Pink Christmas  2 - A. Bauer - E-Book

Pink Christmas 2 E-Book

A. Bauer

2,0

Beschreibung

Nach dem großen Erfolg unserer Weihnachtsgeschichten 2012 aus der schwulen Welt haben nun wieder einige Autoren des Himmelstürmer Verlags haben ihre ganz persönlichen Weihnachtsgeschichten geschrieben.Herausgekommen ist eine bunte Mischung, voller Romantik, Erotik, und auch mit durchaus kritischen Betrachtungen.Das ideale Weihnachtsgeschenk und die richtige Lektüre für unter dem Weihnachtsbaum.

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Seitenzahl: 398

Veröffentlichungsjahr: 2012

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PINK Christmas 2

Etwas andere Weihnachtsgeschichten

A. Bauer

Alexandros Chakiris

Andy Claus

J. Dankert

Marc Förster

M. Hart

Sascha Leßmann

A. Leuning

S. Pavlovic

Justin C. Skylark

Kai Steiner

S. Urban

Himmelstürmer Verlag, part of Production House GmbH

Kirchenweg 12, 20099 Hamburg,

www.himmelstuermer.de

E-mail: [email protected]

Originalausgabe, November 2012

Rechtschreibung nach Duden, 24. Auflage

Coverfoto: © profun.media

Umschlaggestaltung: Olaf Welling, Hamburg

Das Model auf dem Coverfoto steht in keinen Zusammenhang mit dem Inhalt des Buches und der Inhalt des Buches sagt nichts über die sexuelle Orientierung des Models aus. 

Alle Charaktere, Orte und Handlungen sind frei erfunden und Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind rein zufällig

ISNB Print 978-3-86361-184-2

ISBN ePub 978-3-86361-185-9

Inhalt

S. Pavlovic Das beste Geschenk

A. BauerMaltes Weihnachtsengel

A. Leuning Soviel Heimlichkeit

Alexandros Chakiris  Bestellt und auch abgeholt!

J. DankertHeiligabend

Andy Claus Ein Weihnachtsmärchen

Justin C. Skylark Der lebende Adventskalender

Kai Steiner Christsterne

Kai Steiner Der Zauberlehrling

M. HartMark Winter

S. Urban Verspielte Weihnachten

Marc Förster Weihnachtsengel küsst man nicht

Das beste Geschenk    S. Pavlovic

Die erste Weihnachtsfeier fühlt sich an wie ein Werbespot über glückliche Hausfrauen.

Vier brave Pärchen sitzen im flackernden Kerzenschein, picken sich Plätzchen vom Teller und knabbern die Schokolade von Dominosteinen. Der Glühwein hat dem Lachen der Mädchen bereits eine schrille Spitze hinzugefügt.

Peter ist geradezu euphorisch, als er Daniel die Tür aufmacht.

„Wow! Daniel! Mann! Frisch aus der Hauptstadt?“

„Heute Mittag angekommen.“

Daniel erwidert die unbeholfene Umarmung des anderen.

„Cool“, strahlt Peter. „Cool. Wie lange haben wir uns nicht gesehen? Drei, vier Monate?“

„Kommt hin. Es muss im September gewesen sein, bevor ich nach Berlin bin.“

Daniel zieht brav die Schuhe aus und lässt seine Jacke an der Garderobe, ehe er Peter ins Wohnzimmer folgt. Es ist Peters Wohnung, ein Zimmer, kleine Küche, kleines Bad, aber man merkt, dass Linda hier praktisch mit eingezogen ist. Anders sind die „Twilight“-Poster und die Herzchenkissen auf dem Bett nicht zu erklären. Ein kleiner künstlicher Tannenbaum blinkt auf dem Fensterbrett. Aus kleinen Boxen singt Robbie Williams, er würde dann wohl lieber Engel lieben.

„Hi“, sagt Daniel und lächelt in die Runde. Linda kennt er, die anderen sind ihm fremd.

„Lisa und Jochen“, stellt Peter seine Gäste vor. „Tobias und Carmen, und das sind Micha und Sabine. Das hier ist Daniel, ein alter Schulfreund, der jetzt in Berlin lebt.“

Daniel schüttelt Hände und erwidert Lächeln. Tobias ist hübsch, ein adretter Blonder mit Grübchen in den Wangen, einer dieser Typen, die erst richtig gut aussehen, wenn ihnen zehn Finger die Frisur zerstört und das Hemd aus der Hose gezerrt haben. Das Einzige, was an ihm abschreckt, ist die Frau an seiner Seite, die besitzergreifend ihre Hand auf seinen Oberschenkel gelegt hat. Bei diesen Fingernägeln will Daniel nichts riskieren, und außerdem hat er andere Pläne für diesen Abend.

Selbst wenn die mehr als vage sind.

Peter holt ihm einen Hocker aus der Küche, denn die Stühle sind besetzt, und bietet ihm Glühwein an. Daniel nimmt beides dankend und bläst über die heiße Tasse, während das Gespräch um ihn herumlangsam wieder in Gang kommt.

Carmen scheint von Lindas Seite in die Runde eingebracht worden zu sein, die beiden albern miteinander herum wie alte Freundinnen. Micha ist ein Arbeitskollege von Peter, und wie die anderen hinein passen, interessiert Daniel nicht wirklich. Er fragt sich, ob ein paar Monate Hauptstadtluft tatsächlich schon gereicht haben, um ihm sein altes Leben spießig erscheinen zu lassen.

Vielleicht wird man so, wenn man aus der Schule raus ist. Irgendwo hinter einer Ecke lauert der Ernst des Lebens, zerrt einen in eine Adventskranz-Idylle und geelt einem die Haare nach hinten, sodass man nur noch versuchen kann, sich an der eigenen Krawatte zu erhängen, um zu entkommen.

„Und was machst du so beruflich?“, erkundigt sich Lisa anteilnehmend.

„Ich bin Praktikant im Berliner Zoo. Im Aquarium, um genau zu sein.“

„Aha ...“ Lisa macht runde Augen. „Und … was machst du da so genau?“

„Ich kümmere mich um die Bewohner“, erklärt Daniel. „Süßwasserabteilung, im Augenblick. Ich lerne, wie die Technik funktioniert, ich füttere und mache Scheiben sauber. Solche Sachen. Seit ein paar Wochen habe ich eine Nachmittagsführung übernommen.“

„Der Berliner Zoo ist doch manchmal im Fernsehen“, wirft Jochen ein. „In so Zoo-Sendungen. Wo man sieht, was die Pfleger da machen.“

„Nicht, seit ich dort arbeite“, sagt Daniel und stellt fest, dass Lisas Interesse schnell wieder erlischt, als sie begreift, dass sie in Daniel keinen angesagten Tierpfleger-Fernsehstar getroffen hat. Er nippt an seinem Glühwein, der viel zu heiß ist.

Man stelle sich die Szene vor, nachgestellt mit schwulen Pärchen. Daniel verkneift sich ein Grinsen. Wenn er mal spießig werden will, muss er sich etwas anderes ausdenken.

„Und?“, fragt Peter ihn. „Geht’s dir gut in Berlin?“

„Absolut.“

„Kein Heimweh?“

„Manchmal.“

Er denkt nicht gerne an die Abende im November, in denen es um vier schon dunkel war in seiner engen Hinterhofwohnung. An die langen Wochenenden, an endlose Telefonate mit zu Hause, an die Schwierigkeiten, die er anfangs mit Kohleofen und Wasserboilern hatte. Seine Mutter weiß bis heute nicht, dass er mit Kohlen heizt. Sie würde denken, dass er im ersten Winter erfrieren muss. Aber eine schön renovierte West-Wohnung ist vom schmalen Praktikantengehalt einfach nicht drin.

