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Susan Kreller

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Beschreibung

Emma muss mit ihrer Mutter und ihren Geschwistern von Dublin nach Mecklenburg-Vorpommern ziehen. Sie vermisst Irland, den Atlantik, die irischen Großeltern. Nicht mal die Ostsee kann sie trösten. Emma will nur eins: schleunigst nach Dublin zurückkehren. Levin aus ihrer neuen Klasse, der selbst große Sorgen hat, bietet ihr seine Hilfe an, scheint aber irgendwann gar nicht mehr zu wollen, dass sie wieder fortgeht. Und auch Emma beginnt allmählich an dem Fluchtplan zu zweifeln … »Susan Kreller ist eine der sprachmächtigsten Jugendbuchautorinnen in Deutschland.« Augsburger Allgemeine  

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Susan Kreller: Elektrische Fische

Emma muss mit ihrer Mutter und ihren Geschwistern von Dublin nach Mecklenburg-Vorpommern ziehen. Sie vermisst Irland, den Atlantik, die irischen Großeltern. Nicht mal die Ostsee kann sie trösten. Emma will nur eins: schleunigst nach Dublin zurückkehren. Levin aus ihrer neuen Klasse, der selbst große Sorgen hat, bietet ihr seine Hilfe an, scheint aber irgendwann gar nicht mehr zu wollen, dass sie wieder fortgeht. Und auch Emma beginnt allmählich an dem Fluchtplan zu zweifeln …

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Hey now, do you know my name?

Hey now, or where I’m going?

If I can’t get an answer

In your eyes I see it

The lights of home

The lights of home

(U2, »Lights Of Home«)

Der Mond sieht aus wie ein Ohr, halb schief hängt er über der finsteren Landstraße, weißer als Avonmore Milk1 lauscht er vom Himmel herunter, und als meine Mutter auf dem Beifahrersitz ohne Vorwarnung »Da vorn beginnt Velgow!« sagt, ist der Mond der Einzige, der ihr richtig zuhört. Sie müsste es eigentlich begeistert rufen, aber sie sagt es so gelangweilt wie früher die alten Miss Blacks von gegenüber, wenn sie in ihrer Einfahrt standen und im Duett erklärten, dass sie zum Dinner wieder nur Lamb Stew hatten.

Früher, das ist gar nicht lange her.

Früher hat bis heute Morgen gedauert, ungefähr bis zu dem Moment, als das blaue Taxi vor dem Haus stand und wir unser irisches Leben in den Kofferraum stapeln mussten, um von Dublin nach Deutschland umzuziehen. Nach Velgow, in das Dorf unserer Mutter, in das sie seit zwanzig Jahren keinen Fuß und keins von ihren Kindern gesetzt hat.

Airport, please.

Make it stop, please.

Es war noch dunkel, als wir uns auf den Weg gemacht haben, den Tag konnte man nur vom Flughafen und vom Flugzeug aus sehen. Jetzt ist es Abend und schon wieder dunkel, ich finde nichts Helles hier, nur den Mond und das Scheinwerferlicht. Wir sind erst seit drei Stunden in Deutschland, meine Mutter, meine Geschwister, ich, und schon jetzt ist alles falsch, die Landschaft und die fremden Häuser, der Januar und der stinkende Kokosduftbaum vorn am Spiegel und am meisten die Straßenseite, auf der wir fahren. Alle paar Meilen bin ich kurz davor, dem deutschen Großvater »Keep left!« zuzurufen, bis mir gerade noch rechtzeitig einfällt, dass ich nicht zu Hause bin, und dann halte ich lieber den Mund.

Wir fahren einfach weiter, an »Da vorn beginnt Velgow!« vorbei und an Masten mit tief hängenden Stromleitungen und an einem gelben Schild mit schwarzer Schrift, wir fahren der Dunkelheit davon und direkt in die Dunkelheit hinein. Doch obwohl es hier so finster ist, habe ich nicht das Gefühl, als könnte in dieser Gegend etwas Schlimmes geschehen, harmlos sieht sie aus, kein bisschen lebensgefährlich.

