ELBGRAB - Klaus E. Spieldenner - E-Book + Hörbuch

ELBGRAB E-Book und Hörbuch

Klaus E. Spieldenner

2,5

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Beschreibung

ES WIRD NICHT DUNKEL BLEIBEN ÜBER DENEN, DIE IN ANGST SIND! Eine schwere Explosion zerreißt die nächtliche Stille am Hamburger Fischmarkt. Mit lautem Knall versinkt die U-434 auf dem Elbgrund, ein Mann stirbt. Ein terroristischer Anschlag? Dem geht der neue dänische Leiter der Mordkommission auf den Grund, während sich Kommissarin Sandra Holz nach ihrem Reha-Aufenthalt in der Ermittlungsgruppe „Ungeklärte Kriminalfälle“ wiederfindet. Ein bekannter Name weckt ihre Aufmerksamkeit, und plötzlich befindet sich die ehemalige Kommissarin wieder mittendrin. In einem Fall, der nicht nur den „Neuen“ vor Rätsel stellt, sondern ihr eigenes Leben bedroht. Nur, das ahnen beide Ermittler noch nicht!

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Seitenzahl: 381

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Zeit:9 Std. 50 min

Sprecher:Katharina Hensgens

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Hamburg, du bist nicht nur die Reeperbahn.Hamburg, Hansestadt, so vieles zieht die Menschen an.Mal bist du Dorf, so klein und zart, mal Großstadt, laut, schmutzig und hart. Du magst nicht erwachsen sein. Hamburg, das wird auch nie dein Anspruch sein.(Textauszug aus dem Song „Hamburg, du bist nicht nur die Reeperbahn!“ von Renne D. Leips)

Der Roman spielt hauptsächlich in allseits bekannten Stätten, doch bleiben die Geschehnisse reine Fiktion. Sämtliche Handlungen und Charaktere sind frei erfunden.

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über http://dnb.ddb.de© 2023 CW Niemeyer Buchverlage GmbH, Hamelnwww.niemeyer-buch.deAlle Rechte vorbehaltenUmschlaggestaltung: C. RiethmüllerDer Umschlag verwendet Motiv(e) von 123rf.com + Adobe StockEPub Produktion durch CW Niemeyer Buchverlage GmbHISBN 978-3-8271-8447-4

Klaus E. SpieldennerElbgrabHamburg-Krimi

Prolog

Der kühle Wind hier am Sønderho-Strand wehte San­dra Holz den feinen Sand ins Gesicht, und sie hielt den Mund geschlossen, um nicht zu viel davon einzuatmen. Die 39-Jährige zog den Kragen ihrer Lederjacke hoch. Schon seit letzter Woche verweilte sie hier auf der dänischen Insel Fanø, die sie nach einer Rehamaßnahme in Deutschland als Rückzugsort ausgewählt hatte. Es hatte sich einfach so ergeben. Ihre Heimat war der in Hamburg als Ermittlerin arbeitenden Kommissarin nach dem Messerangriff eines ehemaligen RAF-Terroristen zu eng geworden und sie musste dringend eine Auszeit nehmen. Alle wollten dauernd wissen, wie es um sie stand. Das war sicher gut gemeint, aber auch extrem nervig. Auf ihrer Suche nach Ruhe und Abgeschiedenheit, fernab vom Stress, stieß sie im Internet auf das Gasthaus Krogaard auf der dänischen Ferieninsel Fanø. Sie hatte sofort zwei Wochen gebucht. Schon am nächsten Morgen war sie mit dem Zug vom Hamburger Hauptbahnhof nach Esbjerg gefahren. Keine zwölf Minuten nach Abfahrt der Fähre, bei ihrer Ankunft im kleinen Ort Nordby, lockerten sich Nervosität und Ruhelosigkeit. Ihre Balance kehrte langsam wieder zurück. Nach dem Einchecken hatte sie sich auf der kleinen Holzterrasse vor ihrem Zimmer niedergelassen. Entspannt blickte sie hinweg über kleine Reetdach-Häuser mit üppigen Vorgärten in Richtung der dänischen Nordsee. Dieser Ort und seine Stille waren exakt das, was sie sich, nach dem Anschlag im letzten Jahr auf ihr Leben, sehnlichst gewünscht hatte. Inzwischen war die erste Woche vergangen. Sandra hatte schon mehrfach darüber nachgedacht, hier ständig leben zu wollen.

Der gestrige 23. Juni war ein Ausnahmetag. Auf der Insel wurde die Sonnenwende, der „Sankt Hans Aften“, gefeiert. Überall brannten die Bewohner Lagerfeuer ab, sangen, tanzten und tranken. Sandra hatte sich die Geschichte um die Tradition des Hexenverbrennens von ihrer Wirtin angehört. Ihr war sofort klar geworden, dass sie daran nicht teilnehmen würde. Den Abend verbrachte sie lieber lesend in ihrem Zimmer.

*

Gerade zogen erste Schleier der Dunkelheit über das Meer, und die meisten Urlauber hatten ihre Plätze am Wasser schon geräumt. Das war stets der Zeitpunkt, an dem Sandra zu ihrer abendlichen Joggingrunde aufbrach. Anonym, ohne Kontakt zu irgendwelchen Unbekannten, liebte sie es, kilometerweit durch den Sand zu laufen.

Eine Wattwanderung hinaus zu den Seehund­bänken hatte man ihr schon nahegelegt. Aber das war nur in Gruppen möglich, denn noch immer verzichtete sie auf Kontakte. Auch jetzt, im letzten Licht des Abends, konnte sie die Silhouetten der Seehunde beim Riff Galgerevet erkennen. Sie blieb stehen und schaute auf den Pulsmesser. Alles war in Ordnung. Dennoch setzte sie sich für einen Moment in den Sand, trank einen Schluck aus der Mineralwasserflasche und dachte über ihre Zukunft nach. Noch bis Juli war sie krankgeschrieben. Vielleicht würde der Amtsarzt verlängern. Aber wie sollte es weitergehen? Wollte sie wieder zurück in den stressigen Job bei der Hamburger Mordkommission? Doch hatte sie Alternativen? Sie würde im kommenden Jahr vierzig Jahre alt werden. Noch zu jung, um über den Ruhestand nachzudenken.

*

Um sie herum am Strand war es inzwischen ruhig geworden, genauso, wie sie es liebte. Die letzten Touristen würden sich im Moment duschen und aufhübschen, um dann in den Kneipen oder Restaurants der Ferieninsel zu verschwinden. Ihr Blick fiel in Richtung Wattenmeer, wo sie am Horizont die Umrisse eines Schiffes erkannte. Wären Schiffsreisen eine Option? Eher nicht. Diese fanden, was Mitmenschen anging, nur im Rudel statt und waren somit nichts für sie. Plötzlich hatte ein kleines Licht ihre Aufmerksamkeit geweckt. Es leuchtete in geringer Entfernung auf. Sofort verschwand das Licht wieder, um Sekunden später erneut aufzutauchen. Sicher nur eine Spiegelung des Meeres, überlegte Sandra und erhob sich, um zum Gasthof zurückzukehren. Fast zehn Kilometer waren es heute, das musste reichen. Niemand wusste, dass sie sich Ende des Monats um einen Platz beim Marathonlauf durch den Alten Hamburger Elbtunnel beworben hatte. Schon immer wollte sie an diesem besonderen Lauf teilnehmen, doch bisher war es ihr aus Zeitgründen nie möglich gewesen. Ob das Los sie auswählte? Sandra war klar, Tausende bewarben sich jährlich dafür, nur circa 230 Läuferinnen und Läufer hatten die Chance, die knapp neunundvierzig Runden durch die Röhren unter der Hamburger Elbe laufen zu dürfen.

