von Kim. Es war ein Junge. Er wurde in Husum geboren, und sie hat ihn Carmelo genannt. Aber es war schwer für sie als alleinerziehende Mutter, zumal sie ja arbeiten musste. Die meiste Zeit habe ich den kleinen Carmelo betreut. Und Anja hing immer noch an ihrem Kim, obwohl er inzwischen schon dreifacher Vater war. Sie war so unglücklich, dass ich ihr noch einmal ein halbes Jahr Thailand finanziert habe. Mein Mann, Hans, war ja dagegen. Aber Anja konnte sehr hartnäckig sein, wenn sie etwas wollte. Und vor allem wollte sie, dass Kim seinen Sohn kennenlernt. Wer weiß, vielleicht hat sie darauf gehofft, dass Kim sich doch noch für sie entscheidet.« Sie hatte tief geseufzt. »Sie können sich vielleicht vorstellen, wie enttäuscht ich war, als sie ohne Carmelo zurückkam. Kim und seine Frau, die inzwischen im Norden von Thailand lebten, wollten ihn adoptieren, und Anja schien das ganz recht zu sein. Ich war wirklich außer mir! Aber Anja meinte, dort hätte er ein besseres Leben, als sie ihm als arbeitende, alleinerziehende Mutter bieten konnte, er wäre dann ja doch den ganzen Tag in der Kindertagesstätte oder bei einer Nanny gewesen.«

»Hätten Sie ihn nicht betreuen können?«, hatte Fitzen gefragt, aber Frau Derling hatte erklärt, sie habe damals gerade ein besonders schlimmes Muskelrheuma gehabt, hätte Kortison bekommen und wäre nicht sehr belastbar gewesen.

»Was hältst du von Anja Derling?«, fragte Fitzen nun, während er sein zweites Brötchen auspackte. »Glaubst du, der Sohn käme infrage? Hass, Wut, Enttäuschung, weil sie ihn ja quasi weggegeben hat? Stattdessen hat sie sich dann ein Pferd angeschafft, was auch ziemlich betreuungsintensiv ist, aber nicht ganz so teuer und aufwändig wie ein Sohn.«

Benthien zuckte mit den Schultern. »Sie war doch gerade erst drei Monate in Thailand gewesen, letzten Herbst. Also kümmert sie sich um ihren Sohn. Warum sollte er ihr hinterherfliegen?«

»Vielleicht hatten sie Streit? Bangkok ist von Deutschland rund elf Flugstunden entfernt, also nicht gerade eine Weltreise. Ihr Sohn ist inzwischen achtzehn, und das Eis könnte symbolisch gemeint sein, seine eigene Mutter, die ihn im Stich gelassen hat, ein Mensch mit einem eisigen Herzen …«

Benthien warf Fitzen einen Blick zu. »Sag mal, liest du neuerdings Heftromane? Wir wissen noch viel zu wenig, um irgendwelche Schlüsse ziehen zu können. Natürlich werden wir den Sohn überprüfen, aber lass uns doch mal unvoreingenommen an die Sache herangehen. Außerdem wäre ich dir dankbar, mein Lieber, wenn du mir nicht den ganzen Wagen vollkrümeln würdest!« Benthien zögerte kurz, ehe er fortfuhr. »Sag mal, bilde ich mir das ein, oder kam dir Elke Derling auch irgendwie bekannt vor? Ich meine, ich hätte sie schon mal gesehen.«

»Beruflich, als Zeugin, oder hast du sie mal verhaftet?« Fitzen schüttelte den Kopf. »Mir war sie völlig unbekannt. Übrigens, meiner Mutter sagen auch oft Leute, dass sie ihnen bekannt vorkommt, oder Fremde grüßen sie. Sie meinte kürzlich ganz resigniert zu mir, sie hätte wohl ein norddeutsches Dutzendgesicht. Vielleicht sieht Elke Derling jemandem ähnlich, den du kennst.« Fitzen biss in sein Matjesbrötchen und konnte gerade noch den Tropfen Soße auffangen, der unter dem Salatblatt hervorquoll.

»Wird wohl so sein«, antwortete Benthien nachdenklich und konzentrierte sich wieder auf die Straße vor ihm.

Martha Gropius erwachte früh an diesem Morgen. Vielleicht war es der Nordsturm, der um ihr altes Haus strich und alles zum Klingen, Klopfen und Scheppern brachte, was nicht niet- und nagelfest war. Auch Butte war bereits wach. Er lag auf seiner Matratze neben ihrem Bett und blickte sie aus seinen großen braunen Augen an, die aussahen, als habe sie jemand mit einem Kajalstrich umrandet. Als er merkte, dass Martha wach war, sprang er auf. Er reckte sich ausgiebig, wobei er die Zunge herausstreckte und sonderbare Laute in allen Tonlagen hervorbrachte, ein Mittelding zwischen Jaulen, Quietschen und kleinen, begeisterten Hundeschreien. Butte war überhaupt der stimmbegabteste Hund, den Martha kannte, kein anderer hatte solch ein reichhaltiges Repertoire an Tönen wie er. Sie kuschelte sich noch einmal in die Kissen und hing ihren Erinnerungen nach. Einmal hatte sie ihrer Mutter in den Urlaub geschrieben, dass Butte so unglaublich drollig war, wenn er sie morgens begrüßte, und hatte – vergeblich – versucht, ihr Buttes so besondere Laute zu beschreiben. Und dann seine begeisterten Begrüßungszeremonien, wenn er jemand lange nicht mehr gesehen hatte …

Nein, für Erinnerungen hatte sie jetzt keine Zeit, sie musste an die Arbeit gehen! Martha setzte sich auf den Bettrand und versenkte ihre Hände in Buttes unglaublich weichem Brustfell, ließ seine lustigen Ohren, halb hängend, halb stehend, durch ihre Hände gleiten und gab ihm einen Kuss auf die Stirn, die sich in Karamellfarben fast herzförmig von dem übrigen schwarzen Fell absetzte. Butte drückte dafür seinen Kopf gegen ihren Oberschenkel und rieb seine Schnauze an ihrem dicken Nachthemd, wobei er sie nicht aus den Augen ließ.

Wenig später saß er in der Küche und beobachtete, wie Martha Frühstück machte, wobei seine Zunge tropfte wie ein Wasserhahn, der leckt.

