Elchtest - A. Bauer - E-Book

Elchtest E-Book

A. Bauer

5,0

Beschreibung

Als Benny Weber gerade 14 Jahre alt ist, wird er durch einen tragischen Unfall seines Vaters plötzlich zu einem Halbwaisen. Gefangen in seiner Trauer trifft er auf dem Spielplatz den jüngeren Lucas. Nach anfänglichen Schwierigkeiten werden die beiden zu besten Freunden.Als Benny bemerkt, dass er für Lucas mehr empfindet als nur Freundschaft, beschließt er, zum Studieren ins Ausland zu gehen. Die Tatsache, dass er die Wahrheit über seinen Vater erfährt, bestärkt ihn in seinem Entschluss. Schweren Herzens verabschiedet er sich von seinen Großeltern und schreibt Lucas einen Brief, indem er ihm erklärt, warum er das Land verlässt.Doch Lucas erhält diesen Brief nicht. Somit weiß er auch nicht, wo sein bester Freund geblieben ist. Die Sorge um Benny und auch das langsame Wissen, dass er mehr für ihn empfindet, lassen Lucas fast verrückt werden. Und nicht nur das.Die homophoben Angriffe seines Vaters werden immer schlimmer. Als es soweit kommt, dass der Vater auch nicht vor seiner Schwester halt macht, geht er zur Polizei und zeigt ihn an. Doch sein Erzeuger entzieht sich der Verhaftung, indem er sich auf dem Dachboden erhängt, wo er von Lucas gefunden wird.Bei Durchsicht der Hinterlassenschaften entdeckt Lucas all die Briefe und Karten, die Benny ihm geschrieben hat. Unter Tränen liest er die ganzen Briefe, die immer kürzer werden. Und die mit den Worten enden, dass Benny ihn immer lieben würde, sich aber keine Hoffnung mehr macht.Für Lucas bricht eine Welt zusammen. All seine Versuche, mit Benny in Verbindung zu treten, verlaufen im Sande.In einer Therapie lernt er Susi kennen. Die beiden werden ein Paar. Aber Susi kann ihm nicht das geben, wonach er sich seit Ewigkeiten sehnt. Nach Jahren kommt Benny wieder in seinen Heimatort zurück … und die beiden treffen sich durch Zufall auf „ihrem“ Spielplatz wieder.

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Seitenzahl: 499

Veröffentlichungsjahr: 2013

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A. Bauer

Elchtest –

Liebe ohne Grenzen

Himmelstürmer Verlag, Kirchenweg 12, 20099 Hamburg,

Himmelstürmer is part of Production House GmbH

www.himmelstuermer.de

E-mail: [email protected], Mai 2013

Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des Verlages

Rechtschreibung nach Duden, 24. Auflage

Coverfoto: Coverfoto:© C.Schmidt / www.CSArt Photo.de

Das Modell auf dem Coverfoto steht in keinen Zusammenhang mit dem Inhalt des Buches und der Inhalt des Buches sagt nichts über die sexuelle Orientierung des Modells aus.

Umschlaggestaltung: Olaf Welling, Grafik-Designer AGD, Hamburg. www.olafwelling.de

Printed in Dänemark

ISBN print 978-3-86361-166-8ISBN epub978-3-86361-167-5

ISBN pdf: 978-3-86361-168-2

Die Handlung und alle Personen sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeiten mit realen Personen wären rein zufällig.

Kapitel 1

Rundschau

Lange Zeit soll sich der arbeitslose 45-jährige Wolfgang R. an seinem Sohn vergriffen haben. Als er jetzt allerdings die kleine Schwester des Jungen sexuell belästigen wollte, zog der junge Mann die Notbremse und zeigte seinen Vater an.

Bevor dem Mann jedoch der Prozess gemacht werden konnte, erhängte sich dieser gestern Nachmittag auf dem Dachboden der eigenen Wohnung, wo sein Sohn ihn am frühen Abend fand.

Ein eindeutigeres Schuldeingeständnis gibt es doch eigentlich gar nicht!

Wie die missbrauchten Kinder damit zurecht kommen und was die Mutter und Ehefrau, die von der ganzen Sache nichts mitgekriegt haben will, dazu sagt, lesen Sie im großen Bericht auf Seite drei.

Entsetzen geht in dem kleinen Dörfchen um, in dem sich der Vorfall ereignet hat. Immer wieder liest man von solchen Sachen. Doch das so etwas in der direkten Nachbarschaft passiert, lässt die Menschen geschockt zusammen stehen.

„Ich kann es gar nicht glauben“, sagt Simone Weber zu ihrer Freundin und Nachbarin, „mein Benny war früher so oft mit dem Lucas zusammen.“

„Ja, ich kann mich noch ganz genau daran erinnern“, meint Sabine Schneider zustimmend. „Was macht eigentlich dein Sohn? Ich hab ihn lange nicht mehr gesehen.“

„Der ist im Ausland“, erwidert Simone ausweichend. Und mit einem „ich sollte nach der Wäsche sehen“, verabschiedet sie sich schnell.

Nachdenklich geht sie nach Hause, auf dem direkten Weg ins Schlafzimmer. Vor dem Kleiderschrank bleibt sie stehen und betrachtet sich im großen Spiegel.

„Was ist nur aus mir geworden?“, flüstert sie ihrem Spiegelbild leise zu, „vor knapp dreißig Jahren war ich noch „Miss Niedersachsen“ und heute … graue Haare, graue Haut, Falten … ein Nichts!“

Sie kann sich noch ganz genau an den Tag erinnern, als es gegen halb eins mittags an ihrer Haustür klingelt:

„Die Tür ist doch offen, Benny“, ruft sie leicht genervt in die Richtung. Sie steht am Herd und muss darauf achten, dass die Milch für den Pudding nicht überkocht. Als es jedoch erneut klingelt, schiebt sie den Topf seufzend von der Platte und geht mit schnellen Schritten auf den Eingang zu. Grade will sie anfangen zu schimpfen, als sie den Schatten hinter der getönten Glasscheibe nicht als den ihres Sohnes ausmachen kann.

Zum einen ist er viel zu groß und zum anderen sind es zwei. Mit einem mulmigen Gefühl öffnet sie die Tür. Zwei uniformierte Beamte stehen davor.

„Guten Tag. Frau Weber?“, grüßt der eine Polizist sie fragend.

Sie nickt mit blassem Gesicht. „Was ist mit Benny?“, flüstert sie leise.

„Benny?“, erkundigt sich der zweite Bedienstete.

„Mein Sohn.“

„Ach so. Nein, wir kommen nicht wegen ihm. Frau Weber, wir müssen Ihnen leider mitteilen, dass Ihr Mann bei einem Arbeitsunfall tödlich verunglückt ist“, erklärt der Polizist ihr mit leiser, ruhiger Stimme.

„Bernd? Wie? Warum? Das kann doch gar nicht sein“, erklärt sie mit fester Stimme. „Ich hab noch vor gut zwei Stunden mit ihm telefoniert. Er hat Bescheid gesagt, dass er etwas früher zum Essen kommt. Bernd. Unmöglich. Sie müssen sich vertan haben. Sie werden ja selbst sehn, er kommt sicherlich jeden Moment um die Ecke.“

„Frau Weber, er wird nicht wiederkommen. Es gab in dem Werk, in dem Ihr Mann arbeitet, eine Explosion. Er war sofort tot. Unser herzliches Beileid. Frau Weber, wann kommt Ihr Sohn von der Schule?“

„Er, Benny, er wird gleich hier sein. Und ich hab das Essen noch nicht fertig. Das Schnitzel und die Erbsen und Wurzeln. Und die Wäsche ist auch noch in der Maschine. Und ich muss noch …“, aufgeregt fuchtelt sie mit ihren Händen herum.

„Sie müssen gar nichts, Frau Weber. Geht es Ihnen soweit gut oder sollen wir lieber einen Arzt rufen?“, fragt der junge Polizist und legt beruhigend eine Hand auf ihren Arm.

„Gut? Gut …“, schreit sie ihn nun hysterisch an, „Sie haben mir grade gesagt, dass mein Mann tot ist. Wie soll es mir da wohl gehen? Und was soll ich Ihrer Meinung nach machen? Singen und tanzen? Ich - wie soll ich das nur Benny beibringen?“, schluchzt sie jetzt doch verzweifelt auf. In der ganzen Aufregung haben sie nicht bemerkt, dass der Junge mit bleichem Gesicht hinter den Beamten steht.

„Was willst du mir beibringen, Mama?“, fragt er unsicher und sieht sie aus großen blauen Augen an.

„Benny. Mein Gott, du bist schon da“, flüstert sie entsetzt.

„So wie immer. Was ist hier los, Mama?“ Bevor er jedoch von seiner Mutter eine Antwort erhält, schaltet sich der Ältere der beiden Polizisten ein.

„Hallo, Benny. Na, Schule endlich aus? Frau Weber, ich denke, es wäre besser, wenn Sie Ihrem Sohn nicht alles zwischen Tür und Angel erzählen. Wir sollten lieber ins Haus gehen. Kann ich jemanden benachrichtigen, der Ihnen zur Seite steht?“

„Nein, meine Eltern leben schon lange nicht mehr und zu meinen Schwiegereltern habe ich nicht den besten Kontakt. Vielleicht meine Nachbarin - aber eigentlich möchte ich lieber mit meinem Sohn alleine sein.“

Kurz darauf verabschieden sich die beiden Beamten.