Sandra entfernte mit einer Handbewegung den feinen Sand von der Laufjacke und wandte sich dabei vom Wind ab, sodass sie die jodhaltige Luft tief einatmen konnte.

Wieder war da dieses Leuchten. Es machte sie neugierig. Sie schaute sich um, wollte jemanden fragen, was er davon hielt. Aber bis auf eine Person mit Hund, die etliche Meter von ihr entfernt in der Dämmerung verschwand, befand sie sich allein auf weiter Flur. Was, wenn sich da draußen jemand verirrt hatte? Sandra zog ihr Handy aus der Hosentasche. Drei Balken, der Empfang ging in Ordnung. Sollte sie jemanden über ihre Beobachtung informieren? Die Polizei? Die Flut ließ das Wasser schon ansteigen. Sie spürte, wie ein Schauer ihre Rückenhaut beherrschte. Wenn sich da draußen jemand in Not befand, war es allerhöchste Eisenbahn, ihm zu helfen. Wenn es nicht schon zu spät war. Der Schlick war nichts für unerfahrene Wattläufer, wusste Sandra aus den Erfahrungen ihrer Kindheit. Von ihrer Strandliege aus hatte sie in den letzten Tagen oft die Höhenveränderung des Wasserspiegels beobachtet, und er war verdammt schnell angestiegen.

Das Licht erschien, verschwand und kehrte zurück. Als ob eine hilflose Person da draußen bewusst Zeichen gab. Sandra bemerkte, dass die Lichtzeichen zeitlich unterschiedlich lang waren. Gab es dafür eine bestimmte Erklärung? Morsezeichen? Das Notsignal aus der Seefahrt kam ihr in den Sinn. Wie war der Morsecode noch? Sie spürte, dass ihre Herzfrequenz anzog, und musste zum besseren Atmen den Mund öffnen. Sandra ignorierte den feinen Sand, der in die Mundhöhle eindrang, sich auf die Zunge, den Rachen und das Zahnfleisch ablegte. Sie zählte nur die Intervalle des Lichts: dreimal kurz – dreimal lang – dreimal kurz! Ihr stockte der Atem. Da draußen, wenige Hundert Meter von ihr entfernt im Wattenmeer, mussten Personen sein, die sich in großer Not befanden. Sie zögerte noch, doch dann lief die Hamburgerin, ohne weiter darüber nachzudenken, in Richtung des Lichts.

*

Schon nach wenigen Metern spürte Sandra, wie Feuchtigkeit ihre Laufschuhe durchnässten. Kurz kam ihr der Gedanke, dass sie überstürzt handelte, aber wenn es ihre in Not geratene Familie wäre? Sie rannte wie von Sinnen. Als ginge es darum, einen Rekord gegen die Natur aufzustellen. Es wurde ihr warm. Sie öffnete, während sie lief, die Laufjacke.

Der Wasserspiegel war inzwischen weiter angestiegen; das Laufen fiel ihr schwerer. Sie spürte das Meer bei den Waden. Vielleicht war es auch nur das Spritzwasser, das sie beim Spurt aufwirbelte? Das Licht war verschwunden. Sie blieb stehen, kniff ihre Augen zusammen, um etwas zu erkennen. Doch da war nur tiefes Dunkel. Was, wenn sie sich getäuscht hatte? Noch konnte sie zurück. Sie drehte sich um. Der Strand befand sich in Sichtweite und die kleinen Wege­leuchten zeigten ihr die Richtung zum Festland. Sandra zweifelte plötzlich, dachte an Lara Sophie, an ihre toten Eltern. Sie hatte sich schon oft für andere Menschen, auch Unbekannte, eingesetzt. Sicher reichte ihre Opferbereitschaft für mehrere Leben, doch irgendwann musste auch mal genug sein. Es war an der Zeit, mehr an sich zu denken. Das hatte ihr auch die Psychologin in der Reha geraten: „Sie haben nur das eine Leben. Es wurde Ihnen geschenkt. Nutzen Sie es!“

Gerade verschleuderte sie es, um einem Licht, einer Fata Morgana, entgegenzurennen? Plötzlich war das Leuchten wieder sichtbar. Nicht mehr so weit entfernt, glaubte sie und bewegte sich in diese Richtung. Das Wasser würde bald ihren Po erreichen und machte ein Laufen schon nahezu unmöglich. Es fühlte sich an wie die allmorgendliche Wassergymnastik in der Reha in Thüringen. Sie hatte diese Betätigung nie gemocht. War nur mit viel Überwindung dort aufgetaucht. Doch Joggen und den Fitnessraum hatte man ihr ärztlicherseits verboten. So blieben nur die leichten Gymnastikübungen und die Stunde im Hallenbad. Trotzdem hatte sie sich darüber hinweggesetzt. Oft vor dem Abendessen war Sandra in den nahe gelegenen Park spaziert, um dort ihre Jogging­runden zu drehen.

*

Es wurde ihr kalt und sie schloss ihre feucht gewordene Laufjacke wieder. Das Handy fiel ihr ein. Es durfte nicht nass werden. Sandra wechselte dessen Position von der Gesäßtasche der Laufhose in die Innentasche der Jacke. Die Lichtintervalle leuchteten unentwegt weiter. Sie schätzte, es waren keine zwanzig Meter mehr bis dorthin. Was, wenn sich dort bloß eine blinkende Boje befand? Eine, die aus dem Takt geraten war? Und sie vermutete ein SOS-Notsignal! Sandra spürte diesen Kloß im Magen. Sah vor ihrem geistigen Auge die Schlagzeile der hiesigen Presse:

„DEUTSCHE KOMMISSARIN BEIM VERSUCH, EINE BOJE AUS DEM WATTENMEER ZU BERGEN, ERTRUNKEN!“

Konnte sie auf der Boje, wenn es denn eine war, die Nacht verbringen? Bis sie am Morgen jemand fand? Doch noch hatte sie ihr Handy und war in der Lage, Hilfe herbeizurufen. Während ihr diese Gedanken durch den Kopf schossen, brüllte sie laut gegen den Wind: „Hallo, ist da wer?“

Sie blieb kurz stehen, drehte sich in Richtung Strand. Ihr stockte der Atem: Der Strand war verschwunden. Auch die Lichter konnte sie höchstens noch erahnen. Ihr wurde bewusst, dass es ein Fehler war, hier herauszulaufen, ohne den Einsatzkräften vorher Bescheid gegeben zu haben.

Mein Gott, wie dilettantisch war sie vorgegangen. Sie, die sonst einhundert Prozent auf Sicherheit achtete. Aber war da, zwischen Wind und Wellengeräusch, nicht ein Wimmern zu hören? Ähnlich einem ... Hund? Nein, das konnte nicht sein. Ein Hund wäre schon längst ertrunken, allein von der Höhe, und wie sollte er das Licht ...?

„Hallo! Ist da wer?“, schleuderte sie ihre Worte gegen den Wind. Plötzlich setzte ihr Herz für einige Schläge aus. Keine zehn Meter von ihr erhob sich ein schmaler Oberkörper gegen den aufsteigenden Mond aus dem Meer und rief ein leises „Hjælp“ zurück.

*

Das Kind mochte zwischen acht und zwölf Jahren alt sein. Es hielt eine kleine Taschenlampe in beiden Händen über den Kopf und schluchzte.

