Eiszapfen - Harald Weiss - E-Book

Eiszapfen E-Book

Harald Weiss

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Beschreibung

Die Eröffnung des Christkindlesmarktes in Nürnberg prägt am Abend viele Menschen. Für die beiden Kommissare Kartl und Neuner beginnt mit dem Prolog des Christkindes eine ganz besondere Woche. Die Woche ihres persönlichen Grauens. Was für eine Hatz betreibt der Mann mit dem Rollator? Welche Rolle spielt der Eiszapfen? Wie persönlich beschneidet der Fall die Sicherheit und das unbeschwerte Leben der Kommissare und ihrer Angehörigen? Verfolgen Sie einen fränkischen Krimi, der nicht nur bei den Akteuren seine Spuren hinterlassen wird.

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Nach drei fränkischen Krimis (Spiel des Schattens, Die Mondfrauen,Das Minzblatt), einem modernen Märchenbuch(Traumwelten für jeden einzelnen Tag der Woche),sowie dem Kurzroman „Das verlassene Dorf“erscheint mit „Eiszapfen“ ein neuer Krimi von Harald Weiss, Autor, geboren 1960,wohnhaft in Nürnberg.

Mein Dank gilt allen, die Einfluss auf dieses Buch genommen haben. Vor allem Karolin Jindra für die Covergestaltung und den zahlreichen Testlesern.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Schluss

Beginn

Leichter Schneefall überzuckerte die Budenstadt im Herzen von Nürnberg. Die Ziffernblätter der Frauenkirche sprangen gleich auf die halbe Stunde um.

Neugierde und Anspannung breitete sich über dem Hauptmarkt aus. Gleich sprach das amtierende Christkind den Prolog von der Empore der Frauenkirche, um den Christkindlesmarkt offiziell zu eröffnen.

Das Licht der Buden erlosch und die eng aneinander stehenden Besucher reckten die Köpfe nach oben.

Punkt 17:30 Uhr erscholl die Stimme des Christkindes über die große angereiste Schar.

Ihr Herrn und Frau´n, die Ihr einst Kinder wart, Ihr Kleinen, am Beginn der Lebensfahrt, ein jeder, der sich heute freut und morgen wieder plagt: Hört alle zu, was Euch das Christkind sagt!

Verhalte dich still, um keinen Ärger zu provozieren, so ermahnte er sich selbst zur Wachsamkeit, bis er in Sichtweite seiner Zielperson stand. Nach dem Anschlag auf einen Weihnachtsmarkt in Berlin verstärkte die Stadt ihre Polizeipräsenz.

In jedem Jahr, vier Wochen vor der Zeit, da man den Christbaum schmückt und sich aufs Feiern freut, ersteht auf diesem Platz, der Ahn hat´s schon gekannt, was Ihr hier seht, Christkindlesmarkt genannt.

Die letzten Meter überwand er stockend und mühsam. Nur niemanden anrempeln. Für die Leute nicht wahrnehmbar bleiben.

Zwei Meter. Er bemerkte ihn deutlich vor sich. Groß und breit, wie er da freudig den Worten des Nürnberger Christkind lauschte.

Ein Meter. Fast zum Greifen nah, verharrte er jetzt geduldig auf der Stelle. Nicht zu hastig. Langsam. Gemächlich.

Dies Städtlein in der Stadt, aus Holz und Tuch gemacht, so flüchtig, wie es scheint, in seiner kurzen Pracht, ist doch von Ewigkeit. Mein Markt bleibt immer jung, solang es Nürnberg gibt und die Erinnerung.

Eine leichte Druckwelle von hinten schob ihn einen weiteren halben Meter nach vorne. Eine Frau mittleren Alters versperrte den direkten Kontakt zur Zielperson.

Blöde Kuh. Du bist mir im Weg. Seine Gedanken kreisten darum, wie er sie ohne Aufsehen von diesem Platz wegbekam. Der Zufall half ihm weiter. „Mami“, hörte er eine kindliche Stimme leise rufen.

Die Frau drehte ihren Kopf leicht nach hinten, sah an ihm vorbei und verschwand im Getümmel.

So rutschte er auf, den letzten halben Meter. Und stand somit knapp hinter seiner Zielperson und wartete geduldig auf den passenden Moment.

Denn alt und jung zugleich ist Nürnbergs Angesicht, das viele Züge trägt. Ihr zählt sie alle nicht! Da ist der edle Platz. Doch ihm sind zugestellt Hochhäuser dieses Tags, Fabriken dieser Welt.

Er beäugte im Wechsel die Gesichter der umherstehenden Personen und die beleuchtete Empore. Niemand nimmt mich wahr. Sein Körper entspannte sich zusehends. Bald ist es so weit. Vorfreude stieg in ihm empor.

