Eisige Schatten - Jørn Lier Horst - E-Book
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Eisige Schatten E-Book

Jørn Lier Horst

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Beschreibung

William Wisting jagt den Schattenmann – Teil 9 der Skandinavien-Krimi-Reihe von SPIEGEL-Bestseller-Autor Jørn Lier Horst Kurz vor Weihnachten wird in dem beschaulichen norwegischen Hafenstädtchen Stavern eine Leiche entdeckt. Offenbar hat der alte Mann in seiner Wohnung schon seit Monaten tot vor dem Fernseher gesessen, Anzeichen für ein Verbrechen gibt es nicht. Wenig später taucht in der Nähe, verborgen unter einer Tanne, eine zweite Männerleiche auf, zu einem Eisblock gefroren. Wisting hat ein äußerst ungutes Gefühl – das sich bestätigt, als man bei dem Toten aus dem Wald Hinweise auf einen Serienmörder findet, der seit Jahren vom FBI gesucht wird. In den USA hat der Mann zahlreiche junge Frauen verschleppt und ermordet. Und auch in Norwegen passen 14 Vermisste in sein Opferprofil … »Jørn Lier Horsts Bücher gehören zum Besten, was der Skandinavien-Krimi zu bieten hat. Sie sind großartig konzipiert, machen süchtig und haben unvergessliche Charaktere.« Yrsa Sigurdardóttir Folgende Bände der Skandinavien-Krimi-Reihe um Kommissar William Wisting sind auf Deutsch lieferbar: - Winterfest - Jagdhunde - Eisige Schatten - Blindgang

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Seitenzahl: 495

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Jørn Lier Horst

Eisige Schatten

Kriminalroman

Aus dem Norwegischen von Andreas Brunstermann

Knaur eBooks

Inhaltsübersicht

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

43. Kapitel

44. Kapitel

45. Kapitel

46. Kapitel

47. Kapitel

48. Kapitel

49. Kapitel

50. Kapitel

51. Kapitel

52. Kapitel

53. Kapitel

54. Kapitel

55. Kapitel

56. Kapitel

57. Kapitel

58. Kapitel

59. Kapitel

60. Kapitel

61. Kapitel

62. Kapitel

63. Kapitel

64. Kapitel

65. Kapitel

66. Kapitel

67. Kapitel

68. Kapitel

69. Kapitel

70. Kapitel

71. Kapitel

72. Kapitel

73. Kapitel

74. Kapitel

75. Kapitel

76. Kapitel

77. Kapitel

78. Kapitel

79. Kapitel

80. Kapitel

81. Kapitel

82. Kapitel

83. Kapitel

84. Kapitel

85. Kapitel

86. Kapitel

87. Kapitel

88. Kapitel

89. Kapitel

90. Kapitel

91. Kapitel

Leseprobe »Winterfest«

1

Der Tote war völlig ausgetrocknet. Mit aufgeplatzten Lippen und schwarzgelben, entblößten Zähnen saß er zurückgelehnt im Sessel. Ein paar dünne, verstaubte Haarsträhnen hingen noch an seinem Schädel. Unter der Gesichtshaut schimmerten bleiche Knochen. Die Finger waren eingeschrumpft, schwarz und schrumpelig.

William Wisting blätterte durch die restlichen Aufnahmen, die der Kriminaltechniker gemacht hatte. Der Mann war verhältnismäßig klein, aber da sich das Gewebe zurückgezogen hatte und eingetrocknet war, wirkte sein Körper noch kleiner, als er zu Lebzeiten gewesen sein musste.

Die Mappe war mit Viggo Hansen überschrieben. Die Fotos waren aus verschiedenen Winkeln geschossen worden. Wisting betrachtete die Abbildungen der nahezu mumifizierten Leiche. Normalerweise ließ ihn der Inhalt solcher Fotomappen kalt. Er war mit dem Tod vertraut und hatte gelernt, sich von Sinneseindrücken zu distanzieren. Im Laufe von mehr als dreißig Jahren bei der Polizei hatte er so viele tote Körper gesehen, dass er nicht mehr wusste, wie viele es eigentlich gewesen waren. Doch das hier war anders. Nicht nur, weil er noch nie zuvor etwas Ähnliches gesehen, sondern weil er den Mann im Sessel gekannt hatte. Im Grunde genommen waren sie Nachbarn. Viggo Hansen hatte drei Häuser weiter unten an der Straße gewohnt und dann vier Monate tot in seinem Sessel gesessen, ohne dass Wisting oder einem anderen Nachbarn etwas aufgefallen war.

Wisting hielt bei einer Aufnahme inne, die das Wohnzimmer von der Küchentür aus zeigte. Der Mann saß mit dem Rücken zum Fotografen vor dem Fernseher. Das Gerät war eingeschaltet, so wie es die Polizeistreife vorgefunden hatte, als sie ins Haus eingedrungen war.

Das Zimmer war spärlich möbliert. Abgesehen vom Fernsehtisch und dem Sessel, in dem der Mann saß, sah Wisting einen länglichen Wohnzimmertisch, einen weiteren Sessel sowie ein Sofa mit Kissen und Decke. Auf der anderen Zimmerseite hingen graue Gardinen vor dem Fenster. Rechts neben dem Fernsehgerät befand sich eine Stehlampe mit Fransen und braunen Brandflecken am Schirm. An den Wänden hingen drei Bilder mit Landschaftsmotiven. Auf dem Tisch lagen eine Wochenzeitschrift und die Fernbedienung, daneben standen ein Glas und ein Teller mit undefinierbaren Essensresten. Ansonsten wirkte das Zimmer aufgeräumt.

Es gab keine Anzeichen eines Kampfs. Nichts deutete darauf hin, dass der einsame Mann in seinen letzten Stunden unwillkommenen Besuch erhalten hatte. Keinerlei Verdachtsmomente, die Rückschlüsse auf eine kriminelle Handlung zuließen. Gleichwohl erforderten die Umstände eine polizeiliche Untersuchung des Todesfalls, und Espen Mortensen hatte einen gründlichen, wenngleich von Routine geprägten Job ausgeführt.

Das nächste Bild war eine Nahaufnahme der Wochenzeitschrift auf dem Wohnzimmertisch. Sie zeigte die Programmübersicht für Donnerstag, den 11. August.

Wisting hob den Blick und schaute durch das Bürofenster auf den Schnee, der feucht und schwer vom Himmel fiel. Der Kalender zeigte Freitag, den 9. Dezember. Wenn nicht die unbezahlte Stromrechnung gewesen wäre, hätte Viggo Hansen womöglich noch länger tot in seinem Haus gelegen. Der Stromlieferant hatte mehrere Mahnungen geschickt und mit einer Unterbrechung der Stromzufuhr gedroht. Schließlich hatten sie einen Außendienstmitarbeiter zu der Adresse geschickt. Nur zufällig hatte dieser durch einen Gardinenschlitz ins Wohnzimmer geblickt und Viggo Hansen in seinem Sessel entdeckt.

In der Programmübersicht waren die Sendungen, die Viggo Hansen sich anscheinend hatte ansehen wollen, mit Haken dahinter sowie Kreisen um die Uhrzeit versehen. Eine der Sendungen lief bei Discovery Channel und hieß Archive des FBI.Wisting kannte die Serie, bei der einige der größten Fälle des amerikanischen Ermittlungsdienstes rekonstruiert wurden.

Wisting blätterte weiter. Das nächste Bild zeigte das Gesicht des Toten. Es war dunkel und angeschwollen; wo sich die Haut abgelöst hatte, waren Risse entstanden. Die Zähne mitsamt den hintersten Kronen waren deutlich erkennbar. Die Reste der Zunge lagen als blauschwarzer Klumpen im Mund. Die Augenhöhlen waren groß und leer, der Tote schien starr vor sich hin zu blicken.

 

Wisting legte die Fotos zurück in die Mappe, stand auf und trat ans Fenster. Die Dämmerung hatte eingesetzt. Eine blaugraue Winterdämmerung. Er hätte nach Hause fahren sollen, aber eigentlich gab es nichts, wohin er hätte zurückkehren können, mit Ausnahme des Fernsehers.

Unten im Hinterhof rollte einer der Streifenwagen aus der Garage heraus. Die Reifen drehten kurz durch, bevor sie schließlich Halt im Schnee fanden. Das Blaulicht fiel auf die Schneeflocken und wurde in Form winziger Funken zurückgeworfen.

Langsam ging Wisting zurück zu seinem Schreibtisch und starrte auf die dünne Akte. Viggo Hansen hatte keine Familie, keine Freunde oder sonstige Angehörige. Er hatte sein Leben genauso einsam beendet, wie er es gelebt hatte.

Wisting wollte die Akte gerade auf einen Stapel legen, der ins Archiv wandern sollte, doch irgendetwas hielt ihn zurück. Er wusste nicht, was. Weder Erfahrung noch Intuition sagten etwas anderes, als dass dieser Fall abgeschlossen war. Die wichtigste Aufgabe der Ermittlungen hatte in der Identifizierung des Toten bestanden. Es gab keine Familienmitglieder, mit denen sein DNA-Profil hätte abgeglichen werden können, doch die Referenzproben von einer Zahnbürste sowie einem Kamm in der hinteren Tasche einer über einen Stuhl geworfenen Hose im Schlafzimmer stimmten überein. Die Analyse der untersuchten Proben zeigte eindeutig, dass der tote Mann identisch mit dem Bewohner des Hauses war: Viggo Hansen, einundsechzig Jahre alt.

