Eiswelt Terra - Achim Mehnert - E-Book

Eiswelt Terra E-Book

Achim Mehnert

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Beschreibung

Jetzt fängt das Abenteuer erst richtig an! Die Erde ist eine arktische Wüste, in deren eisigen Weiten sich die letzten 20 Millionen Menschen verlieren. Nach dem spurlosen Verschwinden der Synties gibt es keine Hoffnung mehr darauf, den Planeten jemals wieder wohnlich zu machen. Und doch existiert ein Volk, das einen begehrlichen Blick auf die Eiswelt Terra geworfen hat.

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Ren Dhark

Weg ins Weltall

 

Band 1

Eiswelt Terra

 

von

 

Achim Mehnert

(Kapitel 1 bis 5)

 

Uwe Helmut Grave

(Kapitel 6 bis 11)

 

Conrad Shepherd

(Kapitel 12 bis 16)

 

Jo Zybell

(Kapitel 17 bis 20)

 

und

 

Hajo F. Breuer

(Exposé)

Inhalt

Titelseite

Prolog

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

11.

12.

13.

14.

15.

16.

17.

18.

19.

20.

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Impressum

Prolog

Im März des Jahres 2065 steht die Menschheit vor einer Zerreißprobe: Die Bewohner Terras sind nach Babylon evakuiert, wo Henner Trawisheim, der amtierende Commander der Planeten, die Zentrale des neuen Terra schaffen will. Nur noch 20 Millionen Menschen sind auf der mittlerweile völlig vereisten Erde zurückgeblieben.

Doch es ist Ren Dhark und seinen Mitstreitern gelungen, den Abfluß der Materie von unserer Sonne zu stoppen, indem die die Hyperraumstation zerstörten, die kontinuierlich Masse aus der Sonne abzog und nach Proxima Centauri transferierte.

Als darüberhinaus die Synties, tropfenförmige Energiewesen aus dem All, sich aus alter Freundschaft zur Menschheit und vor allem zu Ren Dhark bereit erklären, die verlorengegangene Masse der Sonne durch neuen interstellaren Wasserstoff zu ergänzen und sie wieder so stark zu machen wie zuvor, scheint der glückliche Ausgang der Katastrophe gewiß.

Trotzdem läßt Henner Trawisheim die Evakuierungsaktion fortsetzen. Traut er den Synties nicht, oder verfolgt er eigene geheime Ziele? Die Frage wird bald überflüssig, als eine unbekannte Kraft die Synties aus dem Sonnensystem absaugt: Ohne die spurlos verschwundenen Helfer ist die Erde nicht mehr zu retten!

Resigniert beteiligt sich Ren Dhark mit seiner POINT OF an der weiteren Evakuierungsaktion. Doch nach ihrem Abschluß will er die Synties suchen, auch wenn er nicht den allerkleinsten Hinweis auf ihren Verbleib hat. Langsam faßt er wieder Mut – als eine bisher unbekannte Spezies aus den Tiefen des Alls auftaucht und die Erde zu ihrer neuen Heimat erklärt! Und dieses Volk scheint wie geschaffen für ein Leben in arktischer Kälte…

1.

»Eisläufer-Angriff!«

Die Warnung ging durch die Reihen der Aufrechten, die in einem Eisloch am Rande von Alamo Gordo lagen. Die kleine Gruppe von Kämpfern war in Thermoanzüge gehüllt, die den Mittagstemperaturen von 39 Grad unter Null standhielten. Ohne sie war längst kein Überleben im Freien mehr möglich.

I.D. Vandekamp spähte über das weite Feld aus Eis und Schnee, das im Sonnenlicht funkelte. Wo einst die Route 54 von El Paso nach Tularosa und dann in nordöstlicher Richtung quer durch Neu-Mexiko bis nach Santa Rosa geführt hatte, erstreckte sich eine endlose winterliche Märchenlandschaft. Leider haftete ihr nichts Romantisches an. So sah die Welt im März 2065 aus, in der sich die auf Terra zurückgebliebenen Aufrechten tagtäglich behaupten mußten. Vandekamp stieß einen Seufzer aus. Trotz der widrigen Umstände hatte es im zurückliegenden halben Jahr keinen Tag gegeben, an dem er seinen Entschluß, hierzubleiben, bereut hatte. Die Erde war seine Heimat, die durch nichts zu ersetzen war. Mit Babylon hingegen hatte er, wie er sich selbst ausdrückte, nichts am Hut.

»José, Juan, da drüben kommen noch mehr«, lenkte er die Aufmerksamkeit der Moreno-Brüder in eine andere Richtung.

»Mierda! « fluchte Juan. Wie sein Bruder war er groß und kräftig und erweckte eher den Anschein eines Kämpfers denn den eines Restaurantbesitzers. Wie die anderen Mitglieder des verschworenen Haufens hatten die Umstände ihn in diese neue Rolle gezwungen. Keiner von ihnen war bereit gewesen, die Erde bei der Evakuierung zu verlassen, die alle für nichts weiter als eine großangelegte Verschwörung der Regierung hielten. Damals hatte keiner von ihnen damit gerechnet, daß fremde Invasoren bereits auf dem Weg zur Erde waren.

Und nun bewegte sich eine unüberschaubare Horde der Eisläufer auf Vandekamps sechsköpfige Gruppe zu.

»Die können wir nicht lange aufhalten«, prophezeite José. »Die Eisläufer haben begriffen, daß sie sich in kleinen Gruppen blutige Nasen holen. Denen haben wir gehörigen Respekt beigebracht.«

»Eine zweifelhafte Ehre«, unkte Roger, der jüngere der beiden Vandekamp-Söhne. »Von der haben wir nämlich gar nichts mehr, wenn die Riiin uns mit ihrer schieren Masse überrennen. Seht euch das an. Sie sind alle bewaffnet.«

Riiin, so nannten sich die Invasoren selbst, und diesmal kamen sie zu Hunderten. Es war ein grotesker Anblick, wie die etwa 1,70 Meter großen dünnen Wesen mit der silbrigen Schuppenhaut auf die Stellung der Aufrechten zugestürmt kamen. Denn sie waren lediglich mit dünnen Hosen und bunten Westen bekleidet, in denen jeder Mensch längst erfroren wäre. Den dünngliedrigen Fremden machte die für Menschen extreme Kälte nicht nur nichts aus, sie fühlten sich richtig wohl in ihr. Aus der Ferne wirkten sie wie Striche in der Landschaft, die sich bei dem gleißenden Licht nur undeutlich erkennen ließen. Doch längst war ihr Aussehen bekannt. Sie hatten Fischköpfe mit Glupschaugen, die unabhängig voneinander bewegt werden konnten, und stammten vermutlich von Fischen ab. Sie besaßen weder sichtbare Ohren noch Nasen, sondern nur entsprechende Öffnungen. Ihr Fischmaul verfügte über zwei Reihen scharfer Zähne, die sich im Nahkampf als tödliche Waffen erweisen konnten. Ihre normale Körpertemperatur betrug –95 Grad Celsius, bei –75 Grad Außentemperatur fühlten sie sich am wohlsten, mochten aber auch extrem tiefe Temperaturen bis –150 Grad. Man hatte herausgefunden, daß sie bei Temperaturen über dem Gefrierpunkt starben, weil unter ihrer Schuppenhaut eine isolierende Eisschicht integriert war, die dann auftaute und sie tötete.

»Wir warten auch nicht mit leeren Händen«, murrte José, wobei er seine Waffe fester faßte. »Das sind Zivilisten, keine Soldaten. Offenbar aggressive Siedler. In der schreiend bunten Kleidung, die die Kerle bevorzugen, geben sie hervorragende Zielscheiben ab.«

»Zeigen wir denen mal, wozu wir fähig sind«, pflichtete Juan ihm bei und machte sich an einem modifizierten Pressorgeschütz zu schaffen. Es war eine von den Gäa-Jüngern verbesserte und erheblich verkleinerte Version der ursprünglichen Schwerkraftwaffe der Giants. »Hiermit holen wir die Kerle von den Beinen.«

»Aber längst nicht alle. Wir verzetteln nur unsere Kräfte, wenn sie sich weiter aufteilen und uns einkesseln.«

»Was willst du sonst machen? Sollen wir uns etwa zurückziehen?«

»Du kennst mich doch, Brüderchen«, knurrte José mit angespannter Miene. »Wenn die in Richtung des Los Morenos wollen, müssen sie erst an mir vorbei.«

»Was wir tunlichst vermeiden wollen. Deshalb noch nicht schießen«, gab I.D. Vandekamp die Parole aus. »Juan hat recht. Bei der Menge können wir uns keine Fehlschüsse leisten. Köpfe unten halten und auf meine Befehle warten.«

Er führte das Kommando über die Gruppe, deshalb gab es keinen Widerspruch. Ohnehin sahen alle ein, daß es keine Alternative gab. Sie mußten sich ihrer Haut noch früh genug erwehren. Die sechs Männer beobachteten das Vorgehen der Riiin, denen jegliche Form von Disziplin fremd zu sein schien. Lärmend stürmten sie über das Eis. Ihre Sprache bestand aus kehligen Lauten, die an das Blubbern aufgewühlten Wassers erinnerten.

