Schneeriese - Susan Kreller - E-Book
SONDERANGEBOT

Schneeriese E-Book

Susan Kreller

0,0
6,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 6,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Der Gewinner des Deutschen Jugendliteraturpreises! Ein Mädchen, das fast gar nicht lispelt. Ein Junge, der wächst und wächst. Stella und Adrian sind zusammen aufgewachsen, mit Märchen in der Hollywoodschaukel und heißem Kakao, und sind die allerbesten Freunde. Bis zu diesem verflixten Tag, an dem Dato in das geheimnisvolle Dreitotenhaus nebenan einzieht: Denn zwischen Dato und Stella entspinnt sich eine zarte Liebesgeschichte. Adrian muss den ersten furchtbaren Liebeskummer überleben – und vielleicht trotzdem schaffen, Stellas Freund zu bleiben. Eine zurecht preisgekrönte Autorin! »Ein kleines Juwel.« Eselsohr   »Bleibt noch lange im Gedächtnis.« Süddeutsche Zeitung

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 234

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Außerdem von Susan Kreller im CARLSEN-Verlag: Elefanten sieht man nicht Der beste Tag aller Zeiten – Weitgereiste Gedichte Dieses Buch wurde gefördert durch das Kranichsteiner Jugendliteraturstipendium des Deutschen Literaturfonds. Carlsen-Newsletter Tolle neue Lesetipps kostenlos per E-Mail!www.carlsen.de Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung, können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden. In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich die Carlsen Verlag GmbH die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt. © 2014 CARLSEN Verlag GmbH, Hamburg Umschlaggestaltung und -typografie: Kerstin Schürmann, formlabor Umschlagfotografien: plainpicture/© Lubitz + Dorner (Füße); shutterstock.com/© ffolas (Kekse) Lektorat: Franziska Leuchtenberger Satz und E-Book-Umsetzung: Dörlemann Satz, Lemförde ISBN 978-3-646-92646-0 Alle Bücher im Internet unterwww.carlsen.de

Für Nelly

In that land there’s a winter

In that winter’s a day

In that day there’s a moment

when it all goes away

And you know it’s a lion’s heart

That will tumble and tear apart

When it’s comin’ down the hills for you

(The Tallest Man on Earth: A Lion’s Heart)

KAPITEL

1

Stell es dir so vor, würde er sagen, falls jemand auf einer Beschreibung bestünde, irgendwas Handfestem vielleicht, das die Sachlage einigermaßen erklärte. Stell dir das Meer vor, würde er sagen, ganz ungefähr nur, circa. So, dass es in etwa hinkommt. Kein übertriebenes Meer, keins wie auf Postkarten, viel schöner. Denk dir das Wasser hell und nur am Saum nächtlich blau, komm, denk es dir warm und zerzaust, pfeif auf den Winter und schau es dir an, dieses Meer, ein paar Fischer kämmen es mit morschen Booten, überall schwimmen Möwenschatten und ganz vorn, wo es flach ist, planschen Kinder, dicke Männer lassen Steine springen auf und auf und auf, und alles ist ganz still, alles ist ganz laut, versuch es zu sehen, versuch’s, würde er sagen mit aller Kraft, wenn er bloß wüsste wie, stell dir vor, wie die Möwen schreien über ihren Schatten über dem Meer, denk, wie jedes Gewitter abprallt und wie der Regen einen Bogen macht um dieses Meer, stell es dir ziemlich genau vor. So, würde er sagen, wenn jemand eine Erklärung verlangte – irgendwas Handfestes vielleicht –, so und kein bisschen anders sind die Augen von Stella Maraun.

KAPITEL

2

Einsneunzig, sagte die Stimme am Telefon.

Einsneunzig, du musst jetzt ganz wach sein.

Und Adrian dachte ausgerechnet an Stellas unbeholfene Art, einen Stift zu halten, es war das Erste, was ihm einfiel, und seltsam war das: dass ihm Stellas Finger in den Sinn kamen, die beim Schreiben den Stift umgarnten wie zum allerersten Mal. Weiß Gott, Adrian hätte allen Grund gehabt, etwas weniger Freundliches zu denken, immerhin war er aus dem tiefsten Schlaf gerissen worden.