„Kannst du mich verstehen?“, rief Sandra, als sie dort angekommen war. Die Lampe fiel dem Kind aus der Hand ins Meer. Sie wollte danach greifen. Vergeblich. Es klammerte sich an die Frau, schrie vor Angst und Panik. Es zitterte dabei wie Espenlaub.

„Stopp, hör auf, wir brauchen unsere Kräfte. Wir … müssen … zurück, hörst du, zurück!“

Augenblicklich wurde das Kind ruhiger. Sandra versuchte kurz zu verschnaufen. Dann schaltete sie die Taschenlampen-App ihres Handys ein und leuchtete dem Unbekannten ins Gesicht: Es handelte sich um einen Jungen mit langen strähnigen Haaren, die aufgrund der Nässe wild um seinen Kopf klebten. Sandra löschte das Licht. Das Wasser ging ihr bis zum Bauchnabel. Der Junge hatte noch etwa dreißig Zentimeter, dann würde das Nass bei seinem Kinn angekommen sein. Sie nahm ihn bei der Hand, drehte sich im Kreis. Mein Gott, wo befand sich bloß das Festland? Das gab es doch gar nicht! Wie konnte sie hier im Stockdunkeln die Richtung bestimmen? Am Firmament waren Sterne, aber das brachte sie nicht weiter. Wieder kam sie sich dumm und wenig routiniert vor. Warum hatte sie nicht vorher jemanden informiert? Reiß dich zusammen, Sandra, jammern nützt nichts! Wo zum Teufel war Norden, wo war Süden? Sie hatte eine Kompass-App, doch war es sinnvoll, sie zu starten? Nein, sie wollte nicht zusehen, wie der Junge in ihrem Beisein ertrank, und wählte unterdessen den internationalen Notruf.

*

Hatte das Handy überhaupt noch Empfang hier draußen? Sandra hatte es vor dem Spaziergang aufgeladen, dessen war sie sich sicher. Sie vernahm kein Rufzeichen, doch das konnte auch am Wind liegen. Der Junge presste sich an sie, fror erbärmlich. Sie wollte ihm ihre dünne Jacke überziehen. All das kostete sie jedoch Zeit. Zeit, die sie nicht hatten. Plötzlich hörte sie eine Stimme. Blechern und in einer ihr fremden Sprache. Sicher dänisch! Sandra schrie in das kleine Mikrofon die Worte: „Hilfe! Wir befinden uns im Wattenmeer. Ich und ein Junge. Das Wasser steigt.“

Die Stimme musste sofort erkannt haben, dass es sich um in Not geratene deutsche Urlauber handeln musste, und antwortete: „Wo genau sind Sie?

„Beim Riff Galgerevet!“

Kurz schwieg die Person, die nachzudenken schien. Dann: „Können Sie den Strand sehen?“

„Nein!“ Sandra spürte das Weinerliche in ihrer Stimme. Eigentlich wollte sie der Person nicht zeigen, wie ängstlich sie war.

„Gut, wenn Sie sich tatsächlich in Höhe der Sandbank befinden, also dort, wo die Robben liegen, versuchen Sie hinzukommen. Auf der Sandbank wird das Wasser etwas später steigen.“

Die Worte klangen überzeugend und gaben Sandra Hoffnung. Nun vernahm sie auch tierische Laute. Sicher Robben, die Angst um ihre Jungen hatten und die die Eindringlinge spürten.

„Ist der Akku Ihres Handys voll?“

„Ja!“, schrie Sandra überlaut. Wiederholte das Wort. Dieses Mal etwas leiser.

„Prima!“, erklärte die Stimme. „Schalten Sie alles, was Energie braucht, aus. Ich schicke den Helikopter. Sie werden das Licht benötigen, damit er beim Eintreffen Ihre Position findet.“

„Mach ich!“

„Legen Sie jetzt auf. Ich rufe alle paar Minuten an und frage nach, ob alles gut ist.“ Sandra verstand. Sie hatte ihr Leben und das des Jungen in die Hände eines Fremden am Telefon gelegt. Wie oft war es umgekehrt gewesen. Hatte sie die Menschen je enttäuscht? Ihr war klar, die Person hatte gespürt, wie groß die Gefahr des Ertrinkens bei den beiden Hilfesuchenden tief im Wattenmeer war und dass dringend jemand Rettung brauchte.

*

Sandra zerrte den Jungen an seinem durchnässten Pullover in Richtung der Tierlaute. Er gehorchte wie in Trance. Der Boden unter ihren Füßen wurde matschiger. Sie bekam Panik, hatte das Gefühl, leicht einzusinken, orientierte sich am Kopf des Jungen. Noch hatte er genügend Abstand zur Wasseroberfläche, konnte atmen. Nach wenigen Metern ging es tatsächlich leicht bergauf. Das Brüllen der Robben hatte sich verstärkt und sie glaubte, weiter vorne die Silhouetten der Tiere zu sehen. Ob sie gefährlich waren? Zumindest waren sie groß und schwer. Aber es nutzte nichts, sich darüber Gedanken zu machen. Welcher Tod war der schlimmere: zu ertrinken oder durch bissige Robben ...? Sie lenkte sich ab, indem sie dem Jungen von ihrer Tochter erzählte. Davon, dass er Lara Sophie unbedingt einmal kennenlernen müsse. Sie sprach von Hamburg; von Italien. Ob er sie überhaupt verstand? Zweitrangig. Die Worte sprudelten wie Luftblasen aus ihrem Mund hi­naus in die dunkle, feuchtkalte Juni-Nacht.

*

Die beiden bewegten sich weiter in Richtung der Tiere und endlich kam es Sandra vor, als erreichten sie eine leichte Anhöhe. Der Wasserspiegel war hier deutlich niedriger als noch vor wenigen Metern. Wie viel Zeit war vergangen? Der Junge hing schwer wie Blei in ihren Armen. Sicher hatte ihn die Ohnmacht übermannt. Das war auch gut so. So bekam er wenig von dem Kampf um ihr Überleben mit. Sandra bückte sich zu ihm hinunter. Gott sei Dank, er atmete. Starke Müdigkeit überfiel auch sie. Nein, ihr angeschlagener Körper war noch nicht ganz hergestellt. Dazu die abendliche Joggingtour. Noch immer fehlte ein großer Teil der alten Kondition. Dann hörte sie das erlösende Geräusch eines Motors. Erst weit draußen, Sekunden später wurde es stärker und schien näher zu kommen. Der oder die Unbekannte aus der Rettungsleitstelle hatte wieder angerufen. Die Verbindung hatte sich verschlechtert. Die übertragenden Worte entwichen abgehackt, eher undeutlich dem Lautsprecher, immerhin gab es noch Kontakt zur Leitstelle. Sandra rief etwas von Hubschrauber in das Mikrofon und blickte auf die Akkuleistung. Das Handy war feucht geworden. Es handelte sich um ein einfaches Modell. Sie hatte es zusammen mit einer Prepaidkarte gekauft, um sich hier ungestört erholen zu können. Hoffentlich hielt das Teil durch. Mit klammen Fingern drückte sie auf die App. Sofort leuchtete die LED am Rücken des Gerätes. Sie strahlte nicht mehr in der Stärke wie vor wenigen Minuten, glaubte Sandra, aber es musste einfach reichen. Das Motorengeräusch wurde intensiver, wie das laute und schnelle Schlagen eines Windrades, vermischt mit hellem Dröhnen. Nun bemerkte sie auch die Positionsleuchten des Rettungshubschraubers. Er flog tief über das Meer, ihnen entgegen.

RETTUNG NAHTE, ALLES WÜRDE GUT WERDEN.