Der Rechtsmediziner war erstaunt darüber, wie gut die Leiche erhalten war. Eine Kombination aus geringer Luftfeuchtigkeit, niedriger Temperatur und einem nahezu luftdichten Raum, in dem alle Türen, Fenster und sonstigen Luftkanäle geschlossen waren, hatte dazu geführt, dass Viggo Hansen langsam, aber sicher zu einer Mumie vertrocknet war, anstatt zu verfaulen und sich aufzulösen. Ungeachtet dessen war es unmöglich gewesen, die Todesursache zu bestimmen. Auf dem Totenschein stand lediglich mors subita. Plötzlich eingetretener Tod.

Der Computer gab ein Signal von sich, und ein rotes Rechteck erschien auf dem Bildschirm. Eine Eilmeldung der Einsatzzentrale. Wisting spähte auf den Schirm. Vier Wörter: Leichenfund beim Bauernhof Halle.

Er legte den Hansen-Fall auf den für das Archiv bestimmten Stapel und öffnete die Nachricht.

2

In den Redaktionsräumen war es still. Der feuchte Schnee haftete an den Scheiben und dämpfte die Geräusche von draußen. Die Bürolandschaft war bereits weihnachtlich geschmückt. Die Fernsehbildschirme, auf denen sich stumme Szenen der internationalen Nachrichtenkanäle abzeichneten, waren mit silbernen Girlanden und roten Weihnachtskugeln verziert. Das VG-Logo hatte ein paar weiße Engel hinzubekommen, und an vielen der Trennwände zwischen den einzelnen Arbeitsplätzen blinkten bunte Lichter.

Der Leiter der Nachrichtenabteilung hieß Knut A. Sandersen. Sein Büro war mit gläsernen Wänden vom Rest der Redaktion abgetrennt. Line beobachtete, wie er sein Handy zwischen Schulter und Ohr einklemmte, während er an der Tastatur arbeitete. Er hätte schon längst nach Hause gehen müssen. Vor zweieinhalb Monaten war er erneut Vater geworden. Jetzt war es schon fast sieben, und er hatte bereits drei Überstunden hinter sich.

Sandersen beendete das Gespräch, trank einen Schluck Kaffee und legte den Kopf zurück. Direkt über ihm hatte irgendjemand einen Mistelzweig an die Leuchtarmaturen gehängt.

Line stand auf, um zu ihm zu gehen und ihm ihren Vorschlag zu unterbreiten. Doch in Sandersens Glaskasten hatte das Telefon erneut zu klingeln begonnen. Line nahm ihre Kaffeetasse in die Hand und dachte an Weihnachten, während sie darauf wartete, dass der Abteilungsleiter sein Telefonat beendete. Sie fragte sich, wie sie Weihnachten feiern sollte. Zwar hatte sie noch nicht mit ihrem Vater gesprochen, ging aber davon aus, dass sie beide zusammen mit dem Großvater zu Hause in Stavern feiern würden. Vielleicht könnte Thomas ja auch kommen. Sie waren Zwillinge, und er arbeitete als Hubschrauberpilot in der 330er-Schwadron. Als ihre Mutter noch lebte, hatte er niemals über Weihnachten freibekommen. Der Gedanke rief unvermittelt ein Gefühl des Verlusts in ihr wach. Die Mutter war jetzt seit fünfeinhalb Jahren tot. Zu Beginn war die vergebliche Sehnsucht nur schwer zu ertragen gewesen. Es hatte Tage gegeben, an denen Line morgens nicht aufstehen konnte; inmitten einer Besprechung war sie plötzlich in Tränen ausgebrochen, und ständig hatte sie sich Sorgen darüber gemacht, wie wohl ihr Vater sein Leben allein bewältigen würde. Inzwischen war das Verlustgefühl milder geworden, weniger verzweifelt; gleichwohl wusste Line, dass sie nicht zufällig so viel arbeitete. Sie war ein wenig abhängig davon geworden, die Konzentration und Spannung zu spüren, wenn sie sich mitten in einer Story befand.

Der Nachrichtenchef beendete sein Gespräch, bekam aber einen weiteren Anruf, bevor Line aufstehen konnte. Sandersens Haar hatte im Laufe der Jahre, die seit Lines erstem Vertretungsjob bei der Zeitung vergangen waren, ein paar weitere graue Strähnen bekommen. Mittlerweile war Line fest angestellt und gehörte zur Kriminalabteilung. Die Sache, die sie Sandersen vorschlagen wollte, lag zwar außerhalb ihres Bereichs, aber es gab in der Redaktion gewöhnlich genügend Kapazität, um Line ein paar Tage für das Wochenendmagazin arbeiten zu lassen, und dafür hatte sie nun eine Idee.

Sandersen erhob sich und prostete dem Mistelzweig zu. Line vermutete, dass er ihn selbst dort aufgehängt hatte. Auf dem Weg zum Kaffeeautomaten sprach er in sein Telefon, hatte das Gespräch aber beendet, als er mit einer Handvoll Pfefferkuchen und einem gefüllten Becher zurückkam. Er setzte sich an seinen Schreibtisch, lehnte sich zurück und blieb eine Weile so sitzen.

Line war klar, dass sie schnell sein musste. Mit drei Sätzen musste sie ihren Reportagevorschlag an den Mann bringen. Sie stand auf, nahm ihre Kaffeetasse mit, wie um das Gespräch ein wenig informeller erscheinen zu lassen, und ging in sein Büro. Sandersen ließ den Blick über den Mistelzweig schweifen, bevor er Line fokussierte.

»Ich möchte über Viggo Hansen schreiben«, sagte sie.

Sandersen begann, seinen überfüllten Schreibtisch aufzuräumen.

»Nie von ihm gehört«, erwiderte er, während er lose Blätter zu Stapeln ordnete. »Was hat er gemacht?«

»Er ist tot.«

»Ermordet?«

Line schüttelte den Kopf.

»Er saß vier Monate tot vor dem Fernseher, bevor ihn jemand gefunden hat.«

»Ziemlich tot also.«

»Ich will darüber schreiben, wie so was geschehen kann«, erklärte Line. »Wie du so einsam und von allen vergessen sein kannst, dass es vier Monate dauert, bevor jemand zufällig herausfindet, dass du tot bist.«

Sandersen öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch Line kam ihm zuvor.

»Ich glaube, das könnte eine tolle Sache werden, wenn das an einem der Weihnachtstage erscheint«, sagte sie und nahm einen Schluck Kaffee. »Wir sind von der UN gerade zu dem Land gekürt worden, in dem es sich am besten lebt. Aber wenn man das Glücksempfinden der Einwohner untersucht, landet Norwegen auf Platz 112. Es gab da irgendein Land im Stillen Ozean, was ganz oben auf der Liste steht. Eine kleine Insel, wo die Menschen Zeit füreinander haben und sich umeinander kümmern.«

Line bemerkte, dass Sandersen die Idee gefiel. Ihr Vorschlag würde gut in die Themenvielfalt passen. Als Gegengewicht zu Festtagslaune, Schlankheitskuren und zum Umtausch von Weihnachtsgeschenken. Trotzdem wirkte ihr Chef ein wenig zurückhaltend.

»Wir müssen ja auch mal über was anderes als das Wetter schreiben«, fügte sie hinzu und deutete mit einem Kopfnicken auf die Titelseite der aktuellen Ausgabe: Jetzt kommt die sibirische Kälte.

Nach einer Weile begriff Line, dass Sandersens Sorgenfalten nicht ihrem Vorschlag galten, sondern etwas anderem.

In der Etage über ihnen saßen fünfundzwanzig Leute, die am Wochenendmagazin arbeiteten, genügend Kollegen, um die Beilage zu füllen. Sandersen hingegen hatte nicht genügend Journalisten, um noch eine abgeben zu können. Im Gegenteil, es fehlte ein Kopf für die Nachrichten.

»Ich brauche drei oder vier Tage«, sagte Line, obwohl sie wusste, dass sie wahrscheinlich mehr benötigte. »Seine Beerdigung ist am Dienstag.«

Sandersen nahm einen Kugelschreiber und schob ihn zwischen seine Lippen.

»Was hat er gesehen?«

»Wovon redest du?«

»Welches Fernsehprogramm hat er gesehen, als er gestorben ist?«

»Keine Ahnung«, sagte Line und trank einen Schluck Kaffee. »Aber das kannst du dann in der Zeitung lesen.«

Sandersen nickte.

»Abgemacht«, sagte er und warf einen Blick auf die nach oben führende Treppe. »Ich biete ihnen die Sache an und sage ihnen, dass sie dich drei Tage ausleihen können.«

»Drei Tage«, bestätigte Line, bevor sie sich hinunterbeugte und ihn auf die Stirn küsste.

3

Ein entgegenkommender Schneepflug wirbelte eine weiße Wolke auf, die sich fast vollständig auf die Frontscheibe legte. Wisting verlangsamte das Tempo, bis er die Fahrbahn wieder erkennen konnte.

Ein Streifenwagen und ein Polizist mit Schnee auf dem Mützenschirm standen am Rand des Wegs, der Wisting zu dem Bauernhof führen sollte, von dem der Anruf gekommen war. Weihnachtsbäume selber schlagen stand mit großen roten Buchstaben auf einem Schild.

Wisting nickte dem Streifenpolizisten zu und bog in den Seitenweg ein. In einiger Entfernung sah er die Lichter von Fahrzeugen sowie ein paar Menschen, die geschäftig über einen offenen Platz liefen.

Die Leiche war auf einem Feld mit Edeltannen gefunden worden. Die erste am Tatort eingetroffene Polizeistreife hatte durchgegeben, die gefundene Person habe dort offenbar schon lange gelegen. Wisting wusste, was das bedeutete. Wie wenig blieb doch von einem menschlichen Körper übrig, dem Zeit und Natur zugesetzt hatten.

Wisting parkte den Wagen, stieg aus und merkte sogleich, wie dünn er angezogen war.