Stella.

Was gibt’s?

Es geht los, Einsneunzig, sagte Stella. Und du gehst jetzt auch los, zieh dir was drüber, schöne Grüße und bloß keine Widerrede!

Alles in Ordnung bei dir?, fragte Adrian, stieg aus dem Bett und wankte zum Fenster, kalt, so kalt war es hier, mitternachtschwarz, und auf den Straßen lag der reinste Schnee und hatte keinen blassen Schimmer.

Jemand zieht vor meinen Augen ins Dreitotenhaus, sagte Stella vergnügt und fast lispellos. Komm auf der Stelle her, hier stimmt was nicht, da stinkt was gewaltig!

Stella Maraun hätte aus Uruguay anrufen können oder von einem neuerdings bewohnten Planeten, sie hätte sich von jedem beliebigen Flecken Erde oder Weltall bei ihm melden können, vollkommen gleich, Adrian wäre losgerannt, hätte im Gehen eine Jacke vom Haken gerissen, wäre sich mit der Rechten einmal wild durchs Haar gefahren und dann ins nächstbeste Flugzeug oder Raumschiff gesprungen und in weniger als fünf Minuten bei Stella gewesen.

Dass Stella seine Nachbarin war und nur ein paar Atemzüge von ihm entfernt wohnte, machte die Angelegenheit allerdings deutlich komplizierter. Adrian sah an sich herunter und begriff augenblicklich, dass er so auf keinen Fall zu Stella gehen konnte, nicht mal dann, wenn er sich etwas drüberzog. Er trug einen auffallend jämmerlichen Schlafanzug, der aus Baumwolle und dunkelblau und an sich nicht schlecht war, auch wenn vorn auf der Brust Bugs Bunny angetrunken grinste. Kein Problem, wirklich, Bugs Bunny hätte er mit Leichtigkeit verdecken können.

Ein gerichtstauglicher Beweis für die Jämmerlichkeit von Adrians Schlafanzug war hingegen, dass die Hosenbeine knöchellang gemeint waren, ihrem Träger aber höchstens bis zur halben Wade reichten und sich von Tag zu Tag weiter nach oben arbeiteten. Jämmerlich waren auch die Ärmel, die den größten Teil von Adrians Unterarmen preisgaben, alles, die insgesamt sieben Leberflecke, die Härchen und die langen freien Flächen, auf die er sich einen Namen seiner Wahl hätte tätowieren lassen können, wenn er lebensmüde gewesen wäre.

Das Schlimme war, dass Adrian nichts gegen diese Schlafanzüge tun konnte, und das Gute, dass er auch gar nichts tun wollte. Denn jeder Schlafanzug, der nicht nach fünf Monaten entsorgt werden musste, war ein Triumph für Adrians Mutter. Dass der Sohn noch seine alten Schlafanzüge trug, hieß ja, dass er in letzter Zeit nicht gewachsen und vorläufig nicht großwüchsig war, kein Stück.

Es war wirklich eine gute Sache. Die immer noch getragenen Schlafanzüge beruhigten Adrians Mutter, wenn auch immer nur für kurze Zeit. Sie lenkten sie manchmal sogar von geschwänzten Arztterminen ab und von Waldlands großen Größen und ganz besonders von dem besorgniserregenden Tatbestand, dass ihr Sohn zwei oder sieben Etagen höher als der Rest seiner Altersgenossen war.

Einsneunzig!, hörte Adrian die Stimme mit dem fast nicht vorhandenen Lispeln drohen. Bist du noch dran, kommst du jetzt gefälligst auf der Stelle rüber?

Stella?

Zu spät, sie hatte aufgelegt, und Adrian ging zum Spiegel, der seit Jahren neben dem Kleiderschrank hing und längst zu niedrig für ihn war, im Spiegel sein aalglattes Kinn, ein paar aalglatte Zentimeter Bauch und dazwischen Bugs Bunny, der viel zu hastig atmete.

Adrian zog den Schlafanzug aus, warf ihn aufs Bett und brauchte keine fünf Minuten, um in Jeans und Kapuzenpullover – beides fast neu – passgenau in die Küche zu schleichen, in seine Turnschuhe zu schlüpfen und auf die zugeschneite Terrasse zu treten.