Die Robben schienen den Lärm nicht zu mögen. Einige von ihnen flüchteten von der Sandbank hinaus ins offene Meer. Sandra hörte es am Platschen. Sie hielt das Licht in Richtung Himmel, wedelte dabei wild mit den Armen. Da war diese Kälte, dazu Müdigkeit. Ihr Atem ging schnell. Sandra hustete, Wasser war in ihre Lunge geraten. Der Junge sank kurz aus ihren Armen, verschwand im salzigen Wasser. Sie griff nach ihm, zog ihn nach oben. Nur sein kleiner Kopf schaute noch aus dem Meer. Die Kräfte ließen nach. Nein, ihm durfte nichts geschehen.

Lara Sophie, ich halte dich fest, lass dich nicht los. Das Gesicht ihrer Tochter erschien im Dunkel vor Sandras geistigem Auge, und das Mädchen lächelte.

Kapitel 1

Der Flug mit dem Rettungshubschrauber war kurz und laut. Man hatte die beiden nassen, unterkühlten Personen mithilfe einer Winde aus ihrer misslichen Lage im Meer befreit und nacheinander in den Helikopter gezogen. Eine Decke über den feuchten Laufklamotten gab Sandra etwas Wärme. Auch der Junge war versorgt und hatte sich während des fünfzehnminütigen Fluges an Sandra gekuschelt. Beim Hubschrauberlandeplatz neben dem Krankenhaus Esbjerg wartete schon das Klinikpersonal mit Krankenliegen. Nach einer sanften Landung schoben Sanitäter Sandra und den Jungen in das Gebäude. Erst als sie die Wärme des Raumes spürte, dazu die Stille, wurde ihr bewusst, dass sie es tatsächlich geschafft hatten. Wäre sie nicht gewesen, wäre der Junge ertrunken. Sie sprang von der Liege, doch ihr Kreislauf hatte etwas dagegen. Nur schwankend erreichte sie eine Bank in der Nähe. Sie bat um warme Kleidung, als plötzlich eine der Krankenschwestern laut wurde und sie mit Worten angriff.

„Din dårlige mor ...!“, rief die Unbekannte. Sandra spürte vom Klang der Stimme und den Worten, dass die Frau vermutete, dass sie eine schlechte Mutter sei. Eine, die ihren Sohn solch einer Gefahr ausgesetzt hatte. Sandra war zu müde, um sich dagegen zu wehren. Schweigend lehnte sie sich mit geschlossenen Augen auf der Bank zurück.

Während die Frau noch schimpfte, betrat ein Mann den Raum. Er erfasste die kleine Gruppe und sichtlich aufgewühlt stürzte er auf den Jungen zu.

„Rasmus!“, rief der Mann, kniete sich vor das Kind, nahm es in die Arme. Sandra schaute dem Paar von der Seite zu. Es musste sich um den Vater des Jungen handeln. Eigentlich sollte sie ihn fragen, warum sein Sohn mutterseelenallein in der Nacht im Wattenmeer stand und sie ihr Leben für ihn aufs Spiel setzen musste. Doch Sandra starrte den Unbekannten nur an. Er war groß, von schlanker Statur; besaß feingliedrige Hände, die den Jungen zärtlich streichelten. Sein Haar war fast grau, aber das Gesicht zu jugendlich, als dass es zur Haarfarbe passte. Sicher hatte ihn der Melanin-Mangel, der zur Farbveränderung führte, schon in jungen Jahren erreicht. Immer und immer wieder streichelte er das Kind. Sein Blick war voller Güte und zeigte keinerlei Zeichen von Verärgerung. Ihre Blicke trafen sich. Sandra schaute in blaue Augen, die sie freundlich und voller Dankbarkeit anlächelten. Der Moment setzte sich fort in ihr Inneres, erfüllte sie mit Wärme. Als sich der Unbekannte wieder seinem Sohn zuwandte, hatte Sandra plötzlich das Gefühl, ihr fehle etwas. Die Schwester grummelte noch immer in Richtung Sandra. Der Mann erhob sich abrupt und sprach die Frau an. Es regnete von seiner Seite lange dänische Sätze auf die Weißgekleidete nieder, und plötzlich wurde sie rot im Gesicht. Sie neigte den Kopf. Sandra konnte ihren Blick einfangen und der schien eine stille Entschuldigung auszudrücken. Sicher hatte der Mann das Geschehene richtiggestellt. Sandra gähnte herzzerreißend, dann fiel sie in Ohnmacht.

*

Ein störendes Geräusch weckte Sandra auf. Sie öffnete ihre Augen. Sie war nass geschwitzt, fühlte sich wie gerädert und ihre ersten Gedanken waren: Wo bin ich? Der böse Traum, in dem sie und ihre Tochter Hand in Hand im Meer ertranken, löste sich zum Glück in Luft auf. Beruhigt schaute sie in den weiß getünchten Raum. Es handelte sich um ein Krankenzimmer, und langsam kehrten ihre Erinnerungen über das Wattenmeer-Abenteuer und die Rettung des Kindes zurück. Neben ihr in einem Bett lag der Junge. Rasmus, ja, so hieß er. Er schlief noch. Sein Vater, der Mann mit den warmen, blauen Augen und den grauen Haaren, stand neben ihm am Fenster. Er musste den Vorhang aufgezogen haben. Sicher war sie davon aufgewacht. Der Mann blickte still durch die Fensterscheibe nach draußen. Sandra richtete sich langsam auf. Rasmus’ Vater musste ihre Bewegung gehört haben, denn er drehte sich sofort zu ihr um. Seine blauen Augen strahlten wieder diese Wärme aus und sie fühlte, wie reichlich Blut in ihr Gesicht strömte.

Der Mann verließ seinen Standort am Fenster und setzte sich an den Rand ihres Bettes.

„Alles ist gut!“, flüsterte er mit sanfter Stimme, nahm Sandras Hand und drückte sie.

„Mein Name ist Christen Jon Frost, ich danke dir vielmals!“

Sandra nickte.

„Sicher möchtest du wissen, warum mein Junge da draußen …?“ Sie spürte, dass er sich bemühte, seine Tränen zu unterdrücken.

Wieder nickte Sandra.

„Rasmus befand sich mit einer Jugendgruppe auf Fanø … über die Sankt-Hans-Aften. Wie es dazu kam, dass man ihn … allein im Wattenmeer zurückließ, wird geklärt werden müssen. Wichtig ist nur, dass es euch beiden gut geht. Du bist ein Engel.“ Er streichelte Sandra über die Wange. Sie ließ es still geschehen.

„Du wohnst auf der Insel?“

Sandra glaubte endlich einmal etwas sagen zu müssen und antwortete: „Ja, im Gasthaus Krogaard.“

Der Däne nickte und sein Gesicht wandte sich in Richtung des Fensters. Sandra bemerkte, dass Bilder des gestrigen Geschehens durch seinen Kopf gingen. Als er sie wieder anschaute, liefen Tränen seine Wangen hinab.

„Meine Ex-Frau hat ihn auf die Insel gebracht. Rasmus lebt bei ihr in Herning. Doch mich hat man zuerst erreicht. Alberte, seine Mutter, ist unterwegs. Sie hat eine längere Anfahrt.“

Sandra legte den Kopf zurück auf das Kissen. Sie überfiel wieder diese Müdigkeit, hörte noch die beruhigenden Worte: „Schlaf etwas, das wird dir guttun.“ Dann war sie schon eingenickt.