Ich kann noch nicht wissen, wie falsch ich damit liege.

Das Auto des deutschen Großvaters bewegt sich weiter durch den leeren, düsteren Abend, alles bleibt gleich. Und auf einmal beneide ich die irischen Auswanderer, die im vorletzten Jahrhundert das Schiff von Cork nach Amerika genommen haben, ich beneide jeden, der damals voller Läuse und Träume und Seekrankheiten war und am Ende mit einer Begrüßung durch die Freiheitsstatue belohnt wurde. Weil Velgow aber nicht New York ist, werden wir nur von einem alten Getreidesilo begrüßt, an das jemand Lügenpresse und I love Angelina Wuttke geschrieben hat. Das Wort Lügenpresse hat die Sonne ausgebleicht, aber Angelina Wuttke leuchtet rot im Scheinwerferlicht, die Liebe zu ihr scheint noch frisch zu sein.

Meine beiden Geschwister und ich sitzen auf der Rückbank, eng aneinandergequetscht, nach Alter geordnet. Und nach Traurigkeit. Meine kleine Schwester Aoife links neben mir ist die Traurigste von uns. Seit sie letztes Jahr erfahren hat, dass wir aus Dublin wegziehen und in Velgow wohnen müssen, sagt sie nichts mehr auf Deutsch, kein Wort. Wenn sich Aoife etwas in den Kopf gesetzt hat, schafft sie das auch, seit Monaten spricht sie abwechselnd Englisch und Irisch, und weil sie noch nicht so lange Irisch lernt, sind das immer nur Satzfetzen aus The Children of Lir. Fast jeder in Irland kennt die alte Legende, nur meine deutsche Mutter nicht, vor allem nicht auf Irisch, und manchmal kann sie nicht mehr verstehen, was ihre eigene Tochter sagt.

Aber seit wir hier sind, kommt von Aoife sowieso kein Ton mehr. Heute Morgen auf dem Weg zum Dubliner Flughafen hat sie immerhin gesungen, mit wackeliger Stimme von Süden nach Norden hoch, Hurry back to me / my wild calling / it’s been the worst day / since yesterday, und danach hat sie geweint, erst laut schluchzend und dann immer leiser, leise, still. Das Einzige, was ich seitdem von ihr gehört habe, ist ihr knurrender Magen, denn sie hat seit dem Frühstück nichts mehr gegessen.

Ich frage mich, wie die Leute in Velgow Aoifes Namen aussprechen werden, wahrscheinlich genauso falsch wie der deutsche Großvater. »Du musst Eufe sein«, hat er am Flughafen gesagt, und sie hat ihn nur böse angeguckt und langsam den Kopf geschüttelt und »Iiiifa« gesagt, wieder und wieder. Jedes Mal hat sie die erste Silbe noch ein wenig länger gedehnt und mit ihrem breit gezogenen Mund ausgesehen, als würde sie lächeln.

Der deutsche Großvater hat dann auch den Kopf geschüttelt, kurz zu meiner Mutter gesehen und einfach weitergemacht. »Du musst Dara sein«, war sein nächster Programmpunkt, und Dara war Dara, daran gab es nichts zu rütteln. Er sitzt neben mir, ist sechzehn und der Untraurigste von uns dreien. Er hat sich noch kein Mal beschwert und ihm ist das alles hier egal. Niemand weiß, was mein Bruder wirklich denkt, keiner kann ihm in den Kopf gucken, und in der Schule waren alle Mädchen in ihn verliebt, weil ihnen der Kopf auch von außen gereicht hat, besonders die gebogenen Wimpern, und immer war eins dieser Mädchen bei uns zu Besuch.

Aber jedes Mal ein anderes.