Schluss mit diesen dekadenten Menschen. Hass erfüllte seine Seele und er vernahm nur fern die klare, feste Stimme des Nürnberger Christkind.

Die neue Stadt im Grün. Und doch bleibt´s alle Zeit, Ihr Herrn und Frau´n: das Nürnberg, das Ihr seid. Am Saum des Jahres steht nun bald der Tag, an dem man selbst sich wünschen und andern schenken mag.

Die Stadt im Grünen. Verächtlich verdunkelten sich seine Augen. Geschenke. Ja, ihr sackt alles ein und für mich bleibt nichts. Absolut nichts. Aber es wird ein Ende haben.

Nicht mal zwei Minuten trennten ihn von der Idee bis zur Ausführung.

Doch leuchtet der Markt im Licht weit und breit, Schmuck, Kugeln und selige Weihnachtszeit, dann vergesst nicht, Ihr Herrn und Frau´n, und bedenkt, wer alles schon hat, der braucht nichts geschenkt.

Meine Worte. Wen interessieren sie? Niemanden. Aber bald.

Sein Blick schweifte ein letztes Mal umher. Ein kleiner Pfad öffnete sich zu seiner Linken. Was für ein Glücksfall. Perfekt.

In Gedanken leitete er schon die Flucht ein.

Die Kinder der Welt und die armen Leut´, die wissen am besten, was Schenken bedeut´. Ihr Herrn und Frau´n, die ihr einst Kinder wart, seid es heut´ wieder, freut Euch in ihrer Art. Das Christkind lädt zu seinem Markte ein, und wer da kommt, der soll willkommen sein.

Als das Christkind auf der Empore den Prolog beendete, brandete frenetischer Jubel auf. Das eingeschaltete Licht der Marktstände gab dem Platz sein ursprüngliches Gesicht zurück.

Der Mann, der klatschend vor ihm stand, kippte plötzlich und ohne Vorwarnung nach vorne weg. Dabei prallte er in den Rücken der nächsten Person und wurde mit Hilfe von zwei weiteren kräftigen Männern so aufgefangen, dass er nicht willenlos auf den Boden knallte.

„Einen Arzt. Wir brauchen einen Arzt!“, schrie einer der drei Beteiligten durch die Menge hindurch. „Jemandem ist übel geworden.“

Er bog zu diesem Zeitpunkt schon am Weg zum nächsten Budengang ab. Durch sein unaufgeregtes Entfernen tauchte er unerkannt in die nächtliche Vorweihnachtszeit ab.

Schnell erreichten zwei Polizeibeamte und drei Sanitäter den Verunglückten, bargen ihn aus der Menge und legten ihn auf eine Trage. Der Abtransport geschah so zügig, wie es das Gewusel um sie herum zuließ.

Eine Erstversorgung fand im Krankenwagen statt. „Blutdruck 90/30, fast kein Puls, wir verlieren ihn,“ gab einer der zwei anwesenden Sanitäter im Inneren des Wagens von sich.

„Wenn wir ihn nicht stabilisieren, wird er keine Chance haben. Herzinfarkt scheidet nach dem EKG aus“, erläuterte der Zweite von ihnen. „Schnell ab in die Klinik mit ihm.“

Barsch klopfte er gegen die Trennscheibe zum Führerhaus. Seinem Fahrer signalisierte er, zügig den Ort des Geschehens zu verlassen.

Keine zehn Minuten später lag der Verunglückte auf dem Operationstisch des Klinikums Nord im Nürnberger Westen. Das Leben hauchte spärlich in ihm.

Die beiden Beamten vom Hauptmarkt trafen fast zeitgleich im Krankenhaus ein. Dort stellten sie die Personalien des Mannes fest. Diese reichten sie an ihre Dienststelle weiter und verabschiedeten sich zum weiterführenden Dienst auf dem Weihnachtsmarkt.

Eine Stunde später, gegen 20:30 Uhr, klingelte im Büro von Kriminalrat Kartl in der PI Forchheim sein Diensthandy, das achtlos auf seinem Schreibtisch lag.

Er meldete sich kurz mit „Kartl“. Im Laufe des Gespräches verengten sich immer mehr beide Augen und die rote Gesichtsfarbe entwich aus seinem Antlitz.

„Wir beeilen uns“, beendete er ergriffen den Anruf und verharrte für einen Moment regungslos in seinem Stuhl.

„Verfluchte Scheißen“.

Mehr gab er nicht von sich, wählte eine Nummer in seinem Smartphone und wartete ungeduldig auf die Stimme am anderen Ende.

„Wir haben ein Problem. Ich hole dich in zehn Minuten ab.“ Kurz und knapp beendete er das Gespräch, um keinen Widerpart zuzulassen.