*

Am Nachmittag hatte sich Sandra selbst aus dem Krankenhaus von Esbjerg entlassen. Rasmus war zur Untersuchung abgeholt worden und noch nicht wiedergekehrt. Auch den Vater hatte sie nicht mehr gesehen. So allein im Zimmer fühlte sie sich einsam und vergessen. Was ihre Gesundheit anging, spürte sie nach der anstrengenden Nacht keinerlei Beschwerden. Sie glaubte, sich auf der Insel besser regenerieren zu können. Die Ärzte baten sie noch, einige Papiere zu unterschreiben. Sie unterließ es dabei, ihre Tätigkeit als Ermittlerin beim Hamburger Landeskriminalamt zu nennen, und schrieb bei Beruf nur: Beamtin.

Sandra erreichte die vorletzte Fähre. Als sie an der Reling stand und zur Insel übersetzte, überkam sie erneut die Angst vor dem endlosen Meer und dieser Hilflosigkeit der letzten Nacht. Leichte Atemnot setzte ein. Sie musste sich hinsetzen. Eine junge Frau mit einem Kind auf dem Arm näherte sich ihr, fragte, ob sie ihr helfen könne. Sandra schüttelte den Kopf. Bedankte sich, erzählte, ihr würde bei Bootstouren stets schlecht, und die Unbekannte verschwand mit einem verständnisvollen Kopfnicken.

*

Es klopfte an der Zimmertür. Zart und leise. So, dass es Sandra fast nicht gehört hatte. Sie lag noch im Bett und griff nach ihrem Handy: 14.41 Uhr. Sie hatte das Frühstück, aber auch das Mittagessen verschlafen, doch es störte sie wenig. Sie hatte frei. Niemand würde ihren Schlaf einschränken. Wieder war da dieses leise Klopfen. Hatte sie nicht das ,Bitte-nicht-stören-Schild‘ an die Tür gehängt? Sie sprang aus dem Bett, warf sich den Morgenmantel über. Dann entriegelte sie die Tür und zog sie auf. Draußen stand der Vater von Rasmus und Sandra war bemüht, sich an den Namen des Mannes zu erinnern. Hieß er nicht Frost? Dazu zwei Vornamen? Frost hielt einen großen Strauß roter Rosen in der Hand. Die Szene sah für Sandra aus, als habe er die Absicht, um ihre Hand anzuhalten. Sie öffnete die Tür etwas weiter.

„Du warst plötzlich verschwunden. Zum Glück hattest du mir deine Unterkunft genannt.“

Er hielt ihr den Strauß hin und in einer Art Reflex griff Sandra danach. Sie fühlte sich überrumpelt, war noch nicht in der Lage, diesen kleinen Überfall zu bewerten.

„Entschuldige, ich weiß noch nicht einmal deinen Namen.“

„Sandra!“

„Sandra, ich würde dich gerne zum Essen einladen. Ich habe kein Zimmer reserviert, sollte also mit der letzten Fähre zurück nach Esbjerg.“

Es klang aus seinem Mund so sympathisch, dass Sandra nur nicken konnte.

„Gut, in einer halben Stunde, unten? Ich werde einen Tisch bestellen.“

Wieder blieb Sandra nur ein Nicken. Sie hoffte, der Mann halte sie nicht für bescheuert. Sie rief ihm noch ein „Ich freue mich!“ hinterher und Frost winkte mit der Hand, bevor er leichtfüßig die Treppe hinuntersprang.

*

Sie hatte sich vorgenommen, nichts, aber auch gar nichts von ihrem Beruf zu erzählen. Das würde nur zu Fragen führen. Und Fragen führten zu weiteren Fragen und das zu endlosem Gefrage. Sie würde den Abend mit dem Mann genießen. Morgen würde er wieder zu seiner Familie zurückkehren. Ihr war bewusst, dass es Dankbarkeit war, die ihn zu dieser Einladung veranlasste. Sie erinnerte sich, schon für schlechtere Gründe Abendesseneinladungen mit weniger attraktiven Männern angenommen zu haben.

Frost saß unten im Foyer des Gasthofes. Er sprang sofort auf, als Sandra eintrat. Ein echter Gentleman, grinste sie, und der Däne meinte: „Du hast sicher gerade gedacht, ich sei ein Gentleman?“

Konnte er Gedanken lesen? Sie lachte, um von ihrer Unsicherheit abzulenken. Ihr fiel ein, dass die letzte Begegnung mit einem heißen Mann schon einige Monate zurücklag. Sie musste sich zusammenreißen. Nicht, dass er eine schlechte Meinung von der deutschen Heldin bekam.

Schweigend verließen sie den Gasthof. Sandra wusste nicht, wohin er sie zum Essen ausführte, es war ihr auch egal. Hier konnte man sicher überall vernünftig essen. Ihr Magen hatte den Gedanken wohl gehört, denn plötzlich wurde es ihr schwarz vor Augen. Sie stolperte, fast wäre sie gefallen. Doch Frost hatte aufgepasst und sie gestützt. „Hast du schon etwas gegessen seit ... seit dem Vorfall?“

Sandra antwortete mit knappen Worten: „Nein, es ergab sich nicht.“

„Aber im Krankenhaus ...!“

„... die hatten mich wohl vergessen.“

Frost schüttelte den Kopf und seine Stirn legte sich in Falten. „Was musst du nur von der dänischen Gastfreundschaft halten? Komm, lass uns gehen, es ist nicht weit.“

*

Sie verließen die kleine Straße und spazierten parallel zum Strand. Sandra hatte sich bei dem Mann eingehakt. Das Meer hatte sich bereits komplett zurückgezogen und im kleinen Hafen lagen die wenigen Boote traurig auf der Seite. Schwärme von Möwen waren längst dabei, für ihr Abendessen zu sorgen. Die Sonne hing wie an einer Schnur tief über dem Horizont. Sandra wurde bewusst, dass schon in wenigen Stunden die aufkommende Flut die Boote aufrichten und für Wasser unter ihrem Kiel sorgen würde. Nach wenigen Hundert Metern bogen sie in die Straße Hovedgaden, hielten schließlich vor einem Restaurant mit Namen Ambassaden. Sandra war das kleine Restaurant während ihres Aufenthaltes nie aufgefallen. Doch kein Wunder, ihre bisherigen Ausflüge hatten sich überwiegend auf den Strand und die Natur beschränkt. Frost überließ Sandra die Wahl des Sitzplatzes und sie entschied sich dafür, draußen auf der Veranda zu speisen. Sie ließen sich auf kleinen Teakstühlen unter einem riesigen grünen Sonnenschirm mit Carlsberg-Werbung nieder. Frost bestellte sofort etwas Brot, dazu Aufstrich, und als die freundliche Bedienung es brachte, bestrich er Sandra eigenhändig eine Scheibe Brot. Hungrig und mit dankbarem Blick biss sie hinein. Fischpaste! Sie mochte keine Fischpaste, aber der Hunger trieb es dennoch hinunter. Langsam stabilisierte sich ihr Kreislauf wieder. Als Begleiter Frost ein Glas Wein aus der Flasche einschenkte, war sie fast wieder vollständig hergestellt. Natürlich drehte sich im Ambassaden alles um Fischgerichte. Sandra hatte nichts gegen Fisch, solange sie ihn nicht essen musste.

Ein großer Mann trat an den Tisch. Sofort stand Frost auf und beide Männer umarmten sich.

„Ich habe gehört, was passiert ist, Jon!“

Es musste sich um den Inhaber des Restaurants handeln, vermutete Sandra.

Frost nickte und Sandra bemerkte wieder Tränen in seinen Augen.

„Diese Frau hat Rasmus gerettet!“ Frost wies auf seine Begleitung.