Völlig in Gedanken steht Bennys Mutter am Herd und bereitet das Essen zu. Ist sich gar nicht bewusst, dass ihr Sohn auf Antworten wartet. Als sie ihn weiterhin ignoriert, stellt er von sich aus welche.

„Mama, was wollte die Polizei? Und wo bleibt Papa?“

Beim Erwähnen ihres Mannes schreckt sie so heftig zusammen, dass ihr mit einem lauten Scheppern der Topfdeckel aus der Hand und auf den Boden fällt.

„Mama?“

Sie beginnt langsam zu realisieren, dass sie nun alleine für ihren Sohn da sein muss. Als sie sich zu ihm umdreht, laufen ihr unentwegt Tränen die Wangen hinunter. Verstört sieht Benny sie an.

„Benny, dein Vater hat einen Unfall gehabt“, sagt sie mit Tränen erstickter Stimme, „er ist tot!“

Entsetzt starrt Benny sie an. „Tot? Aber das geht doch gar nicht. Wir wollen doch heute mein Fahrrad reparieren für den Ausflug am Wochenende. Außerdem wollen wir doch ins Stadion zum Fußball. St. Pauli gegen den HSV. Wir haben doch schon so lange die Karten. Und …“, will er weiter aufzählen, wird aber von der lauten Stimme seiner Mutter gestoppt.

„HÖR AUF BENNY! ER IST TOT! ER KOMMT NICHT WIEDER! NIE WIEDER! HÖRST DU! NIE WIEDER!“, herrscht sie ihn an.

„Aber …“, stammelt der Junge und auch er weint. Ob allerdings über die Trauer um seinen Vater oder eher, weil seine Mutter ihn so angeschrien hat, weiß er nicht so genau.

„Kein aber, Benny. Es ist leider so und wir müssen nun zusehen, wie wir alleine klar kommen. Aber wir schaffen das schon, nicht wahr? Würdest du mich jetzt bitte alleine lassen? Ich …“, den Rest lässt sie unausgesprochen.

Doch Benny versteht sie auch so. Ein letzter Blick auf sie zeigt ihm, dass sie in der kurzen Zeit, seid die Beamten hier waren, um Jahre gealtert ist.

Benny

Mit traurig gesenktem Kopf und noch immer Tränen in den Augen gehe ich aus dem Haus. Bin aber noch so geistesgegenwärtig, dass ich Tante Sabine Bescheid sage, dass sie nach Mama sehen soll.

Mit schleppendem Schritt gehe ich durch die fast menschenleeren Straßen. Es ist Mittagszeit und in den meisten Häusern sitzen die Menschen eben bei dem, was man um diese Zeit so macht, nämlich essen. Sie sitzen zusammen am Tisch, die Kinder erzählen, was sie in der Schule gemacht haben, ob sie Hausaufgaben aufhaben. Sie lachen und sind fröhlich.

Und ich, Benedikt Weber, gerade mal 14 Jahre alt und von einer Minutezur anderen zum Halbwaisen geworden, weiß nicht, wohin. Ich bemerke gar nicht, wohin mich meine Füße tragen und finde mich plötzlich auf dem kleinen Spielplatz wieder. Und dieser Platz ist wirklich klein. Zwei Schaukeln, eine Reckstange, eine Rutsche, ein Sandkasten und ein kleines Häuschen. Und eben dieses ist mein Ziel.

Vorsichtig krabbele ich hinein, immer nach Spinnen Ausschau haltend. Denn vor diesen Viechern habe ich panische Angst. Mit einem kleinen Stöckchen entferne ich die lästigen Weben, bevor ich es mir auf der Bank gemütlich mache.

Ich schlinge die Arme um meine Knie und lasse den Kopf darauf sinken. Fange verzweifelt an zu weinen. Und kriege gar nicht mit, dass ich schon die ganze Zeit beobachtet werde.

„Was hast du?“, fragt eine leise, kindliche Stimme in die eigentliche Stille.

Erschrocken zucke ich zusammen und bevor ich aufsehe, wische ich mir mit einer jähen Bewegung die Tränen aus dem Gesicht. Tränen bedeuten, dass man(n) schwach ist. Das hat Papa immer zu mir gesagt. Und ich will auf gar keinen Fall schwach sein.

Schließlich bin ich jetzt so was wie der Mann im Hause.

Langsam drehe ich mich zu meinem Ansprechpartner und schaue verwundert auf. Dort steht, mit gebührendem Abstand, ein kleiner Junge mit blonden Engelslocken und schaut mich aus großen dunklen Augen fragend an. In seinen kleinen Händen hält er einen alten Teddy. Als der Kleine keine Antwort von mir erhält, fragt er noch einmal nach.

„Was hast du?“

„Ich bin traurig.“

„Und warum bist du traurig?“

„Weil“, ich schaffe es nicht, dem Kleinen zu sagen, was los ist. Stattdessen beschränke ich mich auf eine Gegenfrage. „Bist du denn nie traurig?“

„Doch, bin ich“, meint der Junge, schaut auf seinen Teddy und fängt dann an zu strahlen, „aber ich hab ja meinen Bubu. Der ist immer bei mir und tröstet mich. Den hab ich ganz doll lieb!“

Traurig lächele ich ihn an. „Es ist schön, wenn man jemanden hat, der einen beschützt.“

„Und du hast niemanden?“, will der Kurze neugierig wissen und kommt ganz mutig ein paar Schritte näher.

„Doch, oder eher nein. Eigentlich habe ich jetzt nur noch meine Mama.“ Wieder holen mich die Gedanken an Papa ein und heiße Tränen rinnen mir die Wangen hinunter. Plötzlich sitzt der kleine Junge neben mir und legt seinen Arm um mich.

„Ist deine Mama denn nicht lieb zu dir?“

Verwirrt starre ich ihn an. Wie kommt der denn auf so was? Warum denkt der denn, dass Mama nicht lieb zu mir ist? Erbost richte ich mich auf und sein kleiner Arm fällt von meiner Schulter. Erschrocken rutscht der Blonde von mir weg und purzelt fast aus dem Häuschen. Im letzten Moment kann ich ihn noch packen.

„Mensch, pass doch auf“, fahre ich ihn an, „nachher tust du dir noch weh und ich krieg die Schuld!“

Heftig schüttelt der Kleine den Kopf. „Nein, nein … du … du … du h … hast k … keine Sch … Sch … Schuld. I … i … ich …“, stottert er und reißt sich panisch von mir los. Stolpernd rennt er los, fällt hin und rappelt sich sofort wieder auf. Flüchtet über den Spielplatz in Richtung Hauptstraße. Dass ich hinter ihm her rufe, hört er nicht, oder aber, er will es nicht hören. Und dann ist er auf einmal weg.

Kopfschüttelnd setze ich mich wieder auf die harte Holzbank. „Komischer Kauz“, murmele ich vor mich hin.

Allerdings hat er es geschafft, dass ich für einen kurzen Augenblick meine Trauer vergessen habe. Doch nun holt sie mich mit aller Macht wieder ein. Seufzend stehe ich auf und mache mich auf den Heimweg.

An der Stelle, an der der Kleine vorhin gestolpert ist, bleibe ich überrascht stehen. Dort unten, im dreckigen Sand, liegt ein kleiner Teddy.

Der kleine Bubu!.

‚Irgendwie muss ich ihn so dermaßen erschreckt haben, dass er nicht einmal gemerkt hat, dass er seinen Teddy verloren hat’, denke ich still und abermals seufzend bücke ich mich, um das Stofftier aufzusammeln. Vorsichtig putze ich den Schmutz und Staub von ihm ab und schaue mich noch einmal suchend um. Doch der kleine Blondschopf ist wie vom Erdboden verschwunden.

„Also gut, Bubu, dann nehme ich dich erst einmal mit zu mir nach Hause“, rede ich mit dem Teddy und muss über mich selber lachen. Soweit ist es also schon - ich rede mit einem Stofftier. Dennoch stecke ich Bubu ein und mache mich mit einem unguten Gefühl auf den Heimweg.

Lucas

Weinend hocke ich hinter einem Busch und muss mit ansehen, wie der große Junge meinen geliebten Bubu einfach so mitnimmt.

Als ich vorhin auf den Spielplatz kam, wollte ich mich eigentlich nur in dem Häuschen verstecken, weil die anderen aus meiner Klasse hinter mir her waren. Doch da war schon besetzt. Zum Glück haben die anderen auch bemerkt, dass sie nicht mit mir alleine sind und haben sich schnell wieder auf den Rückweg gemacht.

Es ist immer dasselbe. Wenn sie mich draußen erwischen, dann ärgern und schubsen sie mich. Verspotten mich, weil ich stottere. Als wenn ich das absichtlich machen würde. Immer wieder kriegen sie mich zu fassen.

Deshalb bleibe ich eigentlich auch viel lieber zu Hause in meinem Zimmer. Aber manchmal halte ich es daheim einfach nicht aus.