Flink schnappte sich Kartl den Wintermantel und verließ das Gebäude der PI Forchheim. Zügig fuhr er zu Kriminalhauptmeister Max Neuner, seinem Partner bei der Mordkommission.

Beim Einbiegen in die Wohnstraße erkannte er ihn schon auf dem Gehsteig. Abrupt bremste er ab, ließ ihn einsteigen und entfernte den Wagen mit quietschenden Reifen.

„Servus Sepp. Sind wir auf der Flucht oder was ist los?“, begrüßte ihn Max verständnislos.

„Scheiße ist los.“

Fluchend und hupend drängte er einen langsamen Autofahrer vor ihm zur Seite.

„Rede schon!“, ermahnte ihn Max.

„Auf Günther ist ein Anschlag verübt worden. Er ist auf bisher unbekannte Weise auf dem Christkindlesmarkt in Nürnberg schwer verletzt worden. Dieter hat mich vorhin verständigt.“

Tief getroffen rang Max im ersten Moment nach Luft. „Sicher kein Herzinfarkt oder so was?“, fragte er, weil ihm nichts Besseres einfiel.

„Nein. Ein Projektil ist in Günthers Körper eingedrungen. Ein paar innere Organe sind wohl verletzt worden.“

„Warum Günther?“, fragte Max etwas sinnfrei.

Es kam kein Feedback zurück.

Tief berührt saß Kartl hinter dem Lenkrad. Rasant bewegte er den Wagen von Forchheim nach Nürnberg, hart an der Grenze der Legalität, und so erreichten sie zumindest ohne Unfall gegen 21:15 Uhr das Klinikum Nord.

Kapitel 1

Für Günther, den Gerichtsmediziner der PI Forchheim, gab es fast nichts Schöneres im Leben, wie die Eröffnungsfeier des Christkindlesmarktes in Nürnberg. Alle zwei Jahre gönnte er sich das Erlebnis. Dieses Ritual zog er schon seit ein paar Jahrzehnten so durch.

Ein letzter Blick in den Spiegel, ein kurzes Streichen durch das volle Haar, bevor er sich endgültig nach Nürnberg aufmachte.

Da er dem Andrang und den damit verbundenen Chaos vorbeugte, fuhr er zeitig los und ergatterte einen der freien Plätze in einem Parkhaus nahe der Lorenzkirche.

Wenig später ließ er sich von den Menschenmengen hinunter zum Markt treiben. Voller Vorfreude genoss Günther die weihnachtliche Dekoration. Seine Nase sog die verschiedenen Düfte begierig ein und überraschend fand er einen Platz zwischen den Buden am Markt. Einen Hauch eines freien Blickes auf die Empore der Frauenkirche gönnte ihm diese Stelle.

Fast eine Stunde stand er schon am Fleck, bis der Blick auf seine Armbanduhr verriet, dass das Warten bald ein Ende fand.

Fünfzehn Minuten. Beide Hände steckten fest in den Manteltaschen. Um sich herum blendete er für diesen Moment alles aus. Die Geräusche, die Menschen, die Stimmen.

Fünf Minuten. Naive Freude überflutete sein Inneres.

Eine Minute. Das Licht der Marktbuden erlosch und tauchte den Platz in eine geheimnisvolle Atmosphäre.

Seine Augen gierten gebannt nach oben und ein leichter Schauer überfiel ihn, als das Christkind mit dem Prolog anfing.

Starr verharrte Günther auf der Stelle. Seine Augen füllten sich leicht mit Tränen, bevor er am Ende in den gleichen euphorischen Jubel aller Anwesenden einfiel.

Bis er den Schmerz verspürte, der ihn ohnmächtig werden ließ.

Kalt, durchdringend, zerstörend.

Ihm wurde übel, seine Beine versagten ihren Dienst und er kippte schnell nach vorne weg. Sein Geist tauchte im gleichen Moment in die Dunkelheit ab.

Den Abtransport und die sofortige Operation realisierte Günther nicht mehr. Erst das Erwachen auf der Intensivstation zeigte ihm, dass es ein Problem gab.

Spärliches Licht fiel auf den Arbeitsbereich in seinem karg eingerichteten Wohnzimmer. Vorsichtig nahm er das Werkzeug zur Seite und inspizierte lange den Gegenstand in seinen Händen. Behutsam und langsam legte er ihn ab.

Neben dem Tisch stand ein moderner Fernseher auf einer alten Kommode. Immer wieder schenkte er dem Bildschirm seine ganze Aufmerksamkeit.

Fünf quälende Stunden sind seit der Eröffnung des Marktes vergangen. Warum taucht keine Meldung über das Ereignis dort auf? Über mein Vorgehen.