Er bekam einen kleinen Appetithappen in Form von Hundekuchen, bevor Martha sich neben den bullernden alten Kachelofen an den Küchentisch setzte und sich ihren Milchkaffee zurechtmixte. Wie schön, dass ihr Großvater sich als Erstes heute Morgen um den Ofen gekümmert hatte! Ihr selbst fiel es schwer, die Briketts zu schleppen, aber der Ofen war wichtig, denn im Heiztank war kaum noch Öl für die Zentralheizung. Und bevor sie nicht den nächsten Vorschuss bekam, würde sie kein neues Öl kaufen können, daher war trotz der eisigen Temperaturen äußerste Sparsamkeit angesagt.

Sorgenvoll blickte sie aus dem Fenster, doch sie sah nur ihr eigenes Spiegelbild: eine Frau mit graublonden Haaren und schlechtem Schnitt, einem mageren Hals, knochigen Schultern und großen Augen, die ihr Gesicht beherrschten. Früher, als sie noch attraktiv war, hatte der eine oder andere ihrer Freunde oder Verehrer ihr öfter gesagt, sie sähe so traurig aus, was sie immer geärgert hatte, denn es klang so bedürftig. Jetzt, glaubte sie, könnten sie durchaus recht haben – wenn es denn noch welche gäbe. Nur Johannes, Johannes hatte das nie gesagt.

Martha löschte das Licht und zündete ein Teelicht an. Sie trat ans Fenster, legte die Hände um ihr Gesicht und blickte hinaus in den Schnee. Natürlich war es noch dunkel draußen, aber dass die Schneedecke wieder gewachsen war und immer neuer Schnee hinzukam, konnte sie erkennen. Sie seufzte. Blieb ihr wohl nichts anderes übrig, als den schmalen Trampelpfad zur Straße wieder freizuschaufeln wie jeden Tag, sonst wäre sie irgendwann gänzlich eingeschneit.

Martha konnte sich nicht erinnern, jemals einen solchen menschenfeindlichen Winter erlebt zu haben. Und das im Februar, wo in anderen Jahren im Garten bereits die ersten Forsythien und Osterglocken blühten. Sie sehnte sich so sehr nach dem Frühjahr. Winter, das war für sie Sterben und Tod, ein tiefes, graues Loch, auf dessen Grund sie sich jetzt befand, zusammen mit Depressionen und der Ungewissheit, ob sie da jemals wieder herausfinden würde.

Sie räumte den Küchentisch ab, stellte das benutzte Geschirr in die Spüle und griff, fast widerwillig, zu ihrem Block, um die erste Illustration für das neue Buch anzufangen. Es war ein Thema, das ihr ganz und gar nicht behagte: Folter im Mittelalter. Unglaublich, was die Menschen damals einander angetan hatten! Und sie musste diese Schilderungen nun in bildhafte Szenen umsetzen: geköpfte, geräderte, aufgespießte Menschen, die für zum Teil geringfügige Vergehen oder solche, die man ihnen andichtete, bestraft worden waren, immer auf die grausamste Art und Weise, immer bis zum Tod. Sie kannte den Autor nicht, aber ihr schien, als hätte er ein großes Vergnügen bei seinen akribischen Schilderungen empfunden.

Sie machte die ersten zögerlichen Striche. Eine Frau auf dem Scheiterhaufen, festgebunden an einen Pfahl, Flammen hatten bereits ihre im Luftzug des Feuers wehenden Haare erfasst, der Mund war aufgerissen zu einem einzigen, ungeheuerlichen Schrei, ähnlich dem Gemälde von Edvard Munch. Sie kannte es gut, denn einen Druck davon hatte sie in ihrem Schlafzimmer aufgehängt.

Als Martha aufsah, erblickte sie im Türrahmen ihre Tante Bea, wie jeden Tag in ihrer geblümten Schürze, wie jeden Tag bereit zur Arbeit. Sie ging zu Martha und umarmte sie. »Musst du wieder so was Schreckliches malen? Mein armes Kind.«

Ja, die Zeit der Gartenblumen war vorbei, die sie im Herbst hatte malen dürfen. Martha stand auf, um ihrer geliebten Tante eine Tasse Kaffee einzuschenken. Niemand hatte je für Tante Bea gesorgt, aber sie war immer für die Familie da gewesen, unermüdlich hatte sie über das Wohl ihrer Lieben gewacht. Da war es doch wohl an der Zeit, sie ein kleines bisschen zu verwöhnen, und sei es nur, dass der Kaffee bereits eingeschenkt auf sie wartete.

Das altmodische schnurgebundene Telefon schrillte. Martha zuckte zusammen. Wer rief sie so früh am Tag an? Es war, wie sich herausstellte, Frau Derling, Anjas Mutter. Sie weinte und erzählte, wieder einmal, ihre Geschichte von der verschwundenen Tochter – Martha kannte sie bereits zur Genüge –, doch diesmal berichtete sie etwas Neues. Dass Anja heute Morgen vor ihrer Türe gestanden hatte, gekleidet in ihre schwarze Winterhose und den roten Rolli, gehüllt in Eis und dennoch seltsam lebendig, aber natürlich tot. Tot, tot, tot! Ihre Tochter – eine Tote – hatte sie am frühen Morgen begrüßt! Martha wusste kaum, was sie sagen sollte, aber Elke Derling erwartete auch keine großen Worte. Sie weinte immer noch, als beide auflegten.

»Anja«, sagte Martha zu ihrer Tante, »ist wieder aufgetaucht. Ermordet. Sie hat wohl auch nichts anderes verdient, oder?«

Kapitel 3

Anja Derlings kleines, allein stehendes Backsteinhäuschen am Rand des Dörfchens Langenhorn war so gut wie eingeschneit; an manchen Stellen hatte der Sturm den Schnee bis zur Dachrinne aufgehäuft. Unmittelbare Nachbarn gab es nicht; das nächste Haus war gut sechshundert Meter entfernt.

Benthien brachte den Wagen am Straßenrand zum Stehen, neben einer Wand aus Eis und Schnee.

»Kann da noch einer vorbei?«, fragte sich Fitzen und musterte die schmale Straße.