Ich, Emma, sitze in der Mitte und bin halb traurig und halb gar nichts. Es ist wie unter Wasser sein, frühmorgens am Seapoint mit Granda Eamon, mit dem ich so lange tauchen kann, dass sich die Wellen oben Sorgen machen. Manchmal ist es gut, wenn man selber unter Wasser ist und die anderen nicht, weil man sonst verrückt wird. Das hat er immer gesagt, und auch jetzt im Auto kriege ich alles nur wie unter Wasser mit: das Leben und den Umzug und dass niemand von uns Geschwistern richtig Ja gesagt hat und auch mein Vater nicht und noch viel weniger meine irischen Großeltern.

Hinter uns hat Velgow begonnen.

Das Dorf, in dem meine Mutter aufgewachsen ist, in einem Leben vor unserer Zeit.

In einem Leben vor unserem Leben.

Sie macht ein Geräusch, das erleichtert klingt, keine Ahnung wieso, denn hinter der Autoscheibe gibt es nur Ackerflächen und einzelne Häuser und diesen ganzen trostlosen Abend. Ich frage mich, warum Aoife nicht endlich schreit, dass sie sofort nach Hause will oder sonst wohin, aber nichts, sie sitzt still neben mir, und auch Dara schweigt, sogar ganz ohne Tränen, denn er ist in seinem Mobile Phone verschwunden.

Wir fahren durchs Dorf und der deutsche Großvater zeigt auf etwas, das mal ein Laden gewesen sein muss. Über der Tür steht verblichen OBST GEMÜSE FEINFROST, er sagt: »Konsum: dichtgemacht.«

»Wir bleiben ja nicht ewig«, antwortet meine Mutter und fragt gleich noch, wieso diese Straße hier eigentlich immer noch Thälmannstraße heißt. Aber der Großvater fährt einfach weiter und knurrt nach einer Weile: »Kindergarten: dichtgemacht.«

Später zeigt er auf ein großes, schmutzig rotes Ziegelhaus und sagt: »Wolfgang Jensen: dichtgemacht.«

Meine Mutter zuckt zusammen und sieht zu ihrem Vater: »Dichtgemacht? Was, wie, was meinst du damit?«

»Na, er hat sich …«

Dann fällt ihm ein, dass hinten Kinder sitzen. »Da hinten sitzen Kinder«, sagt er. »Ich erzähl’s dir später.«

Wenn jemand Dara und mich Kinder nennt, hat er nichts kapiert, außerdem weiß ich genau, was er meint.

Als wir kurz danach an einer Kneipe vorbeikommen, die Meerkrug heißt, sagt er aber nicht: »Dichtgemacht«, sondern knurrt verächtlich: »Neumodisch«, vielleicht meint er das Plakat an der Tür, auf dem Donnerstags Yoga Ü 50 steht. Der Name Meerkrug passt überhaupt nicht, denn angeblich muss man von Velgow aus ewig fahren, um mal ein Zipfelchen Meer zu finden. Und als wir an einer Bäckerei namens Schwabes feinste Backwaren vorbeifahren, hebt meine Mutter zum ersten Mal einen Mundwinkel, das kann ich von hinten sehen. Wahrscheinlich steckt in diesem einen Mundwinkel die ganze Freude, zu der sie heute fähig ist, die Freude über einen Laden mit hartem, deutschem Brot. Ich kann mir nichts Schlimmeres vorstellen.

Aber dann kann ich es doch.

Und ich weiß nicht, warum es ausgerechnet jetzt losgeht, vielleicht ist es wie bei einem Bild, das nach Jahren plötzlich von der Wand fällt, einfach so, oder wie bei einem Vater, der nach Jahren plötzlich auszieht, auch einfach so, genau jetzt beginnt es jedenfalls, zum ersten Mal seit Wochen fühle ich mich nicht mehr wie unter Wasser, nicht mehr beschützt, zum ersten Mal bin ich wieder oben, draußen, in die Welt gespült.

Es geht los wie ein Erschrecken.

Auf einmal kann ich klar sehen.

Ich kann sehen, dass alles verschwunden ist.