»Ich frage mich, wieso die nicht ausrutschen.«

Standschwierigkeiten auf dem glatten Untergrund kannten die Eisläufer tatsächlich nicht. Zwar waren auch die Thermoanzüge der Aufrechten mit rutschfesten Gummisohlen ausgestattet, doch die Riiin bewegten sich auf dem glatten Untergrund so sicher wie auf festem Boden. Offensichtlich waren sie das aus ihrer Heimat so gewohnt.

»Corazón…« summte José leise sein Lieblingslied, von dem die anderen immer nur dieses eine Wort verstanden und das ihnen gehörig auf die Nerven ging.

»Was ist denn jetzt los?« wunderte sich Conway, der ältere Vandekamp-Sohn.

»Sieht so aus, als hätten die es sich anders überlegt«, murmelte sein Vater. Die Eisläufer änderten ihre Stoßrichtung und liefen nach Osten hinüber. »Da hinten liegt die Ringraumerwerft der Terranischen Flotte. Anscheinend ist die ihr eigentliches Ziel.«

Juan richtete sich auf und steckte den Kopf aus der Deckung. »Sie sind blind vorangestürmt. Glück gehabt, daß wir das Feuer nicht eröffnet haben, sonst hätten wir uns selbst verraten. Die haben unsere Stellung noch gar nicht entdeckt.«

»Was wollen die da?« wunderte sich Roger. »In der Werft werden doch keine Schiffe mehr produziert, weil auf Babylon eine neue errichtet wird.«

»Das wissen wir, die Eisläufer aber nicht. Vermutlich erhoffen sie sich reiche Beute.«

»Trotzdem können sie eine Menge Schaden an den Einrichtungen der Werft anrichten.«

I.D. schaute zu den nicht weit entfernt liegenden Werftanlagen hinüber. Die meisten der oberirdisch errichteten Gebäude waren unter Schnee begraben, die Zugänge zu den Hallen längst vereist. Lediglich ein paar wenige Bereiche, die von der Stellung der Aufrechten aus nicht zu sehen waren, wurden von Schnee und Eis freigehalten. »Erst denken, dann reden, Con. Im Werk ist eine kleine Wachmannschaft stationiert, um dessen Geheimnisse zu schützen. Unsere Technik darf den Eisläufern nicht in die Hände fallen. Die Wachmannschaft wird schon dafür sorgen, daß die Invasoren dort nicht eindringen.«

Conway schnaufte. Er mochte die Abkürzung seines Vornamens nicht sonderlich, sah aber ein, daß der Rüffel seines Vaters berechtigt war. Gebannt verfolgten die Männer das Geschehen. Sie verschwendeten keinen Gedanken daran, daß sie dem drohenden Verhängnis gerade noch von der Schippe gesprungen waren, sondern konzentrierten sich auf die Vorgänge ein paar hundert Meter weit entfernt.

Schon flammten erste Schüsse auf, zuckten nervöse Strahlen umher. Vandekamp hielt die Taktik für unsinnig. Es gab keine konkreten Ziele, auf die die Angreifer schossen. Ihr Feuer verlor sich zwischen den eisüberzogenen Gebäuden.

»Sie sind gleich da. Warum eröffnen die Wachen kein Gegenfeuer?«

Juans Frage wurde beantwortet, als ein sanfter Schimmer sichtbar wurde. Weiträumig spannte er sich über die gesamte Werftanlage.

»Ein Intervallfeld.«

»Im letzten Moment. Das wurde auch Zeit. Dagegen kommen die Eisläufer mit ihren Handwaffen nicht an.«

Der Ansturm der Invasoren kam zum Erliegen, doch einige reagierten zu spät auf die veränderte Situation. Sie gerieten in das Feld und zerplatzten buchstäblich. Roger stieß die Luft aus, als die Überreste als gelbe Wolken zerstoben. Auch I.D. sah zum erstenmal mit eigenen Augen, wovon er bereits gehört hatte. Durch die Adern der Fremden floß kein Blut, wie Menschen es kannten, jedenfalls kein rotes, sondern eine glykolähnliche gelbe Flüssigkeit.

»Das hat sie richtig wütend gemacht. Aber wieso zerreißt sie der Kontakt mit einem Intervallfeld? Das wurde noch bei keinem anderen Lebewesen beobachtet, und sei es noch so exotisch! Was ist so anders an den Fischköppen?«

Die Riiin verstärkten ihr Feuer, ohne damit gegen das Intervallfeld anzukommen. Plötzlicher drang das Dröhnen von Explosionen zu den Aufrechten herüber. Inmitten der Angreifer entdeckte I.D. schweres Gerät, das einige von ihnen mitschleppten.

»Sie setzen Mörser ein.«

In der Höhe entstanden Lichtblitze, wo die Granaten detonierten. Tumulte entstanden unter den Angreifern, als sie erkannten, daß sie auch damit keinen Erfolg erzielten. Gleichzeitig schoß die Wachmannschaft zurück. Da keine Verteidiger zu sehen waren, hatten die Riiin womöglich nicht damit gerechnet, daß es überhaupt welche gab. Mehrere Eisläufer fielen beim ersten Gegenschlag, dann erlosch das Verteidigungsfeuer wieder.

»Die haben genug«, kommentierte Conway, als sich die Invasoren herumwarfen und von dem undurchdringlichen Feld zurückzogen. »Wenn sie abhauen, haben wir erstmal eine Weile Ruhe vor ihnen.«

I.D. Vandekamp hingegen begriff, daß sein Sohn sich zu früh freute. Denn die Riiin zogen sich nicht zurück, sondern änderten abermals ihre Stoßrichtung. Wie zu Beginn stürmten sie auf Alamo Gordo zu, und damit genau auf die Stellung der Aufrechten.

*

Von Ruhe vor dem Sturm konnte keine Rede sein. Das Lärmen der näherkommenden Invasoren brandete wie eine Woge gegen das Versteck der Menschen.

Noch hatten die Riiin sie nicht entdeckt. In breiter Front stürmten sie auf die vorgeschobenen Ausläufer von Alamo Gordo zu. Offenbar waren sie uneins, wohin genau sie sich wenden sollten, nachdem ihre Pläne zur Eroberung der Werft gescheitert waren.

Juan Moreno stieß einen Fluch auf Spanisch aus. »Wieso sind wir ausgerechnet heute zum Wachdienst eingeteilt?«

Manchmal war es nicht leicht, zu den Aufrechten zu gehören. Die Gruppe verstand sich selbst als fried- und freiheitsliebende Organisation heimatliebender Terraner. Die Aufrechten hatten der früheren Erdregierung grundsätzlich mißtraut und ihr auch den bevorstehenden Kältetod der Erde nicht abgenommen. Statt die Evakuierung nach Babylon mitzumachen, hatten die Mitglieder der Organisation rund um den Erdball geheime Depots mit Waffen, Kampfanzügen, Kommunikationsgeräten, Polarausrüstungen und sogar Fahrzeugen angelegt, um sich notfalls gegen eine Zwangsumsiedlung zur Wehr setzen zu können. Dafür waren sie bereit, sich mit der Waffe in der Hand nicht nur gegen Plünderer, sondern auch gegen Soldaten und jegliche Stellen der Regierung zu wehren, die sie aus ihrer Heimat wegbringen wollten. Dazu war es nicht gekommen, sonst wären sie nicht mehr hier. Über große Teile der einstmals gebunkerten Ausrüstung verfügten sie auch jetzt noch. Nur mußten sie sich nicht gegen Plünderer oder irdische Soldaten behaupten, sondern gegen Invasoren aus den Tiefen des Alls.

»Ich würde auch lieber im warmen Los Morenos sitzen und einen Brandy genießen«, pflichtete José ihm bei. Die Brüder brachten ein PressMod-Geschütz in Stellung und richteten es auf die Angreifer aus. Noch immer waren sie unentdeckt, doch das konnte sich jeden Moment ändern. Die vorderen Angreifer waren nur noch fünfzig Meter entfernt.