Besonders an den Tagen, an denen Papa was getrunken hat. Dann redet er kein Wort mit mir. Als wenn er sonst viel mit mir reden würde. Er fragt janicht einmal, wie es in der Schule war. Wenn ich schlechte Noten nach Hause bringe, dann hagelt es Kritik und es ist schon das eine oder andere Mal passiert, dass er mich geschlagen hat. Nicht doll … immer so, dass niemand es sehen würde. Aber für mich ist es ganz schlimm.

Und wenn er mich mit seiner lauten Stimme doch mal etwas fragt, dann gebe ich ihm stotternd Antwort. Und das bringt ihn erst recht auf hundertachtzig! Ob ich blöder Schwachmat nicht einmal ordentlich reden könne und dass so was wie ich eigentlich in eine geschlossene Anstalt gehöre. Als ich damals, als er das zum ersten Mal zu mir gesagt hatte, angefangen hab zu heulen, hatte er mir noch eine gescheuert und mich ohne Essen auf mein Zimmer geschickt. Mit dem Zusatz, ja bloß nichts meiner Mutter zu erzählen.

Denn wenn Mama am Wochenende zu Hause ist, dann spielt er den lieben, netten Papa, der alles für seinen Sohn machen würde.

Und jetzt hocke ich hier hinter einem Busch und muss mit ansehen, wie mein einziger Freund, mein Bubu, mit dem seltsamen Jungen verschwindet.

Zu meinem ‚Glück’ fängt es auch noch an zu regnen. Tolle Wurst!

Bis ich zu Hause ankomme, bin ich klatschnass und liege am nächsten Tag mit einer dicken Erkältung im Bett.

Gott sei dank ist Wochenende und Mama kann sich um mich kümmern!

Und am Montag geht es mir soweit wieder gut, dass ich in die Schule gehen kann. Denn die ist, im Vergleich zu meinem Zuhause ohne Mama, immer noch das kleinere Übel.

Kapitel 2

Benny

Als ich am Tag der Beerdigung an der Seite meiner Mutter die Kirche verlasse, sehe ich ihn das erste Mal wieder. Einsam und verlassen steht er an der Hecke und es sieht fast so aus, als würde er am liebsten in diese hineinkriechen. Auch wenn die Trauer um meinen Vater mich im Augenblick doch ziemlich übermannt, so schaffe ich es doch, ihm ein kleines Lächeln zu schenken. Mit einem Fingerzeig deute ich ihn an, auf mich zu warten.

Aus den Augenwinkeln kann ich noch grade so sehen, wie er der Trauergemeinde mit gebührendem Abstand folgt. Wartet, bis ich mit meiner Mutter und meinen Großeltern alleine am Grab stehe und kommt schüchtern ein paar Schritte auf mich zu. Ich sage meiner Mutter Bescheid, dass ich mal kurz weg bin und gehe dann auf ihn zu.

„Hallo“, meine ich leise und wir gehen zusammen ein kleines Stückchen.

„Hallo“, erwidert er ebenso leise, „das mit deinem Vater, ich habe das nicht gewusst, als du da auf dem Spielplatz warst. Tut mir echt leid.“

„Konntest du ja auch nicht wissen“, erwidere ich. „Es ist schön, dich wieder zu sehen. Ich war jeden Tag auf dem Spielplatz und hatte gehofft, dass du auch kommst. Ich hab hier nämlich jemanden, der sicherlich gerne wieder zu dir möchte.“ Mit flinken Händen öffne ich den Reißverschluss von meinem Anorak und befördere wie ein Zauberer seinen Teddy wieder ans Tageslicht. „Tada!“

„Bubu“, haucht der Blondschopf, als ich ihm den Bären hinhalte und greift zögerlich danach. Dann drückt er ihn fest an seine Brust. Ich kann Tränen der Freude in seinen Augen schimmern sehen. „Danke!“

„Da nicht für. Ich muss wieder los. Aber wenn du willst, dann treffen wir uns morgen Nachmittag bei unserem Häuschen“, schlage ich vor und blicke kurz darauf in ein strahlendes Gesicht.

„Ja! Ich bin da“, freut sich der Kleine und will schon freudig davon hüpfen, als ich ihn grade noch am Ärmel festhalten kann. „Wie heißt du eigentlich?“

„Lucas. Lucas Reuter. Und du?“

„Benjamin Weber. Aber du kannst mich Benny nennen, machen alle. Also dann, Lucas Reuter, bis morgen“, verabschiede ich mich und gehe wieder zu meiner Mutter und den Großeltern.

„Tschüss, bis Morgen“, ruft Lucas mir hinterher.

Als ich abends in meinem Bett liege, fehlt mir das Stofftier doch etwas. Nein, eigentlich fehlt es mir ziemlich doll!

Meine Großeltern bleiben noch ein paar Tage bei uns und helfen vor allen Dingen meiner Mutter bei den ganzen bürokratischen Dingen. Aber auch für mich haben sie viel Zeit. Ich bin gerne mit den Beiden zusammen, auch wenn Mama damit nicht so recht klar kommt.

Nach Durchsicht aller Papiere, Gängen zu den Banken und Versicherungen, haben sie festgestellt, dass Papa sehr gut für uns gesorgt hat.

Das Haus ist bezahlt und für mich hat er ein ziemlich großzügiges Ausbildungskonto angelegt. Und auch sonst wird Mama nicht wieder arbeiten müssen. Es sein denn, sie will.

In dieser Zeit habe ich nicht viel Gelegenheit, mich um meinen neuen Freund zu kümmern. Nur ein paar kurze Momente auf dem Spielplatz sind möglich und dann muss ich leider schon wieder nach Hause.

Doch am Ende der Woche verabschieden sich meine Großeltern. Ich packe Saft und Kekse ein und wir treffen uns in „unserem“ Häuschen.

„Geht es dir gut, Benny?“, fragt Lucas mich und knabbert etwas von dem Schokoladenkeks ab, bevor er einen Schluck aus der Capri-Sonne nimmt.

„Hm“, brumme ich und versuche die beiden Hälften der Prinzenrolle auseinander zu drehen, um so an den leckeren Schokoladenkern zu gelangen. Doch ich habe die Rechnung ohne den Keks gemacht. Denn der bricht so einfach, mir nichts, dir nichts, auseinander.

„Scheiße“, fluche ich leise vor mich hin und beiße frustriert von dem Gebäck ab. Als ich den Mund wieder leer habe, wende ich mich an Lucas.

„Gut. Eigentlich geht es mir gut. Ich vermisse meinen Papa, ganz klar. Aber irgendwie habe ich immer das Gefühl, er ist auf einer Geschäftsreise und kommt bald wieder. Wird er aber nicht. Nie wieder“, flüstere ich jetzt doch wieder mit Tränen in den Augen.

Als Lucas das mitkriegt, legt er tröstend den Arm um meine Schulter. „Hey, nicht traurig sein“, meint er und streicht mir beruhigend über den Rücken. „Ich weiß so ungefähr, wie du dich fühlst. Weißt du, meine Mama arbeitet im Außendienst und kommt nur an den Wochenenden nach Hause. Die andere Zeit über passt mein Vater auf meine kleine Schwester und mich auf. Aber ich weiß ja, dass sie immer wieder zu mir zurückkommt.“

„Das hab ich bei Papa auch immer gedacht. Aber dann … bumm und alles ist vorbei.“ Verstohlen wische ich mir eine Träne aus dem Augenwinkel, die trotz aller Bemühungen doch ans Tageslicht will.

„Nicht weinen bitte“, fleht Lucas und hält mich ganz fest. Mit seiner anderen Hand holt er Bubu hervor und hält ihn mir entgegen. „Hier. Ich weiß zwar, dass du eigentlich schon zu groß für so etwas bist, aber ich denke, du kannst ihn im Augenblick besser gebrauchen.“

Als ich ihm widersprechen will, schüttelt er nur mit dem Kopf und wendet sich dann mit ernster Mine an seinen Teddy. „So mein lieber Bubu. Ich will, dass du die nächste Zeit über bei Benny bleibst und ganz doll auf ihn aufpasst. Haben wir uns verstanden?“, redet er auf das Stofftier ein und bewegt mit der Hand den Kopf, sodass es aussieht, als wenn Bubu tatsächlich zustimmend nicken würde. Lächelnd hält er mir das Tier entgegen. „Behalte ihn, solange du ihn brauchst, okay?“

„Danke, Lucas und hallo, Bubu. Wie beide werden uns schon gut verstehen. Was ich dich eigentlich letztens schon fragen wollte, aber nicht böse sein ja, also, ehm … warum hast du immer deinen Teddy bei dir?“, frag ich vorsichtig nach und schau den Blonden unsicher an.

„Hm“, meint Lucas nur und scheint in Gedanken ganz weit weg zu sein. Als er plötzlich anfängt zu sprechen, zucke ich erschrocken zusammen. „Ich habe Bubu zur Geburt meiner kleinen Schwester bekommen. Mama meinte damals, dass sie sich nicht mehr soviel um mich kümmern könne, jetzt, da Lisa da wäre. Und damit ich dann auch jemanden zum Kuscheln hätte. Irgendwie ist er seitdem immer mit dabei. Mein kleines Stück Mama. Nur für mich alleine!“

Verwundert schaue ich ihn an. „Aber … aber, nein, dann kann ich ihn auf gar keinen Fall nehmen“, stammele ich.