»Sicher, wenn’s nicht gerade ein Lkw ist, sonst soll er sich melden«, sagte Benthien, der, auf einem Bein hüpfend, gerade dabei war, sich Gummistiefel und den weißen Arbeitsanzug überzuziehen, wie ihn auch die SpuSi trug. Nachdem Fitzen so weit war, wateten sie durch die hohen Schneewehen zur Haustür, wo sie sich auch noch Plastiküberzieher über die Schuhe stülpten.

Mit dem Schlüssel, den ihm Frau Derling gegeben hatte, schloss Benthien die Tür auf. Er wusste bereits von Anjas Mutter, dass in dem Haus offensichtlich keine verräterischen Spuren zu entdecken waren, zumindest hatte Frau Derling keine gefunden – aber allerdings auch nicht danach gesucht.

»Die Derlings und danach die Kollegen aus Niebüll haben bestimmt etliche Spuren zerstört«, sagte Fitzen skeptisch.

»Es ist nicht gesagt, dass der Täter im Haus war«, wandte Benthien ein. »Wir wissen ja überhaupt noch nicht, wo sich Anja Derling in den letzten vier Wochen aufgehalten hat.«

»Glaubst du, sie ist freiwillig verschwunden? Hatte einen neuen Lover, dem sie arglos gefolgt ist? Wenn ja, wussten ihre Eltern jedenfalls nichts davon.«

»Trotzdem ist das denkbar.« Benthien schnupperte. Im Haus war es kalt, obwohl die Heizkörper lauwarm waren; es roch abgestanden, nach ungelüfteten Betten und alten Kartoffeln. Frau Derling hatte ihnen erzählt, dass sie Samstagabend noch mit ihrer Tochter telefoniert hatte, nachdem sie aus dem Reitstall zurückgekommen war. Sie besprachen, dass Anja am nächsten Tag, Sonntag, mittags zum Essen kommen sollte, bevor sie danach wieder zu dem Bauern fuhr, bei dem sie ihr Pferd untergestellt hatte. Einen Tag später waren die Eltern dann nach Mallorca geflogen. Die Husumer Polizei hatte festgestellt, dass Anja auch tatsächlich auf dem Pferdehof gewesen war und ihn gegen achtzehn Uhr in ihrem roten Golf wieder verlassen hatte, was eine Gruppe von Ponyreitern bestätigte. Doch am Montag war sie nicht zur Arbeit erschienen. Das war vor vier Wochen gewesen. Damals hatte noch kein Schnee gelegen, im Gegenteil, für Januar war es mit 14 Grad Außentemperatur sehr mild gewesen.

»Sie muss entweder zu Fuß verschwunden sein, oder jemand hat sie mit dem Auto weggebracht«, überlegte Fitzen, der mitten in dem kleinen, vollgestopften Wohnzimmer stand und sich langsam um die eigene Achse drehte. In dem voluminösen Anzug der SpuSi, mit Kapuze und Mundschutz sah er, fand Benthien, wie ein lustiger weißer Osterhase aus. Genauso wie er selbst. Die Spurensicherung war zwar auf dem Weg, aber bis sie da war, wollte er nicht warten. Sie hatten ohnehin schon viel zu viel Zeit verloren.

Da der Schnee die Fenster verdunkelte, musste das Licht eingeschaltet werden. Genau wie sein Kollege musterte Benthien das Zimmer, um herauszufinden, was für ein Mensch Anja Derling gewesen war. Er kam zu dem Ergebnis, dass sie sich nicht unbedingt durch Originalität ausgezeichnet hatte. Eine Schrankwand aus braunem Eichenholz, ein billiger Perserteppich auf dem Laminatfußboden, gegenüber dem Fernseher ein bequemes Sofa mit etlichen Kissen und Plüschtieren auf der Sofalehne, eine Anrichte mit Nippes aus Thailand, ungerahmte Pferdeposter an den Wänden. In einem Regalfach des Schranks standen gerade mal neun Bücher, ältere Romane, zwei davon von Nicholas Sparks. Auch die anderen handelten von unsterblicher Liebe, neu war nur ein Reiseführer für Südthailand.

Benthien, der selbst über dreitausend Bücher besaß, hoffte, dass Anja Derling noch irgendwo anders in ihrem Haus Bücher aufbewahrte, denn Menschen, die keine Bücher lasen, taten ihm immer irgendwie leid. Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns … schrieb schon Franz Kafka. Wie traurig musste sich ein Leben anfühlen ohne die Fantasiewelten, die Geschichten schenkten?

Auf den Beistelltisch neben dem Sofa hatte Anja Derling ein Porträt von sich selbst gestellt. Benthien betrachtete das Foto interessiert. Wie hatte Anja Derling zu Lebzeiten ausgesehen? Sie lächelte strahlend auf dem Bild, doch das Lächeln erreichte ihre braunen, dicht zusammenstehenden Augen nicht und offenbarte einen leichten Überbiss. Die dunklen Haare hatte sie straff aus dem Gesicht gekämmt und zu einem Pferdeschwanz gebunden. Wegen der leicht abstehenden Ohren sah die Frisur nicht eben vorteilhaft aus, und Benthien wunderte sich, dass Anja Derling dieses Foto überhaupt gerahmt und aufgestellt hatte. Doch wohl kaum aus Eitelkeit?

Durch einen Rundbogen gelangte er in ein kleineres Zimmer mit grüner Textiltapete, das einen Esstisch, Stühle und eine Chippendale-Kommode enthielt, die im Stil nicht so recht zu der rustikalen Schrankwand im Nebenzimmer passen wollte. Auf dem Tisch entdeckte er Anjas Handy. Hatte sie es vergessen, oder war sie so überhastet aufgebrochen, dass sie daran überhaupt nicht gedacht hatte? Und was hatte die Niebüller Polizei überhaupt gemacht? Offenbar hatten sie Frau Derling, die Mutter, nicht wirklich ernst genommen in der Sorge um ihre Tochter. Man hatte wohl nur nachgesehen, ob es im Haus Spuren eines Verbrechens gab, und keine intensiveren Ermittlungen angestellt.