Zwei uniformierte Polizisten standen am Eingang der Schonung. Ein Schild verriet, dass eine Edeltanne 380 Kronen kostete, wohingegen für einen gewöhnlichen norwegischen Weihnachtsbaum 220 Kronen verlangt wurden.

»Wissen wir schon mehr?«, fragte Wisting.

Der ältere der beiden Streifenbeamten verlagerte das Gewicht von einem Fuß auf den anderen und wieder zurück.

»Nein«, sagte er und bedachte seine Hände mit einem Stoß warmer Atemluft, die sogleich verdampfte. »Mortensen ist da drinnen beschäftigt«, fügte er mit einem Kopfnicken in Richtung Schonung hinzu. »Aber ich glaub nicht, dass es da viel zu holen gibt. Nach Klamotten und Stiefeln zu urteilen, ist es wohl ein Mann, aber ganz sicher kann man da ja nie sein.«

Wisting schaute hinüber zu den schnurgeraden Reihen mit Weihnachtsbäumen. Fünfzig Meter weiter war ein Scheinwerfer aufgebaut; der Kriminaltechniker beugte sich über etwas Undefinierbares.

»Wer hat ihn gefunden?«, fragte Wisting.

»Ein achtjähriger Junge, der hier mit seinem Vater einen Baum schlagen wollte. Die Leiche liegt unterhalb der Zweige, ganz nahe am Stamm, als wäre sie da so dicht wie möglich drangeschoben worden.«

Der zweite Streifenpolizist meldete sich zu Wort:

»Die haben da den Schnee weggetreten, um die Axt anzusetzen. Sie wussten erst gar nicht, was das war.«

Wisting nickte und konnte schon die Schlagzeile vor seinem geistigen Auge sehen: Junge (8) fand toten Mann unter Weihnachtsbaum.

»Wo sind die jetzt?«, fragte er. »Der Junge und sein Vater?«

»Wir haben sie nach Hause geschickt.«

Wisting bedankte sich und betrat die Schonung. Unter seinen Schuhsohlen knirschte der Schnee.

Mortensen richtete sich auf und begrüßte ihn mit einem Nicken. Feuchte Schneeflocken hingen in seinem Haar.

Wisting betrachtete die Leiche aus einem Meter Abstand. Er musste in die Hocke gehen, um unter die Fichtenzweige spähen zu können. Ein gekrümmter Rücken mit einem verfärbten und steif gefrorenen Blazer, eine helle Hose und ein Paar braune Lederschuhe mit Schnürsenkeln und flacher Sohle. Am Hinterkopf saßen noch ein paar Haarreste. Im Nacken gab es Spuren von Vögeln und kleinen Nagern, die sich an der Leiche gütlich getan hatten.

»Was glaubst du?«, fragte Wisting und erhob sich wieder.

Espen Mortensen zuckte mit den Schultern.

»Wir lassen ihn da rausholen und in die Rechtsmedizin bringen. Dann errichten wir ein Zelt, überdachen den Fundort und räumen den Schnee beiseite. Da liegt vielleicht noch mehr.«

»Volles Paket?«, kommentierte Wisting. »Du glaubst nicht, dass es sich um einen natürlichen Tod handeln kann?«

Mortensen schüttelte den Kopf.

»Wenn wir hier weit vom Schuss wären, würde es vielleicht so aussehen, als hätte er sich da hingelegt, um Schutz zu suchen. Aber die Stelle hier liegt fünfzig Meter neben dem Hofweg, und es sind knapp hundert Meter bis zum nächsten Gebäude.«

Wisting ging abermals in die Hocke. Mortensen hatte recht. Und ebenso wenig konnte es sich um einen Unfall gehandelt haben. Selbstmord war eine Möglichkeit. Vielleicht würden sie ja unter den Zweigen neben der Leiche ein Pillengläschen finden. Das würde die Sache vereinfachen, aber irgendetwas sagte ihm, dass es nicht so kommen würde.

»Was glaubst du? Wie lange hat er da gelegen?«

»Seit dem Sommer.«

Wisting war erstaunt und wartete auf eine weiterführende Erklärung.

»Die Klamotten«, sagte Mortensen. »Es sind Sommersachen.«

Wisting erhob sich wieder und trat einen Schritt zurück.

»Wir haben niemanden auf der Liste stehen«, sagte er. »Keinerlei vermisste Personen.«

4

Line dachte an Viggo Hansen. Sie war nur drei Häuser von ihm entfernt aufgewachsen und konnte sich gut an ihn erinnern. Eigentlich hatte ihn immer irgendetwas Seltsames umgeben. Alle Kinder hatten Angst vor ihm gehabt, ohne dass es dafür einen speziellen Grund gab. Nur selten hatten sie ihn tagüber gesehen, aber dafür war er oft in der Nacht unterwegs gewesen. Sie konnte sich noch gut erinnern, dass ihre Mutter, wenn Line manchmal ankündigte, dass es abends später werden würde, sie immer ermahnt hatte, nach Hause zu kommen, bevor Viggo Hansen ausging. Manchmal hatten sie und Thomas am Fenster gestanden und beobachtet, wie er kurz nach Mitternacht auftauchte. Krumm gebeugt und in einen schwarzen Mantel gehüllt, der ihm etwas zu groß gewesen war, hatte er sich stets auf der unbeleuchteten Straßenseite bewegt.

Gerüchte besagten, seine Mutter habe im Irrenhaus gesessen, und sein Vater sei im Gefängnis gewesen, aber Line wusste nicht, ob es nur Gerede war oder ob etwas Wahres dahintersteckte.

Jetzt freute sie sich, mit der Arbeit zu beginnen. Noch bevor sie die Zusage von Sandersen erhielt, hatte sie eine mit Viggo Hansen bezeichnete Datei auf ihrem Computer gespeichert. An einem Feature zu arbeiten, war ein völlig anderer journalistischer Prozess als der, den sie für gewöhnlich durchlief. Dies galt sowohl für die Arbeit mit der Idee an sich als auch für die Recherche und Analyse des Stoffs sowie dessen Weitervermittlung. Es war eine ganz eigene Art und Weise, sich der Wirklichkeit zu nähern.

Bei gewöhnlichem Nachrichtenstoff schrieb sie sehr direkt. Ihre Sprache war dann einfach und funktional. Doch in einer Feature-Reportage war das ganz anders. Line hatte viel mehr Spielraum für Experimente, und wenngleich ihre Worte keine Poesie formten, konnte sie doch dasitzen und stundenlang an einzelnen Sätzen feilen. Und manchmal brauchte sie sehr viel Zeit für die Struktur einer Story. Stets versuchte sie, den Artikel erzählend zu beginnen und den Menschen, über die sie schrieb, Form und Profil zu verleihen. Die Feature-Storys waren eine Textsorte, die es ihr erlaubte, in die Tiefe zu gehen und der Geschichte einen eigenen Stempel aufzudrücken. Gleichzeitig war es faszinierend, wie durch Einzelschicksale, Situationsbeschreibungen und aussagekräftige Details, denen so etwas wie eine eigene Kraft innewohnte, wichtige gesellschaftliche Themen gespiegelt wurden; so konnten größere Geschichten erzählt werden.

Außerdem hatte Line das Gefühl, dass die Arbeiten, die sie für die Redaktion des Magazins ausführte, eher wertgeschätzt wurden – sowohl von den Lesern als auch von Lines Chefs. Manchmal lobten Sandersen oder die Nachrichtenredakteure Line für Beiträge, aber dieses Lob konnte sich nie mit den begeisterten Rückmeldungen der Redakteure des Wochenendmagazins messen. Oft waren diese mit Smileys oder mehreren Ausrufezeichen geschmückt. Und bis jetzt hatte Line auch nur solche Features geschrieben, die mit einer Reihe von Leserbriefen belohnt worden waren. Häufig kamen diese per E-Mail, aber es gab auch handgeschriebene Briefe, mit Briefmarke, an VG adressiert und mit ihrem Namen versehen. Sie hatte alle aufgehoben.

Schon früher hatte Line ein paar Porträt-Interviews verfasst. Es gefiel ihr, und gern versuchte sie, die Ansichten und Haltungen anderer Menschen zu verstehen und zu vermitteln. Bisher hatte es sich dabei zwar immer um Lebende gehandelt, aber im Prinzip war es das Gleiche. Es ging darum, herauszufinden, wer dieser Mensch, dem sie da begegnete, eigentlich war.

Bis jetzt war die Akte Viggo Hansen noch nicht allzu dick. Es gab einen Ausschnitt aus der heimischen Zeitung, die über die Sache berichtet hatte. Doch der tote Mann hatte keine größeren Reaktionen hervorgerufen. Keinerlei Leserkommentar mit Kritik am Gesundheitswesen oder der Versorgung älterer Menschen. Weder Nachrichtenagenturen noch eine der großen Zeitungen hatten die Sache aufgegriffen.

Line kannte den Journalisten, der den kurzen Bericht in der Lokalzeitung geschrieben hatte: Garm Søbakken. Sie hatten einmal zusammengearbeitet, als Line als Vertretung eingesprungen war. Wenn Garm die Einzelheiten der Geschichte gekannt hätte, wäre die Sache wohl von anderen Medien aufgegriffen worden. Doch in der kurzen Notiz stand nur, dass der Mann allein gewohnt und längere Zeit tot in seiner Wohnung gelegen hatte, bevor man ihn fand. Es schien, als sei Garm am meisten daran interessiert gewesen, dass die Polizei keinerlei Verdacht auf eine kriminelle Handlung hegte. Er hatte erläutert, dass routinemäßig Untersuchungen eingeleitet wurden, wenn jemand unverhofft gestorben und die Todesursache nicht geklärt werden konnte.