„Doch, kannst du. Und wenn es dir wieder besser geht, dann gibst du ihn mir einfach wieder zurück. Außerdem hatte ich irgendwie gehofft, dass, na ja, weißt du“, stottert Lucas verlegen und schaut auf seine ineinander verflochtenen Hände, „ … also, ich dachte, dass wir vielleicht Freunde werden und ich den Bubu nicht mehr so sehr brauchen würde“, meint er mit leiser Stimme. Und da er immer noch dem Spiel seiner knetenden Hände folgt, sieht er auchnicht das Strahlen, welches sich in meine Augen stiehlt.

„Ich wäre gern deine Freund, Lucas“, meine ich und befreie die klammernden Finger und nehme sie in meine Hände. „Weißt du, als du mich hier auf dem Spielplatz das erste Mal angesprochen hast, da dachte ich gleich, dass du ein ganz Netter bist. Und als ich hier vergebens auf dich gewartet hatte, da war ich irgendwie ziemlich traurig. Also - Freunde?“, frage ich noch einmal und strecke ihm meine Hand entgegen.

Strahlend schlägt Lucas ein. „Freunde!“

„Ich habe aber noch eine kleine Frage an dich. Warum warst du auf der Beerdigung eigentlich auf dem Friedhof?“ Ich kann ihm ansehen, wie er an seiner Antwort zu kämpfen hat.

„Weißt du …“, beginnt er und muss sich erst einmal räuspern, „… die anderen Jungs aus der Gegend hänseln mich immer, weil ich doch stottere. Außerdem bin ich der Kleinste in der Klasse und ich kann mich nicht gegen sie wehren. Deshalb sind sie immer hinter mir her. Ich bin ein gefundenes Fressen für sie. Aber auf den Friedhof trauen sie sich nicht“, grinst er zufrieden und fügt ein „… aber ich“, hinzu. „Ich habe da meine Ruhe vor ihnen.“

„Was sagen denn deine Eltern dazu? Und außerdem, ich habe noch nicht mitgekriegt, dass du stotterst.“

„Meine Eltern? Mama ist doch fast nie da und Papa - dem bin ich egal. Für den gibt es nur Lisa“, meint er bitter. „Und bei dir, na ja, ich habe vor dir ja keine Angst. Also kann ich auch ohne zu stottern reden.“

„Da bin ich ja beruhigt. Und das mit deinen Eltern - ich bin auf jeden Fall immer für dich da. Okay?“

Ein breites Grinsen ist seine einzige Antwort.

Lucas

Ich glaub, ich bin noch nie in meinem Leben so glücklich gewesen. Benny will mit mir befreundet sein. Einfach so. Ich meine, wir kennen uns doch noch gar nicht so lange und trotzdem will er mein Freund sein.

Wenn ich Mama das am Wochenende erzähle, dann wird sie sich sicherlich mit mir freuen.

Papa sage ich lieber nichts davon. Sonst schimpft er wieder mit mir und ich darf mich nicht mehr mit Benny treffen.

Von diesem Zeitpunkt an verbringen die beiden fast jede freie Minute miteinander. Meistens treffen sie sich bei Benny und der Blonde wird schon fast wie ein zweiter Sohn dort behandelt. In der Schule ist der Große ein Ass und hilft Lucas, der zwei Klassen unter ihm ist, wenn der mal Probleme hat.

4 Jahre später

Benny

Mit meiner Mutter komme ich gut klar. Das Einzige, was mich etwas stört, ist, dass ich für sie jetzt der Mann im Hause bin. Wenn irgendwelche „männlichen“ Arbeiten angesagt sind, wie zum Beispiel Rasen mähen oder Hecke schneiden, dann hab ich dies zu erledigen.

Arbeiten, die mir allerdings Spaß machen, besonders, weil Lucas mir immer dabei hilft.

Dass ich jedoch immer an der Seite meiner Mutter sein muss, geht mir schon gewaltig gegen den Strich.

Egal ob beim Einkaufen oder wenn ihre Freundinnen zum Kaffee kommen, immer soll ich zugegen sein. Seit neustem bringen die Damen nun auch ihre Töchter mit, die in meinem Alter sind. Als wenn ich mich für die Schnepfen interessieren würde.

Denn eins weiß ich ganz genau. Wenn ich mal mit jemandem zusammen sein werde, dann wird es definitiv ein Mann sein. Was mich allerdings verunsichert, ist, dass seit einer gewissen Zeit meine Gefühle für meinen besten Freund immer stärker werden. Noch kann ich sie vor ihm verbergen. Aber wer weiß, wie lange noch.

Auf jeden Fall soll hier in diesem kleinen Kaff niemand wissen, dass ich schwul bin. Denn sonst wäre hier echt der Teufel los. Und an meine Mutter mag ich dabei gar nicht denken.

Die würde mich sicherlich gleich zum nächsten Psychodoc zerren, damit der mich wieder auf den rechten Weg bringt.

Ich habe die angeekelten Blicke von Mama gesehen, als im Fernsehen ein Bericht über Homosexuelle gesendet wurde. Aus diesem Grunde habe ich auch ganz still und heimlich für mich beschlossen, nach dem Abi zum Studieren ins Ausland zu gehen.

Als ich Lucas am Freitagnachmittag vom Fußballtraining abholen will, sehe und höre ich ihn schon von Weitem mit seinen Kollegen lachen. Bewundernd lasse ich meinen Blick über den nun fast 17-jährigen wandern.

Seine blonden Locken, die noch feucht vom Duschen sind.

Die große, schmale Gestalt, bei der die Muskeln an den richtigen Stellen sichtbar sind.

Die dünnen, aber muskulösen Beine mit dem typischen Fußballer-O, die an einem knackigen Hintern enden, von dem ich meine Augen erst im letzten Augenblick wenden kann.

Vor mich hinlächelnd nähere ich mich der Gruppe und höre, wie Lucas grade einen Witz zum Besten gibt.

„Was ist der Unterschied zwischen einem Rollmops und einem Schwulen?“ Fragend sieht er in die Runde und erhält von den Jungs nur Schulter zucken und Kopf schütteln. „Na“, grinst er und sieht mir direkt in die Augen, „der Rollmops furzt nicht, wenn man die Gurke rauszieht!“

Augenblicklich fangen alle an zu brüllen. Auch ich lache verkrampft mit. Schließlich will ich mich nicht verraten. Doch tief in meinem Innern fühle ich, wie eine kleine Welt in mir zusammenbricht und ein stechender Schmerz bleibt.

Ein Schwulenwitz nach dem anderen wird gerissen und die Jungs kriegen sich gar nicht mehr ein, schütten sich aus vor Lachen. Am lautesten ist Lucas.

Und ich?

Ich stehe mit versteinerter Miene neben ihm und wende mich nach kurzer Zeit abrupt von der Gruppe ab. Das kann und will ich mir nicht länger mit anhören. Ich hab wirklich nicht damit gerechnet, dass ausgerechnet mein bester Freund solche Sprüche bringt und sich über Schwule so dermaßen lustig macht.

Lucas

Ich hab gar nicht mitgekriegt, dass Benny schon am Gehen ist. Locker jogge ich die paar Meter hinter ihm her und halte ihn am Arm fest.

„Hey, wo willst du denn hin?“

„Nach Hause“, gibt er mir nur knapp Antwort und dreht sich so, dass meine Hand von seinem Arm fällt.

„Aber du bist doch grade erst gekommen.“

„Na und. Hab halt was vergessen.“

„Okay, dann warte kurz. Ich hol schnell meine Tasche und sag den Jungs noch Tschüss“, meine ich und will schon losgehen, als Benny mich aufhält.

„Du brauchst dich nicht zu beeilen. Ich hab noch was vor. Alleine!“

Verwundert schaue ich ihn an. „Na gut, dann komm ich eben später nach.“

„Brauchst du nicht“, gibt Benny genervt zur Antwort.

„Aber … warum denn das nicht?“

„Weil ich … mein Gott, kann ich nicht einfach mal meine Ruhe haben wollen? Muss ich denn immer für dich da sein?“, faucht er mich kalt an.

Entsetzen macht sich in mir breit. So hat Benny in all den Jahren noch nicht mit mir gesprochen. Solch einen Tonfall kenne ich eigentlich nur von meinem Vater. Und plötzlich fällt es mir schwer, frei und unbeschwert mit ihm zu reden. „N … nein, m … m … musst du nicht“, stammele ich leise und drehe mich langsam um. Gehe jedoch nicht zu meinen Kameraden, sondern in die Kabine, um meine Tasche zu holen. Tief in Gedanken mache ich mich auf den Heimweg.

Das erste Mal seit ewigen Zeiten alleine.

Und das erste Mal, dass ich direkt nach Hause gehe und nicht erst noch mit zu Benny.

Benny

Als ich nach Hause komme, laufe ich direkt meiner Mutter in die Arme. Das hat mir auch gerade noch gefehlt!

„Hallo, mein Junge. Du bist früh. Wo hast du denn dein Anhängsel gelassen?“, werde ich auch gleich mit Fragen bombardiert.