Fitzen inspizierte bereits die zusammengewürfelte Küche, in der anscheinend selten gekocht wurde. Benthien stellte fest, dass es nur vier Gewürze gab und einen vertrockneten Topf Basilikum auf der Fensterbank. Kein Geschirr stand herum, alles war blitzblank aufgeräumt. Wie Frau Derling gesagt hatte, war der Kühlschrank gut gefüllt, wenn auch jetzt mit verdorbenem Inhalt – Benthien fragte sich, warum man ihn nicht weggeworfen hatte –, also hatte Anja offenbar nicht vorgehabt, längere Zeit wegzubleiben.

Da ihm daran lag, sich zuerst einen allgemeinen Eindruck zu verschaffen, lief er Fitzen hinterher nach oben, wo sich das Badezimmer und Anja Derlings Schlafzimmer sowie ein weiteres Zimmer befanden, das wohl für Gäste gedacht war und völlig unbewohnt wirkte: ein unbezogenes Bett, ein Sessel, ein leerer Schrank.

Anja Derlings Schlafzimmer enthielt ein breites Bett mit Rüschendecke, auf das sie ihre Reitkleidung geworfen hatte, und auch die Stiefel, sauber geputzt, fanden sich im Zimmer. Ganz offensichtlich war Anja nach ihrem Aufenthalt im Reitstall heil zu Hause angekommen, dafür sprach auch schon ihr Auto, das in der Garage stand. Erst danach, wahrscheinlich im Lauf des Abends, war sie verschwunden.

Im Schlafzimmer gab es außerdem noch einen modernen Einbauschrank, einen Hometrainer sowie einen zweiten Fernseher. Offenbar wollte Anja Derling beim Sport gern unterhalten werden. Auf dem Nachttisch stand, eingerahmt, das Bild eines braunen Pferdes mit weißer, lang gezogener Blesse. Vergrößerte Fotos desselben Pferdes hingen auch an den Wänden.

Ein Bild des Sohnes oder auch nur von Menschen, von Familie oder Freunden, suchte man hier vergebens.

Das Bad war klein, die üblichen Kosmetika standen aufgereiht auf einer vorspringenden Fliesenablage, eher preiswerte Marken aus dem Drogeriemarkt als exklusive aus der Parfümerie. Auch hier keine Überraschungen.

Ein ganz und gar durchschnittliches Leben, dachte Benthien. Vielleicht ein bescheidenes Leben. Das dennoch irgendetwas gehabt haben musste, was einen Menschen dazu gebracht hatte, es auf solch spektakuläre Weise auszulöschen.

»Hast du irgendwo einen Computer, Laptop oder ein Tablet gesehen?«, fragte Fitzen verwundert, als sie den zweiten, genaueren Durchgang starteten.

»Vielleicht hat ihn der Mörder mitgenommen?«

Doch kurz darauf entdeckte Benthien im Wohnzimmerschrank ein Fach mit persönlichen Papieren, darunter auch einen Organizer. Und im Fach darüber lag der Laptop.

»Sie scheint ihn wenig benutzt zu haben, es hat sich reichlich Staub angesammelt«, kommentierte Benthien, während er Anja Derlings persönliche Papiere, zwei Aktenordner und zwei Fotoalben in ein paar ihrer mitgebrachten Kisten packte.

»Hier ist anscheinend doch ein Foto des Sohnes«, rief Fitzen aus der Küche herüber.

Tatsächlich, an der Wand hing ein Rahmen, in dem man insgesamt zehn Fotos unterschiedlichen Formats unterbringen konnte. Eines zeigte eine viel jüngere Anja Derling mit einem Baby im Arm, auf einem weiteren Foto war ein hübscher junger Mann mit schwarzen Haaren und dunklen Augen zu sehen, der an ein Boot gelehnt dastand. Um ihn herum erstreckte sich ein menschenleerer Sandstrand mit Palmen. Trotz der paradiesischen Umgebung blickte er mürrisch in die Kamera. Eine große Ähnlichkeit mit Anja Derling war nicht zu erkennen, dennoch nahm Benthien an, dass es ihr nunmehr fast erwachsener Sohn war. Die anderen Fotos zeigten Anja Derling mit Freunden und mit Pferden. Auf dem altmodischen zweiteiligen Küchenschrank stand in der Mitte ein Foto ihrer Eltern neben einer Schale verfaulter Äpfel.

»Das große Fotopuzzle nehmen wir mit«, sagte Benthien. Draußen hörte er den Wagen der SpuSi vorfahren. Nun würde im Haus nach DNA-Spuren, Fingerabdrücken, Blut und anderen Körperflüssigkeiten gesucht werden. Vielleicht konnten ihnen ja diese stummen Zeugen, wenn es sie denn gab, Anjas Geschichte erzählen.

»Hast du Hunger?«, rief Benjamin Benthien aus der Küche, als sein Sohn die große Altbauwohnung am Sankt-Jürgen-Platz in Flensburg betrat, in der er seit einiger Zeit mit seinem Vater lebte. Genau genommen, seit er sich von Karin getrennt hatte. Seit Weihnachten hatte er zwar wieder eine neue Beziehung, mit seiner Kollegin Lilly, aber sie wollten es langsam angehen lassen; von einer gemeinsamen Wohnung konnte im Augenblick noch keine Rede sein.

»Natürlich habe ich Hunger«, rief John, »nach einem langen Tag in Schnee und Eis.« Er setzte sich auf die Bank im Flur, um seine Stiefel auszuziehen. »Kochst du etwa?«

»Rinderfilet, Lauch mit braunem Zucker, Sojasoße und Ananas, dazu Pastinaken-Kartoffel-Pü«, sagte Ben stolz. »Na, ist das was für dich?«

Er erschien, Kochlöffel schwingend, in der Küchentür und strahlte seinen Sohn an. Der traute seinen Ohren nicht. »Das meinst du nicht wirklich ernst, oder? Lauch, Zucker und Ananas mit Sojasoße?«

»Brauner Zucker«, korrigierte Ben. »Und noch so’n paar lütte Gewürze. Man muss auch mal was Neues wagen, Junge. Lilly kommt übrigens zum Essen! Ich habe sie eingeladen, weil ich ihren fachmännischen Rat hören will.«

John, der sich fragte, ob er gerade auf den Arm genommen wurde, freute sich, als er Lillys Namen hörte. Er hatte sie seit gestern Morgen nicht mehr gesehen, seit sie wegen einer Vernehmung nach Schleswig gefahren war. Nun gut, wenn sie zum Essen käme, würde er selbst Knoblaucheis mit Früchten essen, wenn es sein musste.