In derselben Ausgabe hatte Garm außerdem über die schwierige Wohnungssituation für die Studenten in der Stadt berichtet sowie erneut ein Gewaltverbrechen erwähnt, über das er zuvor bereits geschrieben hatte. Mit anderen Worten: Er hatte also offenbar viel zu tun gehabt.

Lines Interesse war zunächst dadurch geweckt worden, dass Viggo Hansen in der Nachbarschaft gelebt hatte. Wenn sie zur Schule gegangen oder auf dem Heimweg gewesen war, hatte sie seinen Namen auf dem Briefkasten gelesen, aus seinem Garten hatte sie Äpfel geklaut und manchmal an seiner Haustür Lose für die Handballmannschaft verkauft, aber nur vage konnte sie sich erinnern, wie er eigentlich ausgesehen hatte. Ein nicht besonders großer Mann mit struppigem Haar und kräftigem Unterkiefer.

Lines Vater hatte ihr bei einem Telefonat nebenbei erzählt, dass Hansen gestorben war. Line hatte dann die Fragen gestellt, für die sich die Kollegen in der Lokalzeitung nicht interessierten, und dadurch Einzelheiten erfahren, die den Todesfall zu einer guten Story machen konnten. Sie wusste zum Beispiel, dass Viggo Hansen seit dem Sommer tot in einem Sessel vor dem Fernseher gesessen hatte. Dass das TV-Gerät noch immer lief, als sich die Polizeistreife Zugang verschafft hatte, war ein Punkt, den sie gut in der Einleitung verwenden konnte.

Von ihrem Vater hatte Line auch erfahren, warum der Todesfall nicht früher entdeckt worden war. Viggo Hansen hatte isoliert gelebt, ohne Familie, Arbeitskollegen oder Freunde. Ein Zeitungsabo gab es nicht, und er bekam so gut wie nie Post. Sein Bankkonto wies regelmäßige Bewegungen auf; die Pension kam herein, und die meisten Rechnungen wurden per Dauerauftrag beglichen. Er war ein Mensch gewesen, der für seine Umgebung nicht existierte. Ein Mensch, der kaum gesehen wurde, obwohl er inmitten der Nachbarschaft lebte.

Line wurde klar, dass sie nicht nur über die äußeren Umstände berichten sollte, über Einsamkeit und ein Leben in Isolation, sondern dass sie eine Geschichte schreiben musste, die erzählte, wer dieser Viggo Hansen eigentlich gewesen war. Zwar hatte ihn niemand gekannt, aber nun würden die Leser nachträglich Bekanntschaft mit ihm schließen können.

Der Beginn einer solchen Geschichte glich dem Blick durch ein Schlüsselloch, dachte sie. Zuerst sah man nur den Teil des Raums, den das Schlüsselloch freigab, doch Line wusste, dass der Raum unendlich viel mehr enthielt.

Während sie an der Sache arbeitete, würde sie wohl am besten zu Hause bei ihrem Vater wohnen. Sie musste ja auch unbedingt noch mehr Informationen aus ihm herauskitzeln. Viggo Hansen war zwar acht Jahre älter als ihr Vater gewesen, aber vielleicht wusste Wisting ja von jemandem, der ihn gekannt hatte. Außerdem würde er mit Sicherheit sagen können, ob es stimmte, dass Hansens Mutter in der Psychiatrie und sein Vater im Gefängnis gewesen waren.

Line öffnete ein neues Dokument und wählte einen vorformatierten Brief mit VG-Logo. Wenn sie etwas erreichen wollte, würde sie auch formelle Informationen von der Polizei benötigen. Als Überschrift wählte sie: Ersuchen um Einblick in Dokumente aus Strafsache. Schon früher hatte sie ähnliche Briefe geschrieben und einen der Abteilungsleiter dazu bringen können, sie zu unterschreiben. Sie blickte auf die Textzeile und löschte das Wort Strafsache. Im Vergleich zu ihren üblichen Artikeln war das hier etwas anderes. Hier ging es nicht um Kriminaljournalismus.

Sie erläuterte ihre Idee und führte an, die Zeitung wolle eine Reportage bringen, um den ständig größer werdenden Mangel an Gemeinschaftssinn und Mitmenschlichkeit in der Gesellschaft sichtbar zu machen. Am Ende des Briefs bat sie um die Erlaubnis, das Haus von Viggo Hansen betreten zu dürfen. Aller Wahrscheinlichkeit nach würde die Polizei sie an die Kommune verweisen, die in solchen Fällen für die Verwaltung der Hinterlassenschaft zuständig war, doch sicher war es einfacher, eine Erlaubnis von dort zu bekommen, wenn die Polizei schon ihren Segen gegeben hatte.

Als sie fertig war, lehnte Line sich zurück, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und schaute aus dem Fenster. Es schneite stark; nachdem sie in die Redaktion gekommen war, musste mindestens ein halber Meter Schnee gefallen sein. Bestimmt hatte Sandersen schon einen der Nachrichtenredakteure auserkoren, um eine Story über das Schneechaos zu schreiben.

Line beugte sich wieder vor und nahm den Telefonhörer ab. Sie wählte die Nummer ihres Vaters, um ihm mitzuteilen, dass sie ein paar Tage bei ihm wohnen wolle. Niemand antwortete. Sie sah auf die Uhr. Es war Viertel nach neun. Wahrscheinlich war er auf dem Sofa eingeschlafen.

5

Wisting stand am Fenster des Besprechungsraums in der ersten Etage des Polizeipräsidiums und blickte hinunter. Die Laternen warfen blasse Lichtkreise auf die Straßen. In Schnee eingepackt wirkte die Stadt auf einmal viel behaglicher.

Nils Hammer kam als Erster. Ohne etwas zu sagen, setzte er sich an seinen festen Platz an der Ecke des langen Tischs, nahm sich einen Plastikbecher und streckte seine grobe Hand nach der Kaffeekanne aus. Hammer war ein furchtloser Ermittler. Man konnte ihm trauen, er war ehrlich und arbeitsam, stoisch und bescheiden. Manchmal konnte er heftige Diskussionen am Mittagstisch auslösen. Er war definitiv der am wenigsten politisch korrekte Beamte im Präsidium, und Wisting verdächtigte Hammer, ein gewisses Vergnügen daran zu finden, seine Kollegen zu reizen.

Fast gleichzeitig betraten die anderen den Besprechungsraum: Torunn Borg, Christine Thiis und Benjamin Fjeld. Mehr Leute waren es nicht.

Erst vor wenigen Jahren noch konnten ernsthafte Angelegenheiten wie Mord, Raubüberfall, Körperverletzung oder ein Leichenfund problemlos mehr als zehn Ermittler in einem Team zusammenbringen. Heutzutage war es schwierig, auch nur eine Handvoll von ihnen um einen Konferenztisch zu versammeln.

Benjamin Fjeld, der jüngste und am wenigsten erfahrene Kollege, war blond, blauäugig und trug sein Haar kurzgeschnitten. Er besaß noch immer den durchtrainierten Körper eines neu ausgebildeten Polizisten. Schon früher hatte er in der Abteilung hospitiert, war aber inzwischen fest angestellter Ermittler. Fjeld, engagiert und gebildet, bewältigte ein großes Arbeitsvolumen und hatte ein gutes Auge für Details.

Torunn Borg war genauso lange Ermittlerin wie Wisting selbst. Von allen war sie diejenige, die am stärksten methodisch vorging. Außerdem konnte sie logisch und systematisch denken und eine ganze Folge von Fakten präzise im Auge behalten. So erkannte sie Zusammenhänge und Verbindungen, die für den Ausgang eines Falls oft entscheidend waren.

Christine Thiis war Juristin und erst ein gutes Jahr im Präsidium tätig, aber Wisting hatte sie als reflektierten Menschen mit gutem Einschätzungsvermögen kennengelernt. Vielleicht hatte sie sogar mehr Ahnung von Psychologie und Menschenkenntnis als von Ermittlungstaktik, was sie umso mehr zur tüchtigen Polizeijuristin machte.

Wisting setzte sich ans Ende des Tisches und legte einen leeren Notizblock vor sich hin.

»Schön, dass ihr so spät noch kommen konntet«, sagte er. »Noch wissen wir nicht, worum es eigentlich geht, aber nichtsdestotrotz ist es wichtig, mit der Arbeit zu beginnen.«

»Was wissen wir denn überhaupt?«, fragte Hammer und biss in den Rand seines Plastikbechers.

Wisting breitete eine Landkarte aus und beugte sich über den Tisch, um den anderen den Fundort der Leiche zu zeigen. Sein Finger folgte der Linie vom Brunlanesveien hinaus nach Helgeroa. Am Hellevannet fand er die richtige Abzweigung und eine hellgrün schraffierte Gegend. Er zog einen Kugelschreiber hervor und versah den Fundort mit einem Kreuz.

»Von den Schuhen und der Bekleidung her kann man wohl davon ausgehen, dass es sich um einen Mann handelt«, sagte er und setzte sich wieder. »Und dass er da seit dem Sommer gelegen hat.«

»Und es gibt keine Vermisstenmeldungen, auf die diese Parameter zutreffen können?«, wollte Christine Thiis bestätigt haben.

Wisting nickte zustimmend.

»Im Sommer kommen ungefähr vierzigtausend Touristen in diese Gegend«, erinnerte Hammer. »Vielleicht sollten wir die Suche in den Registern etwas ausweiten?!«

»Schon veranlasst«, erwiderte Torunn Borg und zog einen Ausdruck aus dem Papierstapel vor sich. »Sehr viel klüger wird man daraus nicht. Zwei deutsche Touristen sind Mitte Juli bei einer Angeltour in Westnorwegen verschwunden, nur einer von ihnen wurde gefunden, und ein niederländischer Wanderer wird immer noch auf der Hardangervidda vermisst.«

Wisting sah auf die Uhr.