Es war so. Wenn man von ein paar unbedeutenden Unterbrechungen absah, konnte man getrost behaupten, dass Adrian und Stella hier draußen aufgewachsen waren, genau an diesem Ort, auf dieser Terrasse, die die Häuser von Adrians und Stellas Familie im ersten Stock miteinander verband wie eine vollkommen lebensnotwendige Brücke.

Und eigentlich konnte man sogar noch genauer werden und sagen, dass es die rostige Hollywoodschaukel in der Mitte der Terrasse war, auf der Adrian und Stella groß geworden waren, oder mittelgroß, je nachdem. Sie hatten dort Jahr für Jahr überwintert, in muffige Wolldecken gehüllt, und sie hatten dort Jahr für Jahr mit froh schwitzenden Gesichtern übersommert, in den Bäuchen die eisgekühlte Monatsproduktion einer weit entfernten Colafabrik.

Misses Elderly, die Stellas Großmutter war und in Wahrheit einen leicht anderen Namen trug, Misses Elderly hatte den beiden früher immer wieder die Schneekönigin vorgelesen und jedes Mal befunden, dass Adrian und Stella tausendmal besser dran seien als Kay und Gerda, denn die hätten schließlich nur eine große Dachrinne gehabt, um sich zu treffen, keine gemeinsame Terrasse und schon gar keine uralte quietschende Schaukel mit äußerst geschmackvollen Decken darauf.

Adrian rutschte jetzt langsam mit den Turnschuhen über die Bodenleisten, immer weiter und weiter, zog Nachtspuren über das glitschige Terrassenholz. Von irgendwoher hörte er Stimmen, nein, man hörte nie Stimmen hier, nie in der Nacht, aber da waren sie, Stimmen, das Knallen einer Autotür, weit weg oder ganz in der Nähe, und wer weiß, am Ende kamen sie wirklich vom Dreitotenhaus, das düster hinter Stellas Haus lauerte.

Adrian lauschte noch eine Weile, aber es war wieder still geworden, die Nacht, sie war das leiseste Geräusch von allen. Er spürte, dass seine eiskalten Füße nur noch wenige Sekunden zu leben hatten, und schlüpfte endlich in die dunkle Küche der Marauns, deren Glastür ebenfalls unverriegelt war, man wusste ja nie. Adrian kannte diese Küche in- und auswendig und bewegte sich sogar im Dunkeln gekonnt an den Möbeln vorbei, tastete sich zur Tür und ging von dort aus ins Treppenhaus.

Vanille.

Es roch nach zwei Arten von Vanille, nämlich nach dem Frauentabak von Misses Elderly und nach der gewagten Körpercreme von Stellas Mutter, die sie mehrmals täglich großzügig auf ihren Armen verteilte. Adrian bewegte sich leise über die Dielen, aber überall knackte und knarrte es, weil das Holz alt war und sich längst aufgegeben hatte. Und obwohl Adrian vorsichtig und fast ohne Knöchelkraft an eine ganz bestimmte Tür klopfte, schien das Geräusch durchs ganze Haus zu hallen, kroch womöglich durch die Schlüssellöcher, quetschte sich unter allen Türen hindurch. Adrian wartete, ob sich etwas im Haus rührte, aber nicht mal Stella gab irgendeinen Laut von sich, und das, obwohl Adrian ein Geräusch, das vage an Herein! erinnerte, ausgesprochen gelegen gekommen wäre.

Als Stella auch bei Adrians zweitem Versuch nicht auf das Klopfen reagierte, öffnete er einfach die Tür und sah sofort, dass es im Zimmer stockfinster war, nur von der Straße kam ein wenig Licht hoch. Adrian erkannte Stellas Umrisse vorm Fenster. Sie kniete feierlich auf einer Fußbank und stützte die Ellenbogen auf dem Fensterbrett ab, als würde sie gerade beten. In Wahrheit blickte sie aber nur mit einem Fernglas nach unten und sagte, ohne sich auch nur für einen winzigen Augenblick umzudrehen: World Financial Center, verstummte dann und konzentrierte sich wieder auf das Dreitotenhaus, das sich auf der anderen Straßenseite angeblich verdächtig benahm.