„Wohl zu Hause oder noch bei seinen Kumpels. Ich hab heute einfach keine Lust auf Lucas“, meine ich gelassen und es tut einfach nur weh, weil ich mich mit dieser Äußerung selbst belüge.

„Oh … gut. Ich glaube, du solltest sowieso damit aufhören. Ich meine, dass ihr zwei wie Kletten aneinander hängt und keiner etwas ohne den anderen macht.“

„Mama, Lucas ist mein bester Freund“, auch wenn er mich sehr verletzt hat, füge ich in Gedanken hinzu.

„Bester Freund hin oder her. Ihr zwei seid immer zusammen. Wie soll denn da Platz für ein nettes Mädel sein in deinem Leben?“

Entsetzt blicke ich sie an. „Wie kommst du denn auf so etwas?“

„Ach komm schon, Benny. Du bist in dem Alter, da sollte man schon mal nach den Mädchen schauen. Aber wenn du und Lucas immer aufeinander hockt …“, weiter führt sie den Satz nicht aus. Aber er lässt bei mir die Alarmglocken klingeln.

„Was ist dann?“, frage ich sie und sehe sie kalt an.

„Na ja, ich denke mal, es schreckt die jungen Damen ab. Und außerdem“, druckst sie herum und traut sich nicht, mir in die Augen zu schauen, „haben die Leute schon gefragt, ob du vielleicht so - wie soll ich sagen - ob du eher auf Männer stehst.“

So, jetzt ist es endlich raus und ich weiß, wie der Hase läuft. Scharf ziehe ich die Luft ein und stelle ihr direkt eine Frage. „Mit anderen Worten, deine Freundinnen denken, ich bin schwul - richtig?“

„Du musst schon zugeben, dass es etwas komisch ist, dass dir bis jetzt keines der Mädchen, die ich dir vorgestellt habe, zugesagt hat. Da waren doch wirklich Hübsche dabei.“

„Was ich ja auch gar nicht bestreite. Aber soll ich dir mal was sagen? Ich komm mir grade vor wie auf einem orientalischen Heiratsmarkt. Wer bietet für meinen Sohn mehr als zehn Kamele? Wenn sie mal schauen wollen, seine Zähne sind in Ordnung und sein Gesundheitszustand ist auch Bestens. Aber weißt du was, ich denke mal, dass ich mir die Person, mit der ich zusammen sein will, alleine aussuchen werde. Und ich alleine entscheide auch, ob diese Person männlich oder weiblich ist“, sage ich mit schneidender Stimme. Eigentlich bin ich ziemlich fassungslos. Doch sie gibt noch nicht auf.

„Ja, aber Benny, Junge, ich will doch nur dein Bestes“, meint sie mit aufgebrachter Stimme und wirft dabei die Hände in die Luft, wie sie es gerne macht, wenn sie aufgeregt ist.

„Wenn du das wirklich willst, dann lass mich doch einfach in Ruhe!“

„Ach Benny, das meinst du doch gar nicht so. Guck mal, das Haus hier. Wenn du 21 wirst, dann geht es doch automatisch in deinen Besitz über. Und ich dachte, wenn du erst einmal verheiratet bist und Kinder hast, dann würdeich auf die aufpassen und du und deine Frau, ihr könntet euer Leben genießen“, erklärt sie und traut sich das erste Mal, mir wieder direkt ins Gesicht zu sehen.

Ziemlich emotionslos erwidere ich ihren Blick. „Das glaubst du doch selber nicht oder?“

„Aber natürlich“, ruft sie jetzt fast schon verzweifelt aus, „überleg doch mal, Benny. Wir haben zusammen doch schon so schwere Zeiten überstanden. Da wäre alles, was noch kommen würde, doch einfach nur ein Kinderspiel für uns, oder? Wir schaffen alles, wenn wir nur zusammen halten.“ Sanft legt sie ihre Hand auf meinen Arm.

Just in diesem Moment klingelt mein Handy in der Hosentasche. Der Ton sagt mir, dass Lucas am anderen Ende der Leitung ist. Aber mit dem will ich mich jetzt beim besten Willen nicht auseinandersetzen. Somit lasse ich es einfach klingeln. Was meine Mutter anscheinend nicht gefällt. „Mein Gott, Junge, nun geh doch endlich ran!“

Ich gehe auf ihren Einwurf in keiner Weise ein. Stattdessen stelle ich ihr nur eine einzige Frage.

„Du meinst die Sache von eben tatsächlich ernst, oder?“

„Aber ja doch“, meint sie voller Inbrunst und spielt dann ihren letzten Trumpf aus, in der Hoffnung, dass der mich zur Besinnung bringt, „und außerdem hätte Papa das sicherlich auch so gewollt!“

Wenn ich jetzt in mein Gesicht sehen könnte, dann würden sich dort sicherlich sämtliche Emotionen widerspiegeln. Von Trauer und Ärger über Abscheu und ein wenig Verachtung. Dass meine Mutter solch verquere Ansichten hat, kann ich beim besten Willen nicht verstehen. Dass sie nun aber auch noch Papa mit ins Spiel bringt …

Wortlos drehe ich mich um und gehe langsam die Treppe hoch.

„Benny, Junge, so bleib doch hier. Lass uns über alles reden. Abendessen ist auch gleich fertig. Und ich kann dir schnell einen Schokoladenpudding kochen. Den isst du doch so gerne, wenn er noch warm ist“, versucht sie mich aufzuhalten. Doch ich reagiere überhaupt nicht auf sie.

In meinem Zimmer bleibe ich stehen und sehe mich zum ersten Mal ganz bewusst um. Und bemerke, dass sie selbst hier immer gegenwärtig ist. Viele Fotos hängen an der Wand. Auf einigen bin ich mit Papa zu sehen, aber auf den meisten eben mit meiner Mutter. Bilder von meiner Konfirmation, vom Schulwechsel, Klassenausflügen, Abschlussball in der Tanzschule und, und, und. Und immer ist meine Mutter an meiner Seite. Komischerweise kann ich sie selbst in meinen Gedanken nicht mehr Mama nennen.

Auf manchen dieser Fotos stehen wir in solch innigen Umarmungen, dass man uns für ein Paar halten könnte.

Merkwürdigerweise gibt es nur sehr wenige Bilder, auf denen ich mit Lucas zusammen zu sehen bin.

Lucas!

Der Einzige, bei dem ich aus vollem Herzen lachen kann.

Der Einzige, bei dem ich meine Tränen laufen lassen kann.

Der Einzige, mit dem ich auch einfach nur mal dasitzen und schweigen kann.

Der Einzige, bei dem ich einfach nur ich selbst sein kann.

Der Einzige, der mich auch ohne Worte versteht.

Der Einzige, den ich von ganzem Herzen liebe!

Aber auch der Einzige, der mich mit ein paar unbedachten Witzen in einen tiefen Abgrund stürzen lässt!

Seufzend gehe ich zu meinem Bett und lasse mich darauf fallen. Die Arme unterm Kopf verschränkt, liege ich da und denke über meine Zukunft nach.

Schon mit meinem Zwischenzeugnis habe ich mich bei einigen ausländischen Universitäten beworben. Und von zwei habe ich auch schon eine positive Antwort erhalten. Im Moment liegt die Wahl zwischen England und Schweden. Bei den deutschen Unis brauche ich mir gar keine Gedanken machen, sagt auf jeden Fall mein Professor.

Aber ganz egal, für welche der Anstalten ich mich entscheide. Ich werde auf jeden Fall das Land verlassen.

Mein Direx ist in die Sache voll involviert und steht hinter mir. Von ihm habe ich auch die Erlaubnis, dass die Post an die Schule geschickt wird und nicht zu mir nach Hause.

Denn irgendwie hatte ich damals schon das Gefühl, dass meine Mutter das alles nicht so gut aufnehmen würde. Und nachdem, was heute geschehen ist, fühle ich mich in meiner Annahme bestätigt. Mit ihrer krassen Reaktion hat sie mich ganz schön erschreckt.

Sie ist tatsächlich der Meinung, dass ich hier zusammen mit ihr und Frauchen und Kindchen in unserem schönen Häuschen wohnen werde. Dazu noch ein Hündchen, ein schniekes Wägelchen und immer ein Lächeln für die Nachbarn.

Die perfekte, heile Welt. So wie im Fernsehen.

Aber das ist etwas, was es bei mir nicht geben wird. Kein Frauchen und vor allen Dingen kein Mütterchen, das nur darauf wartet, dass ich von der Arbeit komme, damit sie mir den neusten Tratsch aus der Nachbarschaft erzählen kann.

Ich habe mich dazu entschlossen, ihr erst zwei Tage vor meiner Abreise zu sagen, dass ich ins Ausland gehe. Um Geld brauch ich mir ja keine Sorgen machen. Schließlich hat Papa ja dieses Ausbildungskonto für mich angelegt. Darauf befinden sich jetzt über zwanzigtausend Euro. Und das meiste Geld, welches ich zur Konfirmation, zu Weihnachten und zu meinen Geburtstagen gekriegt habe, habe ich auf die „hohe Kante“ gelegt. Allein damit könnte ich schon die Studiengebühren für die ersten drei Jahre bezahlen.