»Gleich sitzen sie uns auf dem Schoß.« Conways Stimme zitterte. »Die Eisläufer brauchen unser Loch nicht einmal zu sehen, um in ihrer blinden Angriffswut geradewegs hineinzufallen.«

Die Hoffnung, daß die Riiin sie in ihrem Versteck übersahen und umkehrten, erfüllte sich nicht. I.D. zögerte nicht länger. »Feuer frei!« stieß er aus. »PressMod einsetzen. Wir müssen sie so lange wie möglich aufhalten.«

So lange wie möglich. Seine Forderung kam ihm lächerlich vor. Was bedeutete sie schon? Ein paar Minuten? Und dann? Es gab keinen Nachschub, keine Verstärkung. Seine Gruppe war auf sich allein gestellt. Wie mechanisch schoß er und streckte einen Angreifer nieder.

Nun gab es keinen Aufschub mehr. Die Eisläufer kannten die getarnte Stellung der Menschen und stürzten wie auf einen stummen Befehl hin darauf zu. Sie näherten sich wie eine Welle, die durch nichts aufzuhalten war. Die Aufrechten versuchten es trotzdem.

»Wir müssen versuchen, den Hauptpulk zu erwischen«, forderte Juan.

Sein Bruder nickte stumm und machte sich an den Bedienungseinrichtungen des Pressorgeschützes zu schaffen. Er hatte die Richtung der breitflächig wirkenden Waffe schon vektoriert. Als er sie auslöste, gab es keine sichtbaren Anzeichen für ihre Aktivität. Die Folgen waren dafür um so deutlicher. Die manipulierte Schwerkraft griff nach den Riiin, die in Stößen ausgesandten Druckwellen erfaßten sie und rissen sie zu Dutzenden von den Beinen. Zahlreiche dünngliedrige Gestalten wurden durch die Luft gewirbelt und davongeschleudert. Die enormen Kräfte, die selbst Flash aus ihrer Bahn reißen und zum Absturz bringen konnten, spielten mit den Invasoren wie ein Sturm mit welkem Laub. Entsetzte Schreie brandeten auf. Sekundenlang kam der Angriff zum Erliegen.

»Wie schmeckt euch das?« rief José wütend. Wie seinen mit Strahlern feuernden Kameraden war ihm klar, daß er nur einen Teilerfolg errungen hatte. Die Verwirrung der Eisläufer legte sich schneller, als ihnen lieb sein konnte.

Das reinste Strahlengewitter jagte über die Köpfe der Menschen hinweg. Noch waren sie in dem Eisloch in relativer Sicherheit. Die verringerte sich mit jeder verstreichenden Sekunde und mit jedem Meter Raum, den die Angreifer gewannen. Ihr Lärmen ebbte ab, ihr verbissenes Vordringen nicht. Die unerwartete Gegenwehr schien sie nur noch mehr anzustacheln, Alamo Gordo in Besitz zu nehmen.

»PressMod-Dauereinsatz!« trieb Vandekamp die Morenos an. »Nur so stoppen wir sie.«

Er wußte es besser.

Sie spielten auf Zeit, doch gegen die unüberschaubare Übermacht konnten sie nur verlieren. José tat, was er konnte, wie die davonwirbelnden Invasoren bewiesen. Manche überschlugen sich in der Luft, verwandelten sich rasend schnell in winzige Pünktchen, andere wurden durch die auftretenden Verwerfungseffekte des enormen Drucks komprimiert.

Zerquetscht, dachte I.D. Im wahrsten Sinne des Wortes in der Luft zerrissen. Trotz allem, was im vergangenen halben Jahr geschehen war, war er nicht so abgestumpft, daß ihm die volle Bedeutung der Worte nicht an die Nieren ging. Doch Gewissensbisse oder Hemmungen waren fehl am Platz. Die Eisläufer wollten nicht nur die Erde haben, sie wollten alle darauf verbliebenen Menschen tot sehen.

Die nächste Welle der Angreifer wurde von einer unsichtbaren Riesenfaust gepackt. Die zerschmetterten Körper flogen davon. Dann ertönten die Schläge von Explosionen.

»Volle Deckung!« schrie Vandekamp gegen den aufbrandenden Lärm an. »Mörsergranaten!«

Die Aufrechten duckten sich gegen die Wände des Lochs und verbargen die Köpfe unter ihren Armen. Ringsum spritze Schnee auf und wurde in Fontänen in die Luft gespritzt. Aufgerissene Eissplitter jagten wie Projektile durch die Luft.

I.D. zerbiß einen Fluch auf den Lippen. Sie hatten die besseren Waffen, doch ihr verwegenes Häuflein Aufrechter war gegen die Übermacht unterlegen. Dieser verdammte Trawisheim! Er hatte den Menschen, die ihre Heimat nicht verlassen wollten, nicht die nötigen Waffen gegen die Invasoren gelassen. Keine Intervallfelderzeuger, keine sonstige Hochtechnologie. Der Teufel sollte ihn holen!

»Daneben, aber viel fehlt nicht mehr«, fluchte Roger. »Wenn sie ein bißchen besser zielen und eine einzige Granate in diesen verdammten Trichter plazieren, erwischen sie uns alle auf einen Schlag.«

»Dann lamentiert nicht, sondern wehrt euch.« Kaum war der Lärm der Detonationen abgeebbt, ließ José schon wieder das PressMod-Geschütz sprechen. Es war eine reine Verzweiflungstat. »So kriege ich sie nicht mehr. Sie haben sich aufgeteilt und kommen aus allen Richtungen.«

Vandekamp sah das drohende Verhängnis auf seine Männer zustürmen. Wie eine Maschine gab er einen Schuß nach dem anderen ab. Da er schon immer ein geübter Waffenliebhaber gewesen war, leistete er sich keinen Fehlschuß. Trotzdem waren seine Bemühungen wie ein Tropfen auf den heißen Stein. Nur noch ein paar Meter trennten die wütend attackierenden Riiin von ihren Opfern.

»Sie überrennen uns!« schrie Conway. »Wir müssen hier raus!«

»Bleibst du wohl hier!« I.D. warf sich auf seinen Sohn und hielt ihn fest. Jeder, der das Eisloch verließ, war auf der Stelle tot.

Das waren sie auch so. Die Eisläufer waren heran. Dünne, buntgekleidete Gestalten sprangen in sein Blickfeld. Er warf sich herum, den Strahler im Anschlag. Es waren zu viele. Er konnte sie unmöglich alle auf einmal erwischen. Beinahe fatalistisch machte er sich auf den Tod gefaßt. Neben ihm stieß Conway einen überraschten Schrei aus.

Ein dunkler Schatten schob sich über das Schlachtfeld. Ein Racheengel, mit dem keiner gerechnet hatte. Er hatte die Form eines riesigen Ringes und schimmerte unitallblau im Sonnenlicht.

Es war die POINT OF.

*

»Ren Dhark!« jubelte Roger Vandekamp. »Er läßt uns nicht im Stich.«

Nicht so wie Henner Trawisheim, der bei den Aufrechten wenig beliebte Commander der Planeten. Wie in Trance verfolgte I.D. das Geschehen. Er war nicht tot, auch keiner seiner Männer. Sie waren dem Sensenmann eben noch so von der Schippe gesprungen. Die Eisläufer, die die Stellung der Aufrechten erreicht hatten, sanken besinnungslos zu Boden. Schwachblaue Strahlen, die bei den Lichtverhältnissen mehr zu erahnen als zu sehen waren, schickten die Riiin ins Reich der Träume. Die POINT OF setzte Strich-Punkt ein.

»Das ist ja… unglaublich«, stammelte Juan Moreno mit seiner sonoren Stimme. »Das war im letzten Augenblick.«

I.D. erkannte, daß auch der jüngere der Moreno-Brüder bereits mit seinem Leben abgeschlossen hatte. Er streckte den Kopf aus dem Loch. Ringsum lagen regungslose Eisläufer. Dharks Ringraumer hatte sie mit ein paar gezielten Schüssen außer Gefecht gesetzt. Überall auf dem weiten Eisfeld sanken die anstürmenden Angreifer zu Boden, als sie großflächig mit Strich-Punkt belegt wurden. Ein paar verwegene Riiin versuchten erfolglos, dem Schiff mit ihren Handstrahlern beizukommen, bevor sie betäubt wurden. Die Mörser kamen nicht mehr zum Einsatz, doch natürlich hätten auch sie nichts gegen die Unitallhülle ausrichten können.