Der Mann sprang auf Sandra zu, als wolle er ihr eine dicke Spinne von der Schulter stoßen. Noch bevor sie sich überhaupt rühren konnte, hatte er Sandra auf dem Stuhl sitzend gepackt und sie mit beiden Armen umklammert.

„Danke, dass du mein Patenkind gerettet hast!“

Sandra war hin- und gerissen. Nachdem Mads, wie sich der Restaurantbesitzer vorstellte, noch seine Frau Annie hinzugerufen hatte und die Drück- und Dankesorgie in die nächste Runde ging, empfahl er beiden Gästen den Lachs. Für Sandra stand fest: Es war besser, dem Menü zuzustimmen. Dann waren alle glücklich. Die beiden Inhaber des Restaurants verabschiedeten sich in Richtung Küche und es wurde wieder ruhiger auf der Terrasse. Nur wenige Tische waren besetzt. Es war noch Vorsaison. Auf der Insel gab es, wie inzwischen auf deutschen Urlaubsinseln auch, nur zwei Arten von Menschen: welche, die dort arbeiteten, und die Touristen.

„Sag mir bitte schnell noch einmal deinen Vornamen!“, bat Sandra und glaubte dabei zu erröten.

„Meine Vornamen sind ... Christen Jon. Freundinnen und Freunde rufen mich immer Jon. Wenn du also möchtest ...!“

Sandra nahm das Glas Wein und erklärte: „Danke für die Einladung, Jon!“

„Gerne! Bitte erzähle mir genau, wie alles abgelaufen ist ... in der gestrigen Nacht.“

Sandra war eigentlich nicht stolz auf die Rettung, aber Jon ließ nicht locker, bis sie ihm von dem Licht am Strand erzählte.

„Rasmus hat mit der Handy-LED das Notsignal gemacht?“ Frost war sprachlos. „Weißt du, Rasmus ist Autist. Er spricht wenig, ist sehr gescheit, doch dass er das Notsignal kannte, verblüfft mich doch.“

„Vielleicht hat er es bei der Jugendfreizeit gelernt?“

„Du hast recht, das könnte so sein. Wenigstens etwas Gutes.“

Sandra erzählte von der Sandbank und den Robben, vom Hubschrauberflug. Sie ließ nichts aus.

„Wow, du hast dein Leben aufs Spiel gesetzt für jemanden, den du nicht kanntest. Wie gut, dass du dort entlanggejoggt bist. Rasmus liebt Tiere, sicher war das der Grund, warum er noch mal zurück zu den Robben wollte. Der Junge kannte die Gefahren des Wattenmeeres nicht.“

Frost hatte Sandras skeptischen Blick bemerkt. „Nein, das ist natürlich keine Entschuldigung für die Geschehnisse. Er war in sicherer Obhut. Irgendetwas ist falsch gelaufen. Gut, dass du dort warst, liebe Sandra.“

Sandra hatte genug des Lobes und lenkte ab.

„Sprechen alle Dänen so ein gutes Deutsch?“

„Nein, natürlich nicht. Aber ich bin in Tøndern in der Nähe von Flensburg geboren und dänisch-deutsch aufgewachsen.“

*

Das Essen wurde gebracht und wieder Wein nachgeschenkt. Annie und Mads setzten sich nach dem Essen zu ihnen. Sie brachten eine Flasche Champagner mit.

„Wir wollten dir Danke sagen, Sandra!“

Sie hatte nichts dagegen. Alkohol lenkte ab und auch die Ärzte hatten sie diesbezüglich nicht eingeschränkt. So genoss Sandra die kleine Runde unter freundlichen Menschen.

Als Nachtisch gab es Dattel-Brownies mit Orangen. Es schmeckte vorzüglich und Sandra war dem Koch gegenüber voller Lobesworte. Mit einem dänischen Likör beschlossen sie den Abend. Die deutsche Urlauberin fühlte sich ausgesprochen wohl. Auch die Umgebung und die Nähe zu Jon Frost taten ihr gut. Seine blauen Augen strahlten sie an. Jedes Mal war es ihr, als brachten seine Blicke Wärme zu ihrem arg gebeutelten Herzen. Hin und wieder legte er seine Hand auf die ihre und auch dieser Hautkontakt fühlte sich gut an. Jon griff nach Sandras Lederjacke, legte sie sanft um ihre Schultern. Mit einem letzten Winken verließen sie das Restaurant.

*

Draußen war die Sonne dabei, unterzugehen. Die beiden setzten sich in einen Strandkorb nahe dem Meer und schauten ihrem Untergang zu. Die sanfte Stimme des Mannes ließ Sandra müde werden, und während er von Rasmus erzählte, lehnte sie sich an ihn. Er ließ es zu. Nach einer Weile entschuldigte sich Frost. Er kehrte kurz darauf mit zwei Gläsern Aperol zurück. Schon bald hatte Jon den Arm um seine Begleitung gelegt und später, als sie aufstanden und zurück zum Gasthof spazierten, nahm er Sandra an der Hand. Es wurde langsam dunkel. Sandra konnte kaum glauben, dass es erst knapp vierundzwanzig Stunden her war, als sie beim Strandspaziergang die Notsignale von Rasmus gesehen hatte. Sie empfand diese Rettung nicht als sonderlich erfolgreich, außer dass der Junge überlebt hatte. Und dass sie diesen Mann kennengelernt hatte. Lorbeeren wollte sie dafür nicht beanspruchen.

„Hier muss ich mich verabschieden!“, erklärte Frost, als sie das Krogaard erreicht hatten. Etwas enttäuscht wollte Sandra wissen: „Hast du noch Termine oder möchtest du zurück zu Rasmus?“

„Nein, nichts von beidem. Meine Ex schläft heute Nacht im Krankenhaus bei Rasmus und ich habe morgen noch frei.“

Sandra fiel auf, sie hatten den ganzen Abend keinen Ton über ihre Arbeit gesprochen. Das war bei vielen Gesprächen mit neuen Bekanntschaften nicht üblich. Ihr war es recht, sie war privat hier und da sprach sie auch lieber über Privates.

„Warum bleibst du ... heute Nacht nicht ... hier?“ Sandra konnte nicht glauben, dass sie das gesagt hatte, und schämte sich sofort für ihr Gestammel. Ihr Herzschlag verdoppelte sich. War das vielleicht überzogen?, fragte sie sich. Biederte oder bot sie sich dem Mann gar an? Doch Christen Jon Frost lachte offen und ehrlich und zog sie liebevoll an sich.

„Ich hatte mir das gewünscht, war aber zu feige, um zu fragen. Sandra, ich mag dich!“

Arm in Arm schlenderte das Paar an der Anmeldung vorbei und beide sprangen die Stufen hinauf zu Sandras Zimmer.

*

Sandra Holz und Christen Jon Frost saßen am nächsten Morgen im kleinen Speisezimmer im Gasthaus Krogaard auf Fanø und nahmen ein verspätetes Frühstück ein. Nach ihrer Liebesnacht hatte das Paar noch etwas wach gelegen und ferngesehen. Eine Netflix­serie, die eine etwas ungewöhnliche Familie durch mehrere Jahrzehnte begleitete. Fünf Staffeln wurden den verkorksten, aber liebenswerten Menschen gewidmet. Sandra war die Geschichte schon nach der ersten Folge zu nervig. Sicher hätte sich Jon lieber mit ihr unterhalten, doch er hatte ihren Wunsch fernzusehen respektiert. Es war für Sandra wie eine Flucht nach vorne. Sie wollte nichts preisgeben von sich. Nichts, was den Mann näher an sie heranließ. Auch jetzt beim Frühstück redete sie wie ein Wasserfall, aber nur über belanglose Dinge.