Dann hat er zwei Straßen von seiner Wohnung entfernt ein Jugendzentrum entdeckt, das eine schwul-lesbische Jugendgruppe betreibt, und ab da ging es aufwärts.

„Freund?“, fragt Peter. „Freundin?“

„Du gibst die Hoffnung nicht auf, was?“, sagt Daniel, und Peter lächelt verschämt.

„Er heißt Erik“, sagt Daniel. „Er ist … ganz interessant. Mal sehen, was draus wird.“

„Berlin ist toll, oder?“, wechselt Peter wenig subtil das Thema. „Mal sehen, vielleicht komm ich dich im nächsten Jahr mal besuchen. Dann können wir einen drauf machen.“

„Gerne“, sagt Daniel. „Jederzeit.“

Tatsache ist, dass ihn außer Lilli noch niemand besucht hat. Man zieht weg, und die Leute streichen einen aus ihrem Leben und machen einfach weiter. Sogar die Mails werden schon seltener.

Daniel leert seinen Becher nur zur Hälfte und verabschiedet sich dann aus der Runde.

„Schon?“, sagt Peter enttäuscht.

„Ich will Lilli überraschen“, erklärt Daniel und bindet seine Schuhe zu. „Sie weiß nicht, dass ich in der Stadt bin. Hast du ... etwas gehört? Von den anderen?“

Von dem anderen. Von dem einen.

„Nö. Der Kontakt ist ziemlich abgerissen, seit du weg bist. Ich hatte ja auch vorher mit der ganze Truppe nicht so viel zu tun.“

„Na, macht nichts. Ich werde sie schon auftreiben.“

Die zweite Weihnachtsfeier ist kalt.

Ein Besuch bei Lilli erbrachte nichts als die vage Information, sie sei mit ein paar Leuten in der Stadt, um ein wenig zu feiern. Die Stadt ist voller Kneipen, die Musik machen, aber heute ist der dreiundzwanzigste Dezember, und so ist sie vielleicht mit ihren Freunden noch ein letztes Mal auf dem Weihnachtsmarkt, bevor der seine Tore schließt. Lilli liebt den Weihnachtsmarkt. Der Duft und das Glitzer und Kling-Glöckchen flashen sie, und in diesem Jahr liegt sogar Schnee auf den Dächern.

In der Mitte des Marktes steht wie jedes Jahr der riesige Weihnachtsbaum, an dem eine ganze Wolke winziger Lichtlein flimmert. Den Baum selbst sieht man kaum gegen den Nachthimmel, und so sehen die Lichter aus wie im Fall eingefrorenes Feuerwerk.

Daniel gibt den Versuch auf, sein Fahrrad an einem Laternenpfahl anzuschließen: Seine Hände sind so kalt, dass sie ihm nicht gehorchen.Lilli sollte besser hier sein, er will sich schließlich nicht umsonst den Tod holen.

Vorsichtig schiebt er sich in die Budengasse, wo sich die Menschen drängen. Kerzen, Glitzerzeug, Bratwürste und Punsch, Keksförmchen, Lebkuchen und noch mehr Glitzerzeug, Socken, gebrannte Mandeln, Holzspielzeug, und warum nochmal heißt das „Stille Nacht“? Schmutziger Schnee knirscht unter seinen Stiefeln, und dann kommt aus dem Nichts eine federzarte Berührung auf seiner Wange, und dann noch eine, kleine Schneeflocken, und Daniel bleibt stehen und schaut nach oben.

Daheim. Es ist Weihnachten, ich bin daheim, und es schneit.

Fehlt nur noch …

Er könnte zum Romantiker werden, allerdings muss er dazu vorher Lilli finden.

Er setzt sich wieder in Bewegung und beginnt systematisch, die Glühweinbuden abzusuchen. Zunächst hat er nicht viel Erfolg. Die halbe Stadt ballt sich hier in den schmalen Budengassen. Daniel überlegt schon, die Überraschung platzen zu lassen und Lilli einfach anzurufen, als das Glück ihm hilft und ihm Katie über den Weg schickt, die Bassistin von Spellbound. Er erkennt sie zuerst kaum, denn sie hat eine Strickmütze mit baumelnden Quasten über den blonden Stachelhaaren und einen roten Zuckerapfel am Stiel in der Hand. Weihnachten hat sie offenbar fest im Griff.

„Daniel“, sagte sie überrascht. „Hi! Was machst du hier? Wie geht es dir?“

„Danke, gut. Ich bin auf der Suche nach Lilli. Weißt du, ob sie hier ist?“

„Vorhin war sie es noch, hinten beim Karussell, mit ein paar     anderen. Sag mal, dich sieht man ja gar nicht mehr. Bist du zum Studium weg?“

„In Berlin, aber zum Arbeiten, nicht zum Studieren. Was macht denn die Band?“

Katie schüttelt trübe den Kopf, dass die Troddeln an ihrer Mütze schaukeln.

„Ist nicht mehr das, was sie mal war, seit Mick weg ist. Wir treffen uns noch manchmal und spielen ein bisschen, aber eher wegen der alten Zeiten.“

Katie erzählt von ihrem neuen Musik-Projekt und einem ausstehenden Plattenvertrag. Daniel nickt und hat von ihrer ganzen Erzählung nur ein einziges Wort gehört.

Seit Monaten gibt es den Namen nur in seinem Kopf. Die Person nur in seinen Träumen. Manchmal eine SMS mit kryptischen Songtexten, einmal ein Telefonat mit viel Schweigen und In-den-Hörer-atmen. Ansonsten das konsequente und bisher erfolglose Bemühen, unter den hübschen Söhnen anderer Mütter einen zu finden, der genauso wunderbar ist.

„Hast du noch Kontakt … zu … Mick? Weißt du, wo er heute Abend ist?“

Jetzt spricht er ihn aus, den Namen, und erinnert sich daran, dass es eine reale Person hinter dem Namen gibt, nicht nur einen schönen, schmerzhaften Wunschtraum.

„Keine Ahnung“, sagt Katie und verzieht das Gesicht. „Interessiert mich auch nicht, so wie der die Brocken hingeschmissen hat, nach dem letzten großen Auftritt. Ich meine, das macht man doch einfach nicht. Von heute auf morgen. Hätten wir noch einen Auftritt gehabt, er hätte uns glatt absaufen lassen.“

Daniel nickt. Er weiß, dass Mick eine Art hat, die Brocken hinzuschmeißen. Man sollte ihm nicht nachlaufen. Man sollte sich nicht wünschen, ihn hier zu treffen statt Lilli.

Man sollte aus seinen Fehlern lernen.

„Neben dem Karussell, der Glühweinstand“, sagt Katie. „Da hab ich Lilli zuletzt gesehen. Mit ein paar anderen Leuten aus eurem Jahrgang.“

„Danke“, sagt Daniel und schiebt sich an Katie vorbei. „Viel Spaß noch.“

„Dir auch.“

Lilli und Jo sind umgeben von einem Pulk ehemaliger Mitschüler. Daniel entdeckt zuerst Jo, der die Umstehenden um Kopfeslänge überragt. Jo sieht ihn, macht ein überraschtes Gesicht und beginnt dann zu strahlen. Dann steckt Lilli den Kopf aus dem Pulk, kreischt auf und fliegt Daniel an den Hals.