»Mortensen wird vom Fundort bald hierherkommen«, sagte er und notierte ID auf dem Notizblock. Identität. Das war das Wichtigste, um die Arbeit fortsetzen zu können. »Vielleicht erfahren wir ja dann etwas mehr.«

»Wie geht’s denn dem Jungen, der ihn gefunden hat?«, wollte Christine Thiis wissen.

»Sein Vater weiß sich wohl zu helfen«, erwiderte Wisting. »Lehrer an irgendeiner Hochschule oder so etwas. Er wollte zumindest keine professionelle Hilfe. Wollen wir mal hoffen, dass es gutgeht.«

»Hat die Presse schon Wind bekommen?«, fragte Hammer.

Christine Thiis nickte. Sie war für die rechtliche Verfolgung von Straftaten verantwortlich, und alle Anfragen der Medien landeten zunächst auf ihrem Tisch.

»Solange wir gar nicht wissen, ob es sich überhaupt um einen Fall handelt, warten sie erst mal ab«, erläuterte sie. »Einige Details könnten ja auch auf Selbstmord hindeuten.«

Hammer teilte ihre Ansicht.

»Das erleben wir doch nicht zum ersten Mal. Jemand nimmt ein Pillengläschen mit und geht in den Wald.«

Die anderen nickten.

»Außerdem wäre es ein seltsamer Ort, um eine Leiche zu verstecken«, warf Benjamin Fjeld ein und zog die Landkarte zu sich heran. Der Abstand von dem Kreuz, das Wisting eingezeichnet hatte, hinüber zu den den Hofgebäuden betrug kaum mehr als hundert Meter.

»Er war auf keine besondere Weise versteckt und wäre früher oder später sowieso gefunden worden.«

»Wer wohnt denn da auf dem Bauernhof?«, fragte Christine Thiis.

Wisting warf einen Blick auf seine Notizen.

»Per und Supattra Halle.«

»Supattra?«

»Seine Frau kommt aus Thailand. Sie ist diejenige, die sich um die Weihnachtsbäume kümmert.«

Hammer verdrehte die Augen, sagte aber nichts weiter.

»Die Streifenpatrouille hat mit ihnen gesprochen, aber offensichtlich hatten sie nicht viel beizutragen«, erklärte Wisting. »Sie kommen morgen hierher, um eine offizielle Erklärung abzugeben. Aber es gab keine besonderen Ereignisse aus dem letzten Sommer, die sie mit dem Leichenfund in Verbindung bringen konnten.«

»Wie sieht es mit der Obduktion aus?«

»Morgen Vormittag. Wenn wir Glück haben, funktioniert das neue Videosystem, und wir können der Sache von hier aus folgen.«

Hammer streckte sich nach der Kaffeekanne und füllte seinen Becher erneut auf.

»Es ist komisch, dass wir ihn nicht auf der Vermisstenliste haben«, sagte er. »Wenn er da schon seit dem Sommer liegt, müsste ihn doch irgendwer vermissen?«

Wisting nahm sich eine Tasse, ohne Hammers Worte zu kommentieren. Schon früher hatte er ähnliche Geschichten erlebt. Es gab Menschen, die für alle anderen unsichtbar waren. Das Merkwürdige war nur, wenn ihnen dann trotzdem jemand nach dem Leben trachtete.

6

Das Handy lag noch im Büro. Wisting entdeckte einen verpassten Anruf von Line und zwei von Espen Mortensen. Der junge Kriminaltechniker hatte ihm auch eine SMS geschickt und mitgeteilt, dass die Leiche weggebracht worden sei. Und dass er bei dem Verstorbenen etwas gefunden habe. Noch vor zehn würde er ins Präsidium kommen. Bis dahin war es noch eine halbe Stunde.

Wisting reizte es, ihn anzurufen und zu fragen, worum es sich handelte. Vielleicht hatten sie ja ein Pillengläschen gefunden, als der tote Körper aufgehoben worden war, oder womöglich war eine Geldbörse mit Identitätsnachweis aufgetaucht.

Line konnte er auch später noch anrufen. Für gewöhnlich meldete sie sich, wenn in der Zeitungsredaktion nichts los war, und fragte dann, wie es ihm ging und woran er gerade arbeitete. Am liebsten wollte er erst einmal allen Erklärungen aus dem Weg gehen. Der Leichenfund war in den Medien noch nicht erwähnt worden, was ihm nur recht war. Ohnehin konnten sie vorerst keine Antworten geben.

Wisting gähnte. Das Schneetreiben machte ihn offenbar müde. Große, flauschige Flocken fielen draußen herab.

Um zehn vor zehn tauchte Espen Mortensen auf. Die Stunden an der kalten Luft hatten dem Kriminaltechniker eine frische Gesichtsfarbe verliehen, ein paar Schneeflocken waren in seinem Haar geschmolzen. Jetzt stand er mit einer dampfenden Kaffeetasse in der einen, einer kleinen Schachtel in der anderen Hand und einem von der Schulter hängenden Fotoapparat inmitten der Bürolandschaft.

»Wir haben die Leiche wegschaffen lassen«, sagte er und setzte sich. »Sie wird morgen Vormittag obduziert.«

»Was habt ihr gefunden?«, wollte Wisting wissen.

Mortensen legte die Schachtel auf den Tisch.

»Wir haben seine Taschen durchsucht, bevor er abtransportiert wurde.«

»Geldbörse?«, fragte Wisting und sah die Hoffnung aufkeimen, einen Namen auf seinen Notizblock schreiben zu können.

Mortensen schüttelte den Kopf.

»Schlüssel?«, lautete Wistings nächster Versuch. Er wusste, dass Systemschlüssel sie zu einer Adresse führen könnten.

»Nein.«

Der Kriminaltechniker hob den Deckel von der kleinen Pappschachtel, zog eine durchsichtige Plastiktüte heraus und legte sie auf den Tisch. Wisting beugte sich vor. In dem Asservatenbeutel lag eine ähnlich durchsichtige Tüte, die ein zerknittertes glänzendes Papier enthielt. Es war eine Broschüre. Auf der Vorderseite war das Bild eines Schiffs mit großen weißen Segeln erkennbar. Elida stand in großen Buchstaben darauf geschrieben. Sailing for Jesus.

Wisting hob die Plastiktüte vorsichtig an.

»Was ist das?«, fragte er und drehte sie herum.

»Willkommen im Hafen, um den Gottesdienst zusammen mit Elida zu feiern!«, las er auf der Rückseite. »Erleben Sie Live-Musik und hören Sie interessante Lebensgeschichten an Bord der Elida.«

»Das ist der Handzettel einer schwedischen Gemeinde«, erklärte Mortensen. »Darauf beschreiben sie Elida als segelnde Kirche, die in der Welt umherreist, um Jesu Worte zu verkünden.«

»Hast du darin herumgeblättert?«, fragte Wisting und wedelte mit der Tüte und der Broschüre herum.

»Internet«, erklärte Mortensen. »Die waren in Woche 32 und 33 auf Sommertournee in Norwegen. Erster Aufenthalt war Stavern. Die lagen hier vom neunten bis zum zehnten August am Kai und sind danach weiter nach Stavanger gefahren.«

Wisting versuchte, seine Gedanken zu ordnen. Er glaubte nicht, dass es sich bei dem Toten um ein Mannschaftsmitglied der segelnden Kirche handelte. Die Vermisstenmeldung eines schwedischen Staatsbürgers wäre vom norwegischen System registriert worden, wenn der Betreffende tatsächlich von einem ausländischen Fahrzeug verschwunden wäre, während dies in einem norwegischen Hafen vor Anker lag.

Wisting legte den Asservatenbeutel zur Seite und blätterte in seinem Tischkalender vier Monate zurück. Vorbei an den Tagen, an denen er vom Dienst suspendiert gewesen war und sich um die Aufklärung einer siebzehn Jahre alten Geschichte bemüht hatte, und zurück zu den Spätsommertagen im August, als er noch mit Suzanne zusammen gewesen war. In dieser Zeit war er mit seiner Arbeit beschäftigt gewesen, hatte aber nicht viele Termine gehabt. Im Notizfeld auf dem Kalenderblatt des 10. August stand Sommerkonzert. Er dachte an den warmen Abend, als er und Suzanne bei einem Jazzkonzert in Bøkeskogen waren. Das war jetzt vier Monate her, und im Laufe dieser vier Monate war er wieder Single geworden. Und in ebendieser Zeit hatte der unbekannte Mann unter einer Fichte auf dem Bauernhof Halle gelegen.

Die Broschüre konnte ihnen, was den Zeitrahmen anbetraf, zumindest einen Hinweis geben. Der Mann musste sie demnach irgendwann nach dem 9. August bekommen haben, als das Schiff in den Hafen von Stavern eingefahren war. Es war der erste greifbare Hinweis und bedeutete tatsächlich einen Fortschritt bei den Ermittlungen.

Wisting hob noch einmal die Tüte an und inspizierte den Inhalt genauer. Die im Innern liegende Plastiktüte erinnerte an die Asservatenbeutel, die sie selbst benutzten, war jedoch verblichen und sah aus, als sei sie Wind und Wetter ausgesetzt gewesen.

»Sie lag in der Innentasche seiner Jacke«, erklärte Mortensen.

Wisting wollte sichergehen, dass er alles richtig verstanden hatte. »Die Broschüre von der Elida lag in einer Plastiktüte in der Innentasche seiner Jacke?«

Mortensen nickte.

»Frag mich nicht, wieso. Aber das lässt uns die Hoffnung, dass sich irgendwo da drauf Fingerabdrücke befinden.«

Wisting blieb mit der Tüte in der Hand eine Weile sitzen. Die Frage, wieso der Mann die Broschüre so sorgfältig behandelt hatte, kreiste durch sein Gehirn, aber er behielt sie für sich.