„Schmeckt dir der Lachs?“

Frost hatte den Mund voll und nickte nur. Sandra erinnerte sich an den gestrigen Abend im Gasthof. Auch dort gab es Lachs, doch auf einer Nordseeinsel musste man wohl sogar in einer Konditorei mit Lachshäppchen rechnen. Sie amüsierte sich.

„Was ...“, Frost schluckte den letzten Bissen hinunter. „Was grinst du?“

„Gibt es eigentlich auch Lachsplätzchen?“, lachte Sandra.

„Was, Lachplätzchen? Du meinst Kekse?“ Er lachte, glaubte, es handele sich um einen Scherz.

„Ja, richtig. Ich habe das Gefühl, in Dänemark kommst du um den Lachs nicht herum!“

„Das kann stimmen. Wir mögen Lachs in allen Variationen. Ob im Frühstücks-Omelett oder abends über die Spaghetti. Ganz ehrlich, Sandra, ich ziehe Sushi gegrilltem Lachs vor.“

Sandra überlegte, ob er sie auf die Schippe nahm. Sie spürte, wie Frost innerlich ersten Anlauf wagte, um Fragen nach ihrer Herkunft und ihrem Beruf zu stellen. Man konnte ihn so schön durchschauen. Er war ein durchaus ehrlicher Typ. Caro Lutteroth, ihr ehemaliger Lebensgefährte, war ähnlich. Frosts Augen blickten sie gerade noch zärtlicher an als bisher. Sie bekam Angst, dass diese kurze Episode von dem Mann anders interpretiert wurde als von ihr. Sandra stand auf.

„Ich muss mal schnell zur Toilette!“

Der gut erzogene Frost sprang auch auf und nickte. Er sah ihr noch nach, als sie durch den Flur in Richtung Gäste-WC verschwand. Als Sandra zurückkehrte, befand sich Frost beim Tresen und drückte der Gastwirtin etwas in die Hand. Ob er sein Frühstück bezahlte?, fragte sie sich. Sicher gehörte sich das, aber sie hatte ihn eingeladen. Er trat auf die Frau zu, zog seine Jacke vom Stuhl.

„Ich muss zur Fähre, Sandra. Sie legt in dreißig Minuten ab. Ich muss sie unbedingt erreichen.“

Frost wartete etwas und Sandra war sich sicher, er hoffte, dass sie ihn zurückhalte. Als sie ihn nur freundlich anschaute und nicht antwortete, erklärte er: „Ich habe in den nächsten Tagen einen Umzug vor mir. Da benötige ich jede Menge Zeit.“

Der Däne breitete seine Arme aus und Sandra machte einen Schritt nach vorne. „Es war schön, dich kennenzulernen, kleine deutsche Lebensretterin!“ Frost streichelte sanft über ihren Kopf. Sie glaubte, dass er ihr Haar küsste.

„Ich würde dich gerne wiedersehen!“

Sandra war klar, dass der Satz kommen musste. Sie hielt sich in seinen Armen fest, um ihm nicht in die Augen schauen zu müssen, und wartete, was als Nächstes kam.

„Darf ich deine Telefonnummer erfahren?“, versuchte es Frost erneut.

Sandra löste sich aus seiner Umarmung und nickte. „Hast du etwas zu schreiben?“

Frost fingerte einen Stift aus seiner Jacke und San­dra griff nach einer Serviette. Irgendwie kam sie sich schäbig vor. Als ob sie den Mann für ein Liebesabenteuer ausgenutzt hätte. Es fehlte noch, dass er ihr einen Geldschein auf den Tisch legte. Schnell schrieb sie ihre Handynummer auf die Serviette und hielt sie dem Dänen stumm hin. Frost schien verstanden zu haben. Er hob seine Hand zum Gruß, lächelte ihr noch einmal zärtlich zu, drehte sich um und spazierte in Richtung Ausgang. Irgendetwas in Sandra sagte ihr, lass ihn nicht so einfach entkommen. Dieser Typ Mann entspricht genau deinen Vorstellungen. Etwas Besseres wirst du nie finden! Doch sie setzte sich zurück an den Tisch, schnitt sich ein Brötchen auf. Dann beschmierte sie es mit einer dicken Schicht Butter und reichlich Erdbeermarmelade. Genüsslich biss sie hinein.

Kapitel 2

Sandra Holz hatte den Nachmittag mit einem ausgedehnten Spaziergang am Strand verbracht. In Höhe der Sandbank war sie für einen Moment stehen geblieben und hatte sich an die Momente erinnert, die ihr noch immer Gänsehaut über den Rücken jagten. Nun saß sie auf der kleinen Terrasse und blickte hinaus in die Dunkelheit. Frost hatte das erste Mal kurz vor dem Abendessen angerufen. Sie hatte den Anruf weggedrückt, nur die Anzahl Klingelintervalle gezählt: neunmal. Gegen 21.30 Uhr hatte er es erneut versucht und nun schon beim vierten Klingelton aufgegeben. Es schmerzte Sandra, so mit dem Mann umzugehen, doch sie war noch nicht so weit. Sie hatte versäumt, es ihm zu sagen. In der Nacht, sie konnte nicht einschlafen, entschloss sie sich, den Urlaub am nächsten Tag abzubrechen. Die Begegnung mit Jon Frost hatte alles verändert. Sie glaubte nun fest, hier auf Fanø keinerlei Erholung mehr erwarten zu können.

Ihrer Rettungsaktion hatte es Sandra wohl zu verdanken, dass die Inhaberin des Gasthauses Krogaard sie schon frühzeitig und ohne Kosten aus der Buchung entließ. Sandra nahm die Zehn-Uhr-Fähre, kaufte erst am Bahnhof Esbjerg ein Ticket nach Hamburg. Gegen 16 Uhr verließ sie dann den Zug am Hamburger Hauptbahnhof.

Als Sandra in die von Kollegin Emma Meyfeld angemietete Wohnung trat, war ihr klar geworden, sie musste sich nach etwas Neuem, etwas Eigenem umsehen. Die Mieten in Hamburg erreichten gerade ein Rekordhoch, und bevor es noch schlimmer wurde, musste sie irgendwo unterkommen. Dort, wo sie die vier Wände ihr Eigen nennen konnte. Auch wollte sie morgen früh im Polizeipräsidium vorstellig werden und den Kollegen ihren Entschluss mitteilen, die Arbeit ab sofort wieder aufzunehmen.

Später am Abend plagten sie Gewissensbisse, einfach und ohne Vorwarnung auf der Dienststelle aufzutauchen. Sie schrieb Jonas Sokolowski eine Nachricht über ihren Entschluss. Erst eine Stunde später, kurz vor dem Schlafengehen, antwortete der Kollege: „Hallo, Sandra, in der Zwischenzeit hat sich einiges in der Abteilung verändert. Bin beim Packen, wurde vorgestern zum Hauptkommissar befördert und werde nach meinem Umzugsurlaub meinen Dienst ab dem 1. Juli im dänischen Sønderborg verrichten. Liebe Grüße, Soko!“

Was? Soko war beim Packen und wurde nach Dänemark versetzt? Was wollte der Hamburger in Dänemark? War die Welt verrückt geworden? Mit großer Erwartung auf den morgigen Tag im Landeskriminalamt schlief Sandra ein.