Ein Anflug von Ehrfurcht ergriff I.D. Die legendäre POINT OF mit seinem Bruder H.C. an Bord aus nächster Nähe in Aktion zu sehen, war ein faszinierender Anblick. Der 180 Meter durchmessende Ringraumer mit dem inneren Durchmesser von 110 Metern huschte über das weite Feld und versetzte die wenigen verbliebenen Invasoren in Angst und Schrecken. Die wuchtige Ringröhre schien sie durch ihre bloße Präsenz zu erdrücken. Die Waffensteuerungen ließen den Eisläufern keine Chance zur Flucht. Natürlich war Ren Dhark viel zu human, um sie töten zu lassen. Da Strich-Punkt sich exakt dosieren ließ, gelang es, sie ausnahmslos zu paralysieren.

Wo eben noch die Kämpfe getobt hatten, kehrte übergangslos Ruhe ein.

»Dann wollen wir mal.« Abermals machte Conway sich daran, aus dem Eisloch zu klettern. Wieder hielt ihn sein Vater zurück, als sich die Silhouetten weiterer Schiffe am Himmel abzeichneten.

»Raumjäger der Eisläufer«, warnte er seine Kameraden. »Wir verhalten uns unauffällig, dann bemerken sie uns vielleicht nicht.« Außerdem war er sicher, daß Dhark sich nicht vor den fremden Raumern zurückzog, solange Menschen in Gefahr waren.

Die torpedoförmigen Jäger waren noch weit entfernt, doch sie wurden rasch größer. Vandekamp zählte über dreißig anfliegende Gegner.

»Wollen die uns angreifen?« fragte Conway aufgeregt. »Oder die POINT OF?«

»Das würde ihnen schlecht bekommen. Sie wähnen sich zwar wieder in der Überzahl, aber an der POINT OF beißen sie sich die Zähne aus.« I.D. zwinkerte seinem Sohn beruhigend zu. »Keine Sorge, Con. Dhark wird nicht zulassen, daß sie an uns herankommen.«

Dabei brauchten die Riiin das gar nicht. Mit ihren weitreichenden Waffen konnten die Raumjäger die Stellung der Aufrechten auch aus den unteren Atmosphäreschichten unter Feuer nehmen. I.D. drängte das Wissen beiseite. Obwohl sie nie auf der gleichen Seite gestanden hatten, vertraute er auf die Fähigkeiten des früheren Commanders der Planeten.

*

Die torpedoförmigen Raumjäger zeichneten sich in der Bildkugel ab. Von allen Seiten nahmen sie die POINT OF unter Feuer. Wirkungslos verfingen sich die Strahlen der Angreifer im Doppelintervallum. Sie waren so schwach, daß sie nur eine minimale Belastung des Intervalls bewirkten.

Stumm beobachtete Ren Dhark die Attacken der Riiin. Der 1,79 Meter große weißblonde Mann hockte mit zusammengepreßten Lippen im Kommandantensessel. Die Piloten der Jäger waren ausgemachte Narren, wenn sie wirklich glaubten, dem Ringraumer etwas anhaben zu können. Zweifellos wußten sie es besser, dennoch stürzten sie sich wie die Mücken auf einen Elefanten.

Dhark zog die POINT OF in die Höhe und trieb sie zwischen den anfliegenden Jägern hindurch. »Ein paar Warnschüsse vor den Bug«, instruierte er die Waffensteuerungen.

Jean Rochard und Bud Clifton reagierten sofort. Die Antennen des Ringraumers spuckten rosarote Nadelstrahlen. Überlichtschnell jagten sie zwischen den Jägern hindurch.

»Sonderlich beeindruckt sind die Riiin nicht.« Dan Riker schüttelte den Kopf über die fruchtlosen Warnungen. Der schwarzhaarige ehemalige Chef der TF verzog angriffslustig das Gesicht. »Ich fürchte, wir müssen etwas deutlicher werden.«

Noch zögerte Dhark. Ein massives Vorgehen gegen die schlanken Jäger hätte bedeutet, mit Kanonen auf Spatzen zu schießen. »Ich frage mich, was sie vorhaben.«

»Das ist wohl nicht zu übersehen«, spöttelte sein seit den gemeinsamen Tagen auf der Raumakademie bester Freund. »Wenn sie könnten, würden sie uns liebend gern vom Himmel holen. Wir sollten ein Zeichen setzen, bevor sie Verstärkung bekommen.«

»Ein paar Jäger setzen sich ab und stoßen zur Erdoberfläche hinab«, meldete Tino Grappa von der Ortung. Die Warnung war überflüssig, da sich die tiefergehenden Jäger deutlich in der Bildkugel abzeichneten.

»Vielleicht haben sie die Menschen da unten entdeckt.« Ren zog die POINT OF in eine enge Kurve und machte sich an die Verfolgung. »Mister Rochard, Mister Clifton, zerstören Sie die Ausreißer!« ordnete er entschlossen an. Er hatte sich lange genug zurückgehalten. Auch wenn er in vielen Belangen nicht mit den Aufrechten einer Meinung war, waren sie Terraner, die nicht von der Erde geflohen waren wie alle anderen, sondern blieben, um ihren Heimatplaneten bis zum letzten Atemzug zu verteidigen.

Hintereinander kamen die Bestätigungen aus WS-West und WS-Ost. Wieder setzten Clifton und Rochard Nadel ein, und diesmal fand jeder rosarote Strahl ein Ziel. Drei Jäger explodierten beim ersten Feuerschlag, zwei weitere wurden schwer beschädigt. Brennend stürzten sie der Erdoberfläche entgegen. In Gedanken errechnete Ren, wo die Wracks aufschlagen würden. Weit draußen in der White-Sands-Wüste in Richtung Sacramento Mountains, wo sie keine Menschen gefährdeten. Drei weitere Blitze flammten auf.

»Das waren alle«, kommentierte Riker lakonisch. »Die restlichen Jäger drehen ab.«

Dhark nickte. Der Rückzug der Riiin war ihm lieber, als sämtliche Jäger abschießen zu lassen. Die Aufrechten in ihrem Schützenloch waren außer Gefahr. Er hoffte, daß sie klug genug waren, sich in Sicherheit zu bringen. Die Eisläufer kannten diese Stellung nun und würden womöglich später erneut dort angreifen, sobald die POINT OF nicht mehr in der Nähe war.

»Zu früh gefreut«, meldete sich wieder Grappa. Der mailändische Ortungsoffizier nahm eine Einstellung an seinen Instrumenten vor und drehte sich in seinem Sitz um. »Exakttransitionen!«

Unwillkürlich zuckte Dhark zusammen. Die Exakttransitionen waren eine technische Meisterleistung der Riiin. Da konnten selbst die modernsten Ringraumer nicht mithalten.

Die taktische Darstellung in der Bildkugel präsentierte mehrere Eisläufer-Schiffe, die am oberen Rand der Atmosphäre aus dem Nichts aufgetaucht waren. Turmdicke Energiestrahlen brachten die dünne Luft zum Kochen und schlugen ins Intervall.

»Feuer frei für Waffensteuerungen!« bellte Dhark. »Beschuß nach eigenem Ermessen!«

Brutal riß er die POINT OF aus ihrem bisherigen Kurs und jagte sie vom Ort des Geschehens weg, um die Menschen am Boden nicht in Gefahr zu bringen. In der Ferne, wo die Jäger abgestürzt waren, stiegen Rauchwolken auf. Wenn sich die Piloten nicht mit Fallschirmen oder etwas Ähnlichem gerettet hatten, konnten sie nicht überlebt haben. Der Ringraumer raste himmelwärts. Dreißig Antennen verschossen Nadel und verwandelten ihn in ein feuerspeiendes Ungetüm.

In Flugrichtung entstand eine neue Sonne, bevor die Angreifer zu erkennen waren. Ein herbeitransitiertes Schiff war explodiert. Drei weitere waren übrig, und die Geschützoffiziere feuerten im Salvenmodus.

»Großkampfschiffe«, erkannte der Erste Offizier Hen Falluta. Es handelte sich um plattgewalzte Zylinder von 500 Metern Länge, 200 Metern Breite und der halben Höhe. »Sie brechen nach Süden aus.«

Die Nadelstrahlen konzentrierten sich auf das mittlere Schiff. Clifton und Rochard spielten virtuos auf der Klaviatur ihrer Waffensysteme und trieben es vor sich her. Schon zeigten sich großflächige Schäden an der Hülle des Zylinderraumers.