»Feierst du irgendwas, Vater?«, fragte er leicht misstrauisch und betrat die hell erleuchtete Küche, die geradezu im Chaos versank. Obwohl sie wirklich nicht klein war, musste er aufpassen, nicht in zahlreiche Töpfe, Pfannen und Schüsseln zu treten, die auf dem Fußboden aufgereiht und mit undefinierbaren schwarzen Inhalten gefüllt waren.

»Meinen Foodblog«, sagte Ben, während er lärmend in einer Schublade herumwühlte. »Der geht in einer Woche online!«

»Dein was? Dein Foodblog?«

»So sehr hinterm Mond kannst du doch gar nicht sein, oder? Man stellt Rezepte online und fotografiert das Essen. Sag mal, wo ist denn unser Kartoffelstampfer? Und hol schon mal deinen Fotoapparat her. Oder dein Handy, das geht ja auch. Ehe wir essen, müssen wir Fotos machen!« Bens weißer Kopf mit der wilden Mark-Twain-Mähne verschwand im Besenschrank.

»Vater, ich war doch gewiss nicht länger als neun Stunden außer Haus. Ist mir da was entgangen?«

»Du hörst eben nicht zu! Von meiner Idee, einen Foodblog zu machen, rede ich seit Wochen! Aber morgens beim Frühstück bist du im Tran und zu nichts zu gebrauchen, und abends bist du auch nicht richtig da – wenn du überhaupt da bist. Hier!« Ben drückte ihm den Kartoffelstampfer in die Hand. »Mach mal das Pü. Ich bin anderweitig beschäftigt!« Damit rannte er aus der Küche.

»Dafür, dass er achtundsiebzig Jahre alt ist, ist er verdammt auf Draht«, sagte John zu dem Topf mit den Kartoffeln, die er gerade zerstampfte. »Und widerlich energiegeladen. Alle fünf Minuten hat er neue Ideen. Und jetzt ein Foodblog? Na meinetwegen. Wenn dabei ein leckeres Essen für mich herausspringt … «

»Hast du Milch ins Pü gegeben?« Ben war wieder in der Küche und strahlte eine ungeheure Energie aus. »Und mit wem redest du da eigentlich? Mit dir selbst? Dafür bist du noch zu jung, mein Sohn! Das Privileg, ein bisschen tüdelig zu sein, habe nur ich in diesem Haushalt. Gib mal her!« Er nahm John den Topf aus der Hand. »Hast du das Handy geholt? Wir müssen uns beeilen, sonst wird das Essen kalt. Nun mach mal hinne!«

Wenig später saßen sie um den Tisch herum und aßen ein leicht erkaltetes, aber wider Johns Erwarten sehr schmackhaftes Essen. Lilly war eingetroffen, die Fotos waren gemacht, sämtliche Irrwege und Sackgassen, dieses Rezept genießbar zu machen, von Ben aufgezählt worden. »Das Problem ist ja«, sagte er, während er die letzte Gabel zum Mund führte, »dass man für einen Foodblog immer was Neues erfinden muss. Kreativität ist gefragt! Immer wieder was ausprobieren! Morgen versuche ich mal ein Pü aus Kartoffeln und Rettich, schön scharf, aber irgendwas muss noch zusätzlich da rein, sonst ist es zu gewöhnlich. Was haltet ihr davon, wenn ich ein bisschen Avocadocreme dazugebe? Oder ich mache ein Pü nur aus verschiedenen Gemüsesorten und kleinen Chorizowürfelchen …«

»Ich bin es ja gewöhnt«, sagte Bens Sohn mit einem ironischen Unterton, »dass Leute zunehmend nicht mehr in ganzen Sätzen sprechen, aber dass man jetzt auch schon nicht mehr in ganzen Wörtern spricht, ist mir neu.«

»Pü?«, meinte Ben zerstreut. »Das sagen sogar Sterneköche, in der Küche muss eben alles schnell gehen.«

»Ach so, ja dann!«

John und Lilly lächelten sich über den Tisch hinweg an. John kannte seine Kollegin Lilly Velasco seit knapp fünf Jahren, seit sie aus Lüneburg zur Kripo nach Flensburg gekommen war, aber erst in den letzten Wochen waren sie zusammengekommen, und die Orientierungsphase dauerte noch an. Noch war nicht klar, wie sich ihr Leben in Zukunft gestalten würde. Ob sie überhaupt eine gemeinsame Zukunft hatten. Benthien war in jugendlichen Jahren kurz verheiratet gewesen und hatte erlebt, wie schnell er und seine Frau Sandra sich auseinanderentwickelt hatten, seitdem war er langsam und vorsichtig in seinen privaten Entscheidungen. Konsequent, wie er selbst es nannte. Sein Vater machte bereits Andeutungen über eine Heirat, offenbar war er wild entschlossen, bald Enkel zu bekommen, aber er hatte eben auch eine lange, glückliche Ehe mit Johns Mutter geführt, bis sie vor ein paar Jahren verstorben war.

Lilly berührte kurz seine Hand. »Ich habe gehört, was ihr heute Morgen gefunden habt«, sagte sie absichtlich etwas vage mit einem Blick auf Ben. »Bist du da schon weitergekommen?«

»Deine Mutter hat gern Graupen gegessen, aber immer nur in der Suppe«, sagte Johns Vater. »Ich überlege, ob man die nicht auch als Beilage essen könnte, das wäre doch innovativ? So ein bisschen asiatisch, ein bisschen scharf …«

»Viel wissen wir noch nicht«, antwortete John, »ich hoffe, die Obduktion bringt uns weiter. Da werde ich morgen wohl nach Kiel fahren müssen.«

»Möchtest du, dass ich mitkomme?«

»Bis morgen ist die Leiche noch nicht aufgetaut«, antwortete Ben. »Das dürfte länger dauern.«

»Ja, das wäre …« John fuhr zusammen. Was redete sein Vater da? Woher wusste er denn nun schon wieder …

»Sie haben es in den Nachrichten gebracht«, erklärte Ben. »Und ein Foto gezeigt. Im Fernsehen, in so einer Boulevardsendung.«

»Ein Foto? Wer zum Teufel …«, brauste John auf.