*

Es gab ein großes Hallo, als Sandra durch die Schleuse in das Gebäude des Polizeipräsidiums spazierte. Von überall rief man ihr freundliche Worte hinterher, schüttelte ihre Hand und sie war sich absolut sicher, alles war wie früher. Ihr Büro fand sie leer vor, doch sie glaubte, im Raum einige Veränderungen zu erkennen. Einen neuen PC mit größerem Monitor war sicher nicht das Einzige, was sich im Büro der Interims-Abteilungsleiterin verändert hatte. Im Aufenthaltsraum stieß sie auf Kollegin Emma Meyfeld. Völlig überrascht sprang Emma auf und fiel Sandra um den Hals.

„Warum hast du dich denn nicht angekündigt, liebe Sandra? Wie geht es dir? Ich freue mich so.“

Doch Sandra spürte, da lag etwas in der Luft.

„Ich möchte wieder arbeiten!“, platzte sie heraus.

Es war, als schlüge man Emma mit einem Baseballschläger. Sie zuckte nach hinten und ihr Blick veränderte sich.

„Warte, Sandra. Bevor es Missverständnisse gibt, werde ich den Leiter des Landeskriminalamts, Oberkriminalrat Jensen, rufen.“

Sandra war überrascht. „Wie, Jensen hat während meiner Abwesenheit einen Karrieresprung rückwärts gemacht? Oder hast du dich versprochen?“

„Nein, ganz so schlimm ist es nicht. Er war wohl, wie du, interimsweise eingesetzt. Ob ihm die Position des Polizeipräsidenten zu viel wurde oder er … ungeeignet dafür war, ist reine Spekulation. Sicher ist, als Leiter LKA blüht er gerade wieder auf und wurde inzwischen zum Oberkriminalrat befördert. Denke, bis Anfang nächsten Jahres hat er auch den Kriminaldirektor in der Tasche.“

Noch bevor Sandra ihre Überraschung in Worte fassen konnte, war die Kollegin aus dem Raum verschwunden. Einiges hatte sich geändert während ihrer Abwesenheit. Nachdenklich schenkte sich die Kommissarin einen Kaffee ein und trank ihn schwarz. Nach wenigen Minuten war Emma, im Schlepptau Rolf Jensen, zurück. Ihr Vorgesetzter wirkte auf Sandra extrem nervös. Doch er blickte Sandra in die Augen, drückte lange ihre Hand und verlieh seiner Freude über ihre Anwesenheit Ausdruck, indem er zahlreiche Sätze sagte, die mit „Ich freue mich“ begannen. Inzwischen war es der Kommissarin etwas langweilig geworden. Sie musste endlich wissen, was dieses Theater sollte.

„Gratuliere zur Beförderung, Herr Oberkriminalrat. Aber was genau ist hier los? Wurde ich entlassen oder gar zur Polizeipräsidentin ernannt?“

Jensens bisher ausgeglichene Gesichtszüge änderten sich auf Sandras Anspielung hin. Er blickte zu Emma und als die Mienen der beiden Kollegen sich verdunkelten, setzte sich Sandra vorsichtshalber auf einen Stuhl.

„Ja, ich bin wieder an der Basis zurück. Wie ich hörte, hegen auch Sie den Wunsch, wieder in den Dienst zurückzukehren, Frau Holz!“

Sandra nickte.

„Nun ... also ... nach Absprache mit dem polizeilichen Amtsarzt muss ich Ihnen mitteilen, dass Sie ... ja … nur noch ... halbtags einsetzbar sind. Nun ist es raus.“ Jensen wischte sich den Schweiß von der Stirn, rannte zur Thermoskanne und schenkte sich umständlich Kaffee ein.

Sandra war völlig von der Rolle. Sie hatte mit allem gerechnet, aber nicht damit, dass man sie auf Teilzeit setzte.

„Und ... und was heißt das nun genau für mich?“

Jensen hatte beim Trinken gekleckert und war dabei, den verschütteten Kaffee mit einer Serviette vom Boden abzuwischen. Schon fast ängstlich antwortete er: „Das heißt, sollten Sie tatsächlich wieder in den Polizeidienst zurückkehren wollen, dann bis auf Weiteres nur den halben Tag.“

Sandra ging vieles durch den Kopf. Wer würde ihren Posten bekommen? War diese Aussage gerechtfertigt? Sollte sie sich wehren, dagegen wettern? Vielleicht war sie ja wirklich noch nicht in der Lage zu ermitteln, so wie vor der Verletzung. Und konnte sie den Kollegen wieder uneingeschränkt als Teamleiterin zur Verfügung stehen?

„Was genau wäre die Alternative, Herr Jensen? Ich bin keine 40 Jahre alt.“

Jensen hatte seinen Kaffeebecher wieder im Griff. Er stellte ihn vorsichtig auf den Tisch. Dann setzte er sich neben seine Kollegin und legte seine Hand auf ihren Arm. „Sandra, wir haben ein schönes Plätzchen für Sie gefunden.“

Sandra war verblüfft. Sie stellte sich bildlich die Worte ihres Vorgesetzten vor. Ein schönes Plätzchen gefunden: unter einem Baum im Grünbereich des Polizeipräsidiums? An der Alster mit Blick auf das Appartement von Udo Lindenberg? Oder was meinte er damit?

„Frau Meyfeld, nun sagen Sie doch auch mal etwas?“, bat Jensen und seine Augen sprühten Funken.

„Was soll ich sagen, Herr Oberkriminalrat. Sie haben doch die Versetzung der Kollegin zur Arbeitsgruppe UKF durchgesetzt.“

Arbeitsgruppe UKF? Sandra überlegte. Was war das denn? UKE war ihr ein Begriff, aber nicht UKF. „Würde mir mal bitte einer erzählen, was UKF bedeutet und wo ich nun zukünftig arbeiten soll?“

Sandra war außer sich. Sie spürte, wie ihr Blutdruck anstieg. Wie sich Tränen in ihren Augenhöhlen bildeten. Was war bloß los hier?

„Nun!“ Oberkriminalrat Jensen war aufgestanden. Es sah aus, als wolle er die Erste Kriminalhauptkommissarin befördern. Feierlich erklärte er: „Sandra, wir haben speziell für Sie in der Abteilung 41 die Arbeitsgruppe UKF eingerichtet. UKF bedeutet Ungeklärte Kriminalfälle. Sie kennen sicherlich die amerikanische Abteilung namens Cold Case?“

Jensen schaute Sandra an und hoffte wohl auf irgendeine Regung. Als die ausblieb, meinte der Leiter des LKA: „Cold Case! Die Abteilung wurde auch vom dänischen Autor Jussi Adler-Olsen gut in seinen Büchern beschrieben.“

Sandra wusste nicht, wie ihr geschah.

„Also, wie dem auch sei, es wurde tatsächlich Zeit, hier in Hamburg so etwas zu etablieren. Es haben sich in den letzten Jahren meterhohe Aktenberge mit Fällen verschwundener und getöteter Personen angehäuft. Darunter zahlreiche Nichtidentifizierte, deren Mörder bis heute nicht gefasst wurden. Ja, es gilt, so viel wie möglich dieser unerledigten Fälle aufzuklären. Die Angehörigen haben einen Anspruch darauf. Es war meine Idee, Sie als Leiterin des Teams einzusetzen.“

Jensen wartete erneut einen Moment und erklärte dann: „Der Innensenator und der neue Polizeipräsident waren sofort einverstanden. Das will etwas heißen!“

Jensen schaute nervös auf die Uhr, und gerade als Sandra einen lauten Schrei ausstoßen wollte, rannte der Oberkriminalrat in Richtung Tür. Er öffnete sie mit den Worten „Muss zur Besprechung, sorry!“ Dann stürzte er aus dem Besprechungsraum.