Sie umarmen sich so fest, dass es weh tut, und Lilli lacht und quietscht und plappert durcheinander und tut alles beinahe gleichzeitig.

„Überraschung gelungen?“, fragt Daniel lächelnd, als sie ihn zu Wort kommen lässt.

„Absolut“, sagt sie und hält ihn immer noch an den Schultern, als befürchte sie, er könne sich in Luft auflösen. „Meine Güte, Herr Hauptstadtbewohner. Was verschlägt dich in die endlose Weite der Provinz? Keine guten Partys in Berlin?“

„Doch. Bestimmt. Aber du bist ja nicht dort. Deshalb muss ich mich hier diesem Glitzerwahnsinn aussetzen.“

Sie lacht und küsst ihn schmatzend auf die Wange, und dann gesellt Jo sich dazu und zerdrückt Daniels Hand in seiner sportgestählten Pranke.

Es ist zwanzig nach neun. Daniel schwört sich, vor zehn nicht nach Mick zu fragen.

Er lässt sich einen Glühwein holen. Lilli weicht nicht von seiner Seite und befragt ihn systematisch nach Neuigkeiten aus allen Lebensbereichen. Bereitwillig erzählt er von seinen täglichen Routinen, von der beeindruckenden Technik hinter der Fassade der Wasserwelten, von den Ersatz-Generatoren, die das gesamte Aquarienhaus im Notfall autonom betreiben können wie einen OP, von den Besuchern und der Kinder-Führung, die ihm seit einiger Zeit übertragen ist.

„Mein Chef hat mich gefragt, ob ich nicht einen Tauchschein machen wolle“, berichtet er. „Es muss immer mal jemand in die großen Becken, zum Scheibenreinigen, oder wenn etwas mit den Korallen ist.“

„Und?“

„Ich weiß nicht. Ich habe irgendwie ein blödes Gefühl bei dem Gedanken … mit dem Asthma und allem.“

„Geh doch zum Arzt und lass das mal abklären. Ich habe noch nie gehört, dass Tauchen für Asthmatiker verboten ist.“

„Mal sehen. Immerhin, so eine Anfrage lässt doch vermuten, dass er mich gerne behalten würde, wenn mein Vertrag endet, oder?“

„Unbedingt. Würdest du denn bleiben wollen?“

Daniel spürt das Lächeln, das in letzter Zeit ein häufiger Gast in seinen Mundwinkeln ist.

„Ich denke schon. Berlin ist … sagen wir, ich werde langsam warm. Es ist alles … offener. Man kann Arm in Arm gehen, oder in der U-Bahn Händchen halten, und niemand gafft oder stört sich dran. Ich glaube, hier in der Provinz möchte ich nicht auf Dauer schwul sein.“

„Hast du denn jemanden zum Händchenhalten?“

„Vielleicht. Womöglich. Und du? Was macht das Studium?“

Lilli zieht eine Grimasse.

„Stress. Mann, ich dachte, Abitur wäre stressig gewesen. Ich hatte ja keine Ahnung.“

Daniel nickt Anteil nehmend und lauscht Lillis Bericht. Medizin im ersten Semester, dazu das neue Leben weg von zu Hause, die Umstellung auf eine Wochenendbeziehung: sie ist vollauf beschäftigt, und er rechnet es ihr hoch an, dass sie ihn schon zweimal besucht hat, seit er in Berlin ist.

Dann kommt aus den Lautsprechern  „Let there be Love“ von Oasis. Es ist drei Minuten vor zehn.

Daniel kippt den Rest aus seiner ungefähr dritten Tasse Glühwein und knüllt eine fleckige Papierserviette zu einem winzigen Ball.

„Ach, Mensch.“ Vorsichtig berührt Lilli Daniels Schulter. „Immer noch so schlimm?“

„Nicht schlimm. Nur … immer noch. Mann. Musiker sind Mist. Wenn es mal vorbei ist, kann man die Hälfte aller Lieder nicht mehr hören.“

„Er ist in der Stadt. Wusstest du das?“

„Ich hatte es gehofft. Wider besseres Wissen.“

„Er ist auf Patricks Party eingeladen. Jo und ich wollen später vielleicht noch dort vorbei schauen. Ich weiß allerdings nicht, ob er dort auch wirklich auftaucht. Manche Bandmitglieder sind nicht so gut auf ihn zu sprechen.“

„Ich weiß. Ich habe vorhin Katie getroffen.“

Er spürt Lillis Blick, ohne hinzusehen.

„Du wirst es nicht lassen, wenn ich dir sage, dass du es lassen sollst“, stellt sie fest.

„Nein. Ich fürchte nicht.“

„Lass es.“

„Ich will ja gar nicht … ich will doch … nur mal gucken. Hallo sagen. Ich meine, immerhin waren wir mehr als ein Jahr zusammen.“

„Na ja. Ihr wart zwanzigmal zusammen und wieder auseinander, und das Drama hat mehr als ein Jahr gedauert.“

„Du übertreibst.“

„Aber nicht viel. Lass es, Daniel. Er macht dich unglücklich, hast du das nicht gelernt?“

„Doch.“ Er dreht den Kopf zu ihr und sieht sie an.

„Mit ihm unglücklich zu sein … hat eine ganz eigene Qualität. Ich denke manchmal, ich bin lieber mit ihm unglücklich, als ohne ihn glücklich.“

„Verliebter Trottel.“

„Ja.“

Es ist ganz leicht, es zuzugeben. Es ist schließlich die Wahrheit.

„Dann geh“, sagt Lilli. „Wenn du mich morgen nicht anrufst, ziehe ich den Grundkurs Chirurgie ein paar Semester vor und mache ein Mädchen aus dir.“

„Das ist nur fair.“

Minuten später sitzt er auf dem Fahrrad und strampelt durch die dunkle Stadt, mit Füßen wie Eisklumpen und einem goldenen Flirren irgendwo in der Herzgegend.

Die dritte Weihnachtsfeier ist vor allem laut. Patrick öffnet die Tür, und an ihm vorbei brandet ein Mix aus dröhnenden Bässen, Gesprächsfetzen und schrillem Mädchengelächter, das verrät, dass hier nicht mit Kinderpunsch gefeiert wird.

„Daniel“, sagt er erstaunt. „Mann, dich habe ich ja ewig nicht gesehen.“

Daniel beschließt, die Sache abzukürzen. Drei Weihnachtsfeiern, bevor der Familienteil des Festes überhaupt angefangen hat, und das ihm, dem erklärten Weihnachts-Skeptiker!

„Ich bin wegen Mick hier“, sagt er ohne Umschweife. „Entschuldige, Patrick. Ich weiß, ich bin nicht eingeladen. Könntest du mich trotzdem reinlassen? Wenn er hier ist, meine ich.“

„Klar“, sagt Patrick und hält Daniel die Tür auf. „Er ist hier. Hab ihn allerdings eine Weile nicht gesehen. Er ist hoffentlich nicht schon wieder weg.“

Das goldene Flirren wandelt sich in ein Feuerwerk. Lauter kleine goldene Explosionen, die ihm den Atem rauben. Er ist nicht nur ein Schemen, der Daniels Atem stoppen lässt, wenn irgendwo auf der Straße jemand dunkle Locken hat. Er ist sogar mehr als eine Erinnerung, über die er mit Lilli sprechen kann. Er ist Fleisch und Blut, Atem und Lippen und lange geschwungene Wimpern und Grübchen am Kinn und Narben auf den Innenseiten der Arme, lange Beine in zerrissenen Jeans und bockige Protesthaltung, er ist das beste Weihnachtsgeschenk, das Daniel sich wünschen kann, und wenn drei Weihnachtsfeiern nötig sind, um es zu bekommen, dann wird Daniel die Ärmel hochkrempeln und sich zu ihm durchfeiern.