Und als der deutsche Großvater auf einen Garten mit kaputtem Zaun zusteuert und vor einem Haus hält und wir aussteigen, da muss sich Aoife übergeben. Mit einem frühstücksfarbenen Schwall begrüßt sie aber nicht den Velgower Boden, sondern nur meine Turnschuhe, und ich brülle »Jaysus, Mary and Joseph«, und zwar so laut, dass meine Mutter entsetzt »Emma!« ruft und der deutsche Großvater »Das fängt ja gut an« knurrt. Als ich Aoife kurz darauf umarmen will, schüttelt sie mich nur ab.

Ich stehe da, habe Aoifes klebrige Traurigkeit auf den Turnschuhen und fühle mich fremd und allein, niemand sagt noch etwas zu mir, obwohl meine Mutter genau jetzt zugeben müsste, dass es ein schlechter Tausch war, Dublin gegen Velgow. Aber sie lassen mich stehen, meine Mutter kümmert sich um Aoife und dann stapfen sie über den Kiesweg auf die Eingangstür zu, noch ohne Gepäck, sogar Dara geht einfach von mir weg.

Ich halte die Luft an, weil ich den neuen Geruch meiner Turnschuhe nicht ertragen kann, und beinahe wünsche ich mir den Kokosgestank aus dem Auto zurück. Mit einem Ruck verschränke ich meine Arme, was vollkommen sinnlos ist, denn mich sieht ja sowieso keiner. Aber so kann mir zum Glück auch niemand ansehen, was ich heimlich beschließe, vor einem Haus am Ende der Welt, in frühstücksfarbenen Turnschuhen. Genau hier, genau jetzt weiß ich, dass ich so schnell wie möglich zurückkehren werde.

Nach Hause.

 

 

1Worterläuterungen siehe Glossar

Wir waren noch gar nicht fertig.

Dara hatte mit der Hockeymannschaft von St. Kilian’s monatelang alle Spiele und Mädchenherzen gewonnen, keine gute Zeit also, um die Schule zu verlassen und aus der Stadt wegzuziehen. Auch Aoife und ich waren mittendrin und noch gar nicht fertig mit unserem Leben in Dublin, keiner wollte weg von zu Hause, keiner wollte packen und keinem von uns war nach Weihnachten zumute, auch meiner Mutter nicht.

Im Dezember versuchte sie aber trotzdem, die Festbeleuchtung im Garten aufzuhängen, so wie jedes Jahr. Sie war spät dran, die Miss Blacks von gegenüber waren schon längst damit fertig, und weil sie deshalb die Hände freihatten, fingen die beiden alten Schwestern an, mit ihren gebogenen Knochenfingern auf unseren Garten zu zeigen.

Besonders weit kam meine Mutter dann aber nicht, geschmückt hat sie nur die linke Hälfte des Gartens, danach muss auch ihr klar geworden sein, wie sinnlos Weihnachtsschmuck ist, wenn man eigentlich schon fast woanders ist, ungefähr auf einem anderen Planeten. Wochenlang war deshalb nur unser halber Garten beleuchtet, und irgendwie hat das gut gepasst.

Zu allem.

Jetzt sind wir in Velgow. Die ersten Tage halten wir still, jeder auf seine Weise, jeder hält so still, wie er kann. Wir kommen nur zum Essen aus den Zimmern, manchmal schlurft einer von uns ins Bad, und ganz selten holt sich jemand eine Flasche Wasser aus der Küche, wir haben uns aufgeteilt, wir halten die Türen geschlossen.

Velgow muss draußen bleiben.

Zum Glück hat meine Mutter zwei Schwestern und zum Glück wohnen die längst sonst wo, aber nicht so sonst wo, wie meine Mutter die letzten zwanzig Jahre gelebt hat, alle sind im Land geblieben und haben auch nicht heimlich geheiratet, sondern hier im Dorf, wo es alle sehen konnten.

Wo alle mitfeiern konnten.