Stella?, fragte Adrian, weil ihm leider nichts Originelleres einfiel, aber die Angesprochene machte ungerührt weiter und sagte, den Blick immer noch auf die Straße gerichtet:

Höchste Aussichtsplattform der Welt, in Shanghai ist die, unglaubliche vierhundertvierundsiebzig Meter hoch. Und jetzt hol dir ein Kissen und komm endlich, das Dreitotenhaus hat nicht ewig Zeit!

Adrian nahm sich ein Kissen, kniete sich neben Stella und hatte jetzt, auf dem flachen Polster, die besten Voraussetzungen, um nur wenig größer als Stella zu sein und um aus dem Nasenlochwinkel ihre Haare zu riechen, die sie wahrscheinlich erst vor wenigen Stunden gewaschen hatte und die nach Kinderkaugummi rochen.

Da müssten wir mal hin, sagte Adrian. Nach Shanghai.

Müssten wir nicht, die Aussicht ist hundertprozentig nichts Neues für dich, die hast du jeden Tag. Nur falls du’s vergessen hast, du bist der weltweit höchste Junge, Einsneunzig.

Adrian kniff Stella in den Arm, und Stella, die seit ein paar Jahren die größten und längsten Sachen aller Zeiten für ihn auswendig lernte, die großwüchsigen Dinge, Stella kniff zurück und knurrte: Dumm wie Wurstbrot! Dann kniff Adrian wieder, sagte: Zwerg!, worauf Stella höflich Großkotz! keifte, und mit einem kleinen warmen Ruck wurde Adrian klar, dass das die guten Momente waren, die Augenblicke, in denen man eins siebzig groß war und lauter Freunde hatte, die Zeiten, in denen man über seine eigenen Witze lachen konnte und keinen Grund hatte, an den Fingernägeln zu kauen. Vielleicht war man glücklich in solchen Momenten, mit fünfmal ü wie in den alten Schallplattenliedern, die sich Misses Elderly so gerne anhörte, glüüüüücklich, und vielleicht war das alles so, weil einen soeben ein Anderer dazu gebracht hatte, dass man sich selber mochte.

Adrian sah Stella an, die wieder reglos und mit leicht zitterndem Fernglas zum Dreitotenhaus blickte, dann wandte er sich ab und schaute ebenfalls nach unten, den Kleintransporter mit der abgeblätterten Aufschrift konnte man auch ohne Fernrohr erkennen.

Und das Gebäude, vor dem er stand, sowieso.

Das Dreitotenhaus war immer schon eine hochgefährliche Angelegenheit gewesen, auch wenn es auf den ersten Blick eher harmlos aussah. Es war mit einer Farbe gestrichen, die an lange nicht gewechseltes Wischwasser erinnerte, hatte rostbraune, seit Ewigkeiten geschlossene Fensterläden und verzichtete großzügig auf einen umständlichen Vorgarten. Aber es hatte auch eine düstere Eingangstür aus uraltem Holz, ein etwas löchriges Dach und dann auch noch die schlechte Angewohnheit, seine Bewohner zu ermorden.

Genauso war es nämlich. Innerhalb von sechs Jahren hatte das Haus drei Menschen verschluckt, zuerst einen Biologielehrer, der einen grundlosen Herzinfarkt bekam, später, als neue Leute eingezogen waren, eine ältere Frau, die außerplanmäßig und für immer von der Leiter fiel, und zum Schluss noch eine Bankangestellte, die sich eine Blutvergiftung zugezogen hatte. Das alles konnte kein Zufall sein, auf dem Dreitotenhaus lag ein einwandfreier Fluch, darüber war man sich im ganzen Ort einig.

Seit Jahren stand das Haus leer, und Adrian hatte von Stellas Fenster aus oft gesehen, dass alte Frauen, die vorbeigingen, einen Bogen um das Haus machten und die Dreitotenstrecke lieber auf der Straße als auf dem Bürgersteig zurücklegten. Wahrscheinlich fanden sie es angenehmer, auf herkömmliche Weise überfahren zu werden, als das nächste Opfer des fluchbeladenen Hauses zu werden. Es war klar, dass, wenn sich die Menschen noch nicht mal in die Nähe des Hauses trauten, erst recht keiner freiwillig dort eingezogen wäre, ausgeschlossen, nie im Leben. Es gehörte fast zum guten Ton hier, dass man sich vor dem Dreitotenhaus fürchtete, dass man seine Mitmenschen ausführlichst vor ihm warnte und dass man es nie, wirklich niemals, betrat.