Er ist irgendwo hier. Daniel muss ihn nur finden.

Daniel schwimmt durch diese Stille Nacht wie ein Taucher, der dringend zur Wasseroberfläche muss. Bekannte Gesichter aus Schulzeiten tauchen um ihn herum auf. Er lächelt automatisch und grüßt, aber er nimmt sich nicht mal die Zeit, um den Gesichtern Namen zuzuordnen. Seine Geduld ist aufgebraucht. Jede Sekunde ist kostbar.

Daniel sieht sich im Wohnzimmer um. Patricks Eltern haben schon den Baum aufgestellt, es ist ein weißes Plastikteil, das aussieht wie ein zugeklappter Regenschirm. Behängt ist er mit Federboas und rot-weiß geringelten Zuckerstöckchen, und Daniel muss grinsen, denn dieser Baum würde in jedes schwule Großstadtpärchen-Loft hervorragend hineinpassen.

Trotzdem gibt es hier keinen ausgeflippten Kleinstadt-Schwulen, der sich als Geschenk für Daniel bereit hält. Daniels Hals wird eng. Muss es Silvester werden, ehe er ihn zu fassen bekommt?

Vielleicht ist Daniel überhaupt nur deshalb nach Hause gekommen. Wegen einer vagen Hoffnung, einem goldenen Flirren, wegen einer Liebesgeschichte, die sich in einem Dreieinhalb-Minuten-Popsong erzählen lässt.

You look wonderful tonight, this love is real, don’t you leave me, wish you were here.

Die Gardine vor der Terrassentür bewegt sich sachte im Wind. Daniel steuert darauf zu, öffnet die Tür und tritt ins Freie.

Mick tanzt auf der Terrasse zu einer Musik, die nur er hört. Er trägt seine alten, zerrissenen Jeans und ein zerknittertes Annie-Lennox-T-Shirt. Er ist größer und dünner, als Daniel ihn in Erinnerung hatte. Auf seinen zerdrückten Locken sitzt schief ein rotes Weihnachtsmützchen. Er hat die Augen geschlossen und dreht sich um sich selbst, die Arme zur Seite ausgestreckt wie ein Kind, das Flugzeug spielt. Zwischen seinen Fingern baumelt eine Bierflasche. Ein unhörbarer Rhythmus steuert seine Bewegungen.

„Run away“, singt er. „Turn away, run away, turn away, run     away …“

Daniel rennt nicht weg. Er macht einen Schritt und berührt Mick an der Schulter. Mick hält inne und öffnet die Augen.

Sie sehen sich an. Dann pflückt Mick einen der kleinen Lautsprecher aus seinem Ohr und hält ihn Daniel hin. Daniel nimmt ihn entgegen und setzt ihn sich ins Ohr. Ihre Fingerspitzen berühren sich.

Die Musik ist von Synthesizern bestimmt, von einer Stimme, die sich nicht eindeutig einem Geschlecht zuordnen lässt, und von einem drängenden, zwingenden Rhythmus. Mick beginnt wieder, sich im Takt zu wiegen, und Daniel lässt sich anstecken. Sie tanzen dicht beieinander, weil das Kabel nicht viel Spielraum zulässt. Daniel schließt die Augen und spürt Mick, seine Gegenwart, riecht seinen Geruch, vermischt mit Bier und Rasierwasser.

Seine Haut steht in Flammen, und dann finden Micks Fingerspitzen seine Hände und hinterlassen feurige Spuren. Daniel fängt Micks Hände ein und hält sie fest. Die Bierflasche zerschellt auf den Fliesen. Mick tanzt sich näher. Sein Atem geht über Daniels Gesicht wie eine lang vermisste Liebkosung.

Micks Haut ist eiskalt. Daniel streift sich die Jacke ab und legt sie ihm um die Schultern. Micks Augen sind dunkel wie die Nacht.

„Run away“, flüstert er.

Daniel zieht ihn näher und küsst ihn.

Soundtrack:

Erste Weihnachtsfeier: Robbie Williams, Angels

Zweite Weihnachtsfeier: Oasis, Let there be Love

Dritte Weihnachtsfeier: Bronski Beat, Smalltown Boy

Auch von

S. Pavlovic   Fliegende Fische  264 Seiten

Das Leben, denkt Daniel manchmal, ist wie Autofahren bei Nacht, und die Scheinwerfer sind kaputt. Wie auch sonst ist es zu erklären, dass er so plötzlich mit Mick zusammen stößt?

Daniel ist siebzehn, kann Fische handzahm machen und träumt von einer Zukunft als Meeresbiologe. Mick hat einen kompletten Soundtrack für sein Leben, hasst sein Elternhaus und ist allgemein so angepasst wie eine Katze, die man gegen den Strich streichelt. Beide solo in einer Welt voller verliebter Pärchen, bilden sie zunächst eine Notgemeinschaft. Als sie anfangen, sich zu küssen, wird Daniel klar, dass er nicht länger auf das „richtige“ Mädchen warten muss.

Doch diese Erkenntnis steht nur am Anfang eines langen, turbulenten Sommers.

Maltes WeihnachtsengelA. Bauer

Seit fast sechs Wochen wohnte er jetzt schon hier in diesem kleinen Ort.

Und wie seit fast sechs Wochen fuhr er mit demselben Bus nach Hause. Immer zur selben Zeit. Er konnte es sich auch nicht leisten, diesen Bus zu verpassen. Schließlich war es der Letzte, der in diese abgeschiedene Gegend fuhr.

Sollte dies doch einmal passieren, müsste er sich ein Taxi nehmen, um überhaupt nach Hause zu gelangen.

Manchmal fragte er sich, warum er sich in diese Einöde hatte versetzen lassen. Aber wenn er so überlegte, dann wusste er die Antwort doch ganz genau.

Sieben Jahre lang hatte er schon in der Versicherungsagentur gearbeitet. Und eigentlich sehr erfolgreich. Auf jeden Fall sprach die gezahlte Provision diese Sprache. Dann wurde ihm ein neuer Abteilungsleiter vor die Nase gesetzt. Normalerweise hatte er keine Schwierigkeiten damit, sich auf neue Personen einzustellen. Wäre ja auch ziemlich schlecht in seinem Beruf. Denn schließlich arbeitete er ja als Versicherungsverkäufer. Zwar im Innendienst, aber er hatte ja auch mal kleinangefangen.

Sein neuer Chef allerdings machte ihm das Leben vom ersten Tag an schwer. Als er dann erfuhr, dass er, Simon Schneider, 32 Jahre alt, auch noch schwul war, da hatte er für alles seinen Sündenbock gefunden.

Egal, was in der Agentur passierte, Simon war schuld. Als die Rechner wegen eines technischen Defekts abgestürzt waren, bekam er die Schuld. Weil er angeblich nicht in der Lage war, den PC richtig zu bedienen. Und als im letzten Winter in der über der Agentur liegenden Wohnung ein Wasserrohrbruch war … na ja, wer sollte da schon die Schuld bekommen?

Alles hatte er geschluckt. Auch wenn seine Mitarbeiter und Kollegen ihm rieten, sich doch mal beim großen Chef zu beschweren.

Doch Simon war nicht der Mensch, der petzte. Lieber ließ er all die Gehässigkeiten über sich ergehen. Aber selbst für einen lieben und netten Menschen ist irgendwann der Punkt gekommen, an dem er nicht mehr kann.

Dieser Punkt kam, als er einen Versicherungsbetrug auf den Tisch bekam.

Sein Chef … sein neuer Chef, Tobias Reimers, war auf jeden Fall der Meinung. Simon glaubte nicht wirklich daran. Denn wer versucht schon, die Versicherung um dreißig Euro zu betrügen. So stellte er den Scheck für die zerbrochene Vase aus, als Reimers eine seiner Stichproben machte.

Nach kurzer Durchsicht des Schreibens an die Versicherungsnehmerin, rief er Simon in sein Büro. Stellte unangenehme Fragen. Ob er mit der Frau verwandt oder bekannt sei. Befreundet könne er mit ihr nicht sein, weil er ja eine Schwuchtel wäre. Und wie er einfach dazu käme, denn Fall so ohne weitere Überprüfung zu den Akten zu legen. Er wurde immer lauter und ließ Simon gar keine Chance, sich zu rechtfertigen.

Als Simon das Büro verließ, war ein erster Gang, der auf die Toiletten. Wo er sich heftig erbrach. Noch nie in seinem ganzen Leben hatte ihn jemand so abfällig behandelt. So herablassend und so ungerecht. Er spürte die mitleidigen Blicke seiner Kollegen und den Überlegenen seines Chefs auf seinen Rücken haften. Ohne sich bei jemand abzumelden, packte er seine Sachen und ging nach Hause, genehmigte sich einen Wein und dachte über sein jetziges Leben nach. Und kam zu dem Entschluss, dass sich etwas ändern musste.

Kurzerhand griff er nach dem Telefon und rief bei seinem obersten Chef an. Teilte ihm seine Kündigung mit.

„Simon … Sie sind einer meiner besten Mitarbeiter. Ich werde Sie sicherlich nicht einfach so gehen lassen. Ich weiß von Reimers, dass Sie einige Differenzen haben.“

„Differenzen? Er hat Ihnen also nicht erzählt, was vorgefallen ist?“

„Nein.“

„Okay. Es ist auf jeden Fall so, dass ich nicht mehr mit ihm zusammen arbeiten kann.“

„Das liegt aber nicht daran, dass Sie schwul sind, oder? Sie haben sich doch nicht in ihn verguckt?“

„Nein, ganz bestimmt nicht. So masochistisch bin ich nun wirklich nicht veranlagt. Es hat schon etwas mit dem Ersteren zu tun. Aber ich werde mich dazu nicht weiter äußern. Nehmen Sie meine Kündigung entgegen?“

„Das werde ich nicht machen, Simon. Aber was halten Sie denn davon, wenn ich Sie an einen anderen Standpunkt versetze? In einer unserer Filialen in Schleswig Holstein ist ein Platz frei geworden. Was meinen Sie?“

„Ich … Schleswig Holstein … das ist ziemlich weit weg. Ich meine, wie sind hier in Hessen …“

„Aber denken Sie doch an die frische Luft und so. Außerdem … es wäre so etwas wie ein Neuanfang für Sie. Sie haben hier doch Niemanden, der auf Sie wartet ... oder?"

„Nein, habe ich nicht.“ Seufzend holte Simon tief Luft. Seine große Liebe hatte ihn vor knapp einem halben Jahr wegen einer Frau verlassen. Seitdem war er alleine. Und seine Eltern … der Kontakt zu ihnen brach vollkommen ab, als er sich mit achtzehn geoutet hatte. Deshalb fiel ihm die Entscheidung nun auch nicht wirklich schwer. „Also gut. Ich werde Ihr Angebot annehmen.“

„Das freut mich für Sie, Simon, und für uns. Soviel ich weiß, haben Sie noch einiges an Urlaubstagen und Überstunden angehäuft. Sie können, wenn Sie wollen, morgen ins Büro wandern, Ihre persönlichen Sachen abholen und dann frei machen. Ich werde Ihnen eine Wohnung in der Nähe von Kiel besorgen und Sie können hier in aller Ruhe ihre Zelte abbrechen. Was halten Sie davon?“

„Ich … wow … das geht alles ziemlich schnell. Aber okay, ich sage ja. Was habe ich schon zu verlieren? Ich hole morgen alles ab und werde mit den Kollegen noch einen Sekt trinken. Kommen Sie auch vorbei?“

„So ist es richtig, mein Junge. Immer nach vorne sehen. Ich werde versuchen, ob ich kann. Auf jeden Fall bin ich fest der Meinung, dass es Ihnen dort oben im Norden sehr gut gefallen wird. Also, Kopf hoch und halten Sie die Ohren steif!“

Als er sich vor drei Monaten dann von seinen Kollegen und Freunden verabschiedet hatte, machte er sich mit der Bahn auf den Weg nach Kiel. Sein Chef hatte ihm eine ziemlich große Wohnung besorgen können. Allerdings nicht direkt in der Hauptstadt, sondern in einem kleinen Dorf, knapp zwanzig Kilometer davon entfernt. Nicht gerade das, was er sich vorgestellt hatte.

Aber die Wohnung machte das alles wieder wett. Einhundert zwanzig Quadratmeter nur für ihn. Und das zu einem Preis … da hätte er in Wiesbaden nur von Träumen können. Seine ganzen Möbel hatte er unterbringen können. Worüber er auch ziemlich glücklich war, denn er hatte sie erst vor kurzem gekauft. Eigentlich erst nach der Trennung von seinem langjährigen Freund. Die alten Sachen, die ihn an Timo erinnert hatten … alle im Sperrmüll.

Ganz in Gedanken schlenderte er nun den Weg von der Bushaltestelle zu sich nach Hause. Was bedeutete, dass er einmal das Dorf durchqueren musste. Und wie jedes Mal fragte er sich, wer wohl beschlossen hatte, dass sich diese Bushaltestelle genau am anderen Ende befinden musste.

Als ihn auf einmal aus heiterem Himmel ein Schneeball an der Schulter traf, schreckte er aus seinen Überlegungen. Suchend schaute er sich um. Aber außer dem Kichern eines wohl noch kleinen Kindes, konnte er nichts entdecken.

Schulter zuckend ging er weiter, sah nicht mehr das kleine Mädchen und den jungen Mann, die von einem Balkon hervorlinsten. Und sich kichernd die Hände vor die Münder hielten.

Als Simon seine Wohnung betrat, wurde er ein wenig wehmütig. Am Sonntag hatte er das erste Mal seit langer Zeit den ersten Advent alleine gefeiert. Fast traurig dachte er daran, wie er in seinem, doch etwas weihnachtlich dekoriertem, Wohnzimmer saß. Auf dem Glastisch ein Gesteck mit vier Kerzen. Er hatte sich einen Stollen und ein paar Kekse aus der Stadt mitgebracht und sich einen Glühwein gekocht. So saß er da, aß den Stollen und trank den Wein und fühlte sich einfach jämmerlich.

Kurzerhand pustete er die Kerze wieder aus, zog sich warm an und machte einen langen Spaziergang durch die verschneite Landschaft. Er konnte sich nicht mehr erinnern, wann er das letzte Mal so viel Schnee gesehen hatte. Sicherlich irgendwann als Kind. Als er noch Weihnachten bei seinen Eltern gefeiert hatte. Irgendwo in den Bergen. Denn die Eltern meinten, dass man Weihnachten lieber woanders feiern sollte … nur nicht zu Hause. Simon hatte es nie verstanden. Und auchjetzt, mit zweiunddreißig Jahren, verstand er seine Eltern nicht.

Am Montag machte er sich also wieder wie gewohnt auf den Weg zur Arbeit. Es machte ihm hier tatsächlich viel Spaß und die Kollegen waren auch alle sehr nett. Als die Frage aufkam, ob er verheiratet wäre, musste er einen Augenblick überlegen, ob er hier gleich reinen Wein einschenken sollte. Doch dann dachte er an den Spruch „Ehrlich währt am Längsten“ und erzählte, dass er im Augenblick in keiner Beziehung leben würde. Und dass er schwul wäre.

Etwas ängstlich wartete er auf die Reaktion. Aber außer, dass seine weiblichen Kollegen meinten, dass ungerechter Weise jeder tolle Typ schwul wäre, hatte sich niemand abfällig geäußert.

Jeden Abend, wenn Simon von der Arbeit kam, wurde er auf gleicher Höhe immer wieder von einem Schneeball getroffen. Er fand es lustig und konnte sich darüber auch gar nicht ärgern. Was ihn jedoch stutzig machte, war der Umstand, dass er nicht wusste, wer der oder die Werfer waren.

Heute war der 6. Dezember, Nikolaus. Und wie jeden Abend wartete er auf „seinen“ Schneeball. Doch nichts passierte. Fast enttäuscht wollte er schon weiter gehen, als ihn jemand an der Jacke festhielt.

Als er sich umdrehte, sah er ein kleines Mädchen mit einer lustigen Mütze auf dem Kopf, unter der ein langer Zopf roter Haare hervor guckte.

„Hallo, kleines Fräulein. Was kann ich für dich tun?“, fragte Simon und beugte sich zu ihr runter. Doch die Kleine gab ihm keine Antwort sondern hielt ihm nur ihre Hand entgegen. In dieser befand sich ein Schokoladennikolaus. Verwundert griff Simon nach dem Naschwerk. Als er sich bei dem Mädchen bedanken wollte, hatte sie sich schon wieder umgedreht und lief weg.

„Hey, warte doch mal“, rief er hinter ihr her. Aber sie drehte sich nicht einmal um und war schnell hinter einer Ecke verschwunden. Kopfschüttelnd betrachtete er den Nikolaus und mit einem Lächeln auf den Lippen machte er sich wieder auf den Weg.

Ab diesem Tag ging er voller Vorfreude an den Häusern vorbei. Immer in der Hoffnung, dass kleine Mädchen wieder zu treffen. Doch alles, was er abbekam, war der obligatorische Haufen Schnee.

Es war drei Tage vor Heiligabend und Simon schleppte sich mit einem kleinen Tannenbaum ab. Eigentlich wollte er das Fest gar nicht feiern. Aber irgendwie hatte sich durch den Nikolaus eine weihnachtliche Stimmung bei ihm eingestellt, sodass er sich doch entschlossen hatte, einen Baum zu kaufen.

Durch den Baum etwas in seiner Bewegungsfreiheit eingeschränkt, brauchte er heute länger, um nach Hause zu gelangen. Umso erfreuter war er, als er von weitem schon das Mädchen sah. Als er neben ihr zum Stehen kam, kniete er sich vor ihr hin.

„Hallo, Mäuschen. Wie geht es dir? Vielen Dank für den Nikolaus. Warum hast du mir den denn geschenkt?“, fragte er sie und blickte in ihre fast grünen Augen.

„Weil Malte es gesagt hat“, kommt die prompte Antwort von ihr. In seinem Gehirn fing es an zu rattern. Malte … Malte … Malte … er kannte keinen Malte. Also fragte er weiter.

„Und wer ist Malte?“

„Der da“, meinte sie nur und zeigte auf einen der Balkone. Als er aufblickte, sah er in ein grinsendes Gesicht und Sekunden später einen Schneeball auf ihn zufliegen. Doch zu spät. Zur Freude der anderen beiden traf er ihn mitten ins Gesicht. Etwas bedröppelt wischte er sich das kühle Nass aus dem Gesicht und bekam noch mit, wie sich der Übeltäter lachend an der Brüstung festhalten musste.

„Na, warte“, murmelte er leise vor sich hin. Und da er sowieso schon kniete, legte er den Baum vorsichtig beiseite und auch seinen Rucksack und baute sich schnell ein paar weiße Geschosse. Als er die in seiner Hand hielt, stand er schnell auf und feuerte die Salven Richtung Balkon. Ein empörtes „Hey“, ließ ihn leise aufglucksen. Getroffen!

„Das ist nicht fair. Ich habe hier oben keinen Nachschub mehr“, beschwerte sich besagter Malte und duckte sich vor einem erneuten Ball von Simon.

„Dann komm doch runter, du Feigling“, rief er lachend hinauf. Konnte gerade noch sehen, wie sich der andere mit einem traurigen Blick umdrehte und im Zimmer verschwand.

„Du bist so doof“, meinte die Kleine im nächsten Moment auch schon wütend und mit einem kräftigen Tritt gegen das Schienbein rannte sie wieder weg.

Fluchend rieb er sich besagte Stelle. Und fragte sich, was denn nun los war. Da keiner der beiden mehr zu sehen war, packte er Tannenbaum und Rucksack und zuckelte tief in Gedanken nach Hause. Den Baum legte er in den Garten. Oben schaltete er erst einmal den Wasserkocher an und zog sich bequeme Klamotten an.

Als er, mal wieder, alleine auf seinem Sofa saß und seinen Tee trank, machte er sich Gedanken über die Sache von vorhin. Wieso dieser verletze Blick und dieser Tritt gegen sein Schienbein? Eigentlich war er sich keiner Schuld bewusst.

Seufzend versuchte er sich durch das Fernsehprogramm abzulenken. Doch immer wieder wanderten seine Gedanken zu dem jungen Mann auf dem Balkon. Ob die Kleine seine Tochter war?

Am 23. Dezember hatte Simon seinen letzten Arbeitstag für dieses Jahr. Er musste erst am 4. Januar wieder in die Agentur. Spontan hatten seine Kollegen und er sich zu einem kleinen Umtrunk entschieden. Nichts großartiges, denn jeder wollte schnell nach Hause. Somit hatten sie sich ein paar nette Leckereien von einem Partyservice bestellt und schon mittags die Arbeit, Arbeit sein lassen. Sie hatten viel Spaß und so vergaßen sie die Zeit. Als Simon auf die Uhr schaute, stieß er einen kleinen Fluch aus.

„Scheiße! Wisst ihr eigentlich, wie spät es schon ist? Fast halb fünf“, gab er auch gleich eine Antwort auf seine Frage.

„Na und, wenn schon“, meinte Bea, eine seiner Kolleginnen und grinste ihn dann frech an, „oder hast du noch ein Date, von dem wir nichts wissen?“

„Ne, sicher nicht“, sagte Simon und verschwieg, dass er tatsächlich hoffte, die beiden Dorfbewohner heute wieder zu sehen. „Aber mein Bus fährt in fünf Minuten und den werde ich nicht mehr kriegen.“

„Dann fährst du heute einfach mal mit dem Taxi. Wird dein Konto schon nicht so ins Minus bringen. Aber wenn es doch so sein sollte und du Weihnachten bei Tütensuppe und trocken Brot verbringen musst … dann ruf mich doch vorher an. Ich werde sicher ein Würstchen und einen Löffel Salat für dich übrig haben“, meinte Bea lachend und auch die anderen stimmen mit ein.

„Ja, ja. Macht euch nur lustig über einen armen Junggesellen. Aber nein, ich bin zwar alleine, aber die Entenbrust liegt schon im Froster. Trotzdem muss ich jetzt los. Ich wünsche euch allen ein frohes Weihnachtsfest und einen guten Rutsch ins neue Jahr. Bis dann“, verabschiedete er sich von ihnen und machte sich dann auf den Weg zum Bahnhof, wo die Taxen standen.

Eigentlich hätte er sich ja auch direkt nach Hause fahren lassen können. Stattdessen lief er den Weg, den er sonst auch immer nahm, wenn er mit dem Bus fuhr. Schon von weitem konnte er das kleine Mädchen mit ihrer bunten Mütze sehen. Sie stand unter einer Straßenlaterne und es sah so aus, als würde sie auf jemanden warten. Er war vielleicht noch zehn Meter von ihr entfernt, da rief sie ihm auch schon etwas zu.

„Da bist du ja endlich. Warum hast du denn heute so getrödelt? Weißt du eigentlich, wie kalt es ist. Mann … wenn ich Malte nicht versprochen hätte, dir diesen Zettel hier zu geben, wäre ich ganz bestimmt schon wieder drinnen. So … und nun nimm endlich den Zettel … undwehe, du kommst nachher nicht.“ Damit drückte sie ihm ein Stück Papier in die Hand und verschwand, bevor er überhaupt antworten konnte.

Völlig überrumpelt stand er unter der Laterne und faltete den Zettel auseinander.

19.30 Uhr bei mir. Würde mich freuen, wenn du kommst!

         Malte

Und darunter noch ein kleinesBitte.

Immer noch stand er da und wusste nicht, wie ihm geschah. Wie kam er denn auf einmal zu einer Einladung von Malte? Er kannte ihn doch gar nicht. Und ihr Start war ja eigentlich auch nicht der Beste. Trotzdem schlich sich ein kleines Lächeln um seinen Mund. Er freute sich auf den Abend. Zu Hause würde er ja eh nur alleine rumsitzen. Mit einem letzten Blick machte er sich auf den Weg. Schließlich wollte er noch duschen und sich etwas anderes anziehen.

‚Sollte ich mich noch rasieren?‘

Ein Blick auf seine Uhr sagte ihm, dass er nicht mehr viel Zeit hatte. Also ließ er es sein.

Dann stand er unschlüssig vor seinem Kleiderschrank. Was sollte er nur anziehen? Jeans und Pulli? Oder doch lieber etwas vornehmer?

Nach kurzem Zögern entschied er sich für eine schwarze Stoffhose, die seine langen Beine und vor allen Dingen seinen knackigen Hintern betonten. Dazu ein weißes Hemd. Ziemlich klassisch, aber nicht zu vornehm.

Schnell noch die Haare mit etwas Gel in Form gebracht und dann wurde es auch schon Zeit, wollte er nicht zu spät kommen. Er hatte schon Schuhe und Jacke an, als ihm einfiel, dass er vielleicht noch ein kleines Gastgeschenk mitbringen sollte. Nach kurzem Überlegen holte er eine Flasche Rotwein aus seinem eisernen Vorrat. Eine der Flaschen, die er noch aus der Heimat mitgebracht hatte. Eine für besondere Anlässe.

Und irgendwie war es heute etwas Besonderes. Seine erste Verabredung in seinem neuen Zuhause. Für die kleine Maus hatte er noch eine Tafel Kinderschokolade … neben dem Rotwein seine heimliche Leidenschaft.

So bepackt machte er sich auf den Weg. Es hatte wieder leicht angefangen zu schneien. Im Stillen war er froh, dass er hier noch kein Auto hatte. Denn eigentlich konnte er alles mit dem Bus erreichen. Zwar nicht so zügig wie in Frankfurt, aber immerhin. Und notfalls konnte er sich ja mal ein Taxi leisten. Mit einem kleinen Lied auf denLippen stapfte er durch den Schnee.

Schmunzelnd musste er feststellen, dass es sich um „Stille Nacht, heilige Nacht“ handelte. Wie lange hatte er das nicht mehr gesungen?

Früher, bei seinen Eltern daheim, oder besser, dort, wo sie Weihnachten feierten, da wurde immer am 24. Dezember unter dem Weihnachtsbaum gesungen. Als er dann wegzog … mit seinem damaligen Freund hatte er solche Sachen nie gemacht. Timo fand so etwas albern und spießig. Auch wenn Simon gerne gefeiert hätte … er ließ es sich nicht anmerken.

Und nun hier, in diesem kleinen Dörfchen, wo die nächste Kirche knapp zwei Kilometer entfernt war, hatte er sich vorgenommen, sich mal wieder das Krippenspiel anzusehen. Vielleicht …

Zwei Minuten vor halb acht stand er vor dem Haus der beiden und war nun doch ziemlich aufgeregt. Warum wusste er selber nicht. Aber irgendwie hatte er das Gefühl, dass diese Weihnachten etwas ganz besonderes für ihn werden sollten. Wenn er Glück hatte, dann würde er heute nette Leute kennenlernen. Ob Maltes Frau auch da sein wird? Mit klopfendem Herzen stand er vor der Tür mit den drei Klingelknöpfen. Und plötzlich kam ihm der Gedanke, dass er gar nicht wusste, bei wem er schellen sollte. Bevor er allerdings den Finger auf einen der Knöpfe legen konnte, wurde die Tür auch schon aufgerissen. Vor ihm stand seine grinsende Maus.

„Na, wenigstens bist du jetzt pünktlich. Ich glaube, ich hätte auch kein Wort mehr mit dir geredet, wenn du heute nicht gekommen wärst“, verkündete sie und stiefelte vor ihm die Treppe hoch in den ersten Stock. Er schaute sich etwas um. Auch wenn es ziemlich dunkel im Flur war, so schien ihm doch ein warmes Licht entgegen. An der Tür, durch die sie verschwand, hing ein kleiner Tannenkranz mit einer bunten Lichterkette. Geschmückt mit Kügelchen und Schleifen. „Komm doch rein“, forderte sie ihn auf und er folgte ihr.

Auch im Flur war alles weihnachtlich geschmückt. Ihm gefiel es sehr. Nicht zu viel … gerade das richtige Maß. Es war, als würde er nach Hause kommen. In ein Zuhause, das er seit langem nicht mehr hatte. Wieder wurden seine Gedanken von der Kleinen unterbrochen.

„Wenn du willst, dann kannst du deine Jacke hier anhängen. Und die Schuhe bitte im Flur lassen. Hier vorne stehen Puschen für dich. Und nun beeil dich mal … Malte sitzt schon auf Kohlen.“

Wie ihm befohlen, zog er sich Jacke und Schuhe aus, schlüpfte in die ihm dargebotenen Hausschuhe. Folgte dem Mädchen ins Wohnzimmer. Hier empfing ihn ebenfalls ein kleines Weihnachtsmärchen. Von Gestecken über Krippe und einem dezent leuchtenden Stern in dereinen Zimmerecke über selbst gebastelte Fensterdekoration … hier war wirklich alles vertreten. Auf der langen Fensterbank lag weißer Kunstschnee und darauf stand eine kleine, beleuchtete Stadt. Das Zimmer wurde nur von dem Licht der Kerzen erhellt, sodass er seinen Gastgeber erst sah, als dieser sich bewegte. Er stand mit dem Rücken zum Fenster und es sah so aus, als wenn er sich dagegen lehnen würde.

„Hallo … freut mich, dass du gekommen bist. Ich bin Malte. Und diese kleine Hexe hier ist Maria. Wie ich sehe, bist du schon mit dem nötigsten versorgt worden“, lächelt er und streckte ihm die Hand entgegen, kam aber keinen Schritt näher. Also überbrückte Simon die letzten Schritte und reichte ihm die Hand.

„Freut mich. Ich bin übrigens Simon. Vielen Dank für die Einladung. Womit habe ich die denn verdient?“, fragte er neugierig und es fiel ihm schwer, die warme Hand wieder loszulassen. Ein Blick in Maltes Augen ließ ihn etwas unruhig werden. Deshalb beugte er sich schnell zu dem Mädchen runter.

„Und du bist also die Maria. Ein sehr schöner Name. Wie die heilige Mutter. Die hier ist übrigens für dich.“ Damit reichte er ihr die Schokolade. Als er sich aufrichtete, traf ihn der Blick von Malte. Und auf einmal wusste Simon, dass dieser junge Mann sein Schicksal sein sollte. Er hatte nie an die Liebe auf den ersten Blick geglaubt … aber vielleicht lag es auch einfach daran, dass bald Weihnachten war und diese ganze Umgebung hier ihn wieder an all das Gute Glauben ließ. Oder einfach nur daran, dass er einfach schon zu lange alleine war. Aber eins wusste er … in seinem Bauch spielte so einiges verrückt und seine Gedanken waren auch nicht mehr die klarsten. Genauso wenig wie seine Sprache. Es kam ihm vor, als hätte er schon von den Wein getrunken, den er jetzt Malte reichte.

„Die … ich wusste nicht … und ich dachte … na, ja … vielleicht magst du ja … also, wenn nicht … du kannst ihn auch gerne … ist ein …“, stammelte er vor sich hin, steckte dann die linke Hand aus und reichte seinem Gastgeber einfach die Flasche. Er holte einmal tief Luft, räusperte sich und begann dann noch einmal von vorne. „Also, ich habe dir eine Flasche Rotwein aus meiner Heimat mitgebracht. Wenn du nicht auf Wein stehst, dann kannst du sie gerne weiter verschenken … an den Postboten oder Müllmann oder so … ist ja schließlich Weihnachten. Ich wäre dir nicht böse deshalb.“

Maltes eben noch lächelndes Gesicht verhärtete sich zunehmend. Das er mit dem Gesagten nicht so ganz einverstanden war, brachte er auch gleich zum Ausdruck.

„Was denkst du eigentlich? Dass ich meine Geschenke einfach weiter verschenke? Machst du so etwas? Also, ich auf jeden Fall nicht.Für mich ist jedes Geschenk etwas Besonderes. Ich …“, stockend brach er ab und drehte sich etwas linkisch zur Balkontür, hielt sich krampfhaft am Rahmen fest. Sein verletztes Gesicht spiegelte sich im Fenster wieder und ließ Simon schlucken.

Das nächste, was er jedoch merkte, war ein erneuter Schmerz an seinem Schienbein. Wieder einmal stand Marie neben ihm … die Hände in die Hüften gelegt und sah im Moment gar nicht mehr wie ein kleines Mäuschen aus.

„Was hast du nun schon wieder gemacht? Kann man dich nicht einen Moment mit ihm alleine lassen?“, fragte sie ziemlich wütend, während sich Simon das Bein rieb. „Warum tust du ihm immer weh? Ich dachte wirklich, du bist anders als sie anderen“, flüsterte sie leise und war den Tränen nahe. Simon wollte gerade antworten und fragen, was er denn falsch gemacht hätte, als er einen Schlüssel im Schloss hörte und kurz darauf eine ziemlich geschaffte Frauenstimme.

„Bin wieder da!“

„Mama“, rief Maria und rannte in den Flur. Simon hörte, wie sie sich mit ihrer Mutter unterhielt. Den Wortlaut konnte er nicht verstehen, aber da Maria ziemlich schnell sprach, konnte er sich vorstellen, dass sie von gerade eben berichtete. Und er … er stand einfach nur da, wie bestellt und nicht abgeholt, in einem fremden Wohnzimmer, wo sich niemand um ihn kümmerte. Malte nicht, Maria nicht und ihre Mutter auch nicht. So hatte er sich den Abend sicherlich nicht vorgestellt. Und am schlimmsten war, dass er sich schon beim ersten Anblick in Malte verguckt hatte. Seufzend drehte er sich um und ging langsam wieder in den Flur. Zog die Hausschuhe aus und seine Jacke wieder an. Leise öffnete er die Tür und genauso leise schloss er sie wieder. Schlüpfte im Flur in seine Schuhe und ging mit schleppenden Schritten die Treppe hinunter. Er merkte gar nicht, wie ihm eine einzelne Träne die Wange hinunterlief.

„Fröhliche Weihnachten“, murmelte er zu sich selber und stapfte durch den Schnee. Erst viele Meter weiter bemerkte er, dass er gar nicht auf dem Weg nach Hause war, sondern auf dem Weg zur Bushaltestelle. Traurig lächelnd wischte er sich die Tränen, die nun doch in großer Anzahl auftraten, aus dem Gesicht. Die Wangen fingen bei der Kälte an zu brennen. Doch es machte ihm nichts aus. Sicherlich würden sie morgen ganz rot und rau sein. Aber auch egal. Es gab ja eh niemanden, den das stören würde. Am Halteplatz angekommen, setzte er sich, lehnte sich mit dem Rücken gegen die Holzwand und stellte seine Beine auf die Bank. Schlang seine Arme um die Knie und betete seinen Kopf darauf.

Warum konnte nicht auch einmal das Glück an seine Tür klopfen?

Seufzend dachte er über den missglückten Abend nach. Über den Ausspruch von Marie und den verletzten Ausdruck in Maltes Gesicht. Was hatte er nur falsch gemacht? Und vor allen Dingen, warum er ihn mit seinem Spruch so verletzt hatte? Eigentlich sollte er witzig sein.

Wie lange er da in der Haltestelle gesessen hatte, wusste er nicht. Nur, dass seine Arme und Beine von der Kälte ganz steif waren. Langsam stand er auf und musste sich erst einmal vorsichtig strecken, bevor er sich nun endgültig auf den Heimweg machte.

Kurz bevor er an Maltes Wohnung vorbeiging, wechselte er die Straßenseite. Wollte nicht dichter als nötig an dem Haus vorbeigehen. Im Gedanken war er schon dabei, sich einen anderen Weg von der Arbeit nach Hause zu suchen. Aber auch wenn es so schön hieß, alle Wege führten nach Rom, so gab es in diesem Dorf nur einen Weg zu seiner Wohnung. Seufzend lief er weiter. Trotzdem ging sein Blick wie von selbst zu dem Fenster hoch, indem er ihn vermutete. Konnte sehen, wie ein Schatten dort am Fenster stand und dann auf einmal verschwand. Mit schwerem Herzen ging er weiter, als er plötzlich eine Stimme hörte, die seinen Namen rief.

„Simon?“, kam es fragend und er hörte hastige Schritte hinter sich. Als er sich umdrehte, sah er eine junge Frau, die gerade die Straße überquerte und auf ihn zukam. „Simon?“, fragte sie erneut und als er nickte, kam ein erleichtertes Seufzen über ihre Lippen. „Hallo, Simon. Ich darf Sie doch Simon nennen? Ich bin übrigens Martina. Und ich bin froh, dass ich Sie noch habe ausfindig machen können. Ich meine, ich hätte Sie auch so gefunden … schließlich ist das Dorf klein und in der letzten Zeit ist nur eine neue Person hierhergezogen.“

„Hallo, Martina. Woher …?“