Und wenn mir doch tatsächlich das Geld ausgehen sollte, Oma und Opa wären sicher dazu bereit, mir unter die Arme zu greifen. Schließlich bin ich ihr einziger Enkel und werde eh irgendwann mal alles erben.

Sie stecken mir ja eh schon immer den einen oder anderen Schein zu, wenn ich mit ihnen unterwegs bin oder sie uns mal besuchen kommen. Aber davon darf meine Mutter nichts wissen. Denn deren Verhältnis hat sich auch nach Papas Tod nicht wesentlich verbessert.

Und Mutter würde mich eher in eine Anstalt einweisen, als mich finanziell zu unterstützen.

Als ich an Lucas denke, kommt ein weiteres, jedoch trauriges Seufzen über meine Lippen.

Die lange Zeit, die wir schon zusammen verbracht haben.

Ein kleines Lächeln huscht über mein Gesicht, als ich mich an den kleinen, blond gelockten Engel erinnere, der mit seinem Teddy auf dem Spielplatz stand.

Den er mir überlassen hat, als es mir schlecht ging. Seinen Bubu.

Und später wurde Lucas mein Bubu.

Mein Teddy, an den ich mich anlehnen konnte.

Und dann, vor gut einem halben Jahr habe ich gemerkt, dass Lucas mehr für mich ist. Wann immer ich mit ihm zusammen bin, und das ist ja eigentlich fast immer, fühle ich mich einfach nur wohl.

Und wenn er mal nicht da ist, dann ist da dieses leere Gefühl in mir.

Genau wie jetzt.

Am liebsten würde ich zu ihm laufen und - und damit unsere Freundschaft kaputt machen!

Grade als Benny wieder in schmerzlicher Sehnsucht an Lucas denkt, klingelt es an der Tür. Doch da er keinen Besuch erwartet, denn mit Lucas rechnet er nach der Aktion von vorhin nicht, bleibt er auf dem Bett liegen. Und da es auch kein zweites Mal klingelt, weiß er, dass seine Mutter die Tür geöffnet hat.

Umso erstaunter ist er, als es kurz darauf an die Tür klopft.

Lucas

Ziemlich verunsichert stehe ich vor Bennys Tür und bin mir gar nicht sicher, ob er mich überhaupt rein lässt. Ich habe den ganzen Weg nach Hause darüber nachgedacht, was wohl in ihn gefahren ist. Wenn er ein Mädchen wäre, dann würde ich ja sagen, er hat seine Tage.

Aber so was gibt es bei einem Mann ja nicht, oder?

Als ich bei unserer Wohnung angekommen bin, da hab ich meinen Vater und Lisa schon von draußen lachen gehört. Da stand mein Entschluss ganz plötzlich fest. Schnell und vor allen Dingen ganz leise stelle ich meine Tasche in den Flur, hole aus meinem Zimmer noch mein Geld und bin genauso zackig wieder aus der Wohnung verschwunden, wie ich gekommen bin. Denn auf eine Konfrontation mit meinem Vater habe ich jetzt absolut keinen Bock.

Auf dem Weg zu den Webers hole ich noch unsere Lieblingspizza von unserem Lieblingspizzabäcker. Vielleicht ist er dann ja wieder gut mit mir. Obwohl ich mir eigentlich keiner Schuld bewusst bin.

Denn in Gedanken bin ich noch einmal alles durchgegangen.

Ich hab Training gehabt, Benny hat mich abgeholt und wir haben unsere Späße gemacht.

Wo dann das berühmte Haar in der Suppe war, weiß ich nicht.

Aber vielleicht klärt mein Freund mich ja bei der Pizza darüber auf.

Zaghaft klopfe ich an die Tür und warte auf ein Zeichen.

Benny

„Herein.“

Doch statt einer Person erscheint erst einmal ein großer Pizzakarton in dem sich öffnenden Eingang. Schmunzelnd betrachte ich, wie sich der Karton immer weiter ins Zimmer schiebt, gefolgt von einem paar ausgestreckter, sonnengebräunter Arme.

Ganz vorsichtig lugt ein blond gelockter Kopf hinterher und große Augen sehen fragend zu meinem Bett hinüber.

„Hallo?“

„Hey.“

„Darf ich?“

„Na komm schon rein, du Spinner“, lache ich und kann gar nicht so schnell zur Seite rücken, wie er auf mein Bett springt. Die Pizza hat er vorher noch schnell auf den Tisch geschmissen.

So kommt es, wie es kommen muss. Er landet mit Karacho halb auf mir und vergräbt sein Gesicht in meiner Halsbeuge. Automatisch nehme ich ihn in den Arm.

„Ich hab dich vermisst“, flüstert Lucas an meinen Hals und sofort bildet sich bei mir eine wohlige Gänsehaut. Ich ziehe ihn noch etwas fester an mich.

„Du spinnst, Kleiner, wir haben uns doch vor gut einer Stunde erst gesehen“, lache ich, „außerdem siehst du mich doch Nachts auch nicht. Und ebenso nicht, wenn wir in der Schule sind.“

„Hast ja recht. Aber wir sind noch nie so auseinander gegangen, wie vorhin. Du wolltest mich nicht sehen oder bei dir haben. Das hat ganz schön wehgetan. Ist denn jetzt wieder alles in Ordnung?“, fragt Lucas vorsichtig nach, hebt seinen Kopf und sieht mich fast bittend an.

Gedankenverloren streichele ich ihm durch die blonden Locken. „Alles wieder gut, Lucas“, erwidere ich leise und in meiner Stimme schwingt Trauer und Sehnsucht mit.

„Benny?“

„Hm?“

„Was ist los mit dir?“

„Wieso? Was soll sein?“

„Ich weiß es nicht, sag du es mir! Du bist heute so komisch. Erst auf dem Sportplatz, dann gehst du nicht an dein Handy, wenn ich dich anrufe. Und jetzt hier …“

„Es ist alles gut, wirklich. Du brauchst dir keine Sorgen machen“, meine ich und drehe eine der vielen Locken um meinen Finger und sehe wie immer fasziniert zu, wie die lang gezogenen Haare wieder in ihre Form zurück springen.

Lucas

„Gut, wenn du meinst“, murmele ich und belasse es dabei. Glauben tue ich ihm allerdings nicht. Irgendetwas stimmt mit Benny nicht. Aber wenn ich eins gelernt habe in dem Umgang mit dem Braunhaarigen, dann ist es die Tatsache, dass ich ihn nicht bedrängen sollte. Denn wenn ich nur noch einmal fragen würde, dann würde er dicht machen und gar nichts mehr sagen. So warte ich lieber. Ich weiß nämlich ganz genau, dass er ganz von sich aus anfängt zu erzählen. Und es dauert auch nicht lange und er beginnt zu erzählen.

„Ich hatte vorhin Stress mit meiner Mutter.“

„Aha. Du warst aber vorher auf dem Sportplatz und wolltest mich abholen, richtig?“

Benny

„Jaaa“, meine ich ziemlich lang gezogen und fühle mich ein wenig in die Ecke gedrängt. Doch nach kurzem Überlegen entscheide ich mich dazu, meinem besten Freund die ganze Wahrheit zu erzählen. Na ja, nicht ganz alles. Das kleine, aber doch ganz bedeutende Detail, dass ich in ihn verliebt bin, behalte ich doch lieber erst einmal für mich.

„Also gut“, fange ich etwas nervös an und lasse meine Finger unaufhörlich durch die blonden Locken von Lucas gleiten, „du hast es ja nicht anders gewollt. Als ich dich vorhin abgeholt hatte - ich hab mich da so auf einen schönen Abend gefreut. Schließlich ist heute Freitag und wir haben morgen keine Schule. Was bedeutet, lange aufbleiben und morgen bis in die Puppen schlafen. Vielleicht auf der Play Station zocken oder einen Film gucken. Dabei eine leckere Pizza verhaften.“

„Pizza habe ich mitgebracht. Sogar deine Lieblingspizza“, unterbricht Lucas mich und streckt sich etwas, kuschelt sich dabei allerdings noch dichter an mich ran. Irgendwie scheint er sich ziemlich wohl zu fühlen, denn ein zufriedenes Seufzen kommt über seine Lippen.

„Dir geht es gut was? Mach es dir ruhig bequem und benutze mich als dein Kuschelkissen“, necke ich ihn, „und das mit der Pizza ist ja wohl auch nicht so schwer. Salami mit Peperoni. Schließlich ist meine Lieblingspizza auch deine Lieblingspizza. Was hältst du davon, wenn wir sie erst einmal essen, bevor sie ganz kalt wird?“

„Können wir machen. Aber nicht vergessen, dass du mir noch etwas erzählen wolltest.“

„Ich schaff schon beides, essen und reden“, meine ich und schiebe Lucas sanft von mir. Sofort macht sich das Gefühl des Verlustes in mir breit. Und auch Lucas scheint von seiner „Abschiebung“ nicht sonderlich angetan zu sein.

„Hey, so kalt“, nuschelt er enttäuscht und ich muss kurz Auflachen. „Bin doch schon wieder da“, meine ich und setze mich mit dem Karton in der Hand wieder zu ihm aufs Bett. „Willst du so liegen bleiben oder was?“

„Wenn ja - würdest du mich füttern?“, fragt Lucas und grinst mich frech an.