Sieh sie dir an, sagte Stella aufgeregt. Die ziehen da wirklich ein!

Adrian nahm das Fernglas, das Stella ihm reichte, und sah einige nächtliche Personen, die sich über den glitschigen Bürgersteig kämpften und Kartons ins Haus schleppten, Grünpflanzen, Stehlampen. Es war nicht auszumachen, wie viele Menschen an dem Umzug beteiligt waren, denn vor dem Haus herrschte ein großes, dreitotenstilles Durcheinander. Immer wieder verließen oder betraten Leute das verbotene Gebäude und verrichteten ihre Arbeit mit unbewegten Mündern. Adrian sah eine dunkelhaarige Frau, die ein Mädchen trug, fünf oder sechs Jahre alt und dick eingepackt. Die Kleine hatte ihre Arme um den Hals der Frau geschlungen und schien zu schlafen, zumindest bewegte sie sich nicht.

Es war ein merkwürdiger Anblick. Die Szene sah auf traurige Weise geheim aus, für kein Auge dieser Welt bestimmt, und Adrian konnte sich nicht vorstellen, was Menschen dazu bringen konnte, ihren Umzug auf die Nachtstunden zu verlegen. Die Leute da unten hatten kaum Licht, nur der Hausflur und der Keller waren schwach erleuchtet, alles andere lag im Dunkeln, was Adrian für einen Umzug sehr unpraktisch vorkam.

Was denkst du?, fragte Stella. Was passiert da unten?

Mal überlegen, sagte Adrian und fügte nach sehr vielen Sekunden hinzu: Klar, jetzt weiß ich’s, ich war mir erst nicht sicher. Du weißt schon, die Uhrzeit und das dreckige Fernglas. Putzt du das eigentlich nie? Na ja, jetzt weiß ich’s jedenfalls. Sieht ganz so aus, also, es ist nicht ganz unwahrscheinlich, dass da unten jemand einzieht.

Phänomenal, Watson! Aber klar, du musst ja auch ein Riesengehirn haben, mit so einem Gehirn hätte das jeder rausgekriegt! Aber trotzdem, sagte Stella und klopfte Adrian anerkennend auf den höhergelegten Rücken, ich bin wirklich stolz auf dich, Einsneunzig!

Einsneunzig.

Als ein paar Leute vor einem Jahr in der Schule angefangen hatten, ihm diesen Namen hinterherzurufen, weil irgendwer seine genaue Größe herausgefunden hatte, da war Stella auf die Idee gekommen, Adrian zu Hause auch so zu nennen, damit es gar nicht erst wehtat.

Damit es nichts als ein Name war.

Damit es nichts war.

Fast alle hatten sich geweigert, den Namen zu benutzen, vor allem Adrians Mutter, die ihren Sohn am liebsten zu einer kleinen handlichen Kugel geknüllt hätte, so dass er keinem auffallen und von niemandem anders als Adrian genannt werden würde. Und weil Adrians Eltern und Stellas Mutter und Stiefvater befreundet waren und andernfalls auch nie so lange in so enger Terrassennachbarschaft gewohnt hätten, konnte Stella nicht mal ihre eigene Mutter, die sonst für vieles zu haben war, von ihrem Plan überzeugen. Einzig Misses Elderly, die aber sowieso ein Faible für künstliche Namen hatte, war sofort damit einverstanden gewesen, Adrian umzubenennen. Und dabei war es dann auch geblieben, für Stella und ihre Großmutter hieß Adrian nur noch Einsneunzig.

Stella hatte ihn nie wieder anders angesprochen, seit einem Jahr nicht, und wer weiß, wahrscheinlich konnte man sagen, dass genau das – zusammen mit den großwüchsigen Dingen – Stellas Art war, Adrian mitzuteilen, dass er in Ordnung und kein Freak war, keine große Sache. Und Adrian, er mochte diesen Gedanken, ja. Aber da war noch etwas anderes, das ihm gefiel. Der Name Einsneunzig täuschte nämlich geschickt darüber hinweg, dass Adrian im letzten Jahr schon wieder vier Zentimeter gewachsen war.