Verärgert schleuderte er den Schraubenzieher gegen die Wand. Laut scheppernd fiel dieser über ein Wandregal auf den Holzboden hinab.

Verflucht, warum schreibt da keiner darüber? Was für eine Ignoranz. Alle hängen sie mit drin. Die Polizei, die Presse. Diese Lügenpresse. Liest man überall.

Voller Zorn schaltete er auf den Videotext seines Fernsehgerätes. Mit jeder Textseite ärgerte er sich mehr.

Nichts, nichts, nichts.

Die Fernbedienung nahm den Weg des Schraubenziehers, schlug hart am Boden auf und das Batteriefach öffnete sich. Beiden Batterien kullerten unter das Zweisitzer-Sofa im Raum.

Verdammter Mist. Alles verschwört sich gegen mich. Aber ihr werdet mich wahrnehmen. Wartet ab.

Fest ergriff er den Gegenstand von der Arbeitsplatte und schraubte ihn dorthin, wo er ihn vorher abgenommen hatte.

Ich werde ein Exempel statuieren, fluchte er bitterböse. Gleichzeitig entstand ein Plan in seinem Kopf. Ein perfider Plan.

Die beiden Kommissare Sepp Kartl und Max Neuner eilten spät am Abend durch die Räume der Chirurgie, um die dortige Intensivstation zu finden.

Kurz vor ihrem Ziel erblickten sie das bekannte Gesicht von Dieter, ihrem Freund aus der PI Nürnberg. Dieser erwartete sie schon ungeduldig.

„Danke, dass ihr so schnell gekommen seid.“

„Was ist passiert?“, wandte sich Kartl kurzatmig an Dieter.

„Nach unserer Recherche ist auf Günther ein Mordanschlag verübt worden. Absicht oder nicht? Zu diesem Zeitpunkt unmöglich, dir die Frage zu beantworten.“

„Und wie?“ Verzweifelt rang Kartl nach Worten. Die Wände des Ganges schwankten vor seinen Augen.

Mit bleichem Gesicht zuckte Dieter die Schultern nach oben.

„Genaueres wissen nur die Ärzte. Es gibt wohl eine Einstichwunde. Aber nicht die eines Messers, vom Dolch oder Ähnlichem. Was Exotischeres.“

„Exotischeres?“ Ratlos schaute Max dabei direkt in Dieters Augen.

„Frag den Arzt. Obwohl innere Organe verletzt sind, scheint wohl keine äußere Blutung stattgefunden zu haben. Sie halten sich extrem bedeckt.“

„Wie ist der Gesundheitszustand von Günther?“, fragte Max voller Sorge um ihn.

„Stabil. Was immer das heißt.“

„Ist er vernehmungsfähig?“, lautete Kartls Frage.

„Nein, sie haben ihn in ein künstliches Koma gelegt. Aber mit Glück erwischt ihr einen Arzt, der bei der Operation dabei war und euch Auskunft gibt.“

Betretenes Schweigen trat ein, bevor Dieter sein Anliegen losbrachte. Kurz unterbrach er sich, eine Tür öffnete sich, aber der daraus wegeilende Arzt lief von ihnen weg.

„Und da bin ich schon an meinem wichtigsten Punkt angekommen. Sepp, Max, übernehmt ihr den Fall? Es ist ja ein Kollege von euch.“

Nachdem Kartl ein wenig nach Luft japste, entschied er sich für die Aufnahme der Ermittlungen.

„Ja. Ehrensache. Max, bist du dabei?

„Das sind wir Günther schuldig.“

„Habe ich mir fast gedacht“, entgegnete Dieter. „Alles Glück euch. Von unserer Seite veröffentlichen wir erst einmal nichts an die Presse. Wie ihr das handhabt, ist euer Part.“

„Danke Dieter“, Kartl drückte seinem Freund kräftig die Hände.

Im nächsten Moment verschwand dieser und ließ zwei verstörte Kommissare zurück.

„Die Videoaufzeichnungen vom Hauptmarkt bekommt ihr bald.“ Für diese Aussage kehrte Dieter kurz zu ihnen zurück.

„Du bist der Wahnsinn“, grinste Max, obwohl es ihm schwerfiel.

„Wir brauchen jetzt einen Arzt“, forderte Kartl Max auf.

So begaben sie sich auf die Suche. Als Erstes führten sie ein kurzes Gespräch mit der diensthabenden Krankenschwester, die daraufhin zum Hörer griff.

Abschließend führte sie die beiden den Gang entlang zu einem Arztzimmer.

Nach dem Betreten verschwand die Krankenschwester und Kartl stellte sich und Max dem Arzt vor.