„Für dich würde ich fast alles machen. Aber in meinem Bett wird kein Schweinkram gemacht. Also bring deinen sexy Körper in eine angemessene Position. Sonst kriegst du nichts von der Pizza ab.“

„Ui. Du findest mich sexy?“

„Hmm. Hat dir das noch nie jemand gesagt?“

„Nein.“

„Oh, ist aber so!“

Verwirrt krabbelt Lucas zu mir hoch und setzt sich neben mich. Greift nach dem Stück Pizza, das ich ihm entgegen halte.

„Komm her, Raubtierfütterung“, grinse ich ihn frech an. Der beginnt zu schmollen.

„Erst nennst du mich sexy und dann bin ich ein Raubtier. Kannst du dich nicht festlegen, wie du mich titulieren willst?“

„Aber klar doch. Was hältst du denn von „sexy Tiger“ oder „heißer Löwe“ oder aber „mein kuscheliger Brummbär““, lache ich und beiße genüsslich von meiner Pizza, sehe dabei meinen Freund abwartend an.

Der sitzt mit roten Wangen neben mir und schaut verlegen auf seine Hände. Meine Worte scheinen ihn ziemlich durcheinander gebracht zu haben.

Bevor er mir ausweichend antwortet, amtet er noch einmal tief durch. „Ist mir egal. Aber du wolltest mir doch noch etwas erzählen, also, schieß los.“

Ich schlucke meinen Bissen runter und warte einen kleinen Moment. „Gut, du willst mir also nicht antworten. Dann werde ich mal weiter machen. Wo waren wir noch stehen geblieben?“

„Bei Play Station und Pizza. Wobei wir mit dem einen fast fertig sind“, grinst Lucas mich jetzt an und schiebt sich das letzte Stück in den Mund.

„Genau. Der schöne Abend. Als ich dich vorhin abholen wollte - ne, ich war ja auch da“, ‚und habe dich heimlich beobachtet’ füge ich in Gedanken hinzu, „da habt ihr euch grade so „nette“ Schwulenwitze erzählt. Und das ist etwas – na ja, damit komme ich halt nicht so gut zurecht. Und hier zu Hause fing meine Mutter auch noch an zu nerven, von wegen Leben a la Waltons. Das hat mir dann den Rest gegeben.“

„Okay …“, kommt es ziemlich lang gezogen von Lucas, „und jetzt noch einmal ganz langsam zum Mitschreiben für Leute, die noch kein Abi haben. Also, wenn du meinst, dass Schwulenwitze nicht so dein Ding sind, okay? Aber du regst dich doch auch nicht über Türkenwitze oder so auf“, meint er und schaut mich fragend an.

„Das liegt vielleicht daran, dass ich kein Türke bin“, sage ich leise.

„Aber du bist doch auch nicht schwul“, meint Lucas und mir wird richtig schlecht bei seinen Worten. Und als er in mein wohl recht bleiches Gesicht sieht, durchzuckt ihn ein Gedankenblitz. „Du bist schwul, richtig?“

„Der Kandidat hat 100 Punkte. Und, willst du jetzt einen Preis?“, frage ich trotzig und erwidere seinen Blick.

„Nein“, flüstert Lucas mit verletzter Stimme und mir zieht sich das Herz zusammen, „aber wie wäre es mit Ehrlichkeit? Warum hast du mir denn nichts gesagt? Ich dachte, wir beide hätten keine Geheimnisse voreinander? Ich dachte, wir wären Freunde?“ In seiner Stimme kann ich hören, dass ich ihn wohl ziemlich verletzt hab und wie traurig er über meine Unehrlichkeit ist. Und das macht es nicht leichter für mich. Trotzdem versuche ich, es ihm zu erklären.

„Haben wir ja eigentlich auch nicht. Aber ich wusste nicht, wie ich es dir erklären sollte. Etwa ‚Hey mein Freund, ach, was ich dir noch sagen wollte - ich bin schwul und finde deinen Arsch unwahrscheinlich heiß!’? Ich wollte unsere Freundschaft nicht gefährden. Und das vorhin tat mir einfach nur weh“, ende ich leise, stehe auf und stelle mich an mein Zimmerfenster. Warte auf irgendeine Reaktion von Lucas.

Mit allem würde ich zurecht kommen. Mit Schreien, Brüllen, Beschimpfungen, Verletzungen, dem Zuschlagen der Tür. Nur diese Stille macht mich fast wahnsinnig.

Und dann durchbricht das Rascheln der Bettdecke, gefolgt von tapsenden Schritten auf dem Parkett, eben diese Stille. Mit einigem Abstand bleibt Lucas hinter mir stehen. Und eben diese Distanz schmerzt unglaublich. Alles in mir krampft sich zusammen und nur mit Mühe kann ich meine Tränen zurückhalten. Lucas scheint sich vor mir zu ekeln. Als er mich dann doch auf einmal anspricht, zucke ich erschrocken zusammen.

„Benny, ich wusste ja nicht - tut mir leid, wenn ich dich mit den Witzen verletzt hab. Ich konnte ja nicht wissen, dass du … wenn du … wenn du doch mal was gesagt hättest. Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll“, stammelt Lucas und ich kann im Fenster sehen, wie geschockt er aussieht und verzweifelt die Hände in die Luft wirft.

„Du brauchst nichts zu sagen, Lucas. Ich kann schon verstehen, dass du jetzt nichts mehr mit mir zu tun haben willst. Was willst du denn auch mit einer Schwuchtel als Freund. Bei jeder Berührung müsstest du ja Angst haben, dass ich über dich herfalle“, meine ich mit Verbitterung in der Stimme. „Geh bitte“, fordere ich ihn auf.

„Benny, nein … ich …“, versucht er sich zu erklären, wird allerdings sofort von mir unterbrochen,

„... hör auf, Lucas und geh einfach, okay. Ich möchte allein sein!“

Kapitel 3

Lucas

Geschlagen trete ich den Rücktritt an. An der Tür bleibe ich noch einmal stehen und werfe einen langen Blick auf meinen besten Freund. Warum hat er denn nie etwas gesagt? Ich komme mir so … hintergangen vor. Ich kann doch auch nicht hellsehen und wir haben uns doch bisher blind verstanden. Und ich hab nie auch nur in der kleinsten Weise gemerkt, dass er auf Männer steht. Ich meine, eigentlich sollte er doch mal irgendwelche Andeutungen machen. Aber nein, er hat sich doch auch mit Mädchen getroffen. Okay, wenn ich so recht überlege, dann eigentlich nur, wenn seine Mutter so was verabredet hat. Dann haben wir uns am nächsten Tag immer darüber lustig gemacht.

Wie doof die Tussis doch waren und wie sie versucht haben, ihn anzubaggern. Und egal welches Mädel da war, und einige von denen waren wirklich mehr als heiß, sie haben ihn alle kalt gelassen. Mit keiner hat er sich ein zweites Mal getroffen. Jetzt weiß ich auch warum.

Leise schließe ich die Tür und gehe langsam die Treppe runter. Normalerweise würde ich meinen Freund nicht alleine lassen. Aber das „Geh“ kam mit solch einem Nachdruck, dass ich mich jetzt doch auf den Heimweg mache. Kurz vor der Haustür werde ich von Bennys Mutter aufgehalten.

„Lucas, warte kurz. Ich muss was mit dir bereden.“

„Hallo, klar. Was gibt es denn?“

„Benny! Ich möchte, dass du dich von ihm fernhältst. Es geht nicht, dass ihr beiden immer aufeinander hockt. Also, lass ihn in Ruhe. Ich weiß, dass Benny dir das bestimmt nicht gesagt hat. Aber er ist da ganz sicher meiner Meinung.“

„Aber warum?“, frage ich sie. Nach der Offenbarung von Benny folgt nun der zweite Schock für mich.

„Weil mein Sohn in dem Alter ist, wo er endlich eine Frau kennenlernen sollte. Und da kann er keinen ewigen Schatten gebrauchen. Wenn du verstehst, was ich meine“, sagt sie kalt und will mich rigoros zum Ausgang schieben, als von oben Türen schlagen und ein Mark erschütternder Schrei von Benny zu hören ist. Ich mache auf dem Absatz kehrt und habe die Treppe schon fast erreicht, als seine Mutter mich am Arm festhält.

„Du wirst ganz bestimmt nicht zu Benny hochgehen“, schleudert sie mir entgegen.

„Und du wirst mich sicherlich nicht davon abhalten. Oder glaubst du, ich lasse meinen besten Freund jetzt alleine? Ganz bestimmt nicht“, fauche ich sie an, reiße mich von ihr los und sprinte die Treppe hoch, ohne auf ihr Gezeter zu achten. Vor seiner Tür bleibe ich stehen, hole tief Luft und trete dann, ohne zu klopfen, einfach ein.

Was ich da jedoch zu sehen kriege, lässt für einen kurzen Moment mein Herz still stehen.