Stella schnappte sich das Fernglas, schaute eine Weile nach unten und stöhnte: Wodka!

Wodka?, fragte Adrian. Na dann, prost!

Quatsch, sagte Stella. Die tragen Kisten mit Flaschen rein, Alkohol, bestimmt Wodka, das seh ich gleich.

Was würde die Misses dazu sagen?, fragte Adrian.

Die würde sich eine Zigarette anzünden und verkünden, dass sie aus der Sache raus ist. Mit mir nicht, würde die sagen. Stella schien nicht den kleinsten Zweifel zu haben.

Klar, nickte Adrian. Das könnte ihr überhaupt nichts anhaben, die Misses weiß genau, was sie tut.

Misses Elderly hatte früher mal Schnapsideen und ein leichtes Alkoholproblem gehabt, auch wenn sie gern betonte, dass nur dann ein Problem vorgelegen hätte, wenn gar kein Alkohol im Haus war. Irgendwann musste Misses Elderly aber herausgefunden haben, dass es im Leben mehr zu suchen gab als immer neue Verstecke für Schnapsflaschen. Keiner wusste, was genau passiert war, aber seitdem rührte sie keinen einzigen Tropfen Alkohol mehr an und färbte sich stattdessen die Haare rot, qualmte ununterbrochen Vanillezigaretten und hatte das ungewöhnliche Hobby, immer genau zu verstehen, was gemeint war. Sogar dann, wenn die Person, um die es ging, es selbst nicht wusste.

Vor allem dann.

So, Einsneunzig, und jetzt verrate ich dir was, verkündete Stella, ließ das Fernglas sinken und sah Adrian an.

Du hast dich bestimmt gefragt, warum ich dich mitten in der Nacht anrufe, das hast du doch, oder?

Na ja.

Hast du doch! Oder?

Ja, hab ich, zu Befehl! Aber das war doch richtig, sagte Adrian. Ins Dreitotenhaus zieht schließlich nicht alle Tage jemand ein.

Alle Nächte, korrigierte Stella.

Ja, egal, Tage, Nächte, ich find’s jedenfalls richtig. Dass du angerufen hast, meine ich.

Mhm, machte Stella, strich sich eine aschblonde Strähne aus dem Gesicht und fragte:

Aber was, wenn das nicht alles ist? Wenn du noch aus einem anderen Grund hier bist?

Adrian fühlte den warmen Klumpen in seiner Brust, er konnte nichts tun gegen diese kleinen Hoffnungen, die sich sagenhaft gut anfühlten und entsetzlich zugleich, er kannte das schon, diesen Knall, der irgendwann kam, diese verfluchten Explosionen, nach denen sich die Klumpen jedes Mal in reinstes Nichts auflösten, oh ja, Adrian kannte das alles zur Genüge, nicht schon wieder, bitte.

Was für ein Grund soll das sein?, fragte er so beiläufig wie möglich und wusste, aus welchem Grund er hier war, der Grund war Stellas staubfeines Lispeln, der Grund, das war ihr Shampoo, das war die Aussichtsplattform des World Financial Centers, vierhundertvierundsiebzig Meter hoch, und der Grund war dieser winzige, fast nicht erwähnenswerte Sachverhalt, dass Stella Maraun – vielleicht neben Misses Elderly – der einzige Mensch auf der ganzen Welt war, mit dem Adrian wirklich gerne redete.

Also, flüsterte Stella geheimnisvoll und sehr feierlich. Also. Es ist nämlich so. Der Grund, warum ich dich aus dem Bett geklingelt habe, ist, dass wir es nicht mehr mit dem Dreitotenhaus zu tun haben!

Haben wir nicht?, fragte Adrian und fühlte seine Hoffnung zerfallen, alles, was jetzt kam, konnte auf keinen Fall mit ihm zu tun haben.

Nein, hauchte Stella. Nein. Was du da siehst, das ist nichts anderes als das … Viertotenhaus!

Wie bitte?, fragte Adrian. Was? So schnell ist jemand gestorben? Das ist rekordverdächtig!