„Sie wünschen?“, fragte sie ein drahtiger Arzt, der hinter seinem Schreibtisch lümmelte.

Bevor Kartl sich eine Antwort abrang, versuchte er, sein Gegenüber einzuschätzen. Junger, dynamischer Kerl. Vermutlich sein Studium erst vor Kurzem beendet. Daher die volle Motivation für den Bereitschaftsdienst. So wie bei uns, der Polizei.

„Herr Dr. Subitor“, las er an seinem Namensschild am Arztkittel ab.

„Lassen Sie das Dr. weg.“

„Herr Subitor. Wir brauchen eine Auskunft über den Notfall, der heute Abend eingeliefert worden ist.“

„Beschreiben Sie es etwas ausführlicher. Wir haben hier nur Notfälle.“

„Der Patient vom Hauptmarkt.“

„Was ist Ihr Begehren?“

„Von welchen Verletzungen sprechen wir?“

„Am Anfang irren wir uns in der Diagnose. Kein Hinweis auf Fremdverschulden. Kein äußeres Blut. Zumindest nichts Sichtbares. Keine Diagnose auf Herzinfarkt, Gehirnblutung, Schlaganfall. Er ist fast gestorben.“

Verständnislos warfen sich Kartl und Max Blicke zu.

„Schließlich entdecken wir eine winzige Wunde im linken mittleren Rückenbereich. Zwar haftet hier ebenso wenig Blut. Nur der Bereich ist komplett nass gewesen. Ein Indiz für uns.“

„Was bedeutet das?“, unterbrach ihn Max in diesem Moment. Es hörte sich ein bisschen wie eine Erzählung aus einem Science-Fiction-Roman an.

„Bei der anschließenden Operation stellt der Arzt fest, dass die Milz im linken Oberbauch einen Treffer abbekommen hat. Sie ist von einem spitzen Gegenstand angepiekt worden. Zudem kratzt das Geschoss an einer Arterie.“

„Ein Schuss? Ein Messer?“ Kartl verstand im Moment nicht, auf was der Arzt sie hinwies.

„Wir haben Eiskristalle gefunden. Reste zumindest.“

„Eiskristalle???“, jetzt begriff Max überhaupt nichts mehr.

„Ja. Projizieren Sie die absurde Vorstellung in Ihr Gehirn, dass Eis, in welcher Form auch immer, von außen in seinen Körper eingedrungen ist“, forderte sie der Arzt am Schluss auf.

Die Aussage überraschte die Beamten. Für einen Augenblick herrschte ratloses Schweigen im Zimmer. Als Erster fand Max die Sprache wieder. Ihm fiel in diesem Zusammenhang eine Romanpassage oder ein Artikel ein.

„Ein spitzer Eiszapfen mit Druck in den Körper geschossen.“

„Du spinnst doch“, fiel ihm Kartl abwertend ins Wort. „Was denkst du dir für einen Blödsinn aus?“

„Nein. Kein Witz. Wenn der Eiszapfen nicht zu dick, tief gefroren und vorne spitz ist, dringt er mit der entsprechenden Geschwindigkeit nach seinem Abschuss problemlos in einen menschlichen Körper ein.“

„Wie dringt ein Eiszapfen durch die dicken Klamotten?“

„So wie ein Schuss. Mit Wucht, Schnelligkeit und somit großer Durchschlagskraft.“

„Dazu passen die Löcher im Mantel und in seinem Hemd. Außer Nässe in den Fasern haben wir nichts Verdächtiges entdeckt“, ergänzte der Arzt.

Für ein paar Sekunden zweifelte Kartl an seinem Verstand. Und an dem, was Max und Herr Subitor zusammen ausheckten.

„Eiszapfen?“ Kartl fühlte sich völlig erschlagen.

„Ja“, gab Max bestimmend zurück. „Es wird oft über den perfekten Mord spekuliert. Kennst du nicht die Geschichte des Mannes, der mit einer Thermoskanne in der Sauna erscheint?“

„Max!“ Vorsichtig ermahnte Kartl ihn für seine lebhafte Fantasie.

„Das ist der perfekte Mord gewesen. Zumindest annähernd“, ließ dieser sich nicht beirren. „In der Thermoskanne versteckt der Mann einen Eiszapfen. Damit ersticht er einen anderen Gast in der Sauna. Das Wasser ist durch die Hitze verdampft und so ist nirgends eine Mordwaffe gefunden worden.“

„Genau wie bei unserem Patienten“, verbündete sich Dr. Subitor mit ihm. „Aus ärztlicher Sicht passt das perfekt zu den Spuren, die es gibt. Gleichwohl wir keine Gerichtsmediziner sind, wie Ihr Kollege auf der Intensivstation. Unsere Arbeit gilt den noch Lebenden.“

„Ihr macht mich fertig“, analysierte Kartl die letzten Minuten. „Wenn ich euch beide richtig interpretiere, spaziert da draußen ein Kranker umher, der es darauf anlegt, den perfekten Mord zu verüben?“

„Bingo“, strahlte Max zurück.