»Sie schießen… aber nicht auf uns!« gellte Leon Bebirs entsetzte Stimme durch die Kommandozentrale. »Sie nehmen Alamo Gordo aufs Korn!«

Dharks Magen verkrampfte sich. Bei der Giant-Invasion 2051 war World City als Regierungssitz und Hauptstadt der Erde zerstört worden. Drohte das gleiche Schicksal vierzehn Jahre später Alamo Gordo?

»Feuer mit allem, was wir haben!« wiederholte er seinen Befehl überflüssigerweise. Seine eigene Stimme kam ihm kalt und fremd vor. Draußen zerschnitten die rosaroten Strahlen das Blau des Himmels und schufen ein bizarres Muster, in dem die Zylinderraumer verwegene Ausweichmanöver flogen.

»Sie ziehen sich zurück«, verkündete Grappa mit stoischer Ruhe. »Sie transitieren. Zwei sind verschwunden… und das beschädigte Schiff ebenfalls.«

»Glück gehabt, Freunde«, zischte Riker. »Ein paar Sekunden länger und ihr hättet noch einen eurer großen Pötte verloren.«

Eine kalte Hand griff nach Rens Herz. Hoffentlich hatten sie die Angreifer nicht zu spät zurückgeschlagen. »Ich will wissen, wie es in Alamo Gordo aussieht. Sind Schäden festzustellen? Ich brauche ein paar Ausschnittvergrößerungen.«

Bevor es dazu kam, meldete sich Glenn Morris aus der Funk-Z. »Das Büro von Bruder Lambert ruft uns.«

»Der fehlt uns gerade noch.« Riker machte eine abschätzige Handbewegung.

Auch Dhark stand dem Anführer der evangelikalen Christen mit größtem Mißtrauen gegenüber. Seit ihrem ersten Zusammentreffen war der Führer der kreationistischen Gläubigen, die heute die stärkste Macht auf der Erde darstellten und alle anderen Gruppen wie Aufrechte oder Gäa-Jünger unter ihrer Führung vereinigt hatten, eine undurchsichtige Figur geblieben. Der mittelgroße, etwas zu füllige Mittvierziger mit den schütteren dunklen Haaren, der etwas zu spitzen Nase, den dunklen Augen und der ruhigen Stimme sowie dem gleichermaßen ruhigen Wesen ließ sich nicht in die Karten schauen. Diese Undurchschaubarkeit, das Geheimnisvolle, das ihm anhaftete, wurde verstärkt durch die Pigmentflecken in seinem Gesicht und am Hals. Zudem hatte er eine extreme Glaubensfestigkeit und Charisma. All das hatte dazu geführt, daß es ihm gelungen war, nach der Evakuierung der Menschheit Aufrechte, Gäa-Jünger und andere Splittergruppen zu einen. Von denen gab es einige. Bruder Lambert hatte eine unüberschaubare Gefolgschaft um sich geschart, die ihm, wie Ren fürchtete, halbwegs blind folgte. Als gleichermaßen religiöser wie weltlicher Führer besaß der Mann eine nicht zu unterschätzende Macht. De facto beherrschte er die Erde, wenn man von den Invasoren absah, die sich überall breitgemacht hatten. So etwas konnte leicht in Extremismus münden.

»Durchstellen.«

Bruder Lambert meldete sich persönlich. »Geht es Ihnen gut?« erkundigte er sich. Seine Stimme war sanft, beinahe melodisch. »Wir haben den Kampf von hier aus mitverfolgt.«

»Bei uns ist alles in Ordnung. Wie sieht es in Alamo Gordo aus? Welche Zerstörungen hat der Beschuß durch die Riiin ausgelöst?«

»Der Stadt ist nichts passiert. Die Eisläufer haben nur den Sam-Dhark-Gedächtnispark beschossen. Es gab keine Toten, nicht einmal zerstörte Gebäude. Offenbar hat es sich nur um eine Warnung gehandelt.«

Dhark nickte, hin- und hergerissen zwischen Erleichterung und Wut. Zumindest keine Toten also. Doch das konnte sich beim nächsten Mal ändern.

Außerdem war es Zufall, daß sich niemand im Gedächtnispark zu Ehren seines Vaters aufgehalten hatte. Auch wenn so etwas in diesen Zeiten selten vorkam, war es nicht ausgeschlossen. In dem Fall hätte es Tote gegeben.

»Ich danke Ihnen für Ihre Besorgnis«, verabschiedete er sich mit einem zwiespältigen Gefühl von Bruder Lambert. Er konnte sich nicht entscheiden, ob er den Mann mochte oder grundlegend ablehnte, weil er stets den Eindruck hatte, daß Lambert etwas vor ihm verbarg und mit seinem Charisma Ziele verfolgte, die er bisher geheimhielt. »Ich bin sicher, wir sprechen uns schon bald wieder.«

»Das bin ich ebenfalls.« Bruder Lambert unterbrach die Verbindung von sich aus.

»Hen, Sie übernehmen die POINT OF und bringen sie nach Alamo Gordo zurück.«

Riker stieß seinen alten Freund an. »Und warum machst du das nicht selbst? Du hast doch etwas vor, mein Lieber?«

»Die Eisläufer haben uns gewarnt. Die Erde ist immer noch unsere Heimat, nicht die ihre.« In Rens Augen funkelte es bedrohlich. »Wenn hier jemand den anderen warnt, dann wir sie und nicht umgekehrt.«

»Du willst ihnen eine Gegenwarnung zukommen lassen?«

»Wir statten ihnen einen Besuch ab. Wir fliegen mit allen 28 Flash nach Thule und zeigen ihnen, daß wir uns nicht alles gefallen lassen, mögen sie zahlenmäßig auch noch so überlegen sein.«

»Ich bin dabei«, forderte Riker kompromißlos. »Bilde dir bloß nicht ein, daß ich auch diesmal wieder an Bord bleibe und Däumchen drehe.«

»Darauf hast du wohl nur gewartet«, fuhr Anja Riker, die sich ebenfalls in der Zentrale aufhielt, ihrem Mann in die Parade. »Was soll das bringen? Wir können froh sein, daß der Zwischenfall eben so glimpflich abgelaufen ist. Fordert die Eisläufer nicht zusätzlich heraus!«

»Wir müssen etwas unternehmen«, hielt Dan ihr entgegen. »Je mehr wir die Fischköpfe gewähren lassen, desto mehr nehmen sie sich heraus. Wir müssen sie endlich in ihre Schranken weisen.«

»Unsinn«, begehrte die blonde Expertin für Worgun-Mathematik mit der hübschen Stupsnase und der die männliche Hormonproduktion anregenden Figur auf. »Dazu sind wir längst nicht mehr in der Lage. Trawisheim kümmert sich doch überhaupt nicht mehr um die Erde. Statt die Lage noch zu verschlimmern, sollten wir einen Status quo mit den Eisläufern einhalten.«

»Trawisheim hat vielleicht gar nicht so unrecht«, murmelte Riker nachdenklich.

Dhark warf ihm einen indignierten Blick zu.

Dan winkte ab. »Schon gut, vergiß es. Wir sollten zusehen, daß wir die Flash bemannt bekommen. Und es bleibt dabei, einen davon fliege ich selbst.«

Ren war einverstanden. Für den Einsatz sämtlicher 28 Flash brauchte er alle fähigen Piloten, und Dan war neben den speziell ausgebildeten Flashpiloten einer der besten.

*

Thule auf Grönland war die nördlichste Großsiedlung der Eisläufer auf der Erde. Einst hatte die Stadt an der Küste der Baffin-Bai gelegen, doch Grönland war keine Insel mehr, die nur durch die Luft, zu Wasser oder per Transmitter zu erreichen war. Denn ringsum waren Nordpolarmeer, Grönlandsee, Baffin-Bai, Danmark- und Davis-Straße dauerhaft zugefroren. Auf Grönland selbst gab es keine eisfreien Zonen mehr. Dort fühlten die Eisläufer sich besonders wohl. Sie hatten die ehemalige terranische Stadt übernommen und weiter ausgebaut.

Die 28 Flash jagten durch den Erdboden und kamen am Rande des weitläufigen Raumhafens heraus. Grauer Himmel empfing die Piloten. Schneegestöber sorgte für erschwerte Sichtverhältnisse. Die Tageszeit ließ sich nicht einmal abschätzen.