»Noch irgendwas anderes?«, fragte er und legte die Tüte beiseite.

Espen Mortensen hatte seinen Fotoapparat neben dem Stuhl auf den Boden gelegt. Jetzt hob er ihn hoch und legte ihn auf seinen Schoß.

»Es ist vielleicht etwas verfrüht, die mögliche Bedeutung einzuschätzen«, sagte er. »Aber ich habe ein paar Bilder.«

Er nahm ein paar Einstellungen vor, umfasste das Objektiv und hielt die Rückseite der Kamera mit dem Display Wisting hin.

Die Leiche war umgedreht worden und lag auf dem Rücken. Gesichtshaut und Gewebe waren weitgehend abgefallen. Dort, wo Mund, Nase und Augen gewesen waren, gähnte ein großes Loch. Teile der linken Wange und des Ohrs, die auf dem Boden gelegen hatten, waren hingegen intakt.

Nicht zu erkennen, dachte Wisting. Aber gleichwohl die unverkennbaren Überreste eines Menschen.

Mortensen ließ weitere Fotos auf dem Display aufleuchten und hielt schließlich bei einer Nahaufnahme der rechten Hand des Toten inne. Sie hatte geschützt unter seiner Brust gelegen und war verhältnismäßig gut erhalten, wenngleich nicht so gut, dass sie einen Abdruck der Fingerspitzen hätten nehmen können. Die lederartigen und eingeschrumpften Hautreste umhüllten bleiche Knochen. Weder Ringe noch Armbanduhr, registrierte Wisting. Die Fingernägel waren verschwunden, und die schwarzen Leichenfinger waren gekrümmt, so als wäre die Hand steif geworden beim Griff um etwas, das sie nicht einmal im Tode loslassen wollte.

Wisting beugte sich weiter vor und spähte auf den kleinen Bildschirm. Irgendetwas ragte unter den gekrümmten Fingern hervor. Er sah Mortensen fragend an und wollte seine Entdeckung bestätigt haben.

»Haare«, sagte der Kriminaltechniker mit einem Nicken.

Auf dem nächsten Bild war es noch deutlicher zu erkennen. Der Tote umklammerte ein paar blonde Haare.

Wisting lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und wusste, dass der Kriminaltechniker die Situation genauso deutete wie er selbst. Der tote Mann hatte einen Kampf ausgefochten. Einen Kampf um Leben und Tod. Der Mann auf dem Foto hatte verloren, aber nicht ohne seinem Mörder Widerstand geleistet zu haben.

7

Line wurde langsam wach, blieb aber liegen und lauschte den gedämpften Geräuschen des Verkehrs unten auf der Straße. Schließlich schlug sie die Bettdecke zur Seite und schwang die Beine aus dem Bett. Der Fußboden war kalt. Sie zog ein paar dicke Socken über und tapste schläfrig Richtung Küche.

Ihr winterblasser Körper überzog sich mit Gänsehaut. Line legte den linken Arm über die Brust und trat ans Fenster, um nachzusehen, wie viel Schnee im Laufe der Nacht gefallen war. Ein paar Stunden, nachdem sie sich hingelegt hatte, musste es aufgehört haben, aber insgesamt war wohl ein guter halber Meter Schnee gefallen. Sie konnte gerade noch ihren Wagen unten am Straßenrand erkennen. Die Schneepflüge hatten alles zu einer festen Masse um die Fahrzeuge herumgepackt. Eine der kleineren Maschinen war gerade dabei, den Gehsteig frei zu fegen. Ein Mann mit seinem Hund stakste umständlich zur Seite und ließ den Schneepflug passieren. Lines Atem ließ die Scheibe beschlagen, während sie auf die blinkenden Warnlichter heruntersah, die gelbe Lichtfetzen auf die Hauswände warfen.

Die grauen Wolken hingen tief. Das Thermometer zeigte minus ein Grad. Was bedeutete, dass der Schnee schwer und feucht war. Line schaltete die Kaffeemaschine ein und hoffte darauf, dass einer der Nachbarn, die ihre Wagen vor und hinter ihrem Auto geparkt hatten, zuerst herausfuhr. Bevor sie ihren Wagen freigeschaufelt hätten, war es sinnlos zu duschen. Line zog einen dicken Pullover an. Eigentlich gehörte er Tommy, war aber hier liegen geblieben, nachdem ihr Ex-Freund vor über einem Jahr ausgezogen war. Auch danach hatten sie sich getroffen, und Line hätte ausreichend Gelegenheiten gehabt, ihm den Pullover zurückzugeben. Aber irgendetwas hielt sie zurück. Obwohl es schon Ewigkeiten her war, seit er ihn zuletzt getragen hatte, schien Line Tommys Geruch am Pullover noch immer wahrnehmen zu können. Wenn ihre Sehnsucht allzu groß wurde, zog sie einfach den Pullover an, was besser war, als Tommy anzurufen. Denn das hätte nur intensive Gefühle wachgerufen. Aber Line hatte sich entschieden: Tommy Kvanter war kein Mann, mit dem sie ihr Leben teilen wollte. Sie wünschte sich, eine Familie zu gründen, sie wollte einen Mann haben, dem sie vertrauen konnte, einen, der Verantwortung zeigte und Sicherheit bot. Tommy konnte nichts davon. Er war anziehend, aber leichtfertig, und sie wusste, dass er ihr nicht guttat. Daher behielt sie den vergessenen Pullover eben so lange, bis ein anderer Mensch in ihrem Leben auftauchte. Dann würde sie das Kleidungsstück ein für alle Mal entsorgen.

Die Kaffeemaschine brummte schwach und stieß heißen Dampf aus. Line nahm eine volle Tasse mit zum Küchentisch, setzte sich und hielt die Hände fest um sie geschlossen. In der Wohnung war es kühl.

Sie klappte den Deckel ihres Laptops auf und rief die Titelseite der Online-Ausgabe auf. Noch mehr Schnee im Anmarsch, lautete die Hauptschlagzeile. Line hatte keine Lust, die Sache zu verfolgen, und überprüfte stattdessen ihre E-Mails.

Es war eine Antwort auf ihre Anfrage bei der Rechercheabteilung gekommen. Dort hatten sie Informationen aus dem Einwohnermeldeverzeichnis ausgegraben, die bestätigten, was ihr Vater erzählt hatte: Viggo Hansen hatte keine Familie. Im Februar 1950 in Stavern geboren, hatte er seit dem Bau seines Hauses im Jahr 1964 in der Herman Wildenveys gate gewohnt. Sein Vater war im Jahr 1969 verstorben, seine Mutter, als Viggo Hansen vierundzwanzig Jahre alt war. Unter der Adresse waren keine anderen Personen gemeldet. Wo er in den ersten vierzehn Jahren gelebt hatte, war nicht verzeichnet. Line wusste, dass ältere Einträge im Melderegister nicht elektronisch erfasst waren, weshalb sie in den Papierarchiven nachforschen musste, wenn sie an Informationen herankommen wollte, die im Internet nicht auffindbar waren. Da Viggo Hansen jedoch in Stavern geboren worden war, konnte sie wohl davon ausgehen, dass er sein ganzes Leben in der Gegend verbracht hatte.

Aufgrund ihrer nicht unerheblichen Berufserfahrung wusste Line, dass lebende Quellen noch immer die beste Auskunft gaben. Als eine der letzten Dateien am Abend zuvor hatte sie die Antwort auf eine Anfrage beim öffentlich zugänglichen Steuerverzeichnis abgespeichert. Sie hatte nach Personen gesucht, die in Stavern wohnten und das Geburtsjahr mit Viggo Hansen teilten. Es gab sechsundfünfzig Treffer: achtundzwanzig Frauen und achtundzwanzig Männer, von denen einer Viggo Hansen gewesen war. Noch ein paar andere bekannte Namen standen auf der Liste, Menschen, von denen Line wusste, dass sie ihr ganzes Leben in Stavern verbracht hatten, und die ihr etwas über Viggo Hansen erzählen könnten. Unter anderem ein Künstler, mit dem sie im Zusammenhang mit einer Ausstellung ein Interview gemacht hatte. Damals war sie noch bei der Lokalzeitung tätig gewesen. Außerdem gab es einen Rechtsanwalt mit Namen Realfsen sowie eine Frau, die früher als Lehrerin gearbeitet hatte.

Der Künstler hieß Eivind Aske. Sie gab seinen Namen ein und stieß auf seine Homepage. Er war Zeichner, Maler und Grafiker, mit einem eigenem Atelier sowie Galerie und Druckerei in Stavern. Line erkannte die Zeichnungen, die auf dem Bildschirm erschienen. Es waren überwiegend Kinderporträts, die mit dunklen Farbstiften angefertigt waren und über einen weichen, einfühlsamen Ausdruck verfügten.

Seine Telefonnummer und die E-Mail-Adresse waren unten auf der Homepage verzeichnet. Line wählte die Nummer, und er antwortete fast unmittelbar.

Sie nannte ihren Namen und erklärte, dass sie ihn vor ein paar Jahren interviewt habe, nun aber für VG arbeite. Eivind Aske versicherte, dass er sich an das Interview erinnere, und fragte, womit er ihr helfen könne.

»Ich hatte gehofft, Ihnen ein paar Fragen über Viggo Hansen stellen zu können«, sagte sie.