Wegen der beiden Schwestern meiner Mutter gibt es hier drei uralte Kinderzimmer, dreimal winzig, dreimal die gleiche braune Einrichtung, die längst aus der Mode gekommen ist. Im mittleren Zimmer wohnen Aoife und ich. Meine Schwester hat das schmale Bett bekommen, ich selbst schlafe auf einer Matratze, die weich ist, aber nach etwas sehr Traurigem aussieht. Im linken Kinderzimmer wohnt Dara, im rechten meine Mutter, wir sind hier aufgefädelt und haben nicht viel Platz.

Ich weiß nicht, wie sich diese Tage für meine Mutter und meine Geschwister anfühlen, keiner erzählt, wie es ihm geht. Wenn es regnet, starrt meine Schwester aus dem Fenster, das mit ihr mitweint, die Tränen rinnen über Aoifes Wangen und draußen über die Fensterscheibe, als wäre es ein Wettbewerb. Aber keiner gewinnt, es sind einfach nur Tränen, es ist einfach nur Regen, und wenn ich unten bei den fremden Großeltern bin und sie reden höre, dann ist es einfach nur Sprache.

Immer wieder gibt es Momente, in denen ich überhaupt nichts verstehe, vor allem von dem, was die Hausbesitzer sagen. Aoife, Dara und ich bestehen aus zwei Sprachen, auch wenn meine Schwester darauf pfeift und nicht zweisprachig, sondern einfach nur aoifesprachig ist. Dara und ich beherrschen Deutsch dagegen genauso gut wie Englisch, zumindest habe ich das all die Jahre gedacht, zu Hause und in der Schule. Aber seit ich hier bin, ist das anders. Ich bin in einem Deutsch gelandet, in dem ich mich immer wieder verlaufe.

Es gibt so viele Wörter, die ich nicht kenne.

Wenn meine Mutter in den Jahren vor unserem Umzug mit mir geredet hat, in unserem Haus und egal wo, habe ich alles verstanden. Meine Mutter war mein Wörterbuch von A bis V, V wie Velgow, V wie: Vielleicht ziehen wir schon bald um, und den Rest haben sie mir in der Schule beigebracht, St. Kilian’s German School, Clonskeagh, gleich hinter der Uni.

Weit weg von hier.

Erst hier wird mir klar, dass es nicht der ganze Rest war, gefehlt haben Thälmann, Achterport und zum Beispiel auch Tranbüddel. Mein Großvater hat das Wort für die Leute auf dem Amt benutzt, die uns ständig hin und her geschickt haben, um Formulare zu besorgen, und die dann viele Stunden und Kaffeetassen gebraucht haben, bis sie uns endlich einen Stempel mit zu wenig Farbe gegeben haben, einen Stempel gegen Fremdsein.

Jedenfalls für den Anfang.

Seit wir hier sind, geht es auch im Haus meiner Großeltern zweisprachig zu, es gibt das Schweigen meiner Mutter und das Schweigen der Großeltern, sie benutzen es wie in einem Gespräch, Schweigen hin, Schweigen her. Dabei müssten sie sich nach zwanzig Jahren eigentlich eine Menge zu erzählen haben, und vor allem die Großeltern sehen aus, als wären sie bis obenhin mit Fragen gefüllt, der neue Großvater Hinnerk, der groß ist und mit Bauch und manchmal aus Versehen lächelt, und die neue Großmutter Anita mit ihren schwarz gefärbten Haaren und dem strengen Gesicht darunter, das mich ein bisschen an die Gesichter der Füchse erinnert, die früher nachts in unserer Siedlung unterwegs waren. Rote Haare würden deshalb besser zu ihr passen, aber so was hat keiner hier, die Großeltern nicht, meine Mutter nicht und am wenigsten Dara, Aoife und ich.

Der Gesprächigste im Haus ist Peppy, ein kleiner dicker Hund, weiß mit braunen Flecken, Bauch bis zum Boden, Lärm bis zur Decke. Immer wieder zerbellt Peppy die Stille hier, manchmal tapst er auch einfach nur mit kleinen Pfoten über den gefliesten Küchenboden, jedes Geräusch ist besser als keins. Ab und zu gehe ich zu ihm hin und danke ihm dafür. Ich weiß nicht, ob er mich versteht, denn ich kann ihm nur auf Englisch danken, Deutsch geht bei Tieren nicht, auch nicht bei kleinen Kindern, auch nicht, wenn ich fluchen muss oder wenn ich mich freue.