Dharks Blick glitt über die Start- und Landefelder. Die Riiin hatten ganze Arbeit geleistet. Früher hatte das kleine Thule mit seinen ehemals weniger als tausend Einwohnern keinen Raumhafen vorweisen können. In einiger Entfernung erkannte er die Silhouetten von Gebäuden. Vom Standort der Flash aus war nicht zu entscheiden, ob es sich um terranische Häuser handelte, oder ob die Invasoren sie errichtet hatten. Es war gleichgültig, denn die Ansiedlung war nicht sein Ziel – sondern die hier geparkten Raumschiffe.

Ren wußte, daß hier stets mehrere Großkampfschiffe der Riiin lagen. Er zählte fünf der plattgewalzten Zylinder. Neben dem Hauptrumpf besaß jedes Schiff an nach unten gebogenen Armen vier Ausleger von der gleichen Form wie der Raumer selbst. Jeder dieser Ausleger war 80 Meter lang, 32 breit, 16 hoch und diente als Hangar sowie als Start- und Landerampe für die rund 200 Jäger, die jedes Zylinderschiff an Bord hatte, außerdem als Landestütze, auf der der Raumer ruhte.

»Zurückkehrende Raumjäger«, meldete Riker über Funk.

Dhark sah die torpedoförmigen Jäger ebenfalls. In dem Schneetreiben boten sie einen unwirklichen Anblick. Er vermutete, daß es diejenigen waren, die Alamo Gordo angegriffen hatten. Als sie einen offenstehenden Hangar anflogen, wählte Ren diesen Zylinder spontan für seine Demonstration aus.

»Dhark an alle«, rief er seine Piloten über Funk. »Anflug auf das Schiff, in dem die Jäger einschleusen. Unser Ziel sind die Ausleger auf der linken Seite. Flash 001 bis 014 fliegen mit eingeschaltetem Brennkreis durch den vorderen, Flash 015 bis 028 durch den hinteren Ausleger.«

Er selbst steuerte Flash 003. Die drei Meter langen Beiboote huschten mit aktivierten Intervallen dicht über dem Landefeld dahin. Dharks Blick huschte zwischen den Bordanzeigen und dem Monitor über seinem Kopf hin und her. Bisher waren sie nicht entdeckt worden, und er hatte sein Ziel schon fast erreicht. Die Eisläufer würden ihr blaues Wunder erleben. Dann war er heran. Im Pulk drangen die Kleinboote in die Ausleger ein. Die eingeschalteten Brennkreise ließen Schneisen der Zerstörung hinter sich. Beim Durchflug durch einen Hangar entdeckte Ren mehrere Riiin, die in wilder Panik flohen, als sie sich unerwartet mit der Bedrohung konfrontiert sahen. Hinter der 003 kam es zu Explosionen, wo Aggregate zerstört wurden. In Sekundenschnelle griff Feuer um sich, und Rauch breitete sich aus.

Der Flash jagte ins Freie, mehrere Schatten neben sich. Es waren Riker und die anderen. Sie rasten in alle Richtungen davon, während ein paar Feindjäger versuchten, ihren Anflug abzubrechen. Die Piloten waren viel zu konsterniert, um sich gegen die Menschen zu stellen. Plötzlich waren überall Bewegungen. Eisläufer rannten mit Handwaffen über das Landefeld. Doch damit konnten sie den Intervallen nicht beikommen.

Dhark hatte andere Probleme. Vor ihm bohrten sich zwei Jäger ineinander. In dem Durcheinander sah er sie zu spät. Mit einer gedankenschnellen Reaktion zog er den Flash in die Höhe, als sich Feuer und Rauch ausbreiteten. Trümmerteile wirbelten durch die Luft.

Das war noch nichts im Vergleich zu dem, was bei dem attackierten Großkampfschiff geschah. Die beiden zerstörten Ausläufer waren abgeknickt. In dem Moment wurde der hintere von einer gewaltigen Explosion zerrissen. Eine Stichflamme zuckte hundert Meter in die Höhe. Feuer und Schneegestöber vermischten sich zu einer undurchdringlichen Wand. Selbst sie konnte das sich abzeichnende Drama nicht verbergen. Ein Zittern lief durch den 500 Meter langen Schiffsrumpf, der sich wie in Zeitlupe zur Seite neigte.

Gleichzeitig aktivierten die Zylinderraumer ihre Schutzschirme. Nun war kein Durchkommen mehr möglich, doch Dhark hatte schon erreicht, was er wollte.

»Rückzug!« befahl er den anderen Flashpiloten.

Hinter ihm stürzte der beschädigte Raumer endgültig um.

Plötzlich war die Luft voller Jäger. Es waren Hunderte. Kamen sie aus den Großraumern oder aus versteckten Hangars? Dhark schlug ein paar Haken, als die kleinen, wendigen Maschinen das Feuer eröffneten. Sonnenheiße Strahlenbahnen rasten durch den Schnee und ionisierten die Luft.

»Wir werden aus dem All beschossen«, meldete sich Riker alarmiert.

Schon fraßen sich meterdicke Strahlenbündel in den Untergrund. Es grenzte an ein Wunder, daß kein Flash abgeschossen wurde. Lange würden sie soviel Glück nicht haben. Ren sah nur eine Rückzugsmöglichkeit.

»Wir verschwinden auf dem Weg, auf dem wir gekommen sind«, gab er durch. »Alle Flash sofort zurück zur POINT OF.«

Er trieb die 003 bodenwärts. Für die Eisläufer mußte es so aussehen, als wollte er sein Kleinboot in das Landefeld rammen. Ein paar der dünngekleideten Gestalten schossen auf gut Glück in die Luft, während sie sich eilig in Sicherheit brachten. Augenblicke später endete die Außenbeobachtung. Auf dem Monitor über Rens Kopf war es nur noch schwarz.

Dhark aktivierte den Hyperfunk und rief die Riiin. »Das war nur eine kleine Demonstration unserer Macht. Statt eines Schiffes hätten wir alle angreifen können«, drohte er mit kalter Stimme. »Beim nächsten Mal nehmen wir keine Rücksicht mehr. Sollte Alamo Gordo noch einmal angegriffen werden, war das gerade nur der Anfang. Ich empfehle allen Eindringlingen nachdrücklich, sich von unseren noch bewohnten Städten und Einrichtungen fernzuhalten, sonst werden sie es bereuen.«

Er lauschte und schaltete die Verbindung ab, als keine Antwort kam. Dennoch war er sicher, empfangen worden zu sein. Die Eisläufer wußten nun, woran sie waren. Ob sie sich davon beeindrucken ließen und sich künftig vorsichtiger verhielten, war eine andere Frage. Er wies die Automatik an, an Bord der POINT OF zurückzukehren, und schloß die Augen. Für kurze Zeit hatte er Muße, sich an die Geschehnisse zu erinnern, die zur heutigen Situation geführt hatten.

All das hatte vor einem halben Jahr begonnen, im September 2064.

Oder war da bereits alles zu Ende gewesen?

2.

Er war allein, die Erde war beim Teufel, und es bestand keine Aussicht auf Besserung.

Ren Dhark stapfte durch den Schnee und hatte den Eindruck, über eine endlose Ebene zu schreiten. Er konnte nicht sehen, was sich daran anschloß. Bei klarem Wetter prangte im Westen die Silhouette von Alamo Gordo. Doch bei dem Unwetter, das über Cent Field tobte, schien die Hauptstadt der Erde nicht mehr zu existieren, als sei sie einfach von der Landkarte weggewischt worden.

Das einzige, was er identifizieren konnte, waren 28 Flash, die sich am Rand des Landefeldes reihten. Es waren die Beiboote der POINT OF, die auf ihre Rückkehr an Bord des Ringraumers warteten. Immerhin hatte das Schiff bei jedem seiner letzten Flüge 2000 Umsiedler transportiert. Für die Behelfsquartiere war soviel Raum wie möglich nötig gewesen. Die Menschen wurden in Hangars, leeren Räumen und teilweise in den Gängen der POINT OF untergebracht, auch in den leergeräumten Flashhangars. Auf dem Rückweg von Babylon nach dem letzten Flug hatte die Besatzung die Behelfsquartiere schon wieder abgebaut und die fliegende Herberge in ein Raumschiff zurückverwandelt. Nur die Flash fehlten noch. Der Checkmaster hatte Anweisung, sie in Kürze zu aktivieren und in ihre Hangars zu bringen.

In der Ferne glomm ein düsteres rotes Licht. Es war eine optische Warnbake, die startenden und landenden Raumschiffen neben dem elektronischen Leitstrahl als zusätzliche Orientierung dienen sollte. Bitter lachte Dhark auf. Sie hatte ihren Sinn verloren. Die vor wenigen Stunden gelandete POINT OF war vermutlich für längere Zeit das letzte Schiff, das auf Cent Field niedergehen würde. Danach blieb das pulsierende Licht nur noch ein Mahnmal an vergangene Zeiten, an eine Erde mit lebhafter Raumfahrt.