»Über wen?«

»Viggo Hansen«, wiederholte Line. »Er ist tot, aber Sie beide waren im selben Alter, und da habe ich mich gefragt, ob Sie wohl zusammen zur Schule gegangen sind.«

Es wurde still, während Aske nachdachte. Line überlegte, ob sie sich wohl an alle aus ihrer Klasse erinnern könnte. Sie waren damals etwas über zwanzig Schüler gewesen, die neun Jahre lang zusammen die Grund- und Mittelschule besucht hatten. Falls jemand sie gebeten hätte, eine Namensliste zu verfassen, wären wohl einige von ihnen vergessen worden, doch sicher wäre die Erinnerung an die Menschen zurückgekehrt, wenn sie die Namen wieder gehört hätte. Das galt zumindest für die meisten.

»Viggo Hansen«, sagte der Mann am anderen Ende der Leitung und schien dabei sorgfältig nachzudenken. »Doch, ja, ich kann mich an ihn erinnern. Ein schmächtiger kleiner Junge. Ich glaube, er war viel krank. Zumindest war er oft nicht da. Das ist mehr oder weniger alles, woran ich mich erinnere.«

»Könnte ich trotzdem mal heute Nachmittag bei Ihnen vorbeischauen?«, schlug Line vor.

»Heute Nachmittag und Abend bin ich nicht zu Hause, aber Sie können morgen kommen, irgendwann nach vier.«

»Könnten wir dann vier Uhr ausmachen?«, fragte Line.

»Dann um vier Uhr«, bestätigte Eivind Aske. »Sie waren ja schon mal hier und kennen den Weg.«

Line beendete das Gespräch. Vorläufig reichte ihr die eine Verabredung. Sie würde Eivind Aske lieber nach den Namen von ein paar Menschen fragen, die seiner Meinung nach Viggo Hansen besser gekannt hatten als er, und keine Zeit mit Verabredungen vergeuden, die vielleicht nichts brachten.

Dann nahm sie einen Bogen Papier und zeichnete darauf den Teil der Straße, wo sie gelebt hatte. Der lag unterhalb des alten Wasserbeckens. Am unteren Ende traf die Straße auf den Tyrihansveien, der sich auf der Nordseite parallel erstreckte. Sie hatte nie zuvor darüber nachgedacht, aber die beiden Straßen formten ein längliches Hufeisen. Die Häuser auf beiden Seiten hatten große Naturgrundstücke und grenzten an ein freiliegendes Areal.

Sie zeichnete das Haus ihres Vaters als Herman Wildenveys gate Nummer 7 ein und danach das Haus von Viggo Hansen als Nummer 4, unten in der Kurve auf der anderen Straßenseite.

Dann fügte sie die anderen Häuser hinzu, trug die Namen der Bewohner ein und zeichnete Linien und Pfeile, wo Leute ein- oder ausgezogen waren.

Ich muss innen anfangen, dachte sie. Bei denen, die am dichtesten neben ihm wohnten, und mich dann nach außen vorarbeiten.

Die direkte Nachbarin von Viggo Hansen war Greta Tisler in Nummer 2, eine kinderlose Witwe. Im Haus gegenüber waren Silje und Steinar Brunvall aufgewachsen. Steinar war in dieselbe Klasse wie Line gegangen; Silje war drei Jahre jünger. Die Eltern hießen Tor und Marianne. Line glaubte sich erinnern zu können, dass Steinar das Haus übernommen hatte, und suchte ihn im Telefonbuch. Es stimmte. Er wohnte dort mit einer Frau namens Ida. Seine Eltern waren nicht verzeichnet.

Es würde sicher seltsam sein, Steinar nach all den Jahren wiederzubegegnen. Als Kinder waren sie ein Pärchen gewesen, hauptsächlich deswegen, weil er der einzige gleichaltrige Junge in der Straße war. Und er war der erste gewesen, den sie geküsst, und der erste, der ihre Brüste angefasst hatte. Es geschah unten am Hang nahe der Hauptstraße, bevor sie anfing, einen BH zu tragen. Es gab dort ein Baumhaus, das für zwei viel zu eng war. Sie lagen dicht nebeneinander, und nur zufällig fanden ihre Lippen zueinander. Er legte seine Hand auf ihre Brüste, zunächst außen auf den Pullover, dann wanderte seine Hand darunter und schob den Pullover nach und nach hoch, bis er ihren Busen sehen konnte. Sie war zwölf oder dreizehn und wusste nicht genau, was sonst noch passieren könnte. Dann aber tauchte seine Schwester auf.

Line überlegte, wo Viggo Hansen wohl an jenem Tag gewesen war. Hatte er jemals ein Mädchen oder eine Frau auf diese Weise berührt? Es war schwierig, sich vorzustellen, dass ein Mensch sein Leben verbrachte, ohne es mit irgendwem zu teilen, auf welche Weise auch immer.

Line trank den Rest des Kaffees aus, stand auf und trat mit dem Mobiltelefon in der Hand ans Fenster. Einer der Nachbarn war tatsächlich dabei, das Auto freizuschaufeln, das vor ihrem Wagen stand.

Sie wählte die Nummer ihres Vaters und legte beim Warten die flache Hand auf das kalte Fensterglas.

»Hallo«, meldete er sich. »Ich bin auf dem Weg zu einer Besprechung.«

Line drehte sich um, stützte den Rücken an der Fensterbank ab und warf einen Blick auf ihre Notizen, die über den Küchentisch verstreut lagen.

»Ich rufe nur an, um dir zu sagen, dass ich heute irgendwann vorbeikomme«, erklärte sie. »Ich werde ein paar Tage zu Hause wohnen.«

»Ach?«, erwiderte ihr Vater. »Wieso das?«

»Passt es dir nicht?«

»Aber natürlich passt es mir. Ich hatte nur nicht damit gerechnet, dich schon vor Weihnachten zu sehen.«

»Ich werde über Viggo Hansen schreiben«, sagte sie.

»Für VG? Wieso das denn?«

Line antwortete nicht.

»Kanntest du ihn?«, fragte sie stattdessen.

»Wir haben uns gegrüßt.«

»Ja, aber weißt du mehr über ihn?«

Es wurde still.

»Ich bin auf dem Weg zu einer Besprechung«, wiederholte ihr Vater.

»Ich glaube nicht, dass ihn jemand kannte«, sagte Line. »Deshalb will ich über ihn schreiben. Darüber, wie es möglich ist, sein ganzes Leben lang allein zu bleiben.«

Es war noch immer still, während ihr Vater wohl nachdachte. Es schien, als verstehe er ihren Ansatz.

»Das könnte eine interessante Sache werden«, kommentierte er. »Aber ist das nicht ein bisschen zu nah dran?«

»Wieso?«

»Er war schließlich unser Nachbar. Du warst ja auch eine von denen, die hier gelebt und ihn trotzdem nicht gekannt haben.«

Line ging hinüber zum Küchentisch. Sie hatte auch daran gedacht; dass sie selbst einer der Gründe für Viggo Hansens Einsamkeit gewesen war. Es würde eine Herausforderung werden, die Story in die richtige Balance zu bringen, doch etwas Verwerfliches sah sie darin nicht. Es war fast so, als arbeitete sie wieder in der Lokalzeitung, wo sie alle oder die meisten, über die sie schrieb, auch tatsächlich kannte.

»Ich habe Christine Thiis um Einblick in den Fall gebeten. Beginnend mit dem Fund der Leiche«, erklärte Line und öffnete die Kopie ihrer E-Mail. »Könntest du mal fragen, ob sie meine Anfrage bekommen hat? Ich kann dir auch eine Kopie schicken.«

»Aber das ist doch keine Strafsache«, wandte ihr Vater ein. Sie konnte hören, dass er beim Sprechen weiterlief.

»Das weiß ich«, sagte sie. »Ich versuche nur herauszufinden, wer er war. Fragst du sie bitte?«

»Werde ich machen, aber jetzt kann ich nicht länger reden. Wir sehen uns heute Abend.«

8

Wisting betrat den Besprechungsraum und legte das Telefon vor sich auf den Tisch. Er hatte Viggo Hansen vergessen. Die Falldokumente lagen in seinem Büro. Es gab ein paar Fotos darin, die er Line am liebsten nicht zeigen wollte, doch er kannte sie und wusste, dass sie nicht eher Ruhe geben würde, bis sie die Akte in die Hände bekäme.

Espen Mortensen war bereits im Besprechunsgraum aktiv und stellte eine Videoverbindung zum Obduktionssaal im Institut für Volksgesundheit in Oslo her. Wisting starrte mit leerem Blick auf das Testbild.

Es gelang ihm nicht, Viggo Hansen aus seinen Gedanken zu vertreiben. Es kam häufig vor, dass er sich mit solch unbedeutenden Zufällen befasste. Die nicht identifizierte Leiche und Viggo Hansen hatten gleich lange tot dagelegen, ohne dass sie von jemandem vermisst worden waren. Es gab zwar keinen direkten Zusammenhang, aber ein Misstrauen, das sich bei ihm in solchen Fällen aufgrund seiner Berufserfahrung automatisch einstellte, führte dazu, dass Wisting den Gedanken nicht völlig verdrängen konnte. Nils Hammer betrat den Raum und setzte sich an seinen festen Platz, gab zum Ausdruck, wie sehr er den Schnee hasste, und schob sich eine Prise Kautabak hinter die Lippen.

Christine Thiis kam als Letzte, um der per Video übertragenen Obduktion beizuwohnen. Sie hatte einen riesigen Papierstapel dabei, den sie vor sich auf den Tisch legte.

»Es ist jetzt raus«, sagte sie und setzte sich. »Ich habe mit der Lokalzeitung gesprochen.«

»Umso besser«, kommentierte Wisting. »Wir brauchen sowieso Hinweise aus der Bevölkerung.«

»Was hast du ihnen erzählt?«, wollte Hammer wissen.