»Eine Zeichnung«, beruhigte ihn Lilly. »Ich habe die Sendung vorhin auch gesehen. Man hat eine Skizze von Anja Derling gemacht, wie sie bei ihren Eltern vor der Tür steht. Von hinten. Das Gesicht sieht man nicht.«

»Diese verdammten Medien! Ich möchte wissen, wer da schon wieder mit der Presse gesabbelt hat. Wenn die erst die näheren Umstände erfahren, wird der Teufel los sein!«

»Das werden wir wohl kaum verhindern können.« Lilly legte ihm die Hand auf den Arm. »John, kann ich bei den Ermittlungen dabei sein? Die Vernehmung dieses Totschlägers in Schleswig ist beendet, ich habe jetzt Zeit. Und wir würden uns häufiger sehen.«

John durchströmte ein warmes Gefühl. Natürlich wollte er mit Lilly zusammenarbeiten, mit niemandem lieber als mit ihr! Er lächelte sie an. »Na gut«, sagte er gespielt gnädig, »versuchen wir es mal mit dir.«

Ben stand auf. »Kommt ihr mit in die Küche? Einer spült, zwei trocknen ab. Die Spülmaschine läuft auch schon.«

Rasch nahm John Lilly bei der Hand, und sie standen ebenfalls auf. »Wir gehen jetzt, wir brauchen unseren Schlaf, mein Lieber. Bis morgen und gute Nacht!«

Mauseöhrchen,

erinnerst du dich an den Namen? Damals warst du flink wie eine kleine Maus, und nichts, kein Wort ist dir entgangen, für dich hatten alle Wände Ohren. Deshalb haben wir dich so genannt.

Ich weiß nicht, ob du dies in ferner Zukunft je lesen wirst. Und ich weiß nicht, ob du dich noch an mich erinnerst, wenn du dies liest. Sicherlich haben sie alles getan, damit du mich vergisst. Dir Dinge über mich erzählt, die nicht wahr sind. Dir gesagt, dass ich gar nicht wollte, dass du geboren wirst.

Das Letztere ist tatsächlich wahr. Deine Mutter wurde schwanger, obwohl wir uns entschieden hatten, keine Kinder zu bekommen. Aber du weißt ja, sie hat immer genau das getan, was sie sich in den Kopf gesetzt hatte. Ohne Rücksicht auf Verluste.

Jedenfalls, als du geboren wurdest und man dich mir in die Arme legte – tja, von diesem Augenblick an war ich, ganz gegen meinen Willen und gegen meine Erwartung, abgrundtief verloren … Das musst du mir glauben, Mauseöhrchen. Du hast mich mit deinen großen Augen – damals waren sie noch blau – so ernsthaft und forschend angesehen, als wolltest du mich fragen, was du denn von diesem fremden Mann, der dich so ungeschickt in den Armen hielt, zu erwarten hättest. Und dann hast du deinen Mund verzogen und mich angelächelt … ich weiß, Babys lächeln bewusst frühestens mit sechs Wochen, ich habe es gelesen, und man hat es mir auch so erzählt, aber damals hat es so ausgesehen, als ob du tatsächlich mich meintest, und mir schossen die Tränen in die Augen. Ich schwor mir, dass ich absolut alles für dich und für dein Wohl tun wollte, soweit es in meiner Macht stand.

Heute denkst du sicher, ich habe mein Wort gebrochen. Und vielleicht ist das auch so. Deshalb schreibe ich dir diesen Brief. Ich möchte, dass du mich verstehst, Mauseöhrchen. Ich bin kein Unmensch, ich bin kein Monster, auch wenn manche das anders sehen. Den allermeisten Menschen könnte ich niemals etwas zuleide tun. Ich sehe das so, dass die Weichen schon früh gestellt wurden, ohne mein Zutun, ohne mich zu fragen. Vielleicht sogar, ohne dass es jemand wollte. Und ohne dass ich selbst eine Ahnung von dem hatte, was da vor sich ging. Vielleicht hatte ich auch nur einfach unglaubliches Pech, und das hat alles andere nach sich gezogen.

Vielleicht hätte ich mir rechtzeitig Hilfe holen sollen, aber das habe ich versäumt. Ich dachte wohl, ich kriege es alleine hin. Wollte meinem Vater zeigen, dass er unrecht hat. Einer seiner beliebten Sprüche, die er mir fast täglich an den Kopf warf, war: »Du kriegst einfach nichts auf die Reihe!« Oder: »Aus dir wird nie was werden!« Oder auch: »Du dummer, dummer Nichtsnutz!« Diese drei Bemerkungen waren seine Lieblingssprüche. Ich dagegen wollte alles, absolut ALLES tun, um diese Aussagen nicht zu einer sich selbsterfüllenden Prophezeiung werden zu lassen. Ich hasste meinen Vater dafür, dass er mich nicht liebte, aber neben dem Hass war auch die Liebe, und ich wollte ihm mein Leben lang beweisen, dass ich nicht der bin, für den er mich hielt. Mein innigster Wunsch war, dass er eines Tages stolz auf mich sein könnte. Dass er sagen würde: »Du hast es ja doch geschafft, Sohn!« Mit diesem warmen Funkeln in seinen Augen, das er immer nur für die anderen bereithielt.

Verstehst du das, Mauseöhrchen?

Deshalb habe ich getan, was ich tun musste.

Kapitel 4

Erst zwei Tage später war die Leiche von Anja Derling so weit aufgetaut, dass die Obduktion vorgenommen werden konnte. Bis dahin waren sie nicht viel weiter gekommen. Benthien, Lilly, Fitzen und der junge Kommissaranwärter Mikke Jessen, dessen rotbrauner Haarschopf von einer Wintermütze bedeckt wurde, die seinen Kopf auch im Büro nicht verließ, hatten Freunde und Bekannte von Anja Derling befragt, doch niemand hatte sie nach jenem Sonntag, dem 8. Januar, gesehen oder mit ihr gesprochen. Niemand wusste, ob sie etwas vorgehabt hatte, sich mit jemandem treffen wollte. Eine Beziehung, da bestätigte sich die Aussage ihrer Mutter, hatte sie nicht gehabt. Ihr Sohn Carmelo, auch das galt als bewiesen, befand sich nach wie vor in Thailand, und es gab keinerlei Hinweise darauf, dass er ihr nach Deutschland gefolgt war und sie hier ermordet hatte. Benthien selbst hatte mit ihm telefoniert. Carmelo hatte zugegeben, dass er sich von seiner Mutter im Streit getrennt hatte, weil sie die Zusage, ihm in Deutschland einen Ausbildungsplatz zu besorgen, nicht eingehalten hatte und offenbar auch nicht sehr bestrebt war, es zu tun.