Für sehr lange Zeit, fürchtete er. Denn niemand hatte mehr Grund, die Erde anzufliegen. Sie war drauf und dran, zu einer toten, lebensfeindlichen Welt zu werden. Von solchen Planeten hielt sich fern, wer klug und nicht auf Vorkommen an Bodenschätzen aus war.

Zu einer lebensfeindlichen Welt zu werden? War sie das nicht schon?

Dhark orientierte sich in Richtung der Bake, die ihn wie ein gigantisches Auge magisch anzog. Mit einem knappen Blick zurück vergewisserte er sich, daß seine Fußabdrücke im Schnee zu sehen waren. Alles um ihn war so unwirklich, daß er sich nicht gewundert hätte, wenn sie nicht dagewesen wären. Ein wenig fühlte er sich wie ein Geist, der gekommen war, um noch einmal die Stätten seiner Vergangenheit zu besuchen, bevor sie endgültig unter Schnee und Eis begraben wurden und der Vergessenheit anheimfielen. Er fühlte sich müde und fragte sich, was ihn aus dem Schutz seines Ringraumers in die kalte Ödnis hinaustrieb. Mehr als je zuvor war die POINT OF zu seinem Anker geworden, an den er sich klammern konnte, während sich ringsum alles veränderte. Bisweilen hatte er ihren eigentlichen Zweck vergessen, der vornehmlich darin bestand, die Galaxis zu erkunden. Ein Jahr Evakuierungsflüge, der gleiche nervenzermürbende Trott tagein, tagaus ging auch an einem Ren Dhark nicht spurlos vorbei. Zumal ihn jeden Tag die Sorgen um die Menschheit quälten, die Sorgen um seine Menschheit. Und die Sorgen um seine Erde.

Mit Schrecken sah er den Trichter aus buntschillernder Energie vor seinem geistigen Auge, der die Synties und ihre Mutter abgesaugt hatte. Mit ihrem Verschwinden war auch jegliche Hoffnung auf eine Rückkehr zu normalen Verhältnissen für Terra geschwunden. Gerade als dank der Synties und ihrer Wasserstofflieferungen zur Sonne alles gut zu werden schien, war das scheinbar unausweichliche, endgültige Ende für seinen Heimatplaneten gekommen.

»Nein! Nicht, solange ich etwas dagegen unternehmen kann!«

Doch was konnte er schon tun? Ihm waren mehr oder weniger die Hände gebunden.

Dharks trotziger Ausruf verwehte in dem Wind, der über das Landefeld heulte und den Schnee zum Tanzen brachte. Er war nicht bereit, die Erde aufzugeben und woanders neu anzufangen wie Trawisheim und seine Bürokraten. Jedenfalls nicht auf Dauer. Die Erde war mehr als ein Planet unter unzähligen anderen, mehr als nur irgendein Himmelskörper. Sie war Wiege und Heimat der Menschheit – sie war seine Heimat. Es mußte einen Weg geben, alles wieder ins rechte Lot zu rücken. Es lag an ihm, diesen Weg zu finden. Irgendwohin waren die Synties verschwunden. Doch wohin? Und wer steckte hinter ihrem Verschwinden? Zweifellos jemand, der damit einen gezielten Schlag gegen die Menschheit geführt hatte. Und wenn es sich um einen Akt der Natur handelte, den auch die Synties nicht hatten voraussehen können? Rens Gedanken drehten sich im Kreis, seit Tagen, Wochen und Monaten. Immer wieder schob er eine Befürchtung ganz weit von sich.

Die Synties sind vernichtet worden.

In dem Fall sah auch Dhark keine Möglichkeit, die Sonne jemals wieder in ihren ursprünglichen Zustand zu versetzen. Ihr Zustand hatte sich zwar stabilisiert, der Masseverlust war zum Erliegen gekommen, und sie erkaltete nicht weiter. Von allein würde sich der Prozeß aber auch nicht umkehren. Mit den vorhandenen technischen Möglichkeiten und einem nur halbwegs vertretbaren Aufwand war der Sonne in überschaubarer Zeit nicht zu alter Kraft zu verhelfen. Also blieb die Situation auf der Erde, wie sie war. An den Polen herrschten Minustemperaturen bis zu 140 Grad unter Null, am Äquator um die –20 Grad Celsius. Die Landflächen waren vereist und die Weltmeere bis auf einen schmalen Streifen am Äquator zugefroren. Lediglich die innere Erdwärme verhinderte, daß die Meere gänzlich durchfroren. Eine ähnliche Eiszeit hatte die Erde zeit ihres Bestehens nicht erlebt.

Ein einsetzender Orkan ließ Ren aufsehen. Zwei oder mehr Kilometer vor ihm erhob sich ein Gebirge aus dreieckigen Carboritflächen. Es war ein Schiff des neuen Ikosaeder-Typs, der eigens für die Evakuierung der Menschheit entwickelt worden war. Mit seinem leistungsstarken Transitionstriebwerk konnte es die Strecke bis nach Babylon in achtzehn Stunden zurücklegen. Pro Flug konnte ein solcher nur für diesen Zweck gebauter Gigant 100 000 Menschen evakuieren. Es war das endgültig letzte Transportschiff. Die Menschen, die sich nun noch auf der Erde aufhielten, hatten sich bis zuletzt standhaft geweigert, sie zu verlassen.

Dhark hielt inne. Die Luftverdrängung des aufsteigenden Ikos trieb den Schnee in seine Richtung. Ren stemmte sich gegen den entfesselten Sturm. Es hatte etwas Allegorisches an sich. Er war nicht bereit zu weichen, auch wenn es so aussah, als gäbe es keine Hoffnung mehr. Als er seinen Weg fortsetzte, wurde er schier zerrissen von der Überlegung, wessen Überleben wichtiger war. Das der Erde oder das der Menschheit? Zweifellos zweites, doch gehörten nicht beide zusammen? Verloren die Menschen mit ihrer Heimat nicht auch ihre Wurzeln, ihre Identität? Vielleicht war man nur in der Lage, das zu erkennen, wenn man sich ständig im Weltall herumtrieb. Trawisheim und seine Bürokraten dachten pragmatisch und konnten derlei Empfinden womöglich gar nicht nachvollziehen. Das mochte sich ändern, wenn die Umsiedlung nach Babylon abgeschlossen war, der dortige Neuanfang stattgefunden und die Menschheit endlich Zeit hatte, sich richtig zu besinnen. Aber wenn dann das große Heimweh ausbrach, war es zu spät. Daran konnte dann auch der Commander der Planeten nichts mehr ändern.

Sei nicht ungerecht, redete Dhark sich ein. Trawisheim kann gar nicht anders handeln.

Der amtierende CdP hatte sogar alles perfekt organisiert, auch wenn die Nogk ihre Hilfe bei der Evakuierung letztlich nur dank Charauas Freundschaft mit Ren Dhark gewährt hatten. Auf Trawisheim waren die besten Verbündeten der Menschen nicht besonders gut zu sprechen. Mit ihrer Hilfe hatte die Evakuierung viel schneller abgeschlossen werden können als geplant. Inzwischen waren die Nogk in ihr Heimatreich zurückgekehrt, nachdem sie sich einmal mehr als verläßliche Freunde erwiesen hatten.

Die Umrisse von mehrstöckigen Gebäuden schälten sich aus dem Schneetreiben, dazwischen ein wuchtiger Turm. Unwillkürlich hatte Dhark den Weg zum Trakt der Raumhafenkontrolle eingeschlagen. Er schüttelte den Kopf, als er begriff, daß sein Unterbewußtsein ihn hergeführt hatte. Ohne seine Schritte zu verlangsamen, näherte er sich den grauen Fassaden. Kein einziges Fenster war beleuchtet. Auch dort hielt sich niemand mehr auf. Wie ganz Cent Field waren Raumhafenkontrolle und sämtliche Abfertigungsbereiche verwaist. Die letzten Soldaten verließen die Erde mit dem Ikosaederschiff, das am dunklen Himmel verschwand und allenfalls die Ahnung an einen einstmals regen Raumhafenbetrieb zurückließ.

Die POINT OF war allein, war das letzte Raumschiff auf Terra. Die Ringraumerwerft am Rande von Alamo Gordo produzierte nicht mehr. Da sie zu groß und komplex war, um sie mit nach Babylon zu nehmen, andererseits aber zu wertvoll, um sie zu zerstören, war eine kleine Wachmannschaft dort stationiert. Gegen wen sollten die Männer die Werft schützen? Gegen mögliche Plünderer? Das war nicht auszuschließen.