Idiot!, keifte Stella und sah nach unten.

Wieso denn, sagte Adrian, irgendwer muss doch gestorben sein.

Ja, irgendwer.

Und?, hakte Adrian nach. Wer genau?

Stella blickte ihn abrupt an, und weil unten die Scheinwerfer des Kleintransporters aufleuchteten, waren Stellas Augen viel zu hell für die Worte, die jetzt kamen. Seine Nachbarin sah ihn an, lächelte nicht und sagte leise und unglaublich langsam:

Hier muss keiner mehr sterben, dafür haben die gesorgt. Die haben ihren Toten mitgebracht.

Was?

Wie ich es sage. Mitgebracht. Lieferung frei Haus.

Und als du mich vorhin angerufen hast …

Ja, sagte Stella, da haben sie den Toten ins Haus getragen, auf einer echten Bahre. Verstehst du, Adrian?    

Klar, was sollte ich da nicht verstehen! Und Adrian sah in die kalte Nacht, die von schwach beleuchteten, unergründlichen Menschen bevölkert war, räusperte sich eine Spur zu laut und sagte schließlich:

Was gibt es denn da nicht zu verstehen? Wir wohnen jetzt neben einer Leiche.

KAPITEL

3

Für Anfang November lag jede Menge Winter auf den Straßen. Die Kälte war gnadenlos, kleinen Kindern froren die Tränen an den Wangen fest, der Schulbus war so gut wie immer unpünktlich und jeden Morgen bekam Adrian seine riesigen Schuhabdrücke auf dem weißen Tablett serviert. Früher hatte Misses Elderly bei der ersten halben Schneeflocke, die aus Versehen vom Himmel gefallen war, ihr fleckiges Andersen-Buch aus dem Regal gezerrt und dann ihren speziellen Männerpfiff ausgestoßen, den sie wie keine andere beherrschte, zweimal lang, einmal kurz. Sofort waren sie zur Schaukel gelaufen, Stella und Adrian, anfangs sechs und am Ende, als vorgelesene Geschichten langsam peinlich wurden, zehn Jahre alt.

Und da hatten sie dann gesessen, Stella und Adrian und dazwischen dieses morgenrote Haarleuchten mit der zerkratzten Stimme. Es gab heißen Kakao aus der Thermoskanne der Misses und ab und zu einen kleinen Besuch von Adrians besorgter Mutter, die den Sohn mit immer mehr Decken und die Vorleserin mit immer vorwurfsvolleren Blicken belieferte. Die Märchen wurden von Misses Elderly mit größter Sorgfalt ausgewählt, und alle waren so traurig, dass es eine Lust war, sich in die Decken zu wickeln und abwechselnd Kakao zu trinken und die unglücklichen Märchenhelden großzügig zu bedauern.

Misses Elderly las alle möglichen traurigen Geschichten von Andersen vor, aber am häufigsten die Schneekönigin. Zusammen mit der Misses und Stella bildete Adrian eine eingeschworene Hollywoodschaukelgemeinschaft, die eine feste Reiseroute hatte: den Weg von Gerda, die ziemlich umständlich unterwegs war, um ihren Freund Kay zu finden und ihn der Schneekönigin zu entwenden. Noch heute kannte Adrian einige Sätze aus dem Märchen auswendig, damals konnte er die meisten sogar mühelos mitsprechen, wenn wir am Ende der Geschichte sind, wissen wir mehr, als wir jetzt wissen, genau so war alles losgegangen. Auch wenn die Misses einmal ohne Vorwarnung gesagt hatte: Aber nur damit ihr’s wisst, Geschichten gehen nie zu Ende!

Später, sehr viel später hatte ihnen Misses Elderly mal gesagt, dass sie das gebraucht hätte, die Märchen auf der Schaukel, dass sie raus in die Kälte musste, um sich aufzuwärmen und um bloß nicht wieder auf Schnapsideen zu kommen. Das muss die Zeit gewesen sein, nachdem ihr der Engländer davongestorben war, nur dass ihn die Misses damals noch unsichtbar geschwiegen hatte.