Der junge Mann hatte Benthien zugesagt, nach Deutschland zu kommen; bei der Beerdigung wollte er auf jeden Fall dabei sein, und er wollte seine Großeltern wiedersehen. Benthien war gespannt auf ihn.

»Er scheint ein intelligenter junger Mann zu sein, der ein sehr sorgfältiges Deutsch mit einem kleinen, charmanten Akzent spricht«, berichtete er während ihrer kleinen Konferenz am Montag in seinem Büro. »Wahrscheinlich, weil er in Surat Thani eine deutsche Schule besucht.«

»Aber was kann er uns schon über seine Mutter sagen?«, fragte sich Lilly laut. »Er hat sie ja kaum gekannt. Soweit mir Frau Derling erzählte, hat ihre Tochter ihn in den ganzen letzten Jahren gerade dreimal besucht, und einmal war er in Deutschland. Irgendwie kommt mir Anja Derling als eine sehr unnatürliche Mutter vor. Wer überlässt denn sein Baby einfach so der Familie des Vaters, die noch dazu elftausend Kilometer entfernt lebt?«

Die Nachbarn des nächstgelegenen Hauses, ein älteres Ehepaar, hatten ausgesagt, dass sie Anja Derlings Sohn nie gesehen hätten. Auch sonst konnten sie nichts zum Rätsel ihres Verschwindens beitragen. Am fraglichen Sonntag war ihnen rein gar nichts aufgefallen. Allerdings war es zu der Zeit, als Anja verschwand, auch schon dunkel gewesen.

Die Fingerabdrücke, die man im Haus gefunden hatte, hatten kein Ergebnis erbracht. Etliche konnte man Anja Derlings Familie zuordnen, aber es gab einige wenige, die niemandem zuzuordnen waren, die aber auch nicht in AFIS, dem Fingerabdrucksystem der Polizei, zu finden waren.

Mikke Jessen hatte Anja Derlings Arbeitsplatz besucht, eine Spedition, die auch Landmaschinen verlieh. »Sie sind alle voll des Lobes über Frau Derling«, las er aus seinem Notizbuch vor. »Sie ist pünktlich, gewissenhaft und macht Überstunden, wann immer es nötig ist. Spannungen konnte ich keine feststellen. Ihr Chef ist ein Mann um die sechzig, bodenständig, verheiratet, mit vier Kindern. Auf mich wirkte er sehr gutmütig. Sonst gibt es noch zwei Sachbearbeiterinnen, die sich mit Anja Derling gut verstanden haben. Sie sagten, sie sei kollegial, manchmal vielleicht ein bisschen nervös und bestimmend, was aber an ihrem mangelhaften Zeitmanagement liege. Eng befreundet waren sie mit ihr allerdings nicht.«

»Hast du ihre persönlichen Sachen aus ihrem Schreibtisch mitgebracht?«, fragte Fitzen.

»Ja, aber das war neben Kamm und Lippenstift nur der übliche Bürokram. Nichts Persönliches. Auf dem Schreibtisch stand ein Foto von ihrem Pferd, aber keins vom Sohn. Auf das Pferd war sie sehr stolz, das haben alle betont. Die paar privaten Mails, die sie auf ihrem Bürocomputer hatte, habe ich ausgedruckt.«

Fitzen streckte die Hand aus. »Gib mal her, Mikke.«

Benthien war wie so oft sehr zufrieden mit dem jungen Kollegen. Mikke war aufrichtig und arglos, dachte eigenständig und arbeitete sehr gewissenhaft. Fitzen machte sich manchmal über seine Naivität lustig, da Mikke dazu neigte, an den Wahrheitsgehalt dessen zu glauben, was man ihm erzählte. Aber das, fand Benthien, machte ihn gerade sympathisch. Abgebrüht konnte er noch schnell genug werden.

»Und was hast du jetzt vor, Mikke?«, erkundigte er sich.

Mikke grinste. »Sag bloß, ich darf das allein entscheiden? Okay, dann würde ich sagen, während Tommy die Mails vom Bürocomputer checkt, durchforste ich Anja Derlings Laptop. Mit dem Handy habe ich bereits angefangen. Den letzten Anruf hat sie am Sonntagabend gemacht, kurz bevor sie vom Pferdehof wegfuhr. Da hat sie ihre Eltern kurz angerufen. Der letzte Anruf, den sie bekam, war von einem Johannes Brederloh, wohnhaft in Flensburg. Dauer des Gesprächs: drei Minuten. Und das war am Sonntagvormittag, bevor sie zu ihren Eltern zum Mittagessen fuhr.«

»Und wer ist dieser Brederloh?«, fragte Fitzen.

»Das weiß ich noch nicht, der muss noch gecheckt werden. Ansonsten wollte mir Annika dabei helfen, Anja Derlings Gesprächspartner durchzugehen, viele waren es allerdings nicht. Anja Derling hat wenig telefoniert und noch weniger SMSen geschrieben. Ich hoffe, dass ihr Laptop da doch etwas mehr hergibt.«

Mikke, der einen gesunden, aber durchaus angenehmen Ehrgeiz entwickelte und seinen Beruf noch mit viel Enthusiasmus ausübte, war dabei, sich zum IT-Fachmann der Abteilung zu entwickeln. Gerade hatte er wieder einen vierwöchigen Kurs beim LKA in Kiel absolviert, für den ihn Benthien empfohlen hatte.

»Hast du gut gemacht, Mikke«, lobte er ihn, und der junge Mann zog mit einem freudigen Lächeln davon.