Schließlich gab es dort einiges an Technik zu erbeuten.

Oder hatte Trawisheim gar an fremde Besucher aus dem All gedacht?

Dhark schüttelte den Kopf. Eine solche Befürchtung war Unfug. Niemand interessierte sich für eine trostlose Eiswüste, in der ein Überleben kaum möglich war.

Trotz des Thermoanzugs fröstelte ihn plötzlich. Er stellte sich vor, wie sein Freund Dan Riker in der Kommandozentrale des Ringraumers saß und seine Schritte an einem Bildschirm verfolgte. Ob er begriff, daß Ren einfach für ein paar Minuten allein sein mußte? Nach dem wie in Trance verlaufenen Jahr ständiger Flüge zwischen Terra und Babylon realisierte er hier draußen erst so richtig, wie weit es tatsächlich mit der Erde gekommen war.

Unverdrossen stapfte er weiter, bis er die Gebäude erreichte. Sie waren verschlossen und gegen Plünderer gesichert. Mit einem schlichten Code verschaffte Dhark sich Zugang.

Früher war er gelegentlich hiergewesen. Jetzt kamen ihm sämtliche Räume vor, als hätte er sie noch nie in seinem Leben betreten.

*

»Kannst du mir erklären, was Dhark vorhat?«

»Was soll er schon vorhaben? Er geht spazieren.«

»Spazieren. Von mir aus.« Chris Shanton schnaufte. »Du weißt genau, wovon ich rede. Stell dich nicht dümmer, als du bist, auch wenn es viel dümmer gar nicht geht. Ich rede von der Gesamtsituation. Wieso landen wir auf Cent Field? Was verspricht Dhark sich davon? Die Erde ist doch sowieso im Eimer.«

»Nicht nur die Erde.« Jimmy, der Roboterhund in Form eines Scotchterriers mit pechschwarzem Fell, dem er seinen Spitznamen Brikett auf vier Beinen verdankte, schielte vorwurfsvoll zu der Cognacflasche, die sein Konstrukteur und Herrchen in den riesigen Pranken drehte.

»Die Flasche ist nicht im Eimer.« Der schwergewichtige Mann mit der Halbglatze, dem Kinnbart und den an Keulen erinnernden Armen, der als Kolonist mit der GALAXIS nach Hope geflogen war und neben Arc Doorn und Robert Saam als weltbester Technikexperte galt, wuchtete seine 114 Kilogramm Lebendgewicht in die Höhe. »Sie ist schlicht und ergreifend leer.«

»Ich rede auch nicht von der Flasche, sondern von demjenigen, der den Zustand ihrer Inhaltslosigkeit herbeigeführt hat.«

»Werd’ nicht unverschämt, du mißratene Töle, sonst schraube ich dich auseinander«, drohte Shanton. Er fixierte seine Schöpfung und überlegte, ob es sich bei der Anspielung um eine von Jimmys üblichen Scherzen oder um einen ernsthaften Vorwurf gehandelt hatte. Ursprünglich nur mit einem einfachen Suprasensor ausgestattet, bildeten sich in dem Kleinroboter aufgrund eines unbekannten Bauteilfehlers immer wieder Subprogramme, die den künstlichen Hund nahezu selbständig agieren ließen. Bis zu einem gewissen Grad war er sogar zur Selbstprogrammierung fähig. Nicht einmal sein Erbauer konnte sagen, ob Jimmy immer noch nur ein Roboter war oder den Turing-Sprung zu einer Künstlichen Intelligenz getan hatte.

»Ich wollte dir nur anbieten, dir eine volle Flasche zu besorgen. Andere Sorgen scheinst du zur Zeit ja nicht zu haben.«

»Habe ich auch nicht, du kleiner Wichtigtuer. Seit einem Jahr spielen wir Taxiunternehmen. Ich sehe die Wichtigkeit durchaus ein. Für die POINT OF, für Dhark, für Trawisheim, für die Menschheit. Für die ganze Welt sind unsere Chauffeurdienste wichtig, nur nicht für mich. In der ganzen Zeit sind meine Dienste nämlich nicht ein einziges Mal benötigt worden. Was mache ich überhaupt noch an Bord?«

»Teuren Cognac trinken.«

Shanton holte aus und schleuderte die leere Flasche auf Jimmy. Der Vierbeiner war viel zu schnell, um sich treffen zu lassen. Er rollte auf den in seine Pfoten eingearbeiteten Kugellagern aus der Gefahrenzone und brachte sich unter einem Stuhl in Sicherheit.

»Das ist aber nicht die feine englische Art«, plärrte er aus seiner Deckung. »Ich mache mir ernsthafte Sorgen um dich. Jeder, der dich kennt, weiß, daß du gerne und viel trinkst, doch immer nach dem Motto: Dienst ist Dienst und Schnaps ist Schnaps. Deine Arbeit hat nie darunter gelitten, weil du bei wichtigen Projekten auch monatelang abstinent bist. Oder besser: abstinent warst. Ich habe den Eindruck, das hat sich geändert.«

»Weil es keine wichtigen Projekt gibt, verstehst du das denn nicht? Ich bin überflüssig.«

»Man kann sich auch etwas einreden, wenn man die Wahrheit nicht sehen will«, beharrte Jimmy auf seinem Standpunkt. »Du säufst… Verzeihung, du trinkst nicht, weil du zuviel Zeit hast, sondern weil du dich daran gewöhnt hast. Weißt du, was du geworden bist? Ein…«

»Klappe jetzt, Töle. Es reicht.« Wutentbrannt machte Shanton einen Satz nach vorn und trat nach dem Versteck des Roboterhundes. Der Stuhl flog durch die Kabine und krachte in eine Ecke, wo er umgekippt liegenblieb.

»Das ist völlig sinnlos«, maulte Jimmy und rollte zum Ausgang, der sich automatisch vor ihm öffnete. »Mit dir kann man nicht mehr vernünftig reden, Dicker.«

Shanton schaute ihm fassungslos hinterher. Vernünftig? dachte er. Als ob du das jemals gekonnt hättest.

Er hob die Flasche auf, die dank des dämpfenden Untergrunds heil geblieben war, und betrachtete sie sinnend. Am Vorabend war sie noch voll gewesen. Als er sie gelehrt hatte und danach eingeschlafen war, hatte er die Ankunft auf der Erde gar nicht mitbekommen.

Heute hingegen hatte er noch keinen einzigen Schluck getrunken. Wieso also stellte der blöde Köter sich so an? Es gab keinen Grund dazu, denn Shanton war stocknüchtern. Nüchterner jedenfalls, als ihm lieb war, wenn er daran dachte, daß ihm auch der heutige Tag aller Voraussicht nach mehr Langeweile als sinnvolle Arbeit bescheren würde. Und überhaupt, so weit kam es noch, daß seine eigene Schöpfung ihm ernsthafte Vorhaltungen machte, nur weil er zu besonderen Anlässen einen über den Durst trank.

Wenn wir schon auf Cent Field stehen und dem lieben Gott den Tag stehlen, dachte er, könnte ich mir wie Dhark ein wenig die Beine vertreten. Der Trinkfeste Raumsoldat, die legendäre Kneipe, in der vorwiegend Angehörige der Terra Defence Forces verkehrten, war nicht weit entfernt. Er bezweifelte, daß die Inhaber sämtliche Alkoholvorräte aus der Bar mit nach Babylon genommen hatten. Der Platz bei den Evakuierungsflügen war arg eingeschränkt, und jeder Übersiedler durfte nur ein limitiertes Kontingent an persönlichen Dingen mitnehmen. Alkohol gehörte bestimmt nicht dazu.

Shanton verließ seine Kabine und besorgte sich einen Thermoanzug.

*

Die Energieversorgung war abgeschaltet. Ein paar Notleuchten verbreiteten einen spärlichen Schein. Dhark vermutete, daß sie noch eine Weile brennen und nach Ablauf einer gewissen Frist ebenfalls ihre Tätigkeit einstellen würden. Wie er es erwartet hatte, hielt sich kein Personal mehr in den Räumlichkeiten der Raumhafenkontrolle auf. Die menschenleeren Gänge waren deprimierend. Sie erweckten den Anschein, niemals belebt gewesen zu sein. Um so gespenstischer war, daß Ren noch den Nachhall von Schritten und Stimmen zu vernehmen glaubte.

Instinktiv schaute er sich um, doch er war allein.