»Nichts Besonderes«, erwiderte Christine Thiis. »Wir wissen ja nicht gerade viel. In der Nähe vom Bauernhof Halle wurde eine Leiche im Wald gefunden. Sie hat dort lange gelegen, und wir können nichts Definitives über Alter oder Geschlecht sagen. Sie denken übrigens wie wir. Dass es sich um irgendeine persönliche Tragödie handelt.«

Wisting nickte. Was er da hörte, bedeutete, dass die Zeitung nicht allzu viel Aufhebens von der Sache machen würde, genauso wie sie sich beim Todesfall Viggo Hansen verhalten hatte.

»Toll, dass wir jetzt mit denen reden können«, kommentierte Hammer und zeigte auf den großen Bildschirm. »In einer Stunde wissen wir wahrscheinlich mehr.«

»Und dann wird sich die Presse wohl gleich danach wieder auf mich stürzen«, sagte Wisting und setzte sich ebenfalls. Auf dem großen Fernsehbildschirm hatte die Übertragung aus dem Obduktionssaal bereits begonnen. Das hell leuchtende Deckenlicht spiegelte sich in den weißen Fliesen an den Wänden und in den sterilen Metalltischen wider.

Es handelte sich um eine Art der Bildschirmübertragung, mit der sich Wisting nicht ganz anfreunden konnte. Er verband Fernsehen mit Unterhaltung, wohingegen es sich hier, während er dasaß und zuschaute, wie die Rechtsmediziner einen menschlichen Körper aufschnitten, um ein eher bizarres Erlebnis drehte. Gleichwohl war es eine zweckdienliche Form der Kommunikation. Früher hatten sie sich mit einem zusammenfassenden Telefongespräch und einem kurzen Bericht begnügen müssen, der per Fax übermittelt wurde. Die Neuerung hingegen erlaubte es, den Pathologen direkt Fragen zu stellen, die sofort beantwortet werden konnten.

In dem Raum, aus dem die TV-Bilder gesendet wurden, befanden sich drei Personen: ein sachkundiger Arzt und ein Assistent in grünem Kittel, mit Mundbinde, Handschuhen und gelber Plastikschürze, sowie ein Kriminaltechniker im üblichen weißen Overall der Kriminalpolizei. Den offiziellen Unterlagen gemäß hieß der Mann von der Kripo Jon Berge. Wisting kannte seinen Namen aus unzähligen Berichten, hatte ihn aber nie persönlich getroffen.

Ein vierter Mann rollte ein in weißes Plastik gewickeltes Bündel herein, das an menschliche Körperformen erinnerte. Man konnte hören, wie seine Schritte widerhallten, als er die Bahre in die Mitte des Raumes schob.

»Sind Sie bereit?«, fragte Jon Berge von der Kripo und blickte in die Kamera.

»Wir sind bereit«, antwortete Wisting.

Der Ton wurde in beide Richtungen übertragen, die Bilder hingegen nur auf einem Weg gesendet.

Der Assistent rollte ein Tischchen mit Instrumenten heran und befestigte Klebezettel auf leeren Reagenzröhrchen. Der Pathologe zog den Reißverschluss des Leichensacks auf und klappte ihn auseinander. Dann zog er ein paar fleckige Laken beiseite und gab die verwitterte Leiche dem grellen Licht der Scheinwerfer preis.

Wisting beobachtete, wie alle im Obduktionssaal auf den Geruch reagierten, den der einst steif gefrorene Körper nach dem langsamen Auftauen nun offenbar ausströmte.

Eine durchsichtige Plastiktüte war über den rechten Arm des Toten gestreift worden, darunter umklammerte seine steife Hand noch immer ein Haarbüschel. An mehreren Stellen hatte Mortensen breites transparentes Klebeband auf der Kleidung befestigt, um so die Spuren eines eventuell in Frage kommenenden Täters zu sichern. Haare, Stofffasern, Haut, Schweiß, Blut und Tränen.

Der Pathologe sprach in ein Mikrofon und dokumentierte Zeit, Ort sowie Namen der Anwesenden.

»Die rechtsmedizinische Abteilung des Instituts für Volksgesundheit untersucht eine nicht identifizierte Leiche, die mit einem braunen Blazer, Hemd, heller Hose und braunen Lederschuhen bekleidet ist«, fuhr er fort. »Weitergehende Detailbeschreibungen der Kleidung sind dem Bericht der Kriminaltechnik zu entnehmen.«

Jon Berge machte eine Fotoaufnahme.

»Der Körper befindet sich in einem weit fortgeschrittenen Prozess der Auflösung, hat jedoch das Endstadium der Verwesung noch nicht erreicht«, erläuterte der Arzt. »Die Reste der Oberhaut sind braunschwarz und weisen zahlreiche stecknadelkopfgroße, kraterförmige Läsionen auf, die wahrscheinlich der Einwirkung von Ameisen und Käfern zuzuschreiben sind. Schäden durch die Einwirkung größerer Tiere sind in Form zentimetergroßer unregelmäßiger Läsionen an den entblößten Weichteilen wie Nacken und Knöcheln erkennbar. Ein Befall mit Fliegenlarven scheint nur begrenzt vorzuliegen.«

Er räusperte sich und fuhr fort: »Der linke Arm ist ausgestreckt und liegt am Körper an. Der rechte Arm ist am Ellbogen abgewinkelt, der Unteram ruht auf der Brustpartie. Die Hand ist geschlossen und scheint etwas zu umfassen.«

Ein paar Kamerablitze warfen weißes Licht auf den Körper, bevor der Pathologe mit der Beschreibung der Äußerlichkeiten fortfuhr. Dann entfernte er den Plastiküberzug von der rechten Hand und bog Daumen und Zeigefinger in eine gerade Position.

»Möglicher Fund von Haarresten in der rechten Hand«, gab er zu Protokoll und wartete auf die fotografische Dokumentation, bevor er auch die restlichen drei Finger gerade bog.

»Die Handfläche ist von einem braunschwarzen Belag überzogen«, fuhr der Pathologe fort. »Möglicherweise eine verfestigte Blutkruste. Insgesamt kleben sechs Haare an der Kruste.«

Mit einer Pinzette entfernte er ein Haar nach dem anderen und legte sie in ein Reagenzglas. Danach nahm er Proben des vermeintlichen Blutes. Dann wurde die Hand abgespült und gewaschen, weitere Schäden waren nicht erkennbar.

»Dann fahren wir fort«, erklärte der Pathologe und bat seinen Assistenten, die Schuhe des Toten zu entfernen.

Der Mann zog sie ab und reichte sie an den Ermittler der Kriminalpolizei weiter.

»Wolverine«, las er laut von der Schuhsohle ab. »Größe 11.5.«

»Keine europäische Größenordnung«, kommentierte Christine Thiis.

Espen Mortensen gab den Markennamen in den Computer ein und startete eine Internetsuche.

»Eine Schuhfabrik mit Hauptsitz in Michigan, USA«, erklärte er. »Wird weltweit vertrieben.«

Auf dem Bildschirm war erkennbar, dass die Leiche von der Jacke befreit worden war. Der Polizeibeamte versuchte, das Etikett am Kragen zu identifizieren.

Mortensen blätterte in seinen Notizen.

»Brioni«, las er vor. »Ich hab’s überprüft. Eine italienische Marke.«

Jon Berge nickte bestätigend und legte die Jacke in eine Papiertüte.

Schließlich wurden die Hosenbeine aufgeschnitten und vorsichtig entfernt. Schwarzer Schorf aus Haut und Gewebe löste sich ab. Faserartige Reste der Muskulatur wurden sichtbar.

»Herrenunterwäsche«, kommentierte der Kripobeamte im Obduktionssaal, bevor er die hellen Unterhosen begutachtete. »John Henry Mens Dress Pants.«

Der Bildschirm von Espen Mortensens Computer zeigte diverse Treffer bei verschiedenen Onlineshops.

»Nur ausländische Seiten«, sagte er und schüttelte den Kopf. »Shopko, Find&Save und eBay.«

Wie die Hosenbeine wurde schließlich auch das Hemd aufgeschnitten. Wisting betrachtete die menschlichen Überreste auf dem Metalltisch. Rippenknochen ragten aus dem Brustkasten hervor. Die braunschwarze Haut war rissig und voll von offenen Wunden. Höchstwahrscheinlich handelte es sich um Fäulnisschäden. Die Bekleidung des Toten war intakt gewesen; es gab nichts, was auf Gewalteinwirkung in Form von Stichen oder Schusswunden hindeutete.

Der Ermittler von der Kripo ließ seine Finger über den Hemdkragen gleiten und schien nach einem Etikett zu suchen, das ihnen weitere Hinweise geben könnte.

»Hier gibt es eine Verfärbung«, sagte er. »Dunkler als die anderen Flecken. Ich kann das nicht genau erkennen.« Er blickte in Richtung Kamera. »Könnte sich um Blut handeln.«

Der Pathologe zog eine bewegliche Lampe heran und beugte sich über den Körper.

»Schwer zu sagen«, murmelte er, bevor er wieder das Mikrofon ergriff und hineinsprach. »Mögliche Fraktur der linken Schläfe.« Er zog ein Maßband hervor. »Der Schädelknochen ist in einem Durchmesser von 3,5 Zentimetern freigelegt. Reste von Leichenwachs sind an den Rändern der Wunde erkennbar.«

Jon Berge fotografierte nach Anweisung des Pathologen.

»Könnte von einem stumpfen Gegenstand stammen. Vorläufige Schlussfolgerung.«

Mehr oder weniger aus alter Gewohnheit notierte Wisting, was gesprochen wurde. Noch vor Ende des Tages würde er einen vorläufigen Bericht erhalten, in dem alle Verletzungen beschrieben und kommentiert wären.

Die Arbeit im Obduktionssaal ging weiter. Die Unterhose wurde aufgeschnitten und von der Leiche entfernt. Der Pathologe hob wieder das Mikrofon an den Mund.