Kapitel 5

Die Rechtsmedizin in Kiel, Dr. Radtkes Wirkungsfeld, war ein roter Backsteinbau mit großen Fenstern, der Benthien an ein freundliches Schulhaus erinnerte. Durch einige lange Gänge erreichten sie den Sektionssaal. Es war kalt dort, und Benthien fröstelte. Lilly, von Natur aus eine Frostbeule, hatte ihre Daunenjacke gar nicht erst ausgezogen. Dafür öffnete sie ihr Haar, das sie in einem Pferdeschwanz trug, und verteilte es über den Ohren, offenbar, um sie zu wärmen. Sie hatte ihm mal gesagt, dass ihre langen Haare glatt einen Pelzkragen oder einen dicken Schal ersetzen könnten. Deswegen trug sie sie im Sommer auch meist hochgesteckt.

Das grelle Neonlicht machte den Sektionsraum nicht eben gemütlicher. Benthien entdeckte den Leichnam von Anja Derling schon fertig zur Obduktion auf einem der Edelstahltische. Dr. Radtke und sein Assistent, dessen braune Augen so vergnügt wirkten, als habe er das Gute-Laune-Gen, hatten die Leiche bereits entkleidet.

Radtke grüßte, ohne eine Miene zu verziehen, der Assistent, dessen Namensschild ihn als Dr. Niclas Wagner auswies, kam Benthien und Lilly mit einem kleinen Geschenk entgegen: einem grünen Mundschutz für jeden von ihnen. »Kann ich Sie mit etwas Mentholsalbe beglücken? Ist aber eigentlich nicht nötig, die Verblichene ist sehr geruchsarm«, sagte er fröhlich.

Lilly strich sich trotzdem ein wenig Salbe auf die Oberlippe.

»Können Sie uns schon etwas sagen?«, fragte Benthien.

Radtke warf seinem Assistenten einen auffordernden Blick zu.

»Wir können Ihnen etwas zeigen«, sagte Wagner vergnügt. »Aber dazu müssten Sie etwas näher herantreten und bitte den Bauchnabel der Dame begutachten.«

Benthien und Lilly taten wie geheißen, doch zuerst fiel Benthien der Exponatständer ins Auge, den der Mörder, wie auch immer, mit der Spitze in sein Opfer hineingetrieben hatte, damit er die Farce des Aufrecht-Stehens inszenieren konnte.

»Er geht bis zum Brustbein, wodurch er der Leiche eine gewisse Stabilität gab«, sagte Dr. Wagner munter. »Den Betonsockel haben wir schon abmontiert, wie Sie sehen. Aber …«

»Braucht man anatomische Kenntnisse dazu, so ein Ding in einen Menschen zu stecken?«, wollte Lilly wissen.

»Nicht unbedingt«, antwortete der junge Assistenzarzt. »Eher Körperkräfte, aber das wissen wir auch erst, wenn wir den Dorn des Exponatständers herausgezogen haben. Aber richten Sie Ihren Blick doch bitte mal hierhin.« Er deutete auf den Bauchnabel.

Sie taten es, und Benthien spürte so etwas wie einen eiskalten Griff im Nacken. Auch Lilly warf ihm einen entsetzten Blick zu.

»Was ist das?«, fragte sie mit belegter Stimme. »Eine Krawattennadel?«

»Jedenfalls kein Piercing«, sagte Dr. Radtke trocken. »Der Täter muss es ihr in den Bauchnabel hineingetrieben haben, warum auch immer.« Und fürs Protokoll fügte er hinzu: »Ich ziehe den Gegenstand – eine Anstecknadel oder sogenannte Ehrennadel – jetzt aus dem Bauchnabel heraus.«

Er legte sie auf ein Tablett aus Edelstahl, und alle Köpfe beugten sich darüber. Wagner brachte eine große Lupe herbei.

Die Nadel, die etwas fleckig wirkte, war rund sechs Zentimeter lang und hatte offensichtlich der ganzen Länge nach im Bauch der Leiche gesteckt. Auf der runden, goldfarbenen Platte, die den Bauchnabel geschmückt hatte, war als Reliefprägung ein Hirschkopf mit Geweih zu sehen, und mittig oben, wo die Geweihenden zusammenstießen, befand sich etwas, das Benthien als eine Art Krone identifizierte. Verliehen hatte man die Ehrennadel »Für Jäger Treue«, denn diese Worte waren um den Rand herum eingraviert.

»Ich nehme an«, sagte Radtke, »dass dies ein antikes Stück ist, vermutlich gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts hergestellt. Man steckt so etwas ans Revers, es ist eine Auszeichnung, eben eine Ehrennadel. Mein Vater war lange Jahre beim Roten Kreuz, dafür hat er auch so ein Ding bekommen. Aber Genaueres über das Alter werden die Kriminaltechniker wissen oder ein Fachmann für Antiquitäten.«

Benthien nahm das erst einmal so hin. Es hatte keinen Sinn, sich jetzt Gedanken darüber zu machen, warum der Täter sein Opfer in dieser Weise »geschmückt« hatte. Das musste warten, bis sie mehr über diese Nadel in Erfahrung gebracht hatten.

»Meinen Sie, man hat sie ihr bei lebendigem Leib in den Bauch gesteckt?«, fragte Lilly beklommen.

Da Radtke nicht antwortete, ergriff sein freundlicher Assistent das Wort. »Die Nadel hat die Wand des Dickdarms leicht verletzt, der größte Teil steckte aber in der Fettschicht des Bauches. Da es kaum geblutet hat, war das Opfer zu diesem Zeitpunkt mit großer Sicherheit schon tot.«

»Und woran ist sie nun gestorben?«, fragte Benthien ungeduldig, obwohl er wusste, dass Radtke gern in seiner eigenen Geschwindigkeit vorging. Für die Frage fing er sich dann auch einen strafenden Blick ein.

»Junger Mann«, sagte der Mediziner unwirsch, »Sie müssen mal lernen, Ihre Ungeduld zu beherrschen. Aber ausnahmsweise: Das Opfer wurde erschossen. In den Rücken und genau ins Herz, sozusagen ein Blattschuss. Sie war sofort tot. Ob sie außerdem noch vergiftet, erwürgt, erstochen oder erschlagen wurde, wird die weitere Obduktion ergeben, mit der wir hoffentlich jetzt anfangen können.« Er nickte seinem Assistenten auffordernd zu.