Die englische Sprache bin ich.

Deutsch spreche ich nur.

Deutsch ist immer noch ein paar Meere von mir entfernt.

Dann kommt Aoifes erster Schultag, und Aoifes erster Schultag geht schon schlecht los.

Aoife geht schon schlecht los.

Mein schöner Bruder Dara kriegt davon fast nichts mit, er löffelt Cornflakes und lächelt in sein Mobile Phone, was nur eins bedeuten kann, nämlich, dass spätestens morgen der erste weibliche Gast vor der Tür steht, um sich die Welt, Daras Liebe oder die Hausaufgaben erklären zu lassen.

Mir selber muss niemand die Hausaufgaben erklären, die Schule beginnt für mich erst nächste Woche, weil meine fremde neue Klasse in London auf Klassenfahrt ist. Sie ist näher an meinem Zuhause dran als ich, aber beim Frühstück ist mir das kurz egal.

Stattdessen ärgere ich mich über die winzigen Toastscheiben und darüber, dass ich Aoife zur Schule bringen muss, Aoife, die die schlechteste der Launen am Frühstückstisch hat und gleich nach dem Aufstehen in einen lauten mehrsprachigen Streit mit meiner Mutter geraten ist, die immer nur dieselbe Antwort hatte: »Keine Sportsachen, und Schluss!«

Jetzt sitzt Aoife trotzdem in der Sportkleidung aus unserer alten Schule am Frühstückstisch, rotes Oberteil, schwarze Trainingshose, rote Regenjacke, alles mit dem Emblem St. Kilian’s German School und alles viel zu dünn und alles gar nicht nötig, denn Aoife hat heute überhaupt keinen Sportunterricht. Wenn es in St. Kilian’s Schuluniformen gäbe, würde sie jetzt wahrscheinlich ihre Uniform tragen. Wie eine Leistungssportlerin sitzt Aoife da und beschwert sich lauthals über das sinnlose Bändchen an ihrem Teebeutel und verlangt so lange nach bändchenlosen Barry’s Tea Bags, dass uns meine Mutter irgendwann genervt und ohne Abschiedsgruß aus dem Haus schiebt.

Aoife und mich.

Und da stehen wir, mitten in der Nacht, weil die Schule hier viel früher als zu Hause beginnt. Im Dunkeln gehen wir die Immer-noch-Thälmannstraße runter und ich frage mich, wer dieser Thälmann eigentlich war und ob er mal persönlich hier gelebt hat als Dichter oder Bürgermeister, und ob er vielleicht auch ganz woanders sein wollte. Aus Schwabes feinste Backwaren riecht es nach hartem deutschem Brot, aus dem Kindergarten riecht es nach dichtgemacht und an der Bushaltestelle stehen drei Kinder und starren uns an, aber nur so lange, bis wir den Schulbus kommen sehen und sie in lautes Gelächter ausbrechen.

Denn Aoife versucht, den Bus heranzuwinken, so wie sie es von zu Hause kennt, und das, obwohl unsere Mutter uns tagelang alles Wichtige erklärt hat. Dass der Bus auch ohne Winken hält, merkt euch das bitte!, und dass sich zum Schluss niemand beim Fahrer bedankt, wirklich, nicht ein Einziger, und dass alle hinten aussteigen und dass es sein könnte, dass der Bus jeden Morgen pünktlich ist, ganz anders als zu Hause, und dass sich keiner hier bekreuzigt, wenn der Bus an einem Friedhof vorbeifährt, und sie weiß ja auch nicht wieso.