„Das macht mir Mut. Wann ist Günther, realistisch gesehen, ansprechbar, Herr Subitor?“

„In ein, zwei Tagen, wenn alles nach Plan verläuft und wir ihn wieder aus dem künstlichen Komma zurückgeholt haben. Lebensgefahr besteht im Moment nicht mehr.“

Kartl und Max schnauften hörbar und dankbar durch.

„Danke“, wandte sich Kartl an den Arzt. „Wir melden uns wieder bei Ihnen.“

Die Kommissare verließen den Raum. Die Schritte hallten durch den Flur und wenig später an der frischen, kalten Luft fassten sie den ersten klaren Gedanken.

„Sag mal, Max. Meinst du das alles so, was du gesagt hast?“

„Ja. Ich weiß, dass es unglaubwürdig klingt.“

„Unglaubwürdig? Was für ein Witz. Mir fehlt jeglicher Glaube an diese These.“

„Wie forschen wir weiter?“

„Fahren wir ins Präsidium. Ich schließe mich mit Dieter wegen der Daten der Überwachungskameras kurz. Unter Umständen eine Hilfe für uns.“

„Drück dir die Daumen.“

„Dann los mit uns“, forderte Kartl Max auf, warf ihm den Schlüssel zu und eilte voraus zum Wagen.

„Links, rechts, links, rechts. Eins, zwei, eins, zwei“, Helga Friedrich gab mit ihrer klaren Stimme diese Anweisungen vor. Sie stand in der Mitte des Raumes im evangelischen Gemeindehaus von Gebersdorf.

Einmal in der Woche begrüßte sie dort acht ältere Menschen, die einen Rollator zur täglichen Fortbewegung nutzten, in ihrem Kurs. Immer Freitag, 13:30 Uhr, trafen sie sich zu dieser nicht alltäglichen Bewegung.

Der erste Tanzkurs mit Rollator für Senioren.

So stand es damals im Einladungsflyer der Gemeinde. Am Anfang sahen diesen Kurs die meisten als Spinnerei an. Seit fast einem Jahr trafen sie sich regelmäßig. Ziel der Veranstaltung war, dass sich die Fitness und Beweglichkeit im Alter verbesserte.

Mit Musik auf die Schrittfolge. So funktioniert es, erläuterte damals Frau Friedrich in einem Interview.

„Links, rechts, eins, zwei“, schallte die Stimme durch den Saal. „Georg, wo bist du heute mit deinen Gedanken?“

Erschrocken wandte er sich Richtung seiner Tanzlehrerin. Ein Missgeschick, denn er verkrampfte vollständig und stolperte, aus dem Takt gekommen, über seine eigenen Füße. Rechtzeitig fing er sich wieder und erlangte sein Gleichgewicht.

„Pass doch auf“, hörte er ihre mahnende Stimme.

„Ist in Ordnung“, murmelte er fast nicht verständlich.

Dieser blöde Kurs nervt total. Georg Müller, 79 Jahre, wohnhaft in Gebersdorf, empfand schon lange keine Begeisterung mehr für diese Aktivität.

Warum bin ich nur so feige? Nur einmal Nein sagen und ich komme nächste Woche nicht mehr wieder. Die mahnenden Worte der Kursleiterin störten seine weiteren Gedanken.

„Denkt an unsere monatliche Aktion am Montagvormittag. Wir treffen uns hier um 10:00 Uhr. Wir fahren zum Hauptmarkt. Um 12:00 Uhr schauen wir uns das Männleinlaufen auf der Frauenkirche an.“

Freudige Stimmung, außer bei Georg, erfüllte den Raum.

„Jemand verhindert?“

Nachdem sich keiner meldete, ergänzte Frau Friedrich ihre Ausführungen.

„Poliert einmal eure Rollatoren auf. Schluss für heute“, klatschte sie ein letztes Mal in ihre Hände.

Somit schoben sie ihre Rollatoren aus dem Raum. Sie unterschieden sich von sonstigen Geräten auf dem Markt.

Seit zwei Stunden saßen Kartl und Neuner über dem Videomaterial aus Nürnberg. Sie sichteten eine schier nicht zu bewältigende Laufzeit.

Trotz einer eingeschränkten Zeitspanne gestaltete sich die Suche nach Günther als schwierig.

Die meisten Sequenzen zeigten die Personen nur von hinten. Zu Hunderten drängten sie in die Budengassen. Und wo es Aufnahmen von vorne gab, stachen nur die heraus, die mit ihrer Körpergröße alle überragten. Vielen Gesichter blieben verschwommen und unerkannt.