Mein bester Freund, der Mensch, für den ich fast alles machen würde, kniet zusammen gekauert auf dem Fußboden und wippt mit dem Oberkörper vor und zurück. Stille Tränen laufen unaufhörlich über seine Wangen, die Hände hat er so fest in seine Haare gekrallt, dass ich fast befürchte, er reißt sie sich Büschelweise raus. Er hat noch nicht einmal bemerkt, dass ich wieder in seinem Zimmer bin.

Zögerlich gehe ich auf ihn zu und knie mich bedächtig neben ihn. Ich lege meine Hände auf Bennys und löse sie vorsichtig aus seinen Haaren. Behutsam halte ich die Hände fest und streiche mit meinen Fingern beruhigend immer wieder darüber.

Dies scheint der Moment zu sein, indem Benny registriert, dass er nicht mehr alleine ist.

„Lucas, Scheiße, was machst du denn hier?“, fragt er ziemlich verzweifelt und will sich meinen Händen entziehen, „ich hab doch gesagt, du sollst mich alleine lassen!“

„Und grade jetzt nicht bei dir sein? Es war schon ein Fehler, dass ich dich vorhin alleine gelassen hab. Aber wenn du lieber deine Mutter hier haben willst …“, sage ich leise und erhalte ein heftiges Kopfschütteln. „Bloß das nicht. Aber ich will auch nicht, dass du mich so siehst“, flüstert er und senkt seinen Blick auf unsere verschlungenen Hände.

„Dann …“, erwidere ich mit einem Lächeln auf den Lippen, „… dann mach ich einfach die Augen zu und denke, dass wir beide gleich aufstehen, Play Station spielen, reden und einen gemütlichen Abend haben werden. Was meinst du, wollen wir uns wieder aufs Bett setzen? Ist sicherlich bequemer als auf dem harten Boden hier.“

„Warum machst du das?“

„Was denn? Hier bei dir sitzen? Mit dir reden? Deine Hände halten?“

Stumm nickt Benny mit dem Kopf.

„Weil du mein Freund bist und ich dich sehr gerne habe. Außerdem würdest du für mich genau das gleiche machen.“

„Aber … aber ich hab dir doch gesagt, dass ich schwul bin. Und du bist trotzdem noch hier neben mir und hältst meine Hand.“

„Warum auch nicht? Du hast doch schließlich keine ansteckenden Krankheiten oder so. Was ist schon dabei? Dann gefallen dir eben Männer. Na und!“

Ein zaghaftes Lächeln huscht über Bennys Gesicht. Von Lucas jedoch ungesehen, weil der tatsächlich die Augen geschlossen hält. Sanft ist der Blick, den er über den Blonden gleiten lässt und seine eigenen Hände entkrampfen sich wieder. Er ist sich unschlüssig, ob er sie immer noch in denen von Lucas liegenlassen soll und versucht sie wegzuziehen. Aber sie werden festgehalten und als Benny in Lucas’ Gesicht sieht, ruhen dessen, nun geöffneten, Augen auf ihn?

„Geht es dir wieder besser?“

„Hmm. Und danke, dass du zurückgekommen bist.“

„Kein Ding.“

„Und“, grinst Benny mich jetzt schon wieder etwas gelöster an, „immer noch Lust, mit mir ins Bett zu gehen?“

Frech grinse ich zurück. „Mit dir doch immer, Schönster.“ Und keck fügeich hinzu, „könnte mir gar nichts Schöneres vorstellen - Schätzchen!“

Lachend stehen wir auf und werfen uns fast gleichzeitig aufs Bett.

„Ich hab dich vorhin mit meiner Mutter reden hören.“

„Deshalb das Ganze?“

„Hmm, als ich gehört habe, was sie zu dir gesagt hat, da - ich weiß auch nicht. Ich will dich nicht verlieren, Lucas. Du bist die wichtigste Person in meinem Leben und ich könnte es nicht ertragen, wenn du auf einmal nicht mehr für mich da wärst.“

„Ach Benny, Süßer. Deine Sorgen sind völlig unbegründet. Wenn du mich loswerden willst, dann musst du schon andere Geschütze auffahren. Auch eine tobende Mutter kann mich nicht von dir fernhalten.“

„Nicht ich will dich loswerden, sondern sie. Sie meint, du würdest mich „verschwulen““.

Ich überlege einen Moment, bevor ich weiter rede. „Weißt du, deine Mutter und mein Vater könnten sich echt zusammentun. Wenn ich zu Hause erzählen würde, dass ich schwul wäre … meine Mutter würde das sicher ganz relaxt sehen und mein Erzeuger … der würde mich sicherlich hochkant aus der Wohnung schmeißen!“

Jetzt fängt Benny an zu grinsen. „Dann machen wir beide eine WG auf.“

„Oh ja, Schnucki“, mache ich auf total tuntig und werfe mit gespreiztem kleinen Finger die Hand in die Luft, „dann können wir immer unsere Schuhe tauschen. Deine roten Pumps passen sicherlich ausgezeichnet zu meinem schwarzen Handtäschchen! Hei, dei, dei …“

Lachend halten wir uns die Bäuche. Es dauert eine ganze Weile, bis wir uns wieder beruhigt haben. Gegenseitig wischen wir uns die Tränen aus dem Gesicht. Aber diesmal sind es gute Tränen.

„Weißt du“, meint Benny, nun wieder etwas ernster werdend, „jetzt lachen wir beide darüber. Aber wenn ich mich hier im Dorf outen würde, dann … dann würden sie mich teeren und federn.“

„Siehst du das nicht ein bisschen zu pessimistisch? Ich meine, klar sind die Leute hier ein bisschen schräg drauf und alles, was nicht der Norm entspricht, ist für sie nicht richtig. Aber sie werden dir schon nichts tun.“

„Die würden hier einen „Anti-Schwulen-Verein“ gründen und mit Spruchbändern durchs Dorf rennen und rufen „brennen soll die schwule Sau!“. Und meine Mutter würde als Fackelträgerin fungieren. Ich glaube, sie würde mit ihren Beschimpfungen nicht einmal vor mir Halt machen.“

„Und was willst du machen? Dich und deine Gefühle verstecken? Meinst du nicht, wenn du mit ihr reden würdest, dann würde sie dich verstehen?“

„Nein, das muss ich mir echt nicht antun. Selbst wenn sie auf einmal einen auf verständnisvoll machen würde, weiß ich genau, dass es nicht ehrlich wäre. Ich versuche jetzt erst einmal ein perfektes Abi zu bauen und dann mal sehen, welche Uni mich haben will.“

„Die werden dich doch alle mit Kusshand nehmen, Benny. Weißt du denn schon, wo du hin willst?“, frage ich neugierig aber auch ein wenig ängstlich, weil ich ganz genau weiß, dass die Möglichkeit besteht, dass Benny weit weg geht. Weg von mir.

„Ich hab keine Ahnung, wohin es mich verschlagen wird. Aber noch ist es ja nicht ganz soweit und dann fängt das Semester ja auch erst im Oktober wieder an. Bis dahin haben wir noch einen langen Sommer vor uns“, grinst er und schubst mich kräftig in die Seite. Ich schubse zurück und im Nu entsteht eine heftige Rangelei auf dem Bett. Kichernd und kitzelnd geht es hin und her und auf einmal liege ich auf Benny, blicke in sein, vom Toben, gerötetes Gesicht.

Ruhelos wandert mein Blick zwischen seinen Augen und seinen vollen Lippen. Ganz langsam senke ich meinen Kopf und hauche auf eben diese verführerischen Lippen einen sanften Kuss.

Über mich selbst erschrocken drehe ich meinen Kopf und dann auch mich selbst von Benny weg. Bleibe mit dem Rücken zu ihm liegen. „Tut mir leid“, flüstere ich leise und versuche, das Kribbeln in meinen Lippen zu beseitigen, indem ich sie immer wieder fest zusammen presse. Warte dabei auf ein Zeichen von Benny. Doch als nach Minuten immer noch keine Reaktion von ihm kommt, drehe ich mich wieder um. Nur um zu sehen, wie er immer noch auf dem Rücken liegt, die Hände verkrampft und erneut stille Tränen über seine Wangen laufen. Schuldbewusst wische ich die feuchten Spuren weg. „Es tut mir leid, Benny, ich wollte das nicht. Ich - ich werde jetzt lieber nach Hause gehen. Ich, Benny - bitte sag doch etwas“, flüstere ich flehend und keuche im nächsten Moment erschrocken auf, als meine Hand festgehalten wird.

„Würdest du heute Nacht hier bleiben und mich im Arm halten? Mir zeigen, dass ich es trotzdem wert bin, gemocht zu werden?“, fragt er mit krächzender Stimme und schaut mich aus geröteten Augen flehend an.

„Ich hab doch noch nie hier geschlafen. Im Zelt, draußen auf dem Rasen, ja. Aber in deinem Zimmer, in deinem Bett. Ich hab doch auch gar nichts zum Übernachten hier. Außerdem, was wird deine Mutter dazu sagen?“

„Wenn das dein einziges Problem ist. Der Schrank ist auf der einen Seite voller Boxer und T-Shirts. Bedien dich. Und meine Mutter ist mir momentan ziemlich egal. Ich bin 19 Jahre alt. Wird Zeit, dass ich meine eigenen Entscheidungen treffe. Was meinst du?“