Auf einen streng geheimen toten Engländer hatte damals nichts anderes hingedeutet als die Bekanntgabe von Stellas Großmutter, sie wolle ab sofort nur noch Misses Elderly genannt werden, eine Bitte, der nicht nur Stella und Adrian mit ihren sechs Jahren nachgekommen waren, sondern seltsamerweise auch Stellas Mutter, wieso, das wusste keiner. Aber genau so war es, und als Stellas Großmutter die Märchen vorgelesen hatte, in den schönsten Jahren, an die sich Adrian erinnern konnte, wurde sie schon unter dem Namen Misses Elderly geführt.

Und jetzt, jetzt jagte der Novemberschnee über die Straße, so wild und so weiß er konnte. Adrian saß mit einem Skizzenblock am Küchenfenster und versuchte den Schnee zu zeichnen, aber die Flocken, sie ließen sich nicht einfangen, die Flocken waren Wolken, zerstampft mit einem Mörser, Sterne waren das, die es oben nicht mehr aushielten, die Flocken, das waren …

Hörst du mir überhaupt zu?

Adrian wandte sich vom Schneetreiben ab und blickte zu seiner Mutter, die gerade ein Glas polierte und ihn ängstlich lauernd ansah.

Was, Mama? Hast du was gesagt?

Der Termin übermorgen, sagte seine Mutter und wirkte nervös, denn sie biss sich fortwährend auf die Unterlippe und polierte das Glas so heftig, dass Adrian befürchtete, es jeden Moment platzen zu sehen.

Der Termin, wiederholte seine Mutter und fügte hinzu: Ich will, dass du da hingehst!

Mama! Du hast gesagt, ich kann mir das überlegen.

Und? Hast du?

Ja, hab ich. Ich hab mir überlegt, dass ich nie wieder zu diesem Endo… zu diesem Arzt gehe!

Unvermittelt stellte Adrians Mutter das gut polierte Glas neben die Spüle, das nicht mal dadurch einen Sprung bekam, setzte sich zu ihrem Sohn und grub mit den Händen im zusammengeknüllten Geschirrtuch herum.

Adrian, seufzte sie, schloss die Augen, öffnete sie wieder und sagte: Gut, dann also noch mal. Die haben ausgerechnet, wie groß du wirst, wir haben die Zahl beide gehört.

Hör auf!

Adrian waren diese Diskussionen so verhasst wie Lakritz, Kapern und zu kurze Bettdecken zusammen. Es war klar, was gleich kommen würde, in ein paar Sekunden würde ihm seine Mutter mit großzügig bewässerten Augen erzählen, wie das früher für sie gewesen war, die Größte war sie gewesen!, und zum Kotzen fand er diese weinerlichen Geschichten, zum Kotzen, genauso hätte er es gesagt, wenn ihn jemand danach gefragt hätte. Die Tränen, sie kamen dann tatsächlich, Adrians Mutter begann zu schluchzen und von früher zu erzählen, als sie alle überragte und sich nie, nicht mal in den schlimmsten Momenten, verstecken konnte.

Adrian mochte es nicht, seine Mutter so zu sehen, er schämte sich für sie, obwohl doch niemand im Raum war, den das Ganze hätte interessieren können. Er sah auf seine wild gewordene Zeichnung und dann wieder aus dem Fenster, so weiß war alles, dieser ganze Winter, die Flocken da draußen. Und wenn jetzt jemand vorbeigefahren wäre und ihm gewinkt hätte, zur Not sogar die Schneekönigin, er wäre auf der Stelle mitgefahren, nur fort von hier, fort von den zu groß geratenen Tränen seiner Mutter, hinein in die kalten Flocken, die auf seinem Kopf immer ein wenig früher als auf den anderen Köpfen landeten.

Die Wahrheit war, dass Adrians Mutter überhaupt keine Ahnung hatte und dass niemand, auch nicht der talentierteste Überredungskünstler, Adrian vom Gegenteil überzeugen konnte. Denn nein, er war ja gar nicht verzweifelt, zumindest nicht so, wie es sich in den Augen seiner Mutter gehörte. Gut, okay, es war nicht das Angenehmste, überall aufzufallen und alle haushoch zu überragen, Adrian hatte sich sogar schon manchmal dabei ertappt, den Kopf einzuziehen und einen lächerlichen Buckel zu machen.

Gut.

Okay.