„Wie schafft man es, nicht den Überblick zu verlieren?“, klagte Kartl.

„Warst du schon mal auf der Eröffnung?“, fragte ihn sein Partner Max.

„Nein. Ich bin kein Anhänger von solchen Massenaufläufen. Schau dir das doch an.“

„Halt“, schrie Max in dieser Sekunde. „Dort“, zeigte mit den Fingern auf den Bildschirm. „Günther.“

Mit zusammengekniffenen Augen ließ Kartl den Blick auf die Bildfläche des Monitors schweifen.

„Wo?“

„Da!“ Dieses Mal zeigte sein Finger genau auf einen Punkt, den Max als Günther identifizierte.

Den Kopf leicht zur Seite geneigt, beäugte Kartl die Szenerie, überlegte, grübelte und pflichtete Max letztendlich bei.

„Möglich. Bekommen wir das größer?“

Vorsichtig versuchte Max, einen Ausschnitt herauszuzoomen. „Lass es weiterlaufen“, bat Kartl und konzentrierte sich auf die Szene, die sich vor seinen Augen abspielte.

Reges Gedränge herrschte um Günther herum. Immer wieder nahm jemand anderes den Platz hinter ihm ein. Als Kartl den Überblick verlor, stoppte Max die Aufnahme.

„Hier. Ist dir das aufgefallen? Da steht seit einiger Zeit ein Mann hinter Günther und bewegt sich nicht.“

„Zeig es mir deutlicher? Oder ist es nicht möglich?“

„Nein. Hoffentlich zaubern unsere Techniker was daraus.“

„O.k. Schauen wir es weiter an“, bat Kartl.

Der Mann blieb hinter Günther stehen. Bis zu dem Zeitpunkt, wo der Gerichtsmediziner plötzlich seinen Halt verlor und nach vorne wegkippte.

„Das gibt es doch gar nicht“, empörte sich Max. „Der Typ steht dahinter und dreht sich sofort nach links weg. Das ist unser Mann.“

„Der läuft komisch. Findest du nicht?“

Nach dem Hinweis seines Chefs fiel es Max auf. „Wie auf etwas gestützt. Wie erklären wir uns das?“

Im Augenblick versuchte Kartl, jegliche Aussage zu umgehen. Sein Blick fiel auf die aktuell eingerichtete Ermittlungswand. Ein Bild von Günther, eines vom Hauptmarkt und dazwischen ein großes Fragezeichen. Mager, fiel ihm dazu ein.

Eine Antwort von Max lenkte ihn wieder weg davon.

„Wie auf einem Rollator gestützt. Die Schultern sind links und rechts auf gleicher Höhe. Somit scheidet ein Stock oder so was aus. Ich tippe auf einen Rollator.“

„Ich erkenne gar nichts“, gestand Kartl ein.

„Lass uns die Aufnahmen zu unseren Technikern weiterleiten. Die werten das aus“, schlug Max vor.

„Ja. Wir haben nichts oder?“ Kartl schaute mit finsterer Miene zu seinem Partner hinüber.

„Nein. Das einzig Positive ist, dass Günther es überlebt.“

„Mit einem Eiszapfen. Da brauchst du doch eine Schussvorrichtung? Wie baut man so was?“

„Was schaust du mich so an?“, fragte ihn Max. „Bastel ich jeden Tag. Keine Ahnung. Garantiert ein Hobbytüftler. Oder im Beruf erlernt.“

„Wenn deine Vermutung mit dem Rolltor stimmt. Wie alt ist der Mann, der ihn schiebt?“

„Alt. Außer er handelt sich um plumpe Ablenkung und alles ist als Tarnung gedacht“, gab Max zu bedenken.

„Komm, lasse uns morgen nachforschen, ob es Vergleichbares schon mal gegeben hat. Es ist weit nach Mitternacht. Gönnen wir uns ein paar Stunden Pause.“

„Meine Worte“, entgegnete Max mehr als zufrieden.

Kapitel 2

Es roch nach frischer Lackfarbe. Trotz der stickigen Luft blieben seine Fenster verschlossen. Zusätzlich verdunkelten die zugezogenen Vorhänge den Raum. Kein normaler Mensch verstand es, hier zu atmen.

Aber bin ich so? Er ignorierte sämtliche Widrigkeiten, prüfte die Festigkeit der Farbe, legte ein entwaffnendes Lächeln in sein Gesicht, bevor er sein Gerät auf den Boden abstellte.

Perfekt. Zufrieden betrachtete er ein letztes Mal die farbigen Speichen. Er schritt zum Kühlschrank, holte oben aus dem Gefrierfach einen Gegenstand heraus und betrachte ihn innig.