Die Kinder hören auch beim Einsteigen nicht mit dem Lachen auf und Aoife bleibt die ganze Fahrt über stumm, um sich am Ende aber mit Händen und Füßen gegen den Strom der genervten Schulbusschüler nach vorn zu kämpfen und so trotzig »Thanks a million« zum Busfahrer zu sagen, dass es wie eine Beleidigung klingt. Er verabschiedet sich von ihr mit einem kopfgeschüttelten Knurren und schließt hinter ihr sofort die Tür, als müsste er sich schnell in Sicherheit bringen.

In solchen Momenten ist es am schlimmsten, obwohl ich seit unserem Umzug nach Velgow immer nur traurig bin. Trotzdem halte ich es in diesen Aoife-Augenblicken am wenigsten aus, dann sitzt mir das Heimweh in der Kehle und in der Brust und ich gehöre noch weniger hierher als ohnehin schon. Deshalb sage ich schnell zu meiner Schwester und zu mir selbst: »See, we’re not at home.«

Aoife stampft auf und ruft: »Take me back home, then, will ye?«

Ich nicke und sage: »No, I won’t.«

Später dieser Moment im Klassenzimmer.

Unendlich lang.

Aoife krallt sich an meiner Jacke fest und alle schauen uns an. Keiner lacht, die meisten Schüler sehen einfach nur erschrocken aus. Aoife weint und weint und lässt meine Jacke nicht los, und jetzt kommt auch die Lehrerin zu uns und ich weiß, dass es vollkommen sinnlos ist, Aoife steht da und ist meilenweit weg, schon längst nicht mehr zu erreichen.

»Hold on a sec«, sage ich zu ihr, mache ihre Hand ein bisschen zu heftig von meiner Jacke los und schiebe ihren St. Kilian’s German School-Ärmel weit hoch. Meine Telefonnummer ist zu lang für ihren acht Jahre kurzen Unterarm, ich habe die Zahlen zu groß angefangen, also schreibe ich sie bis über die Armbeuge zum Oberarm hoch und sage ihr schnell, dass mich die Lehrerin anrufen soll, wenn etwas ist. Dann renne ich einfach aus Aoifes Weinen heraus und lasse meine Schwester in ihrem Unglück zurück, obwohl ich nichts Wichtiges vorhabe.

Oder eben das Wichtigste: einfach herumlaufen, geschützt vor Aoifes Traurigkeit.

Ein paar Stunden später sitzt sie auf einem hässlichen Schulhofblumenkübel und weint sich den Vormittag aus den Augen. Weil sie Aoife ist, weint sie nicht nur, sondern schmeißt ihre Sprachen schluchzend in den kalten Morgen hinein, Englisch, Irisch, eine Art Chinesisch.

Ihre neue Lehrerin sitzt neben ihr und versucht sie zu trösten, wer weiß, was ihr schwerer fällt: meine Schwester zu erreichen oder mit ihrem eigenen Hinterteil auf dem dünnen Rand des Blumenkübels sitzen zu bleiben. Sie schafft beides nicht und sieht erleichtert aus, als sie mich kommen sieht, »Du bist die Schwes-ter, wir ha-ben uns vor-hin kurz ge-se-hen«, ruft sie mir so langsam zu, als würde sie nach jeder einzelnen Silbe noch kurz überlegen, ob sie zu Hause auch wirklich den Herd ausgemacht hat.

Sie glaubt wahrscheinlich, dass ich fast kein Deutsch verstehe, also rufe ich mit Weltrekordgeschwindigkeit und meinem schnellen Herzen zurück: »Undwennichschondabinkannichauchgleichübernehmen.«

Ich verhaspele mich nur zweimal.

Die Lehrerin schaut mich ungläubig und ein bisschen vorwurfsvoll an, dann steht sie seufzend auf und geht langsam weg, dreht sich aber auf dem Weg zum Schulgebäude ein paar Mal zu uns um.

Aoife weint wieder, nach einer sekundenkurzen Pause, die sie eingelegt hat, um der Lehrerin und mir zuzuhören, sie weint jetzt ohne ihre Sprachen und zittert dabei. Ich nehme ihre kalte Hand und sie schlägt mich weg, wimmert aber gleich danach: »Emma« und hält sich so sehr an meinem Arm fest, dass es wehtut.

Wir sind seit einer Woche in Deutschland, seit einer Woche in Velgow, und keiner von uns hat Angelina Wuttke kennengelernt, außer vielleicht Dara, dem ich alles zutraue. Zwei Jungen in Aoifes Alter gehen lachend an uns vorbei und ich sehe gleich, dass es nicht freundlich gemeint ist. Aoife merkt es auch, lässt mich los und ruft den beiden in schönstem Dublinerisch »Fuck off with yerself« und »Ye gobshite ye« hinterher, keine gute Idee. Doch die Jungen zucken nicht einmal zusammen und ich bin die Einzige, die erschrickt. Denn jetzt wird mir endgültig klar, wie schwer es Aoife in der Schule haben wird, Fuck off und Gobshite sind der beste Beweis dafür. Selbst mit acht Jahren benutzt man diese Wörter höchstens dann, wenn man gerade niemanden kennenlernen will. Oder wenn man niemanden mehr zu verlieren hat.

Quer unter meinem Po verläuft ein dünner Streifen Blumenkübelkälte und ich frage mich, ob wir krank werden, wenn wir noch länger hier sitzen, und ob es irgendwen kümmern würde, zum Beispiel unsere Mutter.

Oder uns selbst.

Der Kübel ist aus Beton mit Kieselsteinen darin, und immer mehr Kinder gehen jetzt über den Schulhof. Aoife starrt auf den Boden, sie hat die Wimpern und die dunklen Haare unseres Vaters, genau wie Dara. Wir sind zwei armselige Gestrandete mit tiefgefrorenen Hinterteilen, und um uns beide vor dem Kältetod zu retten und die Sache hier abzukürzen, frage ich meine Schwester, was genau passiert ist.

Aoife tut, als wäre sie taub, und erst als ich sie ganz vorsichtig anrempele und sie fast vom Blumenkübel fällt, fängt sie langsam zu reden an. Sie lässt meinen Arm los und erzählt, wie die Lehrerin den Namen ihrer neuen Schülerin an die Tafel geschrieben hat: AOIFE, und wie sie zur Klasse gesagt hat: »Weiß jemand, wie dieser Name ausgesprochen wird?«, und wie erst niemand antwortete und irgendwann von hinten jemand »Affe« rief, bis es dann von überall kam, Affe, Affe, und als die ganze Klasse eingestimmt und Zoogeräusche gemacht hat, ist Aoife wieder in Tränen ausgebrochen und hat den Kopf auf den Tisch gelegt, wo er dann bis zur ersten großen Pause auch geblieben ist.

Obwohl sie die am wenigsten Zweisprachige von uns Geschwistern ist, weiß sie genau, was »Affe« heißt. Und als sie zum Abschluss wimmernd »Iiifa« sagt, »my name is Iiii-fa«, kann ich meine Schwester nicht mehr ansehen, es ist auch so schon alles schlimm genug. Also blicke ich irgendwohin, ganz egal, einfach nach vorn, auf diesem Schulhof ist ohnehin alles ähnlich hässlich.

Und dann.

Dann sehe ich ihn.

Ich kann nicht sagen, seit wann er da schon sitzt, seit gestern oder seit fünf Minuten. Aber jetzt ist er da und sieht uns an. Er starrt nicht, sondern guckt einfach nur, dunkle Haare bis zur Schulter, Brille, dünn, alles ganz harmlos. Aber ich fühle mich ertappt und versuche streng zurückzublicken, nach einer Woche Velgow dürfte das zu schaffen sein.

Aber es gibt nichts Schwereres, als jemanden streng anzusehen, wenn man jemand anderen gleichzeitig trösten will, zur Seite hin und mit aller Kraft. Ich komme mit meinen Blicken durcheinander, mit dem strengen und dem tröstenden, und bestimmt sieht es sonderbar aus.

Ein Gesicht mit zu vielen Blicken.

Der Junge drüben muss lächeln.