Genauso perfekt. Schnell steckte er ihn eine Vorrichtung an seinem Gefährt, schloss diese vorsichtig und legte eine Decke über das Ganze.

Er verließ seine Wohnung. Die kalten Minusgrade bewahrten die Konsistenz des Schatzes.

So ihr Wixer da draußen. Aufgepasst, anschnallen, schneller drehen. Ihr seid alle tot. Jeder Einzelne. Wieder stieg dieser unfassbare Zorn in ihm hoch.

Er stoppte kurz, zog den Kragen des Wintermantels nach oben und setzte wieder vorsichtig Fuß vor Fuß. Seine Hände umfassten fest die Griffe des Rollators.

Ein Mann rempelte ihn von der Seite an, sodass er fast ins Straucheln geriet.

Arschloch, dachte er sich für einen Moment. Kein Aufsehen erregen. Betont lässig tapste er in Richtung der nächsten Bushaltestelle.

Sein Ziel, ein im Norden der Stadt liegender Park in Nürnberg, erreichte er von der Endhaltestelle des Busses mit der Weiterfahrt der U-Bahn.

Von innerer Unruhe getrieben, schob er am Bahnsteig seinen Rollator auf und ab.

Wie ich diese Gestalten hasse, die nicht mein Land sind. Keiner macht was dagegen. Niemand wagt den Anfang. Alles wird gedeckt.

Im Ohr vernahm er den einfahrenden U-Bahn-Zug.

Wieder einer dieser Drohbriefe. Ohne Absender. Der dritte mittlerweile. Alle in Nürnberg abgestempelt. Holger Fischer, 52 Jahre, freier Journalist, nahm den Brief und legte ihn in den oberen Schub des Schrankes.

In all den Jahren der Ausübung seines Berufes blieb ihm das erspart. Aber jetzt, wo er an keinem brisanten Thema arbeite, erreichten ihn die Warnungen.

Immer der gleiche Inhalt. Er werde dafür bezahlen. Für das Schweigen. Das Nichthandeln. Ich habe keine Ahnung, was der Verfasser damit meint, grübelte er bei jedem neuen Brief.

Warum steht kein Hinweis dabei? Früh am Morgen orientierte er sich auf den Weg in die Online-Redaktion einer Tageszeitung.

Aber wo betrifft mich das? Ich arbeite an keinem brisanten Artikel. Es gibt null Posts von mir in den sozialen Netzwerken. Ratlos schüttelte er den Kopf beim Verlassen des Verlagsgebäudes.

Unzufrieden überquerte er die Wörther Wiese. Sein Weg führte ihn hoch zum Rathenauplatz und von dort begab er sich in einem flotten Schritt zu seinem Lieblingspark, dem Stadtpark.

Seit fast zwei Jahren zog es ihn hierher. Immer samstags gegen die Mittagszeit verbrachte er hier eine Stunde mit sich selbst.

Eine Spinnerei von mir. Klar. Aber diese Auszeit erdete ihn immer ein wenig. Mich erfüllt der Ort zu jeder Jahreszeit mit Ruhe und Geborgenheit.

Auf einer leeren Parkbank ließ er sich trotz der kalten Temperaturen nieder. Die Wintersonne strahlte angenehm auf sein Gesicht. Er schloss die Augen und genoss den innigen Moment.

Die gesamte Konzentration lag in seiner Mitte. Die Kälte verblasste, wohlige Wärme umfloss seinen Körper.

So weilte er gewiss eine Viertelstunde in sich gekehrt. Bis von einer Sekunde auf die nächste etwas Kaltes, Hartes, Brutales in ihn eindrang und die Aura des Moments zerstörte.

Obwohl er versuchte, seine Augen zu öffnen, entschied sich irgendetwas in ihm dagegen. Die Kraft wich gänzlich aus ihm und sein Körper sackte seitlich weg, bevor er über die Parkbank nach unten knallte.

Dort blieb er auf dem gefrorenen Boden regungslos liegen. Fast drei Minuten später bemerkten ihn zwei ältere Damen. Innig im Gespräch vertieft, fiel ihr Blick eher zufällig auf ihn.

Sie schauten sich kurz um, ob jemand anderes näher an der Parkbank vorbeikam. Nur hinten am Ende des Parks lief ein älterer Mann mit seinem Rollator, aber der zeigte mit dem Rücken zu ihnen und entfernte sich stetig.

So entschieden beide, sich langsam dem am Boden liegenden Mann zu nähern. Sie berührten ihn kurz, in der Hoffnung er würde sich bewegen oder ein Zeichen geben.

Aber sie nahmen keine Reaktion des